Mal sieht man ihn, mal wieder nicht. Auf der Reise unserer Erde um die Sonne ist Onkel Pfefferkorn Peters ständiger Begleiter – auch wenn er nicht immer sichtbar ist – und immer bereit, Peters mannigfaltige Fragen zu beantworten. Als Peter schließlich von Onkel Pfefferkorn das GROSSE JAHR bekommt, öffnen sich Peters Augen und Ohren für die Magie der Natur. Plötzlich kann er mit den Tieren und Pflanzen, ja selbst mit den Steinen und dem Meer sprechen, mit den Bewohnern von Wald, Flur, Himmel, Wasser und Erde. So lernt Peter, wie sie alle die von der Wanderung der Erde um die Sonne verursachten Jahreszeiten durchleben.

Als Fantasiebuch geschrieben, spricht diese Geschichte insbesondere die Vorstellungskraft junger Menschen an. Sie hebt unsere Verbundenheit mit einer lebendigen Natur hervor, zeigt unsere Verwurzelung in ihr und präsentiert die Idee eines wohl geordneten Universums – unseres Lebens­raumes, in welchem alles Leben tief miteinander verwoben ist.

Elsa-Brita Titchenell war Mitherausgeberin der Zeitschrift Sunrise. Geboren im schwedischen Uppsala ging sie in England zur Schule, lebte später in Schanghai in China, wo sie von 1937 bis 1947 für die Königliche Schwedische Botschaft und das Konsulat tätig war. Nach dieser Zeit zog sie in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo sie dem Mitarbeiterstab der Haupstelle der Theosophischen Gesellschaft in Pasadena in Kalifornien beitrat.

Justin C. Gruelle, in Amerika bekannter Künstler und Portraitmaler, war zunächst für die Disney Studios tätig. Weithin bekannt war er auch für seine Luftfahrt-Bilder.

Vorwort

Das Buch, das du gleich lesen wirst, ist die Geschichte von Peter und seinem GROSSEN JAHR. Wenn du das Buch zu Ende gelesen hast, wirst du wissen, dass du jedes Jahr auf eine wundervolle Reise gehst, gerade wie Peter. Jedes Mal, wenn du wieder Geburtstag hast, wirst du wissen, dass du seit deinem letzten Geburtstag den ganzen Weg um die Sonne zurückgelegt hast und das Ganze nun wiederholen wirst. Ich hoffe, du magst Peter, und vielleicht kannst du ja so tun, als wärst du er – vielleicht bist du das ja auch. Jeder Junge und jedes Mädchen kann das GROSSE JAHR erleben. Man muss nur wissen, wie man richtig fragt, und darauf achten, dass man gute Fragen stellt. Jeder von euch hat einen Onkel Pfefferkorn, und obwohl er sehr klein ist, ist er doch sehr wichtig. Onkel Pfefferkorn

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Du kannst Onkel Pfefferkorn zu mir sagen

Peter legte seine funkelnagelneuen Rollschuhe in die Ecke, wo er sie am Morgen als Erstes sehen konnte. Dann hängte er seine Kleider über einen Stuhl und ging zu Bett. Sein Kopf summte noch von den Fragen, die er im Laufe des Tages vergessen hatte zu fragen.

„Oh, wie sehr wünsche ich mir, dass mir jeder alles beantwortet, was ich frage“, dachte er.

„Möchtest du das wirklich?“, sagte ein kleines Stimmchen an seiner Seite. Peter schaute schnell auf, neben seinem Bett saß ein winziger, kleiner Mann mit einem merkwürdigen großen Hut. „Wenn du das nämlich wirklich willst, so könnte man das wohl einrichten“, murmelte der kleine Mann und strich über seinen langen Bart. Seine Hand war nicht größer als Peters kleiner Fingernagel.

„Wer bist du?“, fragte Peter erstaunt.

„Es spielt keine Rolle, wer ich bin“, sagte der kleine Mann. „Aber du kannst mich Onkel Pfefferkorn nennen. Komm“, ­sagte er, „beeil dich. Wir haben bis morgen früh einen langen Weg vor uns.“

Gehorsam stand Peter auf und zog sich schnell an. Das Männchen sprang auf Peters Schulter.

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„Halt dich fest!“, rief er. „Los geht’s.“

Peter wusste nicht, wo er sich festhalten sollte, aber er hatte keine Zeit zu fragen. Noch bevor er fragen konnte: „Wie ­bitte?“, waren sie weg und flogen durch die dunkle Nacht, hoch und höher und immer höher über die Häuser.

Weiter ging es bis zwischen die Sterne in das große blaue Nichts, bis Peter nicht mehr wusste, welcher die Erde war, von der sie gekommen waren. Alle Sterne um sie herum funkelten und glitzerten, und Peter überlegte, ob auch ER funkelte und glitzerte.

Dann kamen sie zu einem Stern, der größer aussah als die anderen. Er wurde größer und immer größer, bis sie schließlich auf dem Vorsprung eines Berggipfels auf diesem selt­samen und schönen Stern landeten.

„Wo sind wir?“, wollte Peter wissen. „Wo ist die Erde?“

„Wir sind ungefähr auf dem halben Weg zum Nordpol des Himmels“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Schau, da unten kannst du gerade die Erde sehen“, und er zeigte in den Raum hinaus.

„Welches ist sie?“, fragte Peter. Ihm wurde ganz schwindlig, als er auf die Millionen von stecknadelkopfgroßen Lichtern am dunkelblauen Himmel blickte.

„Siehst du diese Sonne da drüben?“, fragte der kleine Mann. „Die da links von dem großen Kerl?“

„Oh ja“, sagte Peter. „Ist das die Erde?“

Onkel Pfefferkorn kicherte. „Wie eingebildet ihr Burschen seid!“, sagte er. „Nein, die Erde ist der dritte kleine Fleck, der darum herum schwebt. Du kannst sie gerade noch sehen, wenn du die Augen zusammenkneifst.“ Er kletterte auf Peters Nasen­rücken und beschattete dessen Augen mit beiden Armen. „Kannst du sie jetzt sehen?“

„Ja-a“, sagte Peter unsicher. „Sie sieht schrecklich klein aus.“

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„Das ist sie“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Die Erde ist nur ein kleiner Ball, der immerzu um die Sonne rollt. Sie dreht sich fortwährend um sich selbst wie ein großer Kreisel. So sehen die Menschen auf der einen Seite die Sonne die halbe Zeit und die auf der anderen Seite auch. Das sind Tag und Nacht, weißt du?“

„Das verstehe ich nicht“, sagte Peter.

„Hast du nicht beobachtet, wie die Sonne auf der einen Seite des Himmels aufgeht und auf der anderen untergeht?“

„Oh ja“, sagte Peter, stolz darauf, das zu wissen. „Sie geht im Osten auf und im Westen unter.“

„Ja, nur dass sie nicht wirklich auf- und untergeht. Du kannst es von hier aus sehen. Die Sonne steht dort und die Erde wandert um sie herum. Jedes Mal, wenn sich die Erde selbst dreht, scheint die Sonne auf die andere Seite der Erde.“

Plötzlich sprang er leichtfüßig auf den Boden. Auf diesem fremden Stern lag eine Menge heller, glänzender Steine herum. Onkel Pfefferkorn hob einen davon auf und legte ihn auf einen flachen Felsen. Dann wandte er sich an Peter.

„Wo ist dein Kreisel?“, fragte er.

„Mein Kreisel?“ Peter war erstaunt. Er langte in seine Tasche und zog ein Stück Schnur heraus, einige rostige Nägel und schließlich seinen Kreisel.

„Woher wusstest du, dass ich einen Kreisel in der Tasche habe?“, fragte Peter.

„Es ist doch gleich, woher ich es wusste“, sagte Onkel Pfeffer­korn etwas gereizt. „Leg ihn hier hin.“

Als Peter den Kreisel auf den Felsen gelegt hatte, betrachtete ihn Onkel Pfefferkorn sorgfältig, dann stellte er sich auf die Zehenspitzen, um die glatten Seiten berühren zu können. „Funktioniert das Ding?“, fragte er.

„Natürlich funktioniert er!“ Peter nahm den Kreisel auf und wickelte die Schnur herum. Er setzte ihn auf den flachen Fels und ließ ihn drehen; der Kreisel begann, in einem großen Kreis um den hellen Stein in der Mitte des Felsens zu tanzen. Onkel Pfefferkorn sprang schnell aus dem Weg.

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„Du musst ihn nicht gerade über mich laufen lassen!“, rief er.

„Schau doch!“, rief Peter. „Er läuft um die Sonne.“

Peter dachte immer noch an die Erde und die Sonne, und der Kreisel sah wie ein kleiner Planet aus, der sich um eine strahlende Sonne herumdreht.

„Bewegt sich die Erde auch so?“, fragte er.

„Genauso“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Die Erde ist wie ein großer, dicker Kreisel und dreht sich sehr oft, während sie nur einmal die Sonne umrundet. Sie bewegt sich nur scheinbar sehr langsam, weil wir so klein sind.“

Peter schaute auf den kleinen Onkel Pfefferkorn und ­musste lächeln. Onkel Pfefferkorn war gar so klein. Aber Onkel ­Pfefferkorn wusste, was Peter dachte, und er richtete sich zur vollen Größe seiner acht Zentimeter auf. „Ich bin für mich genauso groß, wie du für dich groß bist“, sagte er stirnrunzelnd zu Peter. „Du bist neben der Erde auch sehr klein.“

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„Tut mir leid“, sagte Peter. „Ich ­wollte nicht unhöflich sein.“

„In Ordnung!“, sagte Onkel Pfeffer­korn und lächelte wieder. „Wie du siehst, ist die Erde sehr viel größer als wir beide, so dass sie sich nur einmal drehen muss, damit für uns ein ganzer Tag und eine Nacht vergehen; und um die ­Sonne zu reisen, braucht sie ein ganzes Jahr.“ In diesem Moment fiel der Kreisel um. Peter hob ihn auf und ließ ihn wieder drehen. Abermals begann er seine Reise, immerzu um sich selber drehend und dabei langsam um den strahlenden Stein wandernd.

„Ich möchte meinen, ihm wird schwindlig“, sagte Peter. „Hat die Sonne Fieber, wenn es im Sommer heiß wird?“

Onkel Pfefferkorn kicherte. „Nein“, sagte er. „Schau genau hin, ob du etwas an der Spitze bemerkst, wenn er läuft.“

Peter beugte sich nieder und beobachtete den drehenden Kreisel aufmerksam. „Ich kann nichts sehen“, sagte er.

„Schau noch einmal hin“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Läuft er ganz gerade?“

„Oh“, sagte Peter, „nein, natürlich nicht, er wackelt leicht.“

„Natürlich taumelt ein Kreisel mehr als die Erde“, sagte ­Onkel Pfefferkorn. „Die Erde wackelt so langsam, dass ein einziges Wackeln Tausende von Jahren dauert. Deshalb steht die Erde fast immer ein bisschen schief. Auch jetzt gerade.“

Peter fing den Kreisel gerade noch in dem Augenblick auf, als er vom Felsen herunterwackelte. Er lachte. „Ich hoffe, die Erde macht so etwas nicht!“, sagte er.

Onkel Pfefferkorn lachte vergnügt in sich hinein. „Lass ihn noch einmal laufen!“, sagte er.

Peter setzte ihn wieder in Bewegung und der Kreisel tanzte rundum wie vorher.

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„Schau jetzt genau hin“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Siehst du, wie das obere Ende des Kreisels, das ist das nördliche Ende, näher an die Sonne kommt, wenn die Erde auf der einen Seite der Sonne ist; und wie dieses nördliche Ende weiter weg ist, wenn sich die Erde auf der anderen Seite der Sonne befindet?“

„Oh ja“, rief Peter. „Wenn der Norden näher ist, dann bekommt er mehr Sonnenlicht als das andere Ende, auch wenn er sich die ganze Zeit dreht.“

„Richtig!“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Stell dir vor, du würdest ganz oben, nördlich von der Mitte leben. Welche Jahreszeit wäre dort?“

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„Welche Jahreszeit? Oh, ich verstehe.“ Peter dachte eine ­Minute lang nach. „Ach, ist es das, was den Sommer macht?“

Peter war begeistert. Er hatte es selbst herausgefunden.

„Dann muss unten Winter sein!“, rief er ganz aufgeregt. „Und wenn die Erde auf die andere Seite der Sonne kommt, dann ist unten Sommer und oben Winter. Daher gibt es jedes Jahr einen Winter und einen Sommer. Und während der ganzen Zeit gibt es eine Menge Tage und Nächte, weil sich die Erde auch um sich selbst dreht.“

„Schau mal einer an“, sagte Onkel Pfefferkorn und zwinkerte Peter unter seinem ulkigen großen Hut zu. „Du bist sogar noch fixer, als ich dachte. Vielleicht können wir dir das GROSSE JAHR geben.“

„Was ist das GROSSE JAHR?“ Peter ahnte, dass es etwas Aufregendes sein könnte.

„Nun“, sagte Onkel Pfefferkorn, „es ist etwas, das nur ­wenige Menschen bekommen können. Wie es mit dir ist, weiß ich nicht so recht.“

„Oh, bitte sag‘s mir“, bat Peter. Er war aufgeregt, aber er wusste nicht warum.

„Sag mir zuerst“, sagte Onkel Pfefferkorn, „was tust du, wenn dich jemand etwas fragt?“

„Nun, ich antworte natürlich.“

„Immer?“ Onkel Pfefferkorns Stimme war plötzlich sehr ernst.

„Nun.“ Peter hielt inne. „Wenn ich die Antwort wüsste“, fügte er unsicher hinzu.

„Gut!“ Onkel Pfefferkorn sprang auf Peters Schulter. „Mach das“, sagte er. „Denke nur immer daran und du kannst jeden all das fragen, was du wissen möchtest.“

Er zeigte wieder nach unten, wo sich das kleine Pünktchen Erde drehte. Das dritte Pünktchen von der kleinen Sonne aus gesehen, links von dem großen Burschen.

„Schau genau hin“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Du siehst, wo die Erde jetzt ist. Sie läuft ganz um die Sonne herum und du mit ihr. Nur WEISST du jetzt, dass sie dich auf ihrer Reise mitnimmt. Bis die Sonne wieder an denselben Ort zurückkehrt, kannst du auf der Erde jeden und alles fragen, was du möchtest, und alles wird dir auf seine eigene besondere Art antworten. Wenn du gute Fragen stellst, wirst du gute Antworten bekommen. Wenn du dumme Fragen stellst, wirst du dumme Antworten erhalten. Die Erde und die Bäume, das Gras und der Himmel, das Land und das Meer, sie alle werden dir antworten, bis du an dieselbe Stelle zurückkommst.“

Onkel Pfefferkorn kletterte auf Peters Nase, deshalb musste Peter schielen, um ihn zu sehen.

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„Denk daran“, sagte er streng und erhob seinen Zeigefinger, der so groß war wie die Borste einer Zahnbürste, „auch du musst immer alle Fragen der anderen beantworten.“ Peter schielte den kleinen Mann an, der auf seiner Nasenspitze hockte; ­Onkel Pfefferkorn sah so lustig aus, dass er lachen musste. Onkel Pfefferkorn hielt sich schnell an Peters rechter Augenbraue fest und sagte verdrießlich:

„Tu das nicht! Es ist ungezogen … ich könnte herunterfallen und mir den Hals brechen“, fügte er hinzu. „Wie würdest du dann nach Hause kommen?“

Peter entschuldigte sich sofort. „Es tut mir leid“, sagte er. „Ich wollte dich nicht erschrecken und ich verspreche, jedermanns Fragen zu beantworten, wenn ich nur erst selbst die Antworten finde.“

„In Ordnung“, sagte Onkel Pfefferkorn und ließ Peters ­Augenbraue los. Er kicherte in sich hinein. „Weißt du, du siehst selbst reichlich komisch aus, wenn du auf deine Nasenspitze herunterschielst.“ Er kletterte auf Peters Schulter zurück. Plötzlich rief er: „Halt dich fest, los geht‘s!“

Peter stockte der Atem. Es kam so plötzlich. Fort waren sie wieder im blauen Himmel, und überall um sie herum war das Glitzern. Peter wusste überhaupt nicht mehr, wo sie waren. Einen Augenblick lang fürchtete er, Onkel Pfefferkorn könne die Erde unter all den glitzernden Dingern nicht mehr wiederfinden. Dann sah er sie. Von der Sonne aus war es das dritte Pünktchen, das immer näher kam. Plötzlich waren sie wieder daheim. Sie kamen knapp am Mond vorbei und landeten ganz sanft auf der Erde.

„Da sind wir wieder“, sagte Onkel Pfefferkorn ruhig. „Möchtest du mich noch etwas fragen, bevor ich gehe?“

„Geh nicht fort“, sagte Peter. „Ich mag dich, bleibst du nicht bei mir?“

„Ich werde da sein, wenn du mich brauchst“, sagte Onkel Pfefferkorn.

Damit verschwand er und Peter war allein in einem großen Wald.

Bau einen Schneemann, Peter!

Die Bäume waren kahl und still. Die ganze Welt schien zu schlafen. Peter fühlte sich sehr einsam, nachdem ihn Onkel Pfefferkorn verlassen hatte. Er wusste nicht, ­wohin er gehen sollte. Am liebsten hätte er geweint, aber dann erinnerte er sich daran, dass er sieben Jahre alt war; und ­Jungen weinen nicht, wenn sie sieben sind.

Er lief durch den Wald und suchte Onkel Pfefferkorn. „Onkel Pfefferkorn!“, rief er. „Onkel Pfefferkorn!“ Aber alles blieb still.

Peter stand traurig da und überlegte, was er tun könnte. Es war sonderbar, dass Onkel Pfefferkorn, der nur so groß wie Peters Finger war, so wichtig sein sollte. Peter war sehr, sehr allein.

Er hatte sich gerade auf eine Baumwurzel gesetzt, als er eine kleine Stimme neben sich hörte.

„Entschuldige“, sagte die Stimme.

Peter schaute sich überall um, aber er sah niemanden, nur ein Eichhörnchen, das versuchte, an ihm vorbeizukommen, um zu seinem Bau in der Höhlung des Baumes hinaufzuklettern.

„Entschuldige“, sagte das Eichhörnchen wieder.

„Oh!“, sagte Peter und rückte schnell beiseite. „Ich wusste nicht, dass du mit mir sprichst. Ich habe noch nie ein Eichhörnchen sprechen hören.“

„Das macht nichts“, sagte das Eichhörnchen. „Ich vermute, du hast dich noch nicht an das GROSSE JAHR gewöhnt. Onkel Pfefferkorn hat mir von dir erzählt. Du bist Peter.“

„Ja“, sagte Peter und damit endete die Unterhaltung. Das Eichhörnchen säuberte eifrig sein Nest und fegte es mit Stroh aus, während Peter zusah.

Es fegte einen großen toten Käfer aus seinem Nest und ­lehnte sich auf seinen Strohbesen.

„Onkel Pfefferkorn sagte mir, dass es heute schneien wird, deshalb mache ich mein Nest gemütlich, denn ich werde eine Zeitlang drinnenbleiben. Und was hast du vor?“

„Ähm – ich weiß nicht“, sagte Peter.

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„Ich möchte dich gerne einladen“, sagte das Eichhörnchen, „aber du bist reichlich groß. Vielleicht versuchst du es wo­anders.“

Gerade in diesem Augenblick schwebte eine große Schneeflocke herunter und schmolz auf Peters Nase.

Er wendete sich dem Eichhörnchen zu und lachte.

„Hast du das gesehen?“, fragte er. „Ich mag Schnee, du nicht?“ Dann erinnerte er sich daran, sich benehmen zu wollen, und sagte höflich:

„Vielen Dank für deine Einladung, auch wenn ich nicht hinein kann.“

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Eine weitere Schneeflocke landete auf seinem Ärmel, und bald war die Luft weiß von wirbelnden Schneeflöckchen. Es war eine tiefe Stille, und die Schneeflocken tanzten auf ihre ­anmutige Art zur Erde. Bald war jeder Ast und jeder Zweig bedeckt.

Peter fing hunderte von Schneeflocken in seiner Hand und betrachtete ihre hübschen, sechseckigen Sterne. „Ihr seid schön“, murmelte er.

„Hallo, Peter“, klang eine helle Stimme. „Meinst du, wir ­sehen hübsch aus?“

„Ich versuche zwei von euch zu finden, die gleich aussehen“, sagte Peter. „Helft ihr mir?“

Die Schneeflocken lachten alle.

„Oh, Peter!“, lachten sie. „Weißt du nicht, dass es von uns keine zwei Gleichen gibt? Versuche es, wenn du willst, aber du wirst nie ein Paar finden.“

Und wieder lachten alle.

Plötzlich sprach eine barsche Stimme:

„Es ist nicht sehr nett von euch, über den armen Peter zu lachen. Wie sollte er wissen, dass ihr alle verschieden seid? Er ist keine Schneeflocke.“

Es war Onkel Pfefferkorn. Er stand auf einem Zweig und schaute streng um sich.

„Hallo, Onkel Pfefferkorn!“, sangen die Schneeflocken. „Wenn er keine Schneeflocke ist, dann muss er ein Schneemann sein.“ Die übermütigen Schneeflocken lachten weiter.

Peter blickte an sich herab und lachte auch:

„Ich sehe wie einer aus, nicht wahr?“

„Gewiss doch“, lächelte Onkel Pfefferkorn. „Möchtest du nicht einen bauen?“

Die Schneeflocken riefen alle zusammen:

„Baue einen Schneemann, Peter! Baue einen Schneemann!“

„Klar“, sagte Peter. Er schaufelte mit beiden Händen Schneeflocken zusammen; sie schmiegten sich so eng wie möglich aneinander. Bald hatte er einen schönen Schneemann gebaut. Onkel Pfefferkorn versuchte auch zu helfen, aber er konnte nicht viel tun, weil er so klein war. Deshalb stand er nur auf einem Zweig und sagte Peter, was er tun sollte.

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„Jetzt brauchst du zwei Eicheln“, sagte Onkel Pfefferkorn, als der Schneemann fertig war.

Peter hob zwei Eicheln auf, die unter dem Schnee gelegen hatten, und steckte sie dem Schneemann ins Gesicht.

„Wie wäre es mit einer Pfeife?“, fragte Onkel Pfefferkorn. ­Peter schaute sich nach einem krummen Zweig um, den er dem Schneemann in den Mund stecken konnte. Schließlich wählte er den aus, auf dem Onkel Pfefferkorn stand. Als er ihn abbrechen wollte, verschwand sein kleiner Freund plötzlich.

„Oh!“, sagte Peter, „hoffentlich hält er mich jetzt nicht für ungezogen.“

Er war ganz traurig, weil er sich daran gewöhnt hatte, dass Onkel Pfefferkorn bei ihm war und ihm sagte, was er tun solle.

Er sah sich überall um, aber er konnte ihn nicht finden.

Die Schneeflocken wollten, dass er weiter mit ihnen ­spielte, aber Peter war betrübt, weil er Onkel Pfefferkorn verloren ­hatte.

Schließlich ging er traurig durch den Schnee und überlegte, was in dem großen, weißen Schweigen wohl aus ihm werden sollte.

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Knurr, Peter, grrrrr!

Peter blieb an einem Flüsschen stehen, das bis auf ein kleines Rinnsal in der Mitte fest zugefroren war. Plötzlich hörte er eine raue Stimme, die sagte:

„Knurr, Peter, grrrrr!“

Ein großer, schwarzer Bär kam mit seinem komischen, schwerfälligen Gang auf ihn zu. Peter war so erschrocken, dass er nicht einmal fortlaufen konnte. Er stand nur da und wartete darauf, dass der Bär ihn am Stück verschlingen würde. „Grr!“, sagte der Bär wieder.

„Wie geht es dir?“, sagte Peter und versuchte, nicht zu ­zittern. Onkel Pfefferkorn hatte gesagt, dass er jeden alles fragen ­könne, aber er hatte nichts über große, schwarze Bären gesagt und wie man mit ihnen umgehen soll.

„Gut“, sagte der Bär, „aber ich bin müde.“

Da verstand Peter, dass der Bär gar nicht zornig war, er sagte „Grrmph!“ nur als eine Art Gruß.

Plötzlich gähnte der Bär schrecklich. Peter zuckte zusammen. Wollte ihn der Bär doch noch fressen?

„Ich bin gerade dabei, in meine Höhle zu kriechen, um zu überwintern“, gähnte der Bär. „Und was hast du vor?“

„Ich weiß nicht“, sagte Peter.

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„Für einen ist noch Platz“, knurrte der Bär. „Du kommst ­besser mit mir mit.“

Peter wusste nicht genau, ob er das wirklich wollte. Der Bär erschien ihm sehr grob. Aber draußen war es kalt, und so ­dachte er, er wolle wenigstens mitgehen und sehen, wo der Bär wohnt.

In einem Felsen war ein schönes, großes Loch, fast wie eine Höhle, dachte Peter. Es war trocken und sorgfältig mit Zweigen und trockenen Blättern ausgelegt, auf denen man weich liegen konnte.

Der Bär rollte sich in der Höhle zusammen und zeigte ­Peter, wo er sich neben ihn hinkuscheln könne. Peter setzte sich vorsichtig hin. Mit einem letzten „Grrmph!“ war der Bär fest eingeschlafen.

In der Höhle war es gemütlich. Peter drückte sich nahe an das raue, wollige Fell des Bären und bald war auch er fest eingeschlafen.

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Peter hatte lange geschlafen, als eine strenge Stimme ihn aufweckte und sagte: „Los, Peter, du kannst nicht dein ganzes Leben hierbleiben.“ Es war Onkel Pfefferkorn.

„Oh!“, sagte Peter und rieb sich die Augen. „Wie spät ist es?“

„Zeit, dass du aufstehst“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Du hast fast eine Woche lang geschlafen.“ „Eine Woche!“, rief Peter. Der Bär bewegte sich unruhig und Peter dämpfte seine Stimme.

„Eine Woche!“, flüsterte er. „Aber warum schläft ER noch?“, fragte er. „Er schläft ein paar Monate lang“, sagte Onkel Pfeffer­korn. „Komm weiter!“ Peter kletterte so geräuschlos, wie er nur konnte, aus der Höhle des Bären. Als sie draußen waren, fragte er: „Warum schläft er so lange?“

„Er schläft den ganzen Winter hindurch. Das ist für ihn so lange wie eine Nacht.“

„Bleibt er dann den ganzen Sommer über wach?“, fragte ­Peter.

„Nicht ganz. Er schläft in der Nacht und ist am Tag wach, genauso wie du während deines Lebens.“

Peter dachte eine Weile nach. Dann sagte er:

„Ich glaube, das stimmt, wenn er etwas über die Erde weiß, die sich um die Sonne bewegt. Weiß er das, Onkel Pfefferkorn?“

„Nun“, sagte Onkel Pfefferkorn, „irgendwie weiß er es, aber nicht so wie du. Er fühlt es, du verstehst es.“

„Oh!“, sagte Peter und wusste nicht genau, ob er es wirklich verstand.

„Übrigens“, sagte Onkel Pfefferkorn, „du hattest Angst vor dem Bären, nicht wahr?“

„Ja“, sagte Peter und schämte sich etwas.

„Das brauchst du nicht“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Solange du im GROSSEN JAHR bist, ist alles freundlich zu dir. Der Bär hat eine raue Stimme, aber er würde nie jemandem etwas zu Leide tun, der im GROSSEN JAHR ist.“

„Oh!“, sagte Peter, „dann brauche ich mich niemals zu fürchten.“

„Genau, so ist es“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Wenn du dich fürchtest, verlierst du das GROSSE JAHR. Vorhin hättest du es beinahe verloren. Wärst du vor dem Bären davongelaufen, hätte er dir vielleicht etwas angetan.“

Peter dachte daran, wie er am liebsten davongelaufen wäre.

„Fürchte dich nie, Peter!“, sagte Onkel Pfefferkorn.

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Bald muss ich woanders sein

Es war sehr still unter den großen Fichten, unter denen Peter dahinwanderte und dem „tropf, tropf“ des schmelzenden Schnees, der von den Zweigen tropfte, zuhörte.

„Hallo, Peter“, sagte eine leise Stimme zu seinen Füßen.

Peter blickte nach unten, und da stand ein winziges Schneeglöckchen, das durch den Teppich aus Fichtennadeln lugte.

„Hallo.“ Er beugte sich nieder und betrachtete die hübsche weiße Blume. „Wer bist du?“

„Ich bin das Schneeglöckchen. Hast du meine Cousine ­Veilchen schon gesehen?“

„Nein, ich habe noch keines bemerkt.“

„Du meine Güte, das ist aber gar nicht nett von ihr. Nun muss ich fortgehen, ohne sie wiedergesehen zu haben. Auch letztes Jahr kam sie zu spät.“

„Tut mir leid“, sagte Peter, „vielleicht könnte ich ihr etwas von dir ausrichten, irgendwann wird sie auftauchen. Warum musst du fortgehen? Kannst du nicht warten, bis sie kommt?“

„Das geht nicht gut“, meinte das Schneeglöckchen zögernd. „Weißt du, ich muss bald woanders sein.“

„Aber du kannst doch nicht laufen. Wie kannst du fort­gehen?“ Peter schaute genau hin und sah, dass das Schneeglöckchen fest im Boden verwurzelt war.

„Oh, das ist einfach. Hier sterbe ich, und weiter oben und weiter nördlich am Berge blühe ich wieder auf.“

„Oh, ich verstehe“, sagte Peter zweifelnd, denn er war sich gar nicht sicher, ob er es wirklich verstand. Ich muss Onkel Pfefferkorn danach fragen, dachte er bei sich.

„Brauchst du mich?“ Peter erkannte Onkel Pfefferkorns ­Stimme und schaute ringsum, aber er war nirgends zu sehen. Dann hörte er ein vertrautes Kichern.

„Hier, auf deinem Ärmel“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Schau nicht so verdutzt drein.“

„Ich bin‘s gar nicht“, murmelte Peter. „Überhaupt nicht, aber ich wünschte, du würdest mich vorher warnen.“

„Nun, was wolltest du mich fragen?“

Peter zermarterte sich den Kopf. „Ich fürchte, ich habe es vergessen.“

„Meinetwegen war es“, sagte das Schneeglöckchen.

„Oh ja! Woher weißt du das?“

„Du hast meine Sprache gesprochen“, sagte das Schneeglöckchen. „Du weißt … Gedankensprache.“

„Ja, Onkel Pfefferkorn, wie kann sie sich bewegen?“

„Erinnerst du dich daran, wie die Erde auf ihrer Bahn kreist?“, fragte Onkel Pfefferkorn.

„Oh“, sagte Peter, „du meinst, wir kommen jetzt näher an die Sonne, und deshalb kommt der Frühling hierher. Jetzt verstehe ich, aber warum muss sie woanders hin?“

„Nun, der Frühling wandert natürlich weiter nach Norden.“

„Du meine Güte“, sagte Peter. „Von draußen sah das alles so einfach aus, aber von hier aus ist es kompliziert, nicht wahr?“

„Nun schau!“ Onkel Pfefferkorn sprang auf den Boden und lehnte sich gegen das Schneeglöckchen. Er entschuldigte sich bei ihr. „Du hast doch nichts dagegen?“

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„Durchaus nicht“, sagte das Schneeglöckchen. „Berühre aber nicht meine Blütenblätter, sie fallen bald ab.“ Sie hielt inne. „Es sei denn, du möchtest gerne, dass ich dich verlasse.“

„Nein, nein“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Bleib doch noch eine Weile.“

„Also“, sagte er und wandte sich an Peter. „Das Schneeglöckchen hier …“, er gab dem Stängel einen kleinen Schubs.

„Au!“, sagte das Schneeglöckchen, „mein erstes Blütenblatt fällt ab.“ Ein weiches Blütenblatt flatterte zu Boden.

„Tut mir leid“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Es muss sehr lose gewesen sein.“

orts 26 gs„Nur weiter, nimm keine Rücksicht auf mich“, sagte das Schneeglöckchen tapfer, aber ihr Köpfchen senkte sich ein ­wenig tiefer.

„Also, wie ich sagte …“, fuhr Onkel Pfeffer­korn fort. „Oh, du meine Güte, schon wieder!“ Noch ein Blütenblatt fiel ihm sanft vor die Füße.

„Macht nichts, ich sage jetzt auf Wieder­sehen“, flüsterte das Schneeglöckchen schwach. „Wir treffen uns später wieder. Ich werde im Norden weiterblühen.“

„Ich glaube, jetzt verstehe ich es“, sagte Peter.

„Das glaube ich auch“, sagte Onkel Pfefferkorn und war ­verschwunden.

orts 27 gs

Du bist eine Quasselstrippe, oder?

Peter war recht traurig, als er das kleine Schneeglöckchen verließ. Er stieg auf den Berg hinauf und wollte versuchen, ein anderes zu finden.

Nach einer Weile kam er an einen Bach, der vor sich hin sang, während er über die Kieselsteine hüpfte und sprang.

„Hallo, Peter, freut mich, dich zu sehen.“

„Hallo.“ Peter schaute sich überall um, um zu sehen, wer da sprach.

„Hier“, kicherte der Bach, „du solltest meine Stimme kennen. Sie ist lauter als gewöhnlich, weil ich voller geschmolzenem Schnee aus den Bergen bin.“

„Oh?“ Peter schaute nach dem schneebedeckten Bergkamm, wo der Bach herkam. Plötzlich fiel ihm etwas ein.

„Hast du dort oben ein Schneeglöckchen gesehen?“, fragte er.

„Ein paar“, sagte der Bach. „Sie kommen gerade heraus, aber es ist noch recht früh. Droben ist es viel kälter, weißt du?“

„Wie steht‘s mit Veilchen?“

„Noch nicht“, sagte der Bach, „aber sie werden kommen. Warum? Suchst du welche?“

„Ja, weil ein Schneeglöckchen mich gebeten hat, ein Veilchen von ihm zu grüßen, ich aber noch keines gesehen habe.“

„Das wirst du schon noch“, sang der Bach. „Möchtest du nicht mit mir singen? Ich habe schrecklich viel zu tun, weil ich so viel Schneewasser zum Meer tragen muss, und bei meiner Arbeit singe ich immer.“

orts 28 gs„Warum musst du so schwer arbeiten?“, fragte Peter.

„Ich tu‘s, weil es mir Spaß macht.“ Der Bach machte einen besonderen kleinen Wirbel zwischen zwei großen Steinen und drehte sich und schäumte vor Vergnügen. „Das Meer schickt immer eine Menge Wasser in die Wolken hinauf, und die Wolken lassen ihren Schnee auf die Berge fallen. Dann muss ich das alles zum Meer zurück­tragen, damit es wieder von vorne beginnen kann.“

„Was für eine Zeitverschwendung“, sagte Peter.

„Zeitverschwendung, wirklich!“, sprudelte der Bach ent­rüstet. „Was würdest du tun, wenn ich dir nicht gutes, frisches, sauberes Wasser zu trinken brächte, das möchte ich wohl ­wissen. Und wie könnte irgendetwas wachsen? Weißt du, Lebendiges könnte ohne Wasser nicht leben. ALLES hängt von der Arbeit ab, die ich tue.“

orts 29

„Oh, es tut mir leid“, sagte Peter. „Ich wollte dich nicht kränken, du bist ganz bestimmt sehr wichtig.“

„Gut“, sagte der Bach und sprudelte leise. „Weißt du, ich bin nicht der einzige Bach. Das soll offen gesagt werden. Du sollst nicht denken, dass wir Bäche eingebildet sind. Einige Bäche haben diesen Fehler gemacht und versucht, so zu tun, als ­seien sie die einzigen Rinnsale in der Welt. Und was ­geschah?“ Er hielt inne. „Sie trockneten aus. Das war ihr Ende. Nein, wir Bäche sind nicht wichtig, aber die Arbeit, die wir tun, ist sehr wichtig. Es ist wie bei dir. Du bist nicht wichtig, aber du DENKST! Und das ist sehr wichtig. Verstehst du, was ich ­meine?“

„Du meinst, mein Denken ist wichtiger als ich? Das verstehe ich nicht“, sagte Peter.

orts 30 gs
„Du meine Güte!“, sagte eine ­vertraute Stimme. Peter drehte sich um und sah Onkel Pfefferkorn, der auf einem kleinen Stein saß. „Du zerbrichst dir immer über irgendetwas den Kopf“, brummte er. „Ich glaube, das ist meine Strafe dafür, dass ich einem kleinen Jungen das GROSSE JAHR schenke. Also, was willst du wissen?“

„Der Bach sagt, ich sei nicht wichtig, nur meine Gedanken. Wie kann ein Gedanke wichtiger sein als der, der ihn denkt?“

„Das ist auch nicht so“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Aber wenn du nicht denken würdest, dann wärest du auch kein Denker, verstehst du?“

„Oh, jetzt verstehe ich“, sagte Peter.

„Genau das meint der Bach“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Er quasselt so viel und sagt nicht alles so deutlich, aber er meint es gut.“

„Meint es gut, in der Tat“, sprudelte der Bach ärgerlich. „Was könnte klarer sein, als ich es bin?“ Und er ließ sein kristallklares Wasser ruhig werden, so dass Peter jeden einzelnen Kiesel in der kühlen Tiefe sehen konnte.

„Du bist sehr klar und schön, das wissen wir alle“, sagte ­Onkel Pfefferkorn. „Aber du quasselst herum, nicht wahr?“

„Natürlich, das ist doch meine Aufgabe“, gluckste der Bach glücklich und ­schickte einen Spritzer Gischt hinauf, der den armen Onkel Pfefferkorn fast ertränkte, so dass er schnell verschwinden musste.

„Er ist ein alter Hitzkopf, nicht wahr?“, kicherte der Bach.

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Alles muss gewaschen werden

Eine ganze Weile folgte Peter dem Bach. Dieser schlängelte sich durch Wälder, Ebenen und Felder, bis er ein ­großer Fluss ­wurde. Unterwegs traf Peter das Veilchen und ­richtete ihm die Grüße vom Schneeglöckchen aus.

Das Veilchen dankte ihm und sandte ihm eine Duftwolke.

„Grüß die Rose von mir, wenn du sie siehst“, sagte es.

Nach langer Zeit erreichte der Strom das Meer. Nie zuvor hatte Peter das Meer gesehen.

„Es ist schrecklich groß“, flüsterte er vor sich hin. „Wie kann es so viel Wasser geben?“

„Du siehst nur einen kleinen Teil“, brauste das Meer und klatschte große Wellen mit Schaumspritzern an das Ufer. ­„Weiter draußen ist noch viel mehr!“

„Wie weit reicht das Wasser?“, fragte Peter.

„Siehst du die Linie, wo anscheinend das Ende ist?“, fragte das Meer. „Das ist nur der Anfang. Es sieht nur wie ein Rand aus, weil die Erde rund ist. Ganz gleich, wo du auf meiner Oberfläche dahinziehst, immer siehst du eine solche Linie. Es ist so wie für eine Ameise auf einem Ball.“

Peter lachte. Eine Ameise auf einem Ball, die glaubt, dass an der Stelle, über die sie nicht hinaussehen kann, die Welt zu Ende sei, das konnte er sich vorstellen. Für die Ameise wäre die Welt auf dem Ball genau wie ein Teller, gerade so wie für Peter das Meer.

Peter hob einen Kiesel auf und warf ihn in eine große ­Welle. Dann fiel ihm ein, dass auch das Meer lebendig ist, und er ­entschuldigte sich schnell.

„Oh, das ist schon in Ordnung“, sagte das Meer, „die ­Menschen tun das immer, das macht mir gar nichts aus. Es ­erspart mir die Mühe, die Steine einzeln fortzutragen.“

„Musst du das tun?“

„Oh ja. Früher oder später sinkt jedes Sandkorn auf den Grund und alle, die unten sind, werden an den Strand zurückgespült. Es ist eine fortdauernde Umwälzung.“

„Warum?“, fragte Peter.

„Alles muss gewaschen werden, du würdest doch auch nicht immer dieselben Kleider tragen, ohne sie zu waschen, oder?“

„Auf dem Meeresgrund müssen dann aber schrecklich viele Steine sein.“

„Gewiss. Einige kommen von hohen Bergen und werden ­immer kleiner auf dem Weg hierher.“

„Aber wie kommen sie herunter?“, fragte Peter.

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Plötzlich erschien Onkel Pfefferkorn, er kletterte aus Peters Tasche.

„Au!“, sagte Peter. „Das kitzelt.“

„Unsinn!“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Ich bin viel zu klein, um irgendjemanden kitzeln zu können.“

Auf einem Knopf balancierend, nahm er seine beste Schulmeisterpose an und zeigte mit seinem winzigen Finger auf ­Peter.

„Du wolltest wissen, wie die Kiesel herabkommen. Was glaubst du, was der Bach tut? Wie?“

„Er trägt das Wasser“, sagte Peter.

„Und was noch? Du würdest dich wundern, wie viel sonst noch mit dem Wasser heruntergeschwemmt wird“, sagte ­Onkel Pfefferkorn. „Steine und Samen, Schutt und Unkraut, alle ­möglichen Dinge.“

Plötzlich lachte er. „Du bist ein komischer Junge, möchtest du nicht im Wasser spielen?“ „Oh“, rief Peter, „darf ich? Hat das Meer nichts dagegen?“

„Natürlich nicht!“ Das Meer brach in ein schallendes Gelächter aus, das sich über das ganze Ufer entlangzog, so dass auch die kleinen Wellen in ein tausendfältiges, leises Lachen aus­brachen. „Komm herein, das Wasser ist fein!“

Peter rannte zum Ufer hinab und begann im Wasser zu spielen. Große, weiße Pferde kamen auf der Oberfläche angebraust, lösten sich in galoppierendem Schaum auf, der in immer kleinere Wellen zerfiel. Sie gaben jedoch alle acht, dass sie bei Peter sanfter wurden, denn sie können manchmal recht rau sein. Peter war so klein und hilflos, wenn sie sich über ihm brachen und ihn immer wieder herumpurzeln ließen.

Schließlich setzte er sich ganz müde an den Strand, und da ­bemerkte er, dass Onkel Pfefferkorn sich noch immer durchnässt und unglücklich an sein Knopfloch klammerte.

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„Aber Onkel Pfefferkorn“, rief er entsetzt, „du bist ja ganz nass, warum bist du nicht einfach verschwunden und trocken geblieben?“

„Ach“, knurrte Onkel Pfefferkorn und schüttelte das Wasser aus seinem Hut. „Ein bisschen Wasser tut mir nichts, aber zu viel davon könnte dir schaden. Weißt du, ich muss auf dich aufpassen!“

Und damit war er verschwunden.

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Alles kommt aus der Wurzel, weißt du?

Das Meer war traurig, als Peter weitergehen wollte, und brachte eine wunderschöne Muschel herauf, die er mitnehmen sollte. Es war eine Kaurimuschel, die Peter ans Ohr halten konnte; so konnte er das weit entfernte Meer ­rauschen hören, als wenn es in der Muschel wäre. Er wanderte eine lange Zeit und begegnete vielen seltsamen Dingen; aber oft blieb er stehen, nahm die Muschel aus der Tasche und lauschte dem Rauschen des Meeres tief drinnen.

Eines Tages lief er durch den Wald. Da gab es viele Bäume voller Blätter, leuchtend und mattgrün, hell- und dunkelgrün, und überall standen wundervoll duftende Blumen.

Peter schnupperte die Luft und lauschte, wie die Bäume über ihn flüsterten.

„Das ist Peter“, hörte er einen Baum zu einem anderen ­sagen. „Er hat das GROSSE JAHR bekommen. Meinst du, wir können mit ihm sprechen, oder sollen wir warten, bis er uns etwas fragt?“ Weil Bäume sehr gut erzogen sind, stören sie nie die Gedanken der Menschen, wenn man still sein will. Peter hatte jedoch das leise Murmeln gehört. Er wandte sich dem Walnussbaum zu und lächelte.

„Ich wollte euch nicht belauschen“, sagte er, „aber ich habe gehört, was du gesagt hast. Möchtest du gerne mit mir ­sprechen?“

„Ja, gerne“, sagte der Walnussbaum. „Gibt es irgendetwas, was du wissen möchtest?“

„Ich überlege“, sagte Peter, „woher ihr eure hübschen ­Kleider bekommt? Als ich vor einiger Zeit hier vorbeikam, habt ihr ganz traurig und kahl ausgesehen.“

„Wir lassen sie selbst wachsen“, rauschte die Birke, sie schwankte anmutig in dem leichten Wind. „Es freut mich, dass du sie magst!“

„Ich finde sie wunderschön“, sagte Peter. „Wie macht ihr das?“

„Oh, weißt du, es kommt alles aus der Wurzel“, fügte der Ahorn hinzu. „Das Leben beginnt unter der Erde und wächst von innen, bis wir groß werden und uns immer mehr Blätter und hübsche Sachen wachsen.“

„Ich wollte, ich könnte das auch“, sagte Peter traurig. ­„Ver­glichen mit euren sehen meine Kleider fast schäbig aus.“

„Oh, du machst dir deine eigenen“, brummte eine große ­Eiche. „Murre nicht, junger Mann, dir wachsen noch viel ­schönere Kleider als uns.“

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„Wie meinst du DAS?“, rief Peter und schaute auf seine ­ausgeblichenen Jeans herunter.

„Ich meine nicht deine äußeren Kleider, ich meine deinen Körper“, sagte die Eiche.

„Was ist damit?“ Peter war wirklich ganz verdutzt.

„Oh, oh, oh! Ich wusste, du würdest ohne meine Hilfe nicht weit kommen“, kam die Stimme Onkel Pfefferkorns von Peters Schulter. „Was verwirrt dich denn jetzt wieder?“

„Die Eiche sagt, ich lasse mir meinen eigenen Körper ­wachsen. Wie kann ich das?“

„Nun, schau dich an“, sagte Onkel Pfefferkorn, „dein Körper ist anders als alle anderen, oder?“

„Oh ja, bestimmt“, sagte Peter.

„Nun, es ist ein Peter-Körper, nicht wahr? Die Eiche hat ­einen Eichen-Körper, ich habe mehr oder weniger einen Onkel-­Pfefferkorn-Körper – eher weniger, denn meiner ist etwas ­Besonderes.“

„Das sehe ich“, sagte Peter. „Du verschwindest fortwährend, also ist es kein sehr fester Körper, aber wie lasse ich meinen wachsen?“

„Von innen her natürlich. Du bist du, also lässt du dir einen Körper heranwachsen, der zu dir passt; du würdest nicht in einen anderen passen!“

Peter dachte lange nach, dann sagte er: „Natürlich, das ­erklärt, warum alle unterschiedlich aussehen, weil sie verschieden SIND.“

„Hm!“, sagte Onkel Pfefferkorn, „es wird Zeit, dass du noch ein paar andere Blumen kennenlernst. Hast du der Rose schon die Grüße ausgerichtet?“

„Ich habe keine Rose gesehen“, sagte Peter.

„Gut, komm mit.“ Onkel Pfefferkorn sprang auf den Boden und ging los. Mit seinen kleinen Beinen ging er so schnell, dass Peter Mühe hatte, mitzuhalten. Bald kamen sie zu einem ­wunderschönen Garten. Da gab es weiße Rosen und rote ­Rosen, Iris, Lilien, Lupinen, purpurrote Stiefmütterchen und ­goldene Schlüsselblumen. Hier und da war ein Löwenzahn, dem es ­gelungen war, den Blicken des Gärtners lange genug zu ent­gehen, um zu blühen.

Onkel Pfefferkorn blieb bei einem Busch mit blassrosa ­Rosen stehen. Eine große, goldene Biene schwirrte suchend an Peter vorbei und kroch in eine halb offene Rose.

„Was macht sie da?“, fragte Peter.

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„Sie holt Nektar aus der Rose“, sagte Onkel Pfefferkorn.

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„Das ist nicht alles, was sie tut“, lächelte die Rose. „An ihrem wollenen Rock nimmt sie Blütenstaub mit und trägt ihn zu den anderen ­Rosen.“

„Wozu?“

„Weil der Blütenstaub auf andere ­Rosen kommen muss, damit die Samen wachsen können. Alle Bienen helfen uns, und wir helfen ihnen. Wusstest du nicht, dass alles in der Natur zusammen arbeitet?“

Peter dachte nach. „Ich glaube, ich verstehe“, murmelte er. „Der Bach hilft dem Meer, das Meer wäscht das Land, das Land nährt die Bäume, die Blumen nähren die Insekten, die Insekten tragen den Blütenstaub. Donnerwetter, es ist wunderbar, nicht?“

Dann kam ihm ein neuer Gedanke. „Was tue eigentlich ich?“, fragte er. „Ich scheine unter ihnen allen der Einzige zu sein, der nutzlos ist. Vielleicht könnte ich Blütenstaub tragen oder sonst etwas. Doch ich fürchte, dazu bin ich zu ungeschickt“, fügte er betrübt hinzu.

„Sei nicht traurig, Peter.“ Onkel Pfefferkorns Stimme war ­ungewöhnlich freundlich. „Du hast deine eigene Arbeit zu tun. Du kannst nicht die von jemand anderem tun, deshalb musst du herausfinden, was deine eigene Aufgabe ist. Aber mit der Zeit wird es dir gelingen.“

Er sprang auf Peters Schulter und schmiegte sich in seinen Kragen.

„Geh ein bisschen weiter“, flüsterte er, „ich möchte nicht, dass die Rose mich hört.“

„Einen Moment“, sagte Peter, als ihm sein Versprechen einfiel, das er dem Veilchen gegeben hatte. „Das Veilchen schickt dir die besten Grüße, Rose, auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen“, flüsterte die Rose und öffnete ein neues Blütenblatt.

Als Peter sich vom Rosenstrauch entfernte, sagte Onkel ­Pfefferkorn: „Ich möchte sie nicht kränken, weil sie nicht die wunderbaren Dinge tun kann, die du einmal tun wirst.“

„Ich? Ich bin doch zu gar nichts zu gebrauchen“, sagte Peter unglücklich.

„Du bist noch viel nützlicher als all die anderen.“ Onkel ­Pfefferkorn war wieder ernst. „Erinnerst du dich, dass ich ­sagte, du kannst denken?“

„Hmmm – ja.“

„Nun, ALL dies hier ist ein großer, riesiger Gedanke“, ­sagte Onkel Pfefferkorn und wies mit seinem ausgestreckten Arm über den Garten und die umliegenden Felder. „Es ist ein ­schöner Gedanke eines großen, wunderbaren Denkers.“

„Oh, toll, glaubst du, ich kann denken …?“

„Einen Moment mal“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Du fängst gerade erst an, aber du kannst schöne und nützliche Gedanken denken. Und wenn du im Gedächtnis behältst, nicht an dich selbst zu denken, wirst auch du eines Tages ein Denker von Welten sein, wie diese hier eine ist.“

Plötzlich war Onkel Pfefferkorn weg und Peter wieder ­allein. Aber es machte ihm nichts aus. Er musste über so vieles nachdenken.

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Du besitzt etwas sehr Kostbares

Den ganzen Sommer über wanderte Peter durch die ­Wälder und Felder und lernte die verschiedenen ­Sprachen aller Geschöpfe des Waldes zu sprechen.

„Du meine Güte“, dachte er bei sich, „die Sonne beginnt ­wieder nach Süden zu wandern, und der Herbst wird bald kommen. Bald wird mein GROSSES JAHR vorbei sein und ich werde nie mehr mit den Feldern und Bäumen sprechen ­können.“

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„Kopf hoch!“, sagte Onkel Pfefferkorn. Der kleine Mann saß in einer Eichelschale und schaukelte sanft vor und zurück. „Du hast etwas sehr Kostbares bekommen, etwas, das du immer behalten kannst.“

„Was denn?“, fragte Peter überrascht.

„Du hast ein Gedächtnis. Wenn du vermeiden kannst, dass dein Kopf von all den Hirngespinsten vernebelt wird, die die Leute beim Heranwachsen so ansammeln, dann wirst du immer das GROSSE JAHR haben. Es wird ein großes Leben sein anstatt nur ein Jahr.“

„Oh, Onkel Pfefferkorn!“ Peter wollte ihn umarmen, aber er fürchtete, seinem kleinen Freund weh zu tun. Also nahm er ihn auf und hielt ihn sich vor sein Gesicht. „Glaubst du das wirklich?“

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„Wenn du mich wohl herunterlassen würdest …!“, stotterte Onkel Pfefferkorn entrüstet. „Das ist unbequem für einen ehrwürdigen alten Herrn!“

Da bemerkte Peter, dass er Onkel Pfefferkorn verkehrt herum hielt. Er entschuldigte sich schnell und drehte ihn schnell richtig herum. Onkel Pfefferkorn setzte sich rittlings auf Peters Finger und sprach weiter:

„Du hast ja noch Zeit, bis das Jahr vorbei ist. Je mehr du ­herausfinden kannst, desto größere Schätze wirst du haben, an die du dich erinnern kannst. Also mach lieber weiter“, fügte er ernst hinzu und verschwand.

Ich bin so müde

Peter hatte es eilig. Er wollte so viel herausfinden, wie er nur konnte, bis das GROSSE JAHR vorüber war, und er wusste nicht, wo er damit anfangen sollte. Er stürmte so schnell davon, dass er kaum bemerkte, wie sich ein Zweig seines alten Freundes Ahorn in seinem Hemd verfing und ihn zurückhielt.

„Oh“, keuchte er, „lass mich los!“

„Wohin rennst du so schnell?“, fragte der Ahorn, aber Peter war schon weg.

Er stolperte über eine Wurzel der großen Eiche und fiel flach aufs Gesicht. „Warum so in Eile?“, knurrte die Eiche. „Du könntest stehen bleiben und deinen Freunden Guten Tag sagen.“

„Wohin in aller Welt stürmst du?“, rauschte die Birke.

Peter, der schon weiterrennen wollte, blieb plötzlich stehen.

„Ich – ich weiß es nicht“, stammelte er.

„Wenn du dir Zeit lassen würdest zu überlegen, wo du hinwillst, würdest du nicht so viel übersehen“, nörgelte die Eiche, „und du würdest dir nicht die Knie aufschlagen“, fügte sie hinzu und schaute Peters Beine an.

„Oh Schreck“, sagte Peter, „ich blute ja!“

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„Hier!“, sagte eine neue Stimme und Peter sah, wie ein ­großes Blatt zu Boden flatterte. „Ich heiße Ampfer. Leg mich auf deine Knie, und bald wird es aufhören zu bluten.“

„Vielen Dank!“, sagte Peter, während er das Ampferblatt um sein verletztes Knie wickelte.

„Donnerwetter“, sagte er und schaute den Ahorn an, „du BIST aber schön. Und du auch“, fügte er zur Birke hingewandt hinzu.

Die Birke schüttelte fröhlich ihre goldenen Blätter und sagte: „Hübsch sind sie, nicht wahr? Doch sie werden nicht lange so bleiben.“

„Oh, das ist aber schade“, sagte Peter.

„Macht nichts“, sagte die Birke, „ich werde mir im Frühjahr neue wachsen lassen, ich mag Grün sowieso lieber.“

„Du eitles, kleines Ding“, murmelte die Eiche, „ich wäre gern ein Immergrün.“

„Was ist der Unterschied?“, fragte Peter.

„Weißt du, die Fichten und Kiefern haben Nadeln statt ­Blätter und sie sind immer grün“, sagte die Eiche.

„Ich hörte jedoch einen Wacholderbusch sagen, dass er das satt habe“, sagte Peter. „Wahrscheinlich bist du besser dran, so wie es ist.“

„Peter hat Recht“, sagte der Ahorn und raschelte mit seinem rötlichen Kleid. „Ich möchte meine glänzenden Farben nicht gegen kleine grüne Nadeln tauschen, selbst wenn sie immer so bleiben würden, was sie im Übrigen nicht tun. Sie werden dauernd ersetzt, deshalb sieht der Baum immer grün aus.“

„Nun, MIR geht es genauso“, sagte Peter. „Ich sehe immer gleich aus; aber ich weiß, dass das nicht so ist, weil ich mich so schnell verändere, dass ich niemals derselbe bin wie vorher.“

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„Ich vermute, so geht‘s uns allen“, sagte die Eiche. Sie ­gähnte laut. „Ho, hum! Es ist angenehm, schlafen zu gehen.“

Plötzlich rief sie laut: „Hallo, ihr da oben! Fliegt ihr zurück?“

Peter blickte hinauf und sah eine Schar Wildgänse am ­Himmel. Sie flogen in zwei Reihen, in der Form eines großen V.

Die Leitgans antwortete, ohne die schöne Formation auf­zugeben: „Hallo, Eiche, noch wach?“

„Gerade dabei, einzuschlafen“, sagte die Eiche. „Dürfte ich dich bitten, mich zu rufen und aufzuwecken, wenn ihr zurückkommt?“

„Gewiss, das machen wir doch immer“, sagte die Gans. „Wir kommen mit dem Sonnenschein wieder zurück. Leb wohl jetzt.“

„Leb wohl, leb wohl!“, kam das Echo, als die Gänse Abschied nahmen und immer noch tadellos in Reih und Glied flogen, während sie schnell nach Süden verschwanden.

„Ich weiß nicht, wie es mit euch ist, ihr Lieben“, sagte die Birke, „aber ich bin sehr müde, fast mein ganzer Saft ist schon in die Wurzeln hinuntergegangen, sie fangen an zu wachsen. Also sage ich lieber Gute Nacht, du entschuldigst doch, wenn ich schlafen gehe?“, fragte sie Peter.

„Selbstverständlich“, sagte Peter. „Gute Nacht.“

Die Eiche schlief schon, deshalb ging Peter schnell davon.

Er fühlte sich einsam und wünschte, Onkel Pfefferkorn käme und würde mit ihm sprechen, aber der war nirgends zu sehen.

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Er hatte langsam verstanden, dass der kleine Mann nur kam, um seine Fragen zu beantworten. Deshalb versuchte er, sich eine wirklich schwierige Frage auszudenken, damit er ­kommen würde. Aber es fiel ihm keine ein. Dann sah er um sich, ob er selbst etwas herausfinden könnte. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Die Gänse! Was taten sie, wenn sie nach Süden flogen?

„Onkel Pfefferkorn!“, rief er. „Oh, Onkel Pfefferkorn!“

„Mach nicht so einen ohrenbetäubenden Lärm!“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Ich kann nicht einmal meine eigenen Gedanken verstehen. Was möchtest du denn wissen?“ Onkel Pfefferkorn hockte auf Peters Schulter und hielt sich die Ohren zu.

„Die Gänse, Onkel Pfefferkorn, wie können sie wissen, ­wohin sie fliegen?“

„Das ist eine gute Frage“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Wie weiß dein Blut, wohin es in dir fließen muss?“

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„In mir?“ Peter war überrascht. „Was hat das damit zu tun, dass …“

„Beantworte meine Frage!“, sagte Onkel Pfefferkorn streng.

„Nun, es gibt Adern und solche Dinge.“

„Genau! Ebenso wie es in dir Adern und Arterien gibt, gibt es auch Adern und Arterien in der Erde und in der Luft. Die Gänse folgen nur diesen Lebensströmen. Es ist einfach, wenn man weiß wie.“

„Oh!“ Peter dachte einen Augenblick nach. „Du meinst, sie kommen und gehen eine Straße entlang, die man nicht sehen kann?“

„Jawohl.“

„Oh!“, rief Peter. „Ist das nicht dasselbe, was die Erde tut, wenn sie um die Sonne kreist?“

„Auf Anhieb verstanden!“ Onkel Pfefferkorn strahlte Peter zufrieden an. „Peter, mein Junge, du MACHST DICH!“

Dann verschwand er und ließ Peter zurück, dem es ganz warm ums Herz war.

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Ich bringe dich jetzt zurück

Der Boden war hart, und es wurde kälter. Peter wusste, dass das GROSSE JAHR fast vorbei war.

„Um die Sonne! Um die Sonne!“, dachte er bei sich. „Ich möchte wissen, um was die Sonne selbst kreist!“

„Peter!“, ertönte Onkel Pfefferkorns Stimme.

Peter schaute sich um und sah den kleinen Mann, der sich an einen Pilz lehnte.

„Du musst jetzt nach Hause zurück“, sagte Onkel Pfefferkorn.

„Oh, Onkel Pfefferkorn!“ Peter weinte fast. „Ich habe nicht die Hälfte von dem herausgefunden, was ich wissen möchte.“ Dann fiel ihm ein, dass er ein ganzes Jahr weg gewesen war. Er überlegte, ob seine Mutter und sein Vater sich wohl große Sorgen um ihn machten. Seltsam, dass er das ganze Jahr über nicht an sie gedacht hatte!

„Mach dir keine Sorgen“, sagte Onkel Pfefferkorn, „sie ­wissen nicht, dass du fort warst.“

„Aber ein ganzes Jahr!“, rief Peter.

„Das meinst du“, sagte Onkel Pfefferkorn.

Plötzlich sprang er auf Peters Fuß und kletterte schnell auf seine Schulter.

„Halte dich fest!“, rief er. Und plötzlich waren sie fort, weit weg in dem blauen Himmel.

Sie landeten wie anfangs auf dem großen, schönen Stern, Peter erinnerte sich an ihn.

„Der Anfang und das Ende“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Weißt du, es ist immer dasselbe.“

Peter verstand nicht ganz.

„Warum müssen wir hierherkommen?“, fragte er.

„Weil du es selbst sehen musst“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Nun, wo ist jetzt die Erde?“

„Der dritte Fleck von der kleinen Sonne aus, links von der großen.“

„Ganz richtig! Kannst du erkennen, wo sie ungefähr auf ihrer Bahn ist?“

„An derselben Stelle wie voriges Mal“, sagte Peter.

„Was bedeutet das?“, fragte Onkel Pfefferkorn mit seiner strengsten Stimme.

„Nun, bedeutet es nicht, dass sie einmal um die Sonne herum gelaufen und wieder zurückgekommen ist?“, fragte Peter.

„Peter!“, sagte Onkel Pfefferkorn und tätschelte Peter am Hals. Peter dachte, es fühlt sich an wie der Kuss eines Glühwürmchens. „Peter, du machst mir Ehre. Ich werde dich jetzt nach Hause bringen. Denke nur daran: Wenn du die Erde und alles darauf immer so liebst wie jetzt, dann wirst du dein ganzes Leben lang das GROSSE JAHR haben. Du darfst dich vor gar nichts fürchten, weil du im INNEREN der richtige Peter bist und nichts DICH jemals verletzen kann.“

Onkel Pfefferkorn zog Peter freundschaftlich am Ohr. Dann rief er: „Los geht‘s!“

Sie rasten durch den von tausenden blitzenden Diamanten­sternen erfüllten Himmel. Peter war es, als sei auch er ein Stern, der auf einer großen Bahn dahinschoss, die niemand sehen konnte, aber die er doch irgendwie kannte.

Plötzlich fand er sich in seinem kleinen, weißen Bett wieder und merkte, wie er gerade aufwachte. Langsam öffnete er die Augen. Es war sein eigenes Zimmer, nichts hatte sich verändert. Seine Rollschuhe lagen in der Ecke, wo er sie vergangene Nacht hingelegt hatte. Die Feldblumen auf der Anrichte waren nicht einmal verwelkt.

„Nanu!“, rief Peter und setzte sich auf. „Vielleicht war das doch nur ein Traum!“

Aber war es nur ein Traum gewesen? Noch nach Jahren konnte Peter die Stimmen der Natur hören und manchmal, wenn er sehr achtsam lauschte, konnte er sie sogar verstehen.

ENDE

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Die Mythen leben weiter. Das ewige Mysterium: Der unzerstörbare, durch hundert Masken verborgene Kern der Wahrheit, der die Menschheit durch alle Zeitalter hindurch inspiriert hat. In jedem Land haben einige wenige gelebt, die durch ihr wagemutiges Eindringen in die Sphären, wo der Geist unentweiht wohnt, einen Becher aus der unvergänglichen Quelle der Wahrheit mit sich zurückgebracht haben. Die Nachkommen der frühen Schöpfer der Mythen sind die Skalden, die Dichter und Seher, die das Band der Kommunikation ungebrochen zwischen der Menschheit und den Göttern aufrecht halten. Sie bringen die ewige Weisheit durch die Jahrhunderte herab, während der Rest von uns fortfährt, sich an den 'göttlichen Zaubersprüchen' zu erfreuen, die in den Tiefen von uns eine vage Erinnerung an eine heilige Hoffnung wachrufen. Die Stimmen der Barden können niemals sterben, denn sie singen das Muster der Ewigkeit.

Die Masken Odins eröffnet eine Zeitdokumentation, die seit Zeitaltern versiegelt war und enthält das Wissen einer entfernten Vergangenheit, als Wissenschaft, Philosophie und Religion noch eins waren. Hier wird die altnordische Edda untersucht, und ihre Erzählungen von Göttern und Helden, Elfen und Zwergen werden entschlüsselt. Dabei werden die theosophischen Schlüssel verwendet, um einen Überblick über kosmische Lebenszyklen auf den vielen Ebenen des Weltenbaumes zu erhalten.

Die Mythen enthalten sowohl derben Humor als auch hochfliegende Inspiration. Elsa-Brita Titchenells Kommentar und die erfrischende Übersetzung der Hauptballaden liefern einen Schlüssel zum Verständnis der zeitlosen Weisheit der Barden jeden Landes.

Die Völuspá, das am besten bekannte Lied der älteren Edda, wurde fotografisch aus dem Originalmanuskript, dem Codex Regius, reproduziert, der in den Arna Magnussonar Sammlungen in Reykjavik, Island, verwahrt wird.

Vorwort

Hovern Sie über die Hervorgehobenen Begrife um die Glossareinträge zu lesen.

Viele Menschen, die von der Edda oder den Altnordischen Mythen hören, denken hauptsächlich an Balder, den Sonnen-Gott, der von einem Mistelzweig getötet wurde; oder sie mögen den mächtigen Thor heraufbeschwören, der Donner und Blitz schleudert, und dessen Fußtritte die Erde erbeben lassen. Oder sie erinnern sich vielleicht an Loki, den Schwindler und Unruhestifter ohne böse Absicht, der ständig Unruhe zu entfachen scheint, am Ende aber häufig durch einfallsreiche Intelligenz die Schwierigkeiten löst, die er heraufbeschworen hat.

Die Masken Odins ist eine provokatorische Studie aus „der Weisheit des Altnordischen“. Während diese Studie die verschiedenen Aspekte und Formen schildert, die Odin annimmt um Kenntnis von den neun Welten, die von Göttern und Riesen, Menschen, Elfen und Zwergen bewohnt werden, zu erlangen, hat Elsa-Brita Titchenell ein größeres Ziel im Auge. Als eine ernsthafte Schülerin sowohl der Edda als auch der Theosophie ist ihr Weben von kosmischer Reichweite. Ihre Kette repräsentiert die theosophia perennis oder die immerwährende Gottes-Weisheit und ihr Schuß die Edda, deren vielfarbige Fäden sie in farbenprächtige und oft inspirierende Interpretationsmuster webt.

Der Welt älteste Überlieferungen behaupten, daß vor langer Zeit alle Völker, wie weit auch immer voneinander getrennt, die gemeinsamen Erben eines Systems heiliger Wahrheiten waren, die der frühesten Menschheit von göttlichen Wesen aus höheren Regionen am Anfang übermittelt worden waren; und weiter, daß die Schöpfer der Mythen jeden Landes in größerem oder kleinerem Maße die Übermittler archaischer Weisheit oder Wissenschaft waren. Vor diesem Hintergrund versucht die Autorin einige der bedeutenderen Sagen der Altnordischen Edda zu deuten, indem sie sie aus dem schwedischen Text rückübersetzt und sie mit dem ursprünglichen isländischen Text vergleicht. Ihr Ziel ist, nicht gerade eine andere Version der Edda zu schmieden, zumal bereits verschiedene in England sowohl in Prosa als auch in Versform verfügbar sind, sondern vielmehr „zum Kern der inspirierten Bedeutung vorzudringen“, der in den mythischen Überlieferungen der Welt verborgen ist. Dieses zu versuchen würde außer Frage gestanden haben, glaubt sie, wenn nicht zwei radikale Änderungen im allgemeinen Gedankenleben stattgefunden hätten: erstens, die Enthüllung eines bedeutenden Teils der universalen theosophischen Philosophie vor etwa einem Jahrhundert durch H. P. Blavatsky und ihrer befreienden Wirkung auf den menschlichen Geist, und zweitens, die neuen Entwicklungen in der Wissenschaft des Westens.

In Teil I umreißt Elsa-Brita Titchenell die Grundzüge der an dem Drama der kosmischen und irdischen Schöpfung beteiligten Hauptcharaktere, wie sie in der Edda aufgezeichnet sind, einschließlich der Begabung der frühen Menschheit mit Geist, Verstand (mind) und Vitalität durch drei Asen (Götter), so daß wir Menschen im Laufe der Zeit „Gottschöpfer“ werden könnten. Sie beschreibt die alten Mythenerzähler als Philosophen und Wissenschaftler von Format, indem sie die theosophischen Lehren und die laufenden Ergebnisse der Astrophysik und der Physik mit den traditionellen Symbolen in Zusammenhang bringt. Für die altnordischen Barden oder Skalden symbolisierte das Zusammenspiel zwischen den Göttern und den Riesen die fortwährende Wechselwirkung von Geist und Materie auf einer Reihe von „Felsbänken“ oder Ebenen, so wie die „Lebensflüsse“ sich, jeder nach seiner eigenen Art, durch die verschiedenen Wohnungen der planetarischen oder solaren Sphären innerhalb Altvater Odins Herrschaftsbereich bewegen.

In Teil II geben die den übersetzten Liedern vorangehenden Anmerkungen der Autorin einen unschätzbaren Führer durch das verwirrende Labyrinth der Metapher und der symbolischen Anspielung. Die eröffnende Saga ist die wohlbekannte Völuspá oder der Seherin Weissagung, die von der Entwicklung der Welten, von Odins Suche nach Weisheit in den Bereichen der Materie, und von dem „Sturz des Weltenbaumes“ erzählt, wenn die Götter sich zurückziehen und die Erde nicht mehr ist – bis die Vala (Prophetin) eine andere Erde sieht, die sich aus dem Meer erhebt, als alte Übel zerstreut werden und die Asen zurückkehren. In „Des Hohen Lied“ lesen wir von Odins vollkommener Erfahrung, als er neun Nächte lang „in dem von Sturm geschüttelten Baum“, dem Lebensbaum, hing, so daß er „die Runen aufnehmen“ und den Met der Allwissenheit hätte trinken können.

Es gibt viel Erfreuliches und Instruktives in der Nacherzählung der einzelnen Lieder, wobei jedes seine eigene Geschichte und Wahrheit vermittelt. Zugegebenermaßen wird nur ein Teil des verfügbaren Materials behandelt, und das stammt hauptsächlich aus der poetischen oder Älteren Edda von Saemund dem Weisen. Mehr noch, der Herausforderung bewußt, die durch die gebräuchliche symbolische Mysteriensprache durch die Dichter-Philosophen des Altertums aufgeworfen wird, ist die Autorin hoffnungsvoll, daß andere in diesem „Bruchstück der Runen-Weisheit“ die Anregungen finden werden, um weiteren und vollständigeren Studien der altnordischen Aufzeichnungen nachzugehen.

Ob Elsa-Brita Titchenell als Edda-Kundige oder Theosophin, Amateur-Wissenschaftlerin, Mythenerzählerin oder Übersetzerin schreibt, so hat sie für Die Masken Odins durch eine klare und erkenntnisreiche Gelehrsamkeit einen ehrenvollen Platz unter der Edda-Literatur verdient.

GRACE F. KNOCHE

Einführung

Es war in den frühen 1950er Jahren, als die Schreiberin wahllos ein Buch in der Theosophischen Bibliothek in Altadena herauspickte – einen schön gebundenen Band der Edda in schwedischer Sprache. Obwohl ich seit der Kindheit wenigstens teilweise mit den altnordischen „Göttergeschichten“ vertraut bin, war dies das erste Mal, daß ich die poetischen Lieder der Älteren Edda gelesen habe. Als ich in den Versen herumschmökerte und mich an ihren bildhaften Ausdrücken erfreute und durch die originellen Redewendungen entzückte, wurde ich plötzlich gleich einem Blitzstrahl, durch ein blendendes Aufblitzen des Sinninhaltes durch einen Hinweis auf eine Grundwahrheit begeistert. Zuerst skeptisch, begann ich mit größerer Aufmerksamkeit zu lesen und wurde bald davon überzeugt, daß die Edda zu den heiligen Schriften der Welt als eine ursprüngliche Schrift, eine Goldmine der Naturgeschichte und ein spiritueller Schatz, zählt. Dies wird auch durch ihren schwedischen Namen gudasaga – eine göttliche Geschichte oder göttliches Zauberwort – die archaische Form des Wortes „Evangelium“ – suggeriert.

Viele Jahre später, nach häufigem Überprüfen und Vergleichen mit anderen Mythen, hatte sich genügend Beweismaterial angesammelt, um einen Vergleich von wenigstens ein paar Bruchstücken zu rechtfertigen, die eine erkennbare esoterische Bedeutung verborgen zu haben scheinen. Angesichts der großen Materialfülle in den altnordischen Mythen war es notwendig gewesen, selektiv zu sein, teilweise, weil es von vielen Erzählungen verschiedene Fassungen gibt, und teilweise, weil es der Zweck dieses Buches ist, die Auslegungen jener Mythen herauszustellen und anzudeuten, die von besonderer Relevanz in unserer Zeit sind.

Die meisten der Lieder und Geschichten darin wurden aus dem Codex Regius – dem „königlichen Kodex“ – übersetzt, der von Saemund, dem Weisen, vor tausend Jahren niedergeschrieben wurde, obwohl ihr Inhalt zweifellos viel länger bekannt war. Heute sind sie aufgrund zweier scheinbar unabhängiger Umstände einleuchtend: erstens, die Enthüllung eines großzügigen Teils der universalen theosophischen Philosophie im späten 19. Jh. und der sich ausbreitende Einfluß, der dies ausgeübt hat; und zweitens, in der engen Nachfolge dessen: die Entwicklung einer aufgeklärten Wissenschaft im Westen.

Die Geschichte des Codex Regius ist selbst eine faszinierende. König Friedrich III. von Dänemark schickte Thormod Torfaeus mit einem offenen Brief, datiert vom 27. Mai 1662, nach Island, der ihn ermächtigte, alte Manuskripte und anderes Material zu erwerben, das Informationen über die Isländische Geschichte enthält. Er übermittelte es von Bischof Brynjolv Sveinsson, einem leidenschaftlichen Sammler von Denkwürdigkeiten seit seiner Übernahme des Bischofsamtes von Skalholt im Jahre 1639. Bald danach schickte der Bischof dem König ein Geschenk mit verschiedenen Manuskripten; Torfaeus stellte einen Katalog von diesen Manuskripten zusammen, den Gudbrand Vigfusson in seinen Vorbemerkungen zur Sturlunga Saga aufnimmt. In dieser Sammlung wird das Manuskript Nr. 6 angeführt und mit „Edda Saemundi; quarto“ betitelt. Es war ein Schatz der Königlichen Bücherei zu Kopenhagen bis es vor wenigen Jahren nach Island zurückgebracht wurde, wo es jetzt in der Arna Magnussona Kollektion untergebracht ist. Niemand weiß, wie Bischof Brynjolv in dessen Besitz gelangte, aber er muß es einige zwanzig Jahre vor Torfaeus Ankunft erworben haben, da er seinen eigenen Namen in Latein, Lupus Loricatus (verkürzt zu LL), mit dem Datum 1643 eingetragen hatte. Er besaß eine Kopie auf weißem Pergament.

Verschiedene Versionen der Edda sind teilweise noch vorhanden. Eine Kollektion handgeschriebener Texte ist die des Arne Magnusson, von der angenommen wird, daß sie aus derselben Quelle wie die des Saemund stammt. Eine andere ist der Codex Wormianus (aus der die Gesänge von Rig und das Pilgerlied entnommen sind), und Flatöboken. Die Zauberlieder der Groa, das Fjölswinnlied und das Lied von Odins Leichnam stammen aus schwedischen Übersetzungen von Kopien auf Papier; diese kommen im Codex Regius nicht vor. Das Mühlenlied stammt aus Snorris Edda.

Die hier vorgetragenen Lieder wurden zuerst aus zwei schwedischen Versionen von Gödecke und Sander ins Englische übersetzt, unter häufiger Erwähnung der Kommentare des schwedischen Gelehrten Viktor Rydberg. Danach wurde das Ergebnis mit der Wimmer und Jónsson Saemundar Eddu, einem fotografischen Faksimile des alten isländischen Codex Regius Manuskriptes mit einer gedruckten Transliteration, die jeder Seite gegenübersteht, verglichen. Es ist ein fortlaufender Text mit keinerlei Aufteilungen und nur einem eingefügten Titel, um den Anfang jeden Liedes zu kennzeichnen. Die meisten Übersetzungen werden in Verse von sechs oder acht Zeilen, wie durch den Rhythmus angezeigt, unterbrochen, aber wir haben in vielen Fällen vorgezogen, die Verse als Vierzeiler zu schreiben. Es gibt keine Verse, aber ein Stabreimmuster, das mit dem verwendeten unverkennbaren Tetrameter in sehr vielen frühen Heldengedichten den Liedern einen eigenartigen Charme verleiht.

Die Edda besteht aus zwei Hauptteilen wie die meisten Schriften, die sich mit der Schöpfung des Kosmos und der Evolution der Menschheit beschäftigen. Der erste Teil wendet sich an die umgebende Welt, der zweite an die „Heroen“: Rassen der Menschheit und ihre Entwicklung durch Stufen der Unreife in die denkenden Männer und Frauen, die wir geworden sind. Die letzteren Geschichten machen manchmal Gebrauch von geographischen Merkmalen und aktuellen historischen Ereignissen, um das größere Bild, das sie verschleiern, zu illustrieren. Dieses Werk konzentriert sich hauptsächlich auf den früheren Teil, der sich mit großen Prinzipien und universalen Ereignissen beschäftigt. Dabei wird die grundlegende Philosophie der göttlichen Natur aufgespürt, die überall in den Wechselfällen des menschlichen Wagnisses wirksam wird.

Bei der Übersetzung mußten Stabreim und Versmaß geopfert werden, da es unsere Absicht ist, vielmehr die philosophische und wissenschaftliche Bedeutung auszudrücken als nur den poetischen Stil wiederzugeben. Es existieren bereits verschiedene englische Übertragungen in Vers und Prosa. Viele von ihnen werden von detaillierten Analysen der im Original verwendeten Versform begleitet. Kurz, unser Ziel ist nicht nur eine andere Übersetzung zu liefern, sondern zu versuchen, zum Kern der inspirierten Bedeutung vorzudringen, der häufig in den Mythen verborgen ist. Die Interpretation des inneren Sinnes in der Edda wurde durch die Anwendung des führenden aufklärenden Werkes unserer Zeit, Die Geheimlehre, ermöglicht. Ihre Autorin, H. P. Blavatsky, stellte eine wunderbare Ansammlung von Mythen nebeneinander, die sich sowohl mit der Kosmogonie als auch der Menschheitsgeschichte und der Bestimmung der Lebewesen beschäftigen. In diesem Werk gibt es Schlüssel, die zeigen, daß die mannigfachen Ausdrucksweisen der verschiedenen mythischen Schriften demselben majestätischen Muster unterliegen. Man gibt uns eine Übersicht über das Universum, seine Periodizität der Funktion und der Ruhe, und wir nehmen wahr wie das göttliche Bewußtsein sich selbst periodisch als ein Kosmos in Raum und Zeit reflektiert.

Um die Information, welche die Edda enthält, zu finden, müssen wir die Etymologie der Namen und ihre Begriffsinhalte prüfen, die in einigen Fällen zahlreich sind. Hierfür erwies sich Cleasbys Isländisches Wörterbuch, das von Gudbrand Vigfusson im Jahre 1869 vervollständigt wurde, als unschätzbarer Wert, denn es enthält zahlreiche Zitate aus den Originalmanuskripten und bietet manchmal eine erstaunlich intuitive Wahrnehmung. Undersökningar i Germansk Mitologi (Teutonische Mythologie) von Viktor Rydberg enthält auch eine gewissenhafte Prüfung von Ausdrücken und viele Informationen.

Ein großes Problem mit einem Buch wie diesem ist, wie das Material in einer praktischen Art arrangiert werden kann, die keine übermäßige Wiederholung erforderlich macht. Die Lieder werden in Englisch mit dem Charakteristischen so unverändert wiedergegeben, als es möglich ist, und jedes wird von erklärenden Bemerkungen eingeleitet. Zusätzlich wird gewissen Themen eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet; einige von diesen werden unvermeidlich mehr als einmal erscheinen, obwohl jede Betrachtungsweise etwas verschieden ist. In den Anmerkungen werden Versnummern angegeben, um anzuzeigen, woher eine Interpretation abgeleitet worden ist. Unnötig ist es zu erwähnen, daß viele Bedeutungen häufig in einer einfachen Passage enthalten sind, und oft sind sie lediglich Hinweise, die eine persönliche Einsicht auf Seiten des Lesers erfordern, denn es ist nicht immer möglich, jedes Symbol ausreichend zu erklären, noch ist es notwendig. Die Schreibweise von Namen ist absichtlich Englisch, einige werden in Isländisch (z. B. Aesir), andere in Schwedisch (z. B. Äger) wiedergegeben, damit der Englisch sprechende Leser sie visuell besser unterscheiden kann, und weil in vielen Fällen die Wurzel eines Namens eine suggestive Bedeutung in der einen Sprache besitzt, die aber nicht zutrifft, oder in der anderen Sprache eine leicht unterschiedliche Assoziation hat. Es gibt auch viele Beispiele, wo die isländische Grammatik variiert oder eine schwedische Plural- oder Definitivform ein sonst vertrautes Wort alles, nur nicht erkennbar machen würde. Dieses erfordert unvermeidliche Kompromisse in einer englischen Wiedergabe. Also, wo das Schwedische å verwendet, haben wir das Isländische á vorgezogen. Wenn möglich, wurden Namen ins Englische übertragen, um einen Leser in die Lage zu versetzen, seine eigene Deutung zu finden. Ein Glossar und ein Index sind ebenfalls zur Verfügung gestellt worden.

Anmerkungen zur Übersetzung der amerikanischen Originalausgabe

Die in eckigen Klammern stehenden Wörter wurden vom deutschen Übersetzer aus Gründen eines besseren Verständnisses zusätzlich eingefügt. Namen und Bezeichnungen wurden aus der englischen Schreibweise in die deutsche Schreibweise in Anlehnung an folgende Werke übertragen:

Wolfgang Golther: Handbuch der germanischen Mythologie, Magnus-Verlag 1908; Felix Genzmer: Die Edda, Eugen Diederichs Verlag 1982; R. L. M. Derolez: Götter und Mythen der Germanen, VMA-Verlag Wiesbaden 1963; Hans Kuhn: Die Götterlieder der Älteren Edda, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1906.

An dieser Stelle möchte ich es nicht versäumen, meiner lieben Frau Dorothea für ihre Mitarbeit und Durchsicht der Übersetzung zu danken.

– DR. GERHARD FISCHER

Danksagung

Vielen Dank gebührt allen Menschen, die geholfen haben, dieses Buch ins Dasein zu bringen: zuerst dem verstorbenen James A. Long, der während seiner Leitung der Theosophischen Gesellschaft mich zum Studium der Edda ermutigte und acht Artikel ihres theosophischen Inhaltes wegen in Band IV der Zeitschrift SUNRISE in den Jahren 1954–1955 und ein weiteres halbes Dutzend, das über eine Reihe von Jahren erschien, aufnahm. Dank auch Kirby Van Mater, ohne dessen Ansporn dieses Buch nie begonnen worden wäre; danach Sarah Belle Dougherty, die das Manuskript las und vorschlug, das Material in eine bessere Ordnung umzustellen; A. Studley Hart, der manche redaktionelle Zauberei vollbrachte; meiner lieben Freundin Ingrid (Binnie) Van Mater, die das Werk nicht nur mit einem klaren und kritischen Auge las, sondern auch den Inhalt des Indexes und des Glossars überprüfte und bei allen heiklen, unvermeidlichen Aufgaben half, die der Vollendung eines Buches vorausgehen müssen. Danach lasen sie Manuel Oderberg, Eloise und Studley Hart Korrektur. Außerdem muß ich dem Produktionsstab der theosophischen Universitätsdruckerei danken, vor allem Will Thackara, Raymond Rugland, Marc Davidson und John Van Mater jr., die bei der Herstellung des Werkes mit handwerklichem Können unendliche Mühen auf sich nahmen. Vor allem gilt mein Dank Grace F. Knoche, ohne deren Unterstützung, nichts von dem Obigen herausgekommen sein würde.

ELSA-BRITA TITCHENELL
31. Mai 1985
Altadena, Kalifornien

1 – Mythen – eine Zeitdokumentation

Hovern Sie über die Hervorgehobenen Begrife um die Glossareinträge zu lesen.

Zu den faszinierendsten Dingen über Mythen gehört der Anschein, daß sie dauerhafter seien als das Leben. Anonym und zeitlos scheinen sie in einer universalen Rumpelkammer unerschaffen zu existieren und darauf zu warten, entdeckt zu werden. Ihre Botschaft ist so ewig wie der grenzenlose Raum, so alldurchdringend wie die Energien, die den kosmischen Staub in Spiralen und atomare Welten in die organisierten Formationen, die größere Welten sind, herumwirbeln. Es kann nur eine Wahrheit existieren, eine allumfassende Wirklichkeit, die das allgemeine Eigentum der Menschheit ist. Sie hat immer existiert, und sie besteht noch heute. Aus dem weißen Licht dieser ursprünglichen Wahrheit strahlen die Mythologien und Schriften der Welt hervor, und, obwohl das Licht noch vorhanden ist, wird es durch unzählige menschliche Meinungen (minds) in die Spektralfarben teilweisen Wissens und verschiedener Glauben gebeugt. Trotzdem können wir in ihnen durch Vergleiche der verschiedenen Mythologien in ihnen die Wahrheit, die aus ihnen emporsteigt, noch erkennen.

Unter den vielen Äußerungen der alten Überlieferungen in verschiedenen Teilen des Globus finden wir, daß die altnordischen Edden Wissenschaft und Philosophie von hohem Rang enthalten, ein abgerundetes Wissen, das auch die Religion für einige lang vergessene Völker bildete, die dem Zeitalter der Wikinger, niemand weiß wie lange, vorausgegangen sein müssen. Wenn wir sie nach den Gedanken beurteilen, die sie in ihre Erzählungen aufnahmen, so schlossen sie in ihr Weltbild ein Bewußtsein von vielen der Kräfte und Mächte ein, die wir durch verschiedene Namen kennen, und die durch die Wissenschaft während des letzten Jahrhunderts wiederentdeckt worden sind. Wenn man bedenkt, daß die altnordische Tradition, obwohl sie in wichtigen Punkten auf eine unbekannte Vorgeschichte zurückdatiert, durch die wilde Welt der Wikinger-Krieger hindurchgehen mußte und sich zweifellos auf eine buntere Palette in der Beschreibung der Abenteuer der Götter und Riesen als ursprünglich benutzt, stützen mußte, ist es bemerkenswert, wieviel tiefe Philosophie für uns heute noch wahrnehmbar ist.

Viele Generationen, die die Geschichte erzählten und wiedererzählten, ermangelten des Verständnisses ihrer Bedeutung. Für sie dienten die Geschichten lediglich dazu, sich die langen dunklen Nächte zu vertreiben und die Himmel und die Erde mit Göttern und Helden zu bevölkern. Wenn sie die alten Überlieferungen beiläufig für spätere, empfänglichere Generationen bewahrten, wer kann sagen, ob dies nicht ein Ziel der Mythenschreiber war?

Es ist wahrlich ein Wunder, daß diese Gesänge und Geschichten überhaupt nicht zu existieren aufhören, wenn wir uns überlegen, wie wenige unserer Bestseller selbst das Jahr ihrer Veröffentlichung überleben. Wenn die Mythen nur banale wirkliche oder erfundene Ereignisse aufzeichneten, würden sie schon lange vorher vergessen worden sein. Ihre Langlebigkeit muß sich auf eine eingebaute Beständigkeit gründen, die auf einem Boden der Realität ruht, ganz unabhängig von klimatischen und regionalen Eigenschaften, die ihre Färbung den Geschichten verleihen. Die meisten Menschen sind mit einer Fülle von klassischen Erzählungen, Heldengeschichten und den Mythologien verschiedener Menschengruppen vertraut. Wir lernen sie als Kinder, und als Eltern geben wir sie weiter ohne zu fragen, woher sie gekommen sind, einfach weil sie interessant sind und wir uns an ihnen erfreuen. (Und doch hat das eigentliche Wort „Mythe“ die Bedeutung von etwas nicht Echtem, ohne jegliche Basis bekommen.) Durch gesprochene Worte seit Zeitaltern übermittelt und gesungen von Menschen, die unglaubliche Mengen von Versen auswendig lernen mußten, ist es fraglich, ob jene Barden weniger genau waren als das geschriebene Wort. Wir alle wissen, wie vehement Kinder gegen jede Änderung im Wortlaut der klassischen Märchen protestieren. Vielleicht erkennen sie instinktiv, daß diese Geschichten heilig sind und gegen eine Abwandlung geschützt werden müssen.

Nicht alle Mythen sind natürlich gleich bedeutungsvoll. Manche sind nur unterhaltsam; andere deuten sachliche Wissenschaft an, wenn auch in einem ungewohnten Dialekt abgefaßt, während Fachgebiete, die wir als diskret und getrennt betrachten – Astronomie, Biologie, Anthropologie, Psychologie, Physik – als ein integriertes Ganzes behandelt werden. Anspielungen auf lange vergessene Geschichten sind für uns bedeutungslos; jedoch bewahren Mythen, die sich mit Themen beschäftigen, die zeitlose und universale Anwendung finden – die Schöpfung von Welten, astronomische Ereignisse, Naturgeschichte – für Zeitalter Wissenschaft, Philosophie und Religion. Und sie tauchen aus der Dunkelheit wieder auf, wann immer eine Generation für ihre Botschaft empfänglich ist.

Da jede Mythologie, die von den ältesten Überlieferungen abstammt, dieselbe große Kosmogonie wiedergibt und ebenso Instruktionen für ein ethisches Leben in ihrem eigenen unverwechselbaren Code vermittelt, können wir jenen Code durch Vergleichen verschiedener Systeme entziffern. Ohne eine solche Entzifferung bleiben viele Erzählungen, archäologische Funde, Legenden, Opern und Mythen bar jeglicher Bedeutung, ein Einband ohne Buch, ein Rahmen, der eine leere Leinwand umgibt. Wenn wir aber nach der inneren Botschaft in den Mythen suchen, können wir in der Tat feststellen, daß sie eine wertvolle Zeitdokumentation sind – nicht voll von Dingen aber voll von Weisheit, die in Gestalt von Geschichten unser Erbe alles dessen intakt hält, was dauernden Wert besitzt.

Die Sprache der Mythen

Die Mythologie ist nicht lediglich eine Sammlung von Geschichten; sie ist eine Sprache. Wie andere Sprachen verwendet sie Symbole, um Ideen entsprechend den gebräuchlichen Assoziationen zu vermitteln: Symbole wie „oben“ , „hoch“, „erhaben“ geben den Begriffsumfang von Dingen an, die edel und erhebend sind, und „unten“, „niedrig“, Dinge, die unedel und unerwünscht sind.

Eine in der Edda häufig gefundene Symbolart ist die „Kenning“.1 Man glaubte, daß, wenn sie einem Fremden ihren wirklichen Namen nannten, dies gleichbedeutend war, ihm Macht über sie zu geben, und deshalb wurde ein beschreibender Beiname, eine Kenning, vorgezogen. Um die Edda zu verstehen, müssen wir daher die Etymologie von Namen prüfen, denn häufig wird das ein Schlüssel für die Rolle liefern, die durch einen Charakter in einer besonderen Situation gespielt wird. Wir haben versucht, die Kennings so zu übersetzen, wie sie erscheinen, um dadurch dem Leser eine Gelegenheit zu geben, ihre Bedeutung für sich selbst zu erkennen. Häufig wird auch eine Kenning benutzt, um die Aufmerksamkeit auf den besonderen Aspekt einer Person oder eines Objekts zu lenken, die gerade sachdienlich ist.

Zum Beispiel, als die vom Lebensbaum gefallene jammernde Idun weinend auf dem Boden liegt, erzählt die Ballade, wie „Tränen von ihres Kopfes Schilder fallen“. Dies mit „von ihren Augen“ zu übersetzen, würde natürlich erlaubt sein, würde aber das Gedicht seines auffälligen Reizes berauben. Ebenso wird der Lebensbaum, Yggdrasil, selten zweimal auf die gleiche Weise benannt. Er kann „der Lebensträger“, „der Schattenspender“, „der Bodenabdecker“, „die edle Esche“, „Odins Pferd“ oder „Odins Galgen“ (auf dem er gekreuzigt wird) genannt werden.

Die nordischen Mythen machen auch von Wortspielen Gebrauch, die eine höchst effektive und ausgeklügelte Lehrmethode sein können. Ein hervorragendes Beispiel ist die Erzählung von Cinderella, deren genauer Titel einen Reichtum an Weisheit enthält. Sie ist die französische Cendrillon (Aschenbrödel) und die englische Little Polly Flinders (die in der Asche saß). Es ist eine zu gut bekannte Erzählung, als daß sie wiederholt zu werden braucht, und die Symbologie ist ganz klar. Kurz, das verwaiste Kind, wird von der bösen Stiefmutter und ihrer Teufelsbrut versklavt: Die menschliche Seele, die ihren Kontakt mit dem Vater im Himmel verloren hat, gelangt unter die Macht der niedrigeren Seite der Natur, mit der sie nicht wirklich verwandt ist. Beachten Sie, daß es eine Stiefmutter ist, nicht ein wahrer Elternteil, die den Bösewicht spielt. Ihrer eigentlichen Stellung entfremdet, arbeitet die Seele daran, ihre rechtmäßige Stellung wiederzugewinnen. Durch Reinheit und Tugend erstrebt sie die Hilfe ihrer guten Fee, der spirituellen Seele. Viele Erzählungen verwenden dieses Thema von einer geheimnisvollen Fee und Verleiherin von Gaben, die später die feineren, durch Verdienst entfalteten Qualitäten einer Seele darstellen. Diese Elfenkraft, die die menschliche Seele mit ihrer göttlichen Quelle vereinigt, ist der Kanal (die Elfe), die ihrem Kind alle erstrebten spirituellen Talente übermittelt.

Die nordische Cinderella wird Askungen – (ask Asche + unge Kind), „das Aschenkind“ genannt. Sie ist ein Schößling der „edlen Esche“, Yggdrasil, des Lebensbaumes, der die Welten mit allen ihren Lebensformen auf seinen Zweigen trägt. Alle Lebewesen sind Kinder der kosmischen Esche, vom winzigsten bis zum größten Teilchen. Mehr noch, jeder von uns ist nicht nur ein Glied des kosmischen Baumes, sondern selbst ein Lebensbaum.

Das Aschenkind wird auch zyklisch aus seinem früheren Selbst, wie der Phönix, wiedergeboren. Es besteht auch eine Verbindung mit Gullweig, „dem Durst nach Gold“, der den bewußten Geist drängt, das „Gold“ der mystischen Alchemisten – die Weisheit – zu suchen. Von Gullweig wird gesagt, daß sie „dreimal verbrannt und dreimal wiedergeboren wurde, doch sie lebt noch immer“ (Völuspá 22).

Wenn Askungen ás-kunnigr geschrieben wird, enthüllt es weitere Bedeutungen dieses vielseitigen Ausdrucks: zuerst „Gott -verwandt“ – d. h. von göttlicher Abstammung; und wieder „Gott-Kenntnis“ – Kenntnis der Göttlichkeit; und auch „Wissen wie ein Gott“ – göttliche Weisheit besitzen; und auch „den Göttern bekannt“. Jede von diesen könnte die vortreffliche Seele beschreiben, die menschliche Vollkommenheit erlangt hat. Eine weitere Bedeutung taucht auf, wenn wir das Wort ás-kungen teilen: dies bedeutet „der König von Aesir“ und läßt darauf schließen, daß der Herrscher der Götter dem verwaisten, heimatlosen Kind in der Geschichte innewohnt. So vermittelt der Titel dieses Märchens durch ein geniales Wortspiel eine reiche Philosophie.

Viele Interpreten haben den Teil hervorgehoben, der bei rassischen Wanderungen in den mythischen Geschichten eine Rolle spielte, und zweifellos repräsentiert Odin, dessen Abenteuer und Führerschaft in Geschichtsform weiterleben, ein früheres Volk, möglicherweise aus einer der tieferen Schichten von Troy, wie von mehr als einem Mythologen vorgebracht wird. Trotzdem erlaubt dieses aber auch andere Anwendungen der Sagen – astronomische, psychologische und spirituelle. Dasselbe gilt für andere Arten göttlichen Charakters. Das ganze Pantheon stellt in der Natur – und in uns – existierende Eigenschaften dar. Und sie haben offensichtlich eine vitale Bedeutung nicht nur für unsere irdischen Reiche, sondern sie beeinflussen auch die Lebensqualität im ganzen Sonnenreich.

Die wirksame Vermittlung von Ideen erfordert drei Faktoren: erstens, die zu vermittelnde Botschaft; zweitens, die Mittel des Ausdrucks, die zur Übermittlung benutzt werden; drittens, ein verstehendes Gemüt (mind), das sie zu empfangen bereit ist. Daraus folgt, daß mythische Schriften sich auf ein immerwährendes Allgemeinwissen und wiederkehrende Ereignisse stützen muß, um ihre Wahrheiten zu illustrieren. Daher treten Dinge, die in der öffentlichen Denkweise (mind) auftauchen, durch die Mythen in Erscheinung: Krieg und Kämpfe treten deutlich sichtbar hervor, weil diese allzu häufig ein vertrauter Teil der menschlichen Szene waren. Außerdem schildern sie lebhaft den Konflikt, der in der Seele eines Individuums stattfindet, das mit der Verfolgung innerer Ziele und hoher Ideale angefangen hat. Diese Förderung des menschlichen Fortschritts auf ein edleres Format ist ein großer Teil dessen, was die Heldengedichte zu ermutigen vorhaben.

Die Heldengeschichten

Die Heldengeschichten der Eddalieder haben einen auffallenden Doppelcharakter. Sie sind quasi historisch aber auch legendär, und sie beschäftigen sich mit einer verschwenderischen Fülle von Ereignissen, die eine große Anzahl von Charakteren in ein Gewebe von Verschwörungen und Gegenschlägen, Fehden und Täuschungen verknüpfen. Viele der zusammenhängenden Begebenheiten sind so kompliziert und ihre Helden so zahlreich, daß das Auffinden des Fadens der Geschichten eine Herausforderung selbst für die hingebungsvollsten Genealogen ist. Jedoch, mit dem Hintergrund der mythischen Methodik können wir einen Schimmer des Lichtes erkennen, der auf ein Muster hinweist, das der Entwicklung der frühesten Menschenrassen, ihrer Eigenschaften, ihrer Lebensart und ihrer Mittel der Ausbreitung entspricht.

Die theosophische Philosophie reiht den Menschen unter die Schöpfer unserer Welt vom ersten Anfang an ein, als er und der Globus selbst noch nicht aus physischer Substanz bestanden wie wir ihn (den Globus) jetzt kennen, sondern als er sich noch sehr langsam aus einem ursprünglichen Nebel verdichtete. Die Namen der frühesten Helden geben uns eine interessante Bestätigung davon, wenn sie klar erkennbare Gruppen der Menschheit während jener Bildungsstufen repräsentieren. Wenn ihre Heldentaten ein Weg sind, um den Fortschritt dieser frühen Rassen zu symbolisieren, dann können wir unsere Herkunft aus amorphen, wolkigen, zarten Geschöpfen zu gelantineartigen und schließlich fleischigen Wesen verfolgen; aus geschlechtslosen zu androgynen, zu zweigeschlechtigen Organismen; und aus nicht denkenden, träumenden, unbewußten Triebwesen zu gradweise erwachenden Intelligenzen. Die Prototypen der Menschen wurden von den erfahreneren Reichen der niedrigsten Götter geführt und gelehrt, zu planen, zu kultivieren und zu ernten, Gegenstände zu gestalten, Werkzeuge anzufertigen, und im Laufe der Zeit selbständig und unabhängig zu werden. In den Heldengeschichten können wir durch die Art und Weise, in der die Charaktere aufeinander einwirken, sehen, wie die Lebensformen sich über enorme Zeitlängen wandelten und dabei auch die Zusammensetzung des Globus veränderten. Menschliche und nichtmenschliche Stämme folgten einander in regelmäßiger Folge. Sie konkurrierten um Lebensraum und Lebensfähigkeit mit Antagonisten und Verwandten. Sie lösten einander ab und brachten durch mehrere Verbindungen verschiedene Nachkommen zur Verkörperung. Einige waren weder menschlich noch tierisch, sondern eigenartige weiche Kreaturen, die unerwartete und unkritisch akzeptierte Handlungen vollbrachten.

Die Heldengedichte mit der Vorgeschichte der Menschheit in Zusammenhang zu bringen, würde die Entwirrung der vielen ineinander verflochtenen Fäden der Erzählungen verlangen – ein ungeheures Unterfangen ohne Sicherheit einer korrekten Interpretation oder Konsequenz. Die langatmige Saga von Sigurd Fáfnesbane (Fáfnirs Fluch) ist für jene fernen Äonen vielsagend. Die germanische Version ist wohlbekannt als ein Teil des Nibelungen-Zyklusses.

Der Name Nibelungen oder Niflungar im Altnordischen, bedeutet „Kinder des Nebels“ (nifl Nebel). Stark an die „Söhne des Feuernebels“ in der Geheimlehre erinnernd, scheinen auch diese Kräfte zu sein, die als Mittel beim Ins-Dasein-Bringen der ursprünglichen Welt dienten. Den Niflungar folgten die Völsungar, was „Kinder des völsi (Phallus)“ bedeutet, eine viel spätere Menschheit, die sich inzwischen durch sexuelle Methoden zu vermehren begonnen hatte – eine Entwicklung, die die Theosophie in die dritte und nachfolgende Menschheit2 einordnet.

In der Saga sind zahlreiche Fehden eingestreut, die offensichtlich Bezug nehmen sowohl auf eine Reihenfolge von Rassen, Zweigrassen und kleineren Stämmen als auch auf verschiedene Arten eines elementaren Bewußtseins, das für die Völker in den frühen Stadien des Lebens unseres Planeten charakteristisch ist. Die Geschichte enthält eine Unzahl von Betrug und Rache, blutigen Fehden, die sich über Generationen erstrecken. Alles dieses wird in dem objektiven, urteilslosen, erzählenden Stil geschildert, der eines der Kennzeichen ursprünglicher Mythologie ist. Würdigungen sind das Gebiet der Erdichtung und spiegeln den vorübergehenden Sittenkodex eines Zeitalters wider; mythische Darstellungen zeichnen die Ereignisse ohne Lob oder Tadel auf.

Verborgen hinter der Symbolik dieser Erzählungen mit ihren vielen Abschweifungen können wir durch den Reichtum an Anekdoten den zeitalterlangen Schwung der frühen Entwicklung unseres Planeten erkennen, als seine Materie sich noch verdichtete und alle Naturreiche sich noch im Entstehungsprozeß befanden. Anwachsende Substantialität und Formenvielfalt gewährten die Mittel für die physische Evolution. Diese rief aber auch den Impuls hervor, der dazu führte, daß die Entfaltung der Spiritualität verzögert wurde. Vor dem Wendepunkt wurde diesem gütig durch ein Ereignis entgegengewirkt, das als das Kommen von Rig aufgezeichnet, als ein Strahl des Gottes Heimdal, „der hellglänzende Áse“, in drei aufeinanderfolgenden Stufen in die Menschheit (s. Das Rig-Lied) eintrat. Unsere Abstammung ist daher dreimal göttlich. Wir sind auch wie Sigurd (Fáfnesbane) gott-gelehrt, und wie er durch die Tücken der Materie getäuscht, müssen wir das Schwert, das wir ererbt haben, ausbessern und wiederherstellen: den Willen, durch den die Illusion überwunden und die schlafende Walküre in der Seele erweckt wird.

Wissenschaft in der Edda

Um die Erwähnungen von Tatsachen und Artefakten in Legenden und mythischer Überlieferung zu erkennen, müssen wir mit den Dingen, auf die sie sich beziehen, vertraut sein. Es bedarf eines Technikers derselben Art, um die Beschreibung der technischen Erfindung eines anderen zu erkennen, und es bedarf der Kenntnis eines Naturphänomens, um seine Beschreibung in der Mythe wiederzuerkennen. Erwähnungen der Elektrizität, des Magnetismus oder der Leitfähigkeit in den Mythen gingen an den Gelehrten der frühen Jahrhunderte, die wenig oder nichts von solchen Dingen wußten, unbemerkt vorbei; daß die „geflügelten Wagen“ und „Federflügel“ der Edda – wie die „Himmlischen Wagen“ im Sanskrit der Hindu Mahābhārata und Rāmāyana3 – können Flugvorrichtungen beschrieben haben, die der Anerkennung entgangen sind, ehe wir uns der Luftfahrt zuwandten. Da wir jetzt Flugzeuge routinemäßig benutzen, können wir, wenn wir wollen, starke Hinweise finden, daß nicht nur Luftreisen, sondern auch der Van-Allen-Gürtel, das Magnetfeld der Erde, schwarze Löcher und QSOs4 den Schöpfern der Mythen bekannt waren. Wir müssen noch lernen, welche erstaunlichen Kräfte von einigen Erbauern gigantischer Monumente und Pyramiden angewandt wurden, und wie sie die tonnenschweren Felsblöcke bewegten und sie mit juwelengleicher Präzision an so weit verbreiteten Plätzen wie Ägypten, Peru, Britannien und Kambodscha bearbeiteten.

Astronomen des Altertums sind fast sicher, daß viele, wenn nicht alle der Henges von Britannien – Stonehenge ist eines unter Hunderten und sicher am besten bekannt – erbaut und zum Studium der Bewegungen von Himmelskörpern benutzt wurden. Die Ausrichtung von Dolmen wurde wahrscheinlich benutzt, um unter anderen Dingen Eklipsen zu berechnen, etwas, das eine verfeinerte langfristige Beobachtung und präzise Berechnung erfordert. Von einigen dieser Konstruktionen wird angenommen, daß sie Universitäten für andere Studienzweige beherbergten. Sowohl die Alte als auch die Neue Welt enthalten Reste einer Vielfalt von Vorrichtungen: Hügel, Steinkreise, Medizinräder, Felszeichnungen und Gebäude, die dazu dienten, Sterne und Planeten in eine Linie zu bringen. Skandinavien und Britannien sind reich an geheimnisvollen Steinkreisen, Miniaturen der besser bekannten Henges, die aus in runder oder ovaler Formation aufgestellten Stelen gebildet sind. Meine Freunde und ich pflegten in einem solchen „Steinschiff“ auf einem Hügel auf einer Insel im Baltikum zu spielen. Wir fanden nach wochenlangem graben, daß die Steine, die nur etwa 50 cm hoch herausragten, so tief eingegraben waren, daß wir sie unmöglich hin- und herbewegen konnten. Dem Rasenstück nach zu schließen, das sich bis fast zu ihrer Spitze angesammelt hatte, mußten sie ein beträchtliches Alter haben (andere Steinschiffe sind wahrscheinlich spätere Begräbnisstätten der Wikinger; es herrschte der Brauch, ein totes Oberhaupt an Bord seines Schiffes zu legen, es in Brand zu setzen und brennend auf das Meer zu schicken, eine Gewohnheit, die durch die Beisetzung mit Gütern, Schiff und allem abgelöst wurde.) Ältere Steinkreise sind so aufgestellt, daß sie Sichtmarkierungen für Sonnenwenden, Tag- und Nachtgleichen, Nebensonnen (jene mysteriösen Reflexionen auf beiden Seiten einer aufgehenden oder untergehenden Sonne), und möglicherweise dazu noch ausgeklügelte Beobachtungen, wie der heliakische Aufgang5 gewisser Sterne.

Viele Dinge, die in den Mythen absurd oder widersprüchlich scheinen, sind erklärbar, wenn wir unseren Standpunkt umkehren: Anstatt auf ihre Autoren als Nichtwisser herabzusehen und auf das Universum vom materiellen Standpunkt aus zu schauen, können wir den Kosmos als eine Ausdrucksweise des Lebens und von Leben, als einen lebenden zusammengesetzten Organismus betrachten, der unvorstellbare Bewußtseinsbereiche und unendliche Grade von Substanzen enthält. Heute betritt eine wachsende Zahl von Wissenschaftlern den Bereich der Philosophie. Sie räumen ein, daß die menschliche Rasse ein immanenter Teil eines universalen Lebenssystemes ist. Ein neues Textbuch über Astronomie enthält das Folgende:

Die Astronomie lehrt, daß wir Geschöpfe des Universums, Kinder der Sterne, Nachkommen der interstellaren Wolken sind. Wir sind Produkte der kosmischen Evolution. Vielleicht sind wir des Universums Art und Weise, sich seiner selbst bewußt zu werden. Sie und ich und die anderen lebenden Geschöpfe im Kosmos – wenn wir in den Raum blicken, sehen wir die Quelle von uns selbst. Und diesen weit geöffneten Räumen fügen wir Hoffnung, Furcht , Imagination und Liebe hinzu.6

Die Altnordischen Mythen betrachten Sonne, Mond und Planeten als die Wohnsitze, die die „wohltätigen Kräfte“ für sie zum Bewohnen gebildet haben. Einigen dieser Häuser, die auf einer Reihe von „Schelfen“ – verschiedene Grade der Substanzen – aufgestellt sind, werden Namen wie Bredablick (weite Sicht), Himmelsberg, Lidskjälf (Schelf des Mitgefühls),7 Sökvabäck (tiefer Fluß) und andere suggestive Beinamen gegeben. Offensichtlich ist es unmöglich, in menschlichen Ausdrücken die übernatürlichen Sphären der Götter zu beschreiben, aber wir können annehmen, daß die stellaren und planetarischen Sphären, die wir am Himmel sehen, die sichtbaren Körper ihrer Gottheiten sind, das heißt, der bewußten Energien, jede einzelne mit ihrer deutlichen Individualität. Die Mythen, die sich mit diesen „Göttern“ und „ Göttinnen“ und mit ihren Schelfen und den Hallen beschäftigen, die sie für sich selbst darauf gebaut haben, geben den Eindruck einer Familie: eine Gruppe verwandter Individuen mit ausgeprägten Charakteren und Veranlagungen. Sie wirken aufeinander ein, reagieren aufeinander und verhalten sich im allgemeinen so, wie man es von den Mitgliedern einer Familie erwarten kann, die sich gut benehmen.

Obwohl die Mythenerzähler diese „wohltätigen Kräfte“ als die mächtigen Beweger der Sphären verehrten, gibt es in dem frühesten Brauchtum der Verehrung im modernen Sinne des Wortes keinen Hinweis darauf. Es gibt eine Erkenntnis ihrer „Verehrungswürdigkeit“ als universale Kräfte, die allmählich aus früheren „riesigen“ Welten übergegangen sind und die uns auf dem evolutionären Pfad vorausgingen sind, wobei sie den Weg der menschlichen Bestimmung für zukünftige Äonen markieren. Die Gottheiten sind nicht auf die sichtbaren Sonnen- und Planetenwelten begrenzt, die sie repräsentieren. Ihre Reichweite ist weit ausgedehnter, etwas, was wir heute auf dem physikalischen Feld kennen: Raumsonden haben gezeigt, daß ein Planet von einer Hülle aus magnetischem Plasma derart gewaltig umgeben ist, daß der sichtbare Globus mit einem Baseball an der Spitze eines Kleinluftschiffes verglichen worden ist. Der mächtige Sonnenwind strömt Fluten von Plasma aus, die sich mit den planetarischen Magnetosphären vermischen, wobei sie auf der Tageslichtseite (der Sonnenseite) abgeflacht und auf der Nachtseite weit in den Raum getrieben werden.

Trotz unterschiedlicher Ausdrucksweise beschrieben die moderne Wissenschaft und die alten Mythen das Sonnensystem auf sehr ähnliche Weise: Die Mythen als ein hierarchisches Wesen, in dem Ströme von Lebensenergien – die Lebensflüsse der Edda – von Haus zu Haus fließen, wobei die göttlichen Energien (Bewußtheiten) in ein Netzwerk aus Leben und Bewegung verknüpft werden; die Physik als einen Riesenorganismus, in dem Gravitationseffekte Gezeiten hervorrufen und auf unerklärliche Weise die Wachstumszyklen auf Erden beeinflussen. Auf einer noch größeren Skala stellt man fest, daß Galaxiengruppen und Supergalaxien einer Wechselwirkung ausgesetzt und durch die Gravitation miteinander verbunden sind. Die Mythen scheinen die Natur wahr wiederzugeben, indem sie das Sonnensystem als eine riesige Zusammensetzung beschreiben, in der sichtbare und unsichtbare Welten jedem Austausch der Wechselwirkungen von Gott – Riese – Energie – Materie –, der Wechselwirkungen parallel verlaufender, psychologischer und anderer unbestimmbarer Einflüsse entsprechen, wie denen, die uns im menschlichen Bereich vertraut sind.

Im Einklang mit dieser Ansicht, hat die astrophysikalische Wissenschaft seit einiger Zeit die relative Wahrscheinlichkeit eines „geschlossenen“ gegen ein „offenes“ Universum diskutiert. Die Antwort hängt davon ab, wie viel Materie im Raum existiert, unsichtbar und scheinbar unwahrnehmbar durch die gegenwärtig verfügbaren Mittel. Was auch immer das Ergebnis dieser Diskussion ist, für unsere Zwecke genügt es, daß der unsichtbaren, unhörbaren, unberührbaren, mit physikalischen Mitteln scheinbar unwahrnehmbaren Materie die wissenschaftliche Achtung eingeräumt worden ist. Dieses nähert sich der mythischen Wissenschaft, die immer die Existenz nichtphysischer Substanzen angedeutet hat. Nicht daß die Mythen eine Bestätigung oder eine Ablehnung benötigen; ihre Botschaft kann auf ihren eigenen Verdiensten beruhen.

Wenn das gewaltige Übergewicht der Materie unsichtbar ist, wird es logisch einfach, die Kugeln am Himmel als Teile größerer Weltensysteme zu betrachten, die wir nicht sehen, aber die analog zu den unsichtbaren Teilen unserer eigenen Natur sind und vielleicht auf sie einwirken. In der theosophischen Tradition werden die sichtbaren Sphären unseres Sonnensystems als die gröbsten Bestandteile ihrer jeweiligen planetarischen Wesen betrachtet. Sie sind ihre Körper; wir können ihre Seelen vermuten oder fühlen, aber nicht sehen. Um die Idee eine Stufe weiterzuführen, sie wirken aufeinander ein, so sehr wie Menschen ohne physischen Kontakt aufeinander einwirken. Gewiß teilen wir unsere Gedanken und Gefühle, gelegentlich inspirieren wir uns gegenseitig. Auf diese Weise können auch die unsichtbaren Bestandteile des Sonnensystems dabei helfen, andere sichtbare und unsichtbare Bestandteile aufzubauen und zu beeinflussen. Dieses würde gut mit der Vorstellung übereinstimmen, daß die Lebensflüsse, die alle Arten von Eigenschaften (und entsprechende Substanzen) enthalten, durch den enormen Sonnenkörper entlang den magnetischen Wegen der Anziehung fließen. Dabei ist jedes Leben selbst eine Wesenheit ebensogut wie ein kleinster Teil des Ganzen. Einige dieser Leben verkörpern sich in Mineralformen – jene, die den massiven, erdigen Charakter besitzen, können wir uns schwerlich als „Leben“ vorstellen; andere sind zur pflanzlichen Stufe mit ihrer größeren Vielfalt an Möglichkeiten fortgeschritten; andere wiederum zum Tierstadium und noch größerer Verschiedenartigkeit; und wir repräsentieren die menschliche Stufe. Das ganze System des Miteinanderverbundensein kann demonstriert werden, wenn wir unsere Plätze in der biologischen Naturkette einnehmen, in der wir die Materie des Globus umgestalten und verwandeln; wichtiger noch, wir entwickeln Eigenschaften des Bewußtseins der verschiedensten Art. Alle Wesen, die die Existenzstadien zu der Grenze, die wir erreicht haben, durchqueren, bewohnen ihre geeigneten Lebenssphären innerhalb des größeren Wesens, das wir alle zusammensetzen helfen. Es ist daher nicht so eigenartig anzunehmen, daß wir, einer der Lebensflüsse, eine Heimstatt für jeden Aspekt unserer Natur in irgendeiner Domäne des Sonnenuniversums haben. Dieses scheint das zu sein, was die Mythen in ihrer rätselhaften Weise andeuten.

Die faszinierenden Beschreibungen im Grimnismál der zwölf Häuser der Götter, jedes auf seinem „Schelf“ (Ebene), deuten sehr auf die Lehre hin, das in der Geheimlehre gebracht und später von Gottfried de Purucker in Fountain Source of Occultism (Quelle des Okkultismus) ngeführt worden ist. Darin wird voll beabsichtigt, jede Gottheit und ihre entsprechenden Planeten mit einem unsichtbaren Teil des inneren Wesens unseres eigenen Planeten zu verknüpfen, wobei eine Beziehung von jedem zu jedem gezeigt wird, die alle Teile jeder individuellen Komponente des Sonnensystems miteinander verbindet. Interessante Übereinstimmungen verbinden jeden Charakter der himmlischen Szenerie mit jeder einzelnen der anderen, und diese erklären die komplexen Beziehungen der altnordischen Gottheiten, wie es nicht anders sein kann. Das gleiche ist auf den griechischen und andere Pantheons anwendbar. Wenn die Mythen versichern, daß es ein Kontinuum gibt, in dem Welten außerhalb unseres Wahrnehmungsvermögens existieren, und zwar sowohl „oberhalb“ als auch „unterhalb“, die bekannten Frequenzbereiche, die die Materie kennzeichnen und noch Teil unseres Universums bilden; wenn sie andeuten, daß sich unsere bekannten Verhältnisse endlos oberhalb und unterhalb unserer „Sichtlinie“ fortsetzen und daß scheinbar leerer Raum eine Fülle aus von uns nicht wahrgenommener Leben ist, so haben wir keine Mittel, um diese Information entweder zu beweisen oder zu widerlegen, bis wir in der Lage sind, die „Schelfe“ und „Häuser“ zu verstehen, von denen sie sprechen. Eine Interpretation ist daher zum größten Teil eine individuelle Angelegenheit. Eine Mythe, die sich auf Freya bezieht, gibt nicht immer an, ob der sichtbare Planet Venus gemeint ist oder die unsichtbare charakteristische Kraft, die unsere Menschheit unterstützt und eine besondere Bedeutung für sie hat; oder es kann auch der durch die Venus inspirierte Teil unseres Planeten sein, der gemeint ist. Jedenfalls können wir der Vielseitigkeit der Natur keine Grenzen setzen; die Begrenzungen sind in uns.

Eine interessante Möglichkeit, die sich von selbst ergibt, wenn wir das astrophysische Universum betrachten, betrifft die außerordentliche Häufigkeit im Raum von Doppelsternen und Doppelgalaxien. Sie sind den Einzelnen zahlenmäßig weit überlegen und in vielen Fällen auf eine Weise paarweise angeordnet, daß, während eine Komponente ihre physische Sphäre aufbaut, die andere ätherhafter wird – ihre Substanz abstrahlt. In gewissen Fällen „kannibalisiert“ die erstere die letztere. Wenn wir das theosophische Beispiel der Sonnen- und Planeten-Gottheiten betrachten, die sich verkörpern, Substanzen aufnehmen und ihre Wohnstätten bilden, während andere Götter desselben Systems absterben, scheint es, daß dort, wo Sphären zu substantielleren Verkörperungen fortschreiten und andere desselben Systems sich zurückziehen, ein solches Paar von Zwillingsgloben sehr wohl als ein Doppelsystem gesehen werden kann, wenn das „Schelf“ unsere Beobachtung durchquert.

Ehe wir den Anspruch erheben, vollständiges Wissen zu besitzen – was keine intelligente Person für sich beanspruchen kann – müssen wir zugeben, daß es sehr wohl uns unbekannte Lebensbedingungen gibt. Die Mythen deuten an, obwohl sie es nicht beschreiben können, daß es ein Universum gibt, das mit sich entwickelnden Bewußtheiten angefüllt ist, die Lebensformen benutzen, von denen die meisten für unsere Sinne unbekannt sind. Für die Mythenschöpfer war die Natur ein lebendiges Ganzes, worin größere und kleinere Systeme lebten und aufeinander einwirkten. Jede Einheit war dabei hauptsächlich eine Bewußtheit, die einen geeigneten Körper aktivierte und mit Leben erfüllte. Es wurde als selbstverständlich betrachtet, daß Welten aus anderen Materiearten unsere eigene Welt durchdrangen und manchmal gegenseitig aufeinander einwirkten, obwohl meistens außerhalb unseres Bewußtseins. Ihre Methode, solche vertrauten Phänomene wie Elektromagnetismus zu beschreiben, liefert uns einen Schlüssel zu der Art und Weise, in der Mythen eine sachliche Information enthalten können. Es wäre interessant, darüber zu spekulieren, wie wir unsere Kenntnis von einer größeren Katastrophe den Überlebenden erklären würden, und wie viel erkennbare Wissenschaft nach ein paar Erzählungen übrigbleiben würde. Angenommen, zum Beispiel, wir würden die Art und Weise erklären, wie Elektrizität wirkt – etwas, das sehr leicht durch ein elektrisches Gewitter illustriert werden kann – und wie die Information nach einigen wenigen Generationen umgewandelt worden wäre. Unvermeidlich würde dies Anlaß zu einem neuen Indra, Jehova oder Thor geben, der Donnerschläge quer durch den Himmel schleudert, und bald würde ein neuer Olymp oder Asgárd von mächtigen und launischen Gottheiten einmal mehr die Himmel besetzen.

Skalden und Lehrer

In jener fernen Morgendämmerung, als die Menschheit zum ersten Mal sich bewußt wurde, daß sie über Denkfähigkeit, Wissen und Unterscheidungsvermögen verfügt, stimmen die ältesten Überlieferungen darin überein, daß dieses Erwachen geschah, weil höhere Intelligenzen, erfahrenere Seelen der Menschheit der Vergangenheit, ihre Wesen mit den frühen Menschen vermischten. Dieser Akt ihres Mitleids liefert uns die unsterbliche Vision der Realität, die unser Bindeglied mit dem göttlichen Lebensgrund ist.

Die Mythen, falls sie überhaupt irgendeinen Sinn für uns enthalten, sind ein Führer zu jenem inneren Licht, das entzündet wurde, als unsere Art Gut und Böse noch nicht kannte, als die Wahl noch nicht existierte – ein Licht, das in unserem tiefsten Bewußtsein unausgelöscht bleibt. Sie erzählen uns von Welten und Menschen, die die Lebenserfahrung durchmachen, um unsere Vervollkommnungsfähigkeit zu vollziehen, und von dem heiligen Zweck, für den wir existieren. Ihre Geschichten sind manchmal obskur, häufig ergreifend, manchmal komisch. Sie fesseln unsere Aufmerksamkeit, sogar wenn wir sie nicht verstehen. Sie deuten an, sie locken unsere schlafende Erkenntnis, sie drängen uns, unsere intuitive Intelligenz wachzurufen und den Kern der Wahrheit, den sie verbergen, zu finden.

Die Barden, die die mythischen Sagen sangen, waren frühere Meister im Anregen majestätischer Gedankenwege, ohne ausdrücklich irgendeine Lehre vorzutragen, die sich in starre und spröde Meinungen verfestigen konnte. Die Schönheit ihrer Geschichten liegt in den Höhenflügen des Sichwunderns, zu denen sie das Gemüt anregen, und in den sich stets erweiternden Perspektiven, die hinter jedem größeren Verständnis flüchtig erhascht werden. Wahrscheinlich dreht keine Mythologie die Schlüssel für die Geheimnisse der Natur so vollständig um, wie die Relikte der Vorfahren der Wikinger. Einige der reinsten Darstellungen der universalen Weisheit können wohl jene sein, die in den Eddas enthalten sind, denn, da sie etwas weniger bekannt sind als die griechischen und römischen Mythen, sind sie weniger verfälscht worden. Die Mythen des Mittelmeergebietes sind seit dem Schließen der Mysterienschulen derart entstellt und verunglimpft worden, daß die öffentliche Meinung der späteren Jahrhunderte in ihren Göttern wenig mehr als Widerspiegelungen menschlicher Eigenschaften gesehen hat. Exoterisch und unerklärt, dieses sei zuvor bemerkt, sind ihr Sinn und ihre Bedeutung durch das europäische finstere Mittelalter weiter mißverstanden und falsch interpretiert worden. Infolge dieser Unwissenheit sind die Menschen dazu verleitet worden, alle Mythen als kindische Phantasien jener anzusehen, die alles verehren, was sie kaum verstehen. Wenn wir einen größeren Einblick in die edlen Wahrheiten hätten, die zu vermitteln diese Geschichten ursprünglich erfunden wurden, dann könnten wir unsere spirituelle Atmosphäre bereichern. Das mythische Erbe der fernen nördlichen Länder scheint eine sicherere Zuflucht für die Weisheit der Zeitalter geboten zu haben als den meisten anderen Mythen.

Niemand weiß, wie lange die altnordischen Geschichten mündlich überliefert wurden, bevor man sie aufzeichnete. Es mag in der Tat eine sehr lange Zeit vergangen sein, seit die letzte Zivilisation blühte, die noch die Kenntnis von dem Geist des Menschen, dem Ursprung und der Bestimmung des Universums und dem Evolutionsverlauf besaß. Die Schöpfer der Mythen waren zweifellos die weisesten unter der Menschheit. Die altnordischen Barden, gleich jenen des alten Indiens und anderer Länder, formulierten ihr Wissen in rhythmischen Versen, die man sich leicht einprägen konnte und auf diese Weise durch Jahrtausende, selbst wenn nur als eine Unterhaltung, in Umlauf gehalten werden konnten. Jemand, der die altnordischen Gesänge lernte und sang, war ein Skalde, ein Wort, das in Schweden noch verwendet wird und „Poet“ bedeutet. Jedoch, die in den Eddas gegebene Gedankenverbindung ist die von einem Menschen, der Weisheit besitzt, spirituelles Wissen, und sie ist eng verbunden mit der Vorstellung von Met, der Nahrung der Götter. Der skaldemjöd (poetischer Met) bezeichnet die Mysterien, die Weisheit, die von Odin, dem Haupt der schöpferischen Götter, bei seiner Suche in den materiellen Sphären – der „Riesenwelt“ – erstrebt wurde.

In der Mythologie verborgen sind spirituelle Wahrheit, logische Philosophie und auch wissenschaftliche Fakten. Tatsächlich erweisen sich die neuesten Entdeckungen in der Wissenschaft häufig als unbedingt notwendig für ein Verständnis der Wissenschaft in den Mythen. Wir mögen niemals erfahren, wie die unbekannten Völker der fernen Vergangenheit zu diesem Wissen kamen, bis wir erkennen, daß die Wahrheit dem Intelligenzniveau des Lebens innewohnt, das auf Erden durch die menschliche Rasse repräsentiert wird. Die alten Legenden erzählen, daß die Götter die Menschen aus ihrer eigenen Substanz erschufen, „nach ihrem eigenen Bild“, wie die Bibel es darstellt, und daß seit Zeitaltern göttliche Lehrer auf Erden unter uns wanderten, die neugeborenen Intelligenzen schulten, die Wege der Natur zu verstehen und mit ihr zu arbeiten. Im Laufe der Zeit, als die menschliche Rasse nach Wissen strebte und Erfahrung von Gut und Böse durch die Anwendung des freien Willens gewann, ging die Unschuld jener Tage verloren. Bei dem überstürzten Vorrücken materieller Interessen trieb die Menschheit von ihren göttlichen Interessen hinweg. Danach muß unsere Rasse ihre Befreiung verdienen: Unser menschliches Bewußtsein muß Wahrheit von Irrtum unterscheiden lernen und sich selbst bewußt von den Verlockungen der Materie befreien, um ihren rechtmäßigen Platz unter den Göttern einzunehmen.

In jener frühen Zeit, als Götter und Menschen sich vermischten, tauchten viele der mythischen Erzählungen auf. Wenn sie häufig unverständlich für uns sind, so überrascht das nicht, denn sie gingen zweifellos durch viele Phasen der menschlichen fehlbaren Erinnerung; und unser Verständnis, wie auch unser Unglaube, folgt aus unserer inneren Einstellung. Mit unserem heutigen Wissen und unserer Aufgeschlossenheit, die sich gegen die dogmatischen Meinungen der Vergangenheit allmählich durchsetzen, erkennen wir auf einmal in jeder Mythe eine Widerspiegelung einer Wahrheit, die selbständig von der Wissenschaft oder den neuen wissenschaftlichen Philosophien und dem religiösen, unsektiererischen Denken entdeckt worden sind. Es wird leichter, dieselbe natürliche Wahrheit in anderen Systemen zu erkennen.

Edda bedeutet „Urgroßmutter“ und, durch Erweiterung der Bedeutung, „Matrix“, was an „Weltmutter“ denken läßt. Das Wort ist anscheinend von veda, den Hindu-Schriften oder der heiligen vidyā (Wissen, von vid, wissen, erkennen) abgeleitet, von dem das deutsche Wort wissen, das schwedische veta und das alte englische wit herrühren – alles Wörter, die „wissen“ bedeuten. Die Skalden bekleideten eine in Ehren gehaltene Stellung , denn sie besaßen Wissen, und sogar in den Wikingerzeiten wurde der drott (Druide) noch als jemand verehrt, der das göttliche Wissen besaß (später wurde das Wort verwendet, um ein mutiges und edles Oberhaupt, einen Krieger-König zu bezeichnen, was für die kriegsliebende Rasse, die die Wikinger bis dahin gewesen sind, geeigneter war). Diese Weisheit oder Edda wurde durch die Skalden übermittelt, die von Gemeinwesen zu Gemeinwesen der Bauern wanderten, die entlang der Buchten und Flußmündungen der skandinavischen Länder lebten. Eine solche Bucht wird vik genannt und ein Bewohner an ihren Küsten wurde als ein Wikinger bekannt.

Bei aller Gerechtigkeit sollte erwähnt werden, daß die Wikinger ausgeprägte Vorstellungen von Ehre und Moral besaßen, obwohl sie allgemein in dem Ruf standen, Europa terrorisiert zu haben, und einige von ihnen Amerika offensichtlich besucht hatten, lange bevor Kolumbus seine berühmte Reise antrat, und sie ein rohes und einfaches Volk waren. Von vielen von ihnen wurde angenommen, daß sie nach einem disziplinarischen Kodex lebten, den wenige Anhänger der Moderne aufrechtzuerhalten sich bemühen würden. Unter den plündernden Piraten auf der hohen See setzten sich Handelsleute mit ihren Gütern und Waren einer gewagten Sache aus, und es waren die Wikinger, die sie zum Schutz anwarben. Diese Wikinger mit ihrem Ruf für Stärke und Tapferkeit lieferten bewaffnete Eskorten und wurden so die Versicherungsvertreter des Kontinents. (Die Leibwächter aller Kaiser von Byzanz vom neunten bis zum zwölften Jahrhundert waren Wikinger.) Zweifelsohne gab es einige unter ihnen, die sich der Versuchung, ihr eigenes „Schutzgeschäft“ zu betreiben, beugten, aber dies sollte nicht allen Wikingern entgegengehalten werden, die im Ganzen ein zivilisierender Einfluß für Jahrhunderte waren. Sie führten, wo immer sie sich niederließen, Recht und Ordnung – das berühmte Dänische Recht – ein, und Island war vor tausend Jahren die ursprüngliche Heimat der demokratischen parlamentarischen Regel und besaß das älteste bekannte Justizsystem des Gerichtsverfahrens durch eine Jury von Gleichgestellten. Aber das nur beiläufig.

Im Laufe der Zeit wurde es zweifelhaft, ob die in den Gesängen und Sagen enthaltene Weisheit sogar von den Skalden vollständig verstanden wurde. Sie können auch die Substanz mit einigen Ausschmückungen überladen haben, um ihrem Publikum zu gefallen, oder sie ließen weniger populäre Geschichten aus ihrem Repertoire weg. Die menschliche Fehlbarkeit in der mündlichen Übermittlung muß auch berücksichtigt werden, da wir in keiner Weise wissen, wie weit zurück in der verschwommenen Vergangenheit diese Relikte der Weisheit zuerst formuliert worden sind. Wir wissen sicher, daß Saemund der Weise (1057–1133 n. Chr.), nachdem er in Frankreich studiert hatte, eine Schule bei Oddi auf Island gründete, wo er, so heißt es, die Ältere oder Poetische Edda niedergeschrieben hat. Die jüngere Edda wird Snorri Sturlusson (1178–1241) zugeschrieben, der die Schule zu Oddi als ein Schüler von Saemunds Enkel besuchte, so daß er während dieser Zeit mit den Liedern bekannt geworden sein müßte. Die meisten von ihnen, einschließlich einzelner, die nicht länger in der poetischen Form vorhanden sind, formte er in Prosa um. Viele Gelehrte finden seine Nacherzählung leichter zu verstehen als die eher etwas obskuren Gedichte der Älteren Edda.

In ihrer Einleitung zu dem Corpus Poeticum Boreale, die Poesie der Alten Nordischen Sprache (1883), wiesen G. Vigfusson und F. York Powell darauf hin, daß vieles von dem in den Prosakommentaren über frühe poetische Mythen erwähnten Material entweder in den Versen nicht gefunden wird oder sehr bruchstückhaft und unvollständig ist. Sie schließen daraus, daß die Prosafassungen, ob von Snorri Sturlusson oder anderen Kommentatoren, klareren, aber nicht länger vorhandenen Originalen entnommen worden sein mußten. Tatsächlich erwähnen die zwei Gelehrten Teile der in einer Prosafassung angeführten Völuspá als „ein konfuses heilloses Durcheinander gebrochener, verdrehter Verse, als ob die Reihen des Gedichtes in einer Flasche durcheinandergeschüttelt worden wären“ (p. XCVIII); und sie nehmen wahrscheinlich richtig an, daß nach der ersten Formulierung der Weisheit in Mythen durch irgendeinen großen Seher oder große Seher die „Produktionsära beendet ist und das Zeitalter der Kommentatoren, Kopierer, Glossatoren beginnt. Wir sind glücklich, wenn wir das Buch so gestalten können, wie es damals vorlag, ehe das Zeitalter der Nachlässigkeit und des Verfalls hereinbrach und das Werk teilweise zugrundeging“ (p. XCVII).

Um 1890 veröffentlichte der schwedische Gelehrte Fredrik Sander seine Rigveda-Edda, worin er die germanische Überlieferung bis zu den alten Indogermanen zurückverfolgte. Sein Studium überzeugte ihn, daß die altnordische Mythologie aus Indien kam und die Hindu-Mythen getreuer bewahrt als die klassischen Griechischen und Römischen, die stark entstellt sind. Max Müller betrachtete die Edda-Überlieferung als älter als die Weden; andere, einschließlich Sven Grundtvig, nehmen an, daß die Eddas ihren Ursprung in der früheren Eisenzeit haben; noch andere postulieren einen frühen christlichen Ursprung. Was auch immer ihr Alter sein mag, der Inhalt der Mythen stimmt mit den ältesten Aufzeichnungen in vielen Teilen der Welt überein. Dies stärkt die Schlußfolgerung, daß sie entweder alle aus einer einzigen Quelle stammten, einer prähistorischen Formulierung der Wissenschaft, Philosophie und Mystik, die einst der gesamten Menschheit geläufig war, oder aber, daß jede einzelne unabhängig und zufällig entstand – eine Vorstellung, die zu grotesk ist, als daß sie ernsthaft erwogen werden kann. Jedenfalls, das Beweismaterial weist auf ein einziges Sagengut hin, das die Überlieferungen inspiriert hat, deren Relikte überall auf dem Antlitz unseres Globus gefunden werden.

Die gegenwärtige Untersuchung ist fast ganz auf einen Teil der Saemundar Edda aus zwei Gründen begrenzt: erstens, wegen des so umfangreichen Stoffes, der selbst in den relativ wenigen Balladen hier enthalten ist, verbunden mit der Überzeugung, daß, obwohl sie vermindert und unvollständig sein mögen, das, was ausgewählt worden ist, wenigstens unverfälscht ist. Während diese Verse wahrscheinlich weniger als die einst bekannte Wahrheit enthalten, fühlen wir uns hinreichend sicher, daß sie nicht mit weiterem Material angefüllt worden sind, d. h., daß sehr wenig, wenn überhaupt, nicht echtes Material durch spätere Autoren hinzugefügt wurde. Der andere Grund für unsere Auswahl liegt in diesen Wahrheiten selbst, die gegenwärtig in der modernen theosophischen Literatur vollständiger erforscht werden. Außerdem werden viele von diesen Wahrheiten, nachdem sie seit Jahrhunderten in den volkstümlichen Religionen übersehen worden sind, jetzt fast täglich durch die neue wissenschaftliche Forschung entdeckt, die mit den theosophischen Lehren in vielerlei und überraschender Weise übereinstimmt.

Unser Zeitalter ist ein weit liberaleres als jedes in der Geschichte. Als das Christentum sich über Europa verbreitete, zerstörten die Fanatiker der neuen Religion systematisch die Tempel und Heiligtümer der früheren Götter und metzelten jene nieder, die auf den heidnischen Riten beharrten. Die Heiden der nordischen Länder, deren Sitte einer unbegrenzten Gastfreundschaft und absoluten Toleranz in religiösen Angelegenheiten sie einer hohen Ausnutzung überließ, stellten fest, daß sie selbst bekehrt oder vernichtet wurden, ehe sie Schritte unternehmen konnten, um eine solche unerwartete und eigenmächtige Annexion zu verhindern. Sie fielen unter die Herrschaft römischer Päpste, die die Anwendung der lateinischen Sprache und orthodoxen Lehren anstelle der Muttersprachen und einheimischen Schriften einführten. Die altnordische Religion wurde bald eine Mischform aus einem nur teilweise verstandenen Christentum, das auf eine bis dahin degenerierte heidnische Wurzel aufgepfropft wurde. Nur das entfernte Island, dessen Bevölkerung und Priesterschaft für die Kirche relativ unzugänglich und zur Überwachung unmöglich waren, entkam der methodischen Zerstörung seiner Heiligtümer und Überlieferungen. Sogar die christlichen Priester ignorierten dort die neuen Regeln – des Zölibats zum Beispiel – und fuhren in den Gebräuchen ihrer Vorfahren fort, wobei sie die Sprache ihrer Väter benutzten und das alte Sagengut ihren Kindern weitergaben. Dort lebte Saemund der Weise und schrieb die poetische Ältere Edda nieder, wobei er den Stil bewahrte, dessen rhythmisches Versmaß im Hörer eine Intuition wachrief. Snorri vervollkommnete später die knappen Verse und brachte die Erzählungen, die sich vor allem mit den menschlichen Rassen und ihrer Entwicklung beschäftigen, in einen Zusammenhang. Die Mythen gaben den Anlaß für zahllose Volksmärchen, die an unterschiedliche Ausdrucksmittel, von Kinderreimen bis zur großen Oper durch verschiedene Vermittler, wie Mutter Goose und Wagner, angepaßt wurden. Und sie schließen Sammlungen ein, die durch die Erforscher der Folklore, wie die Brüder Grimm im neunzehnten Jahrhundert, zusammengestellt wurden.

Von den zahlreichen Verkündungen der universalen Weisheit in Lehren, Geschichten und Evangelien brennt jedes neue angezündete Licht nur solange weiter, wie die Wahrheit von höchster Wichtigkeit für seine Anhänger bleibt. Früher oder später setzt Verflachung ein: Menschliche Institutionen, die zum Schutz der Botschaft gegründet wurden, nehmen ihr gegenüber eine Vorrangstellung ein und verdecken sie; danach wird die Aufmerksamkeit auf die Maske – Methode und Ritual – konzentriert, während die Realität nicht bemerkt wird. Fehldeutungen, Meinungsverschiedenheiten und Aberglauben herrschen schnell vor, sobald die Inspiration verlorengeht und das heilige Wissen einmal mehr vergessen wird. Die mythischen Gottheiten, die einmal majestätische Gesetze der universalen Natur gewesen waren, werden als Götter und Heroen personifiziert, deren Handlungen aus Mangel an Weisheit, die einst in den jetzt leeren Riten enthalten war, unberechenbar sind – das alles bleibt von einem einst vertrauten Umgang der Menschen mit den göttlichen, das Universum beherrschenden Mächten übrig.

Die Mythen leben weiter. Dies ist das ewige Mysterium: Der unzerstörbare Kern der Wahrheit, in hundert Gestalten gekleidet, der die Menschheit durch alle Zeitalter hindurch inspiriert hat. In jedem Land haben einige Wenige gelebt, die, indem sie sich mutig in die Sphären, wo der Geist unbeschadet wohnt, wagten und einen Becher aus der unvergänglichen Quelle der Wahrheit zurückgebracht haben. Diese Nachkommen der frühen Mythenschöpfer sind die Skalden, die Dichter und Seher, die die Glieder der Kommunikation zwischen der Menschheit und den Göttern ungebrochen erhalten. Sie bringen die ewige Weisheit durch Jahrhunderte wieder, während der Rest von uns fortfährt, sich an den „göttlichen Zaubersprüchen“ zu erfreuen, die in den Tiefen von uns eine schwache Erinnerung an eine geheiligte Wahrheit wecken. Die Stimmen der Barden können niemals sterben, denn sie singen den Plan der Ewigkeit. Ihr Aufruf richtet sich an den unsterblichen Teil von uns, sogar während das sterbliche Selbst wie Loki spotten mag, als er, ungebeten und unvorbereitet, den Festsaal der Götter betrat. (Vgl. Lokis Zankrede)

2 – Der Lebensbaum – Yggdrasil

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In jeder Mythologie kommt ein Lebensbaum vor. In der biblischen Darstellung fürchteten die „eifersüchtigen“ Gottheiten (elohim) – gewöhnlich mit „Gott der Herr“ übersetzt –, als die Menschen die Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen hatten, „daß er nicht seine Hand ausstrecke und auch vom Baum des Lebens breche und esse und ewig lebe.“ Sie stellten daher ein „flammendes Schwert auf, um den Weg zum Baum des Lebens zu bewachen.“8 In den Bantu-Mythen verfolgte ein eher ehrfurchtgebietender Lebensbaum die Göttin der Fruchtbarkeit und zeugte mit ihr all die Naturreiche;9 in Indien wurzelt der Aśvattha-Baum10 im höchsten Himmel und senkt sich durch die Räume herab, wobei er alle existierenden Welten auf seinen Zweigen trägt. Das Konzept eines Baumes, der sich in Welten verzweigt, ist ein universales. Es ist interessant, daß wir eine Tradition weiterführen, indem wir einen Baum mit vielfarbigen Kugeln schmücken, wobei die Vielfalt von Welten, die von den Zweigen des Weltbaumes herabhängen, repräsentiert wird, obwohl die Bedeutung schon lange verloren worden ist.

In der Edda wird der Lebensbaum, wahrscheinlich aus verschiedenen Gründen, Yggdrasil genannt. Dies ist ein weiteres der geschickten Wortspiele, die die Barden der Wikinger zur Vermittlung ihrer Botschaft zu verwenden pflegten. Ygg ist in Verbindung mit anderen Wörtern verschieden übersetzt worden, wie „ewig“, „ehrfurchtgebietend“ oder „schrecklich“ und auch „alt“ oder vielmehr „zeitlos“. Odin wird Yggjung genannt – „alt-jung“ entsprechend dem biblischen „der Hochbetagte“ –, ein Begriff, den der Verstand nur im Gefolge der Intuition begreifen kann. Yggdrasil ist Odins Roß, oder mit gleicher Logik, sein Galgen, was ein göttliches Opfer, eine Kreuzigung des Stillen Wächters bedeutet, dessen Körper eine Welt ist. Nach dieser Meinung stellt jeder Lebensbaum, ob groß oder klein, ein Kreuz dar, auf dem seine herrschende Gottheit für die Dauer seiner materiellen Gegenwart angenagelt bleibt. Während Yggdrasil sich auf ein ganzes Universum mit all seinen Welten beziehen kann, ist jeder Mensch ein Yggdrasil in seinen eigenen Grenzen, eine Miniatur der kosmischen Esche. Jeder ist in dem göttlichen Grund des All-Seins verwurzelt und trägt seinen Odin – den allgegenwärtigen Geist, der die Wurzel und der Grund aller lebenden Dinge ist.

Jeder Lebensbaum – menschlich oder kosmisch – zieht seine Nahrung aus drei Wurzeln, die in drei Regionen hineinreichen: eine wächst in Ásgárd, der Wohnung der Aesir, wo sie aus Urds Brunnen, gewöhnlich als die Vergangenheit übersetzt, gewässert wird. Die wirkliche Bedeutung des Namens ist jedoch Ursprung, erste Ursache. Die Assoziation führt zu den früheren Ursachen, aus denen alle nachfolgenden Wirkungen fließen. Urd ist eine von den drei „Jungfrauen, die viel wissen“ – den Nornen oder Parzen, deren voraussehender Blick Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überfliegt, wenn sie die Fäden der Bestimmung für die Welten und Menschen spinnen. „Eine wurde Ursprung genannt, die zweite Werden; diese zwei formten die dritte, Schuld genannt. Des Glückes Lose, Leben und Tod, die Schicksale der Helden, alles kommt von ihnen“.11 Urd, die Vergangenheit, personifiziert alles, was früher geschehen war und ist die Ursache sowohl der Gegenwart als auch der Zukunft. Verdandi ist die Gegenwart, aber sie ist kein statischer Zustand: im Gegenteil, sie bedeutet Werden – der dynamische, ewig wechselnde, mathematische Punkt zwischen Vergangenheit und Zukunft; ein Punkt von vitaler Wichtigkeit, denn es ist der ewige Augenblick der Wahl für den Menschen, wenn eine bewußte, gewollte Entscheidung getroffen wird, die durch den Wunsch entweder für den Fortschritt oder den Rückschritt auf dem evolutionären Pfad geleitet wird. Es ist bemerkenswert, daß diese zwei Nornen die dritte, Skuld, mit der Bedeutung Schuld hervorbringen: etwas, das schuldig, aus dem Gleichgewicht ist, muß in der Zukunft – dem unvermeidlichen Ergebnis der ganzen Vergangenheit und der Gegenwart – ins Gleichgewicht gebracht werden.

Während die Nornen das altnordische Äquivalent der griechischen Moirai oder Parzen sind, die den Schicksalsfaden spinnen, erkennen wir in ihnen auch das, was in den Stanzen des Dzyan12 Lipikas genannt wird – Lipikas, ein Sanskritausdruck mit der Bedeutung „Schreiber“ oder „Aufzeichner“. Wie die Nornen sind diese unpersönliche, unerbittliche Vorgänge, die automatisch jedes Ereignis bewahren und die Bühne für die ausgleichende Wirkung von Karma, dem natürlichen „Gesetz der Konsequenzen“ oder von Ursache und Wirkung aufbauen. Dieses Gesetz wirkt unfehlbar auf allen Gebieten der Handlung und bestimmt die Bedingungen, die jeder Wesenheit als ein Ergebnis ihrer vergangenen Wahlen gegenübertreten. In den nicht selbstbewußten Reichen ist das eine rein automatische Regulierung; im Menschenreich bringt jedes Motiv, ob edel oder schlecht, geeignete Gelegenheiten und Hindernisse herbei, die die Zukunft modifizieren. Darüber hinaus ist das menschliche Bewußtsein in dem Maße, wie es fähig ist, eine selbstbestimmte Wahl zu treffen, auch zunehmend seiner Verantwortlichkeit für zukünftige Ereignisse bewußt. Jedes Wesen ist das Ergebnis alles dessen, zu dem es sich selbst gemacht hat, und jedes wird das werden, zu dem es sich durch seine gegenwärtigen Gedanken und Handlungen machen wird. Die Aufzeichnung des sich stets verändernden Kräftekomplexes verbleibt in seiner innersten Identität, dem höheren Selbst im Menschen, des Individuums eigener Norne, die die Edda seine hamingja nennt. In der christlichen Tradition ist es unser Schutzengel.

Yggdrasils zweite Wurzel entspringt Mimirs Brunnen. Dieser, der Brunnen der absoluten Materie, gehört zu dem „weisen Riesen Mimir“, der Quelle aller Erfahrung. Man sagt, daß Odin an jedem Tag aus den Wassern dieses Brunnens trinkt, aber, indem er dies tat, mußte er eines seiner Augen einbüßen. In vielen volkstümlichen Geschichten, in denen Odin als ein alter Mann in einen Pelzmantel verhüllt wird, trägt er einen Schlapphut, um die Tatsache zu verbergen, daß ihm ein Auge fehlt. Dies ist jedoch nicht dasselbe, als wenn man sagen würde, er hat nur ein Auge. Können wir so sicher sein, daß er anfänglich nur zwei hatte. Die heiligen Schriften vieler Völker beziehen sich auf eine ferne Vergangenheit, als die Menschheit ein „drittes Auge“ besaß – ein Organ der Intuition –, das, nach der Theosophie, sich vor Millionen von Jahren in das Innere des Schädels zurückzog, wo es in rudimentärer Form als die Zirbeldrüse verbleibt, um die Zeit abzuwarten, in der es erneut funktionstüchtiger sein wird als heute. Eine derartige Deutung liefert uns nicht nur eine Information über die Bedeutung der Geschichte, sondern auch über das in den Mythen verwendete Sprachbild. Das Eintauchen in die Welt der Materie liefert die Erfahrung, die Weisheit bringt. Das Bewußtsein (Odin) opfert einen Teil seiner Vision, um täglich einen Schluck aus Mimirs Brunnen zu erhalten, während Mimir (die Materie) einen kleinen Anteil der göttlichen Erkenntnis erhält. Mimir ist der Vorfahr aller Riesen, die zeitlose Wurzel von Ymir-Örgälmir, dem Reifriesen, aus dem Welten gebildet werden.

Man sagt, daß vor langer Zeit Mimir von Njörd (Zeit) getötet und sein Körper in einen Sumpf (die „Wasser“ des Raumes) geworfen wurde. Odin barg seinen abgetrennten Kopf und „unterhielt sich mit ihm täglich“. Das deutet an, daß der Gott, das Bewußtsein, den „Kopf“ oder den höheren Teil seines Materie-Partners, das Vehikel oder den Körper, benutzte, um den Extrakt der Erfahrung zu erhalten. Gleichzeitig erlangt der Riese einen Anteil an Bewußtsein durch die Verbindung mit der energiegeladenen göttlichen Seite der Natur. Die Dualität scheint universal zu sein: Keine Welt ist so niedrig, kein Bewußtsein so erhaben, ohne daß es jenseits dieses fortwährenden Austausches ist. Da der göttliche Impuls die Welten der Tätigkeit täglich organisiert und in ihnen wohnt, bringt er durch Erfahrung „Runen der Weisheit“ hervor. Bewußtsein und Materie sind daher auf allen Ebenen zueinander relativ, so daß das, was auf einer Ebene des kosmischen Lebens Bewußtsein ist, auf der Stufe über ihr Materie ist. Die zwei Existenzseiten sind unzertrennbar. Beide umfassen jede Lebensstufe, da Riesen zu Göttern wachsen, und Götter Weiterentwicklungen früherer riesiger Welten sind und zu noch größerer Göttlichkeit evolvieren.

Mimirs Baum ist Mimameid, der Baum der Erkenntnis, was nicht mit dem Baum des Lebens verwechselt werden darf, obwohl diese zwei in gewisser Weise austauschbar sind, denn Erkenntnis und Weisheit sind die Früchte des Lebens und der Lebendigen; umgekehrt bringt die Anwendung der Weisheit den Lebendigen Unsterblichkeit in jedem höheren Bereich des Baumes des Lebens.

Yggdrasils dritte Wurzel reicht in Niflheim (Nebelhölle), wo die Wolken – Nebel – geboren werden. Dieses bezieht sich, wie die anderen zwei Räume, nicht auf einen Ort, sondern auf einen Zustand. Der Name ist sehr suggestiv, da Nebel Stufen in der Entwicklung kosmischer Körper sind. Die Wurzel wird durch Hwergälmir, die Quelle aller „Flüsse des Lebens“ – Klassen von Wesen (Grimnismál 26) – bewässert. Diese sind das, was wir die Naturreiche nennen, die in ihrer großen Formenvielfalt jeden Globus bilden. Niflheim, wo die Quelle all dieser Lebenstypen liegt, enthält den brodelnden Kessel der Materie – ursprüngliche, undifferenzierte Substanz, aus der die Materialen aller Stofflichkeits- und Festigkeitsbereiche abgeleitet werden. Es ist die mūlaprakṛiti (Wurzel-Natur) der Hindu-Kosmologie, deren göttliche Ergänzung parabrahman (jenseits von brahman) ist.

Das komplizierte Lebenssystem von Yggdrasil enthält beide Tatsachen der Naturgeschichte und der kosmologischen Information, die man aus den Texten entnehmen kann. Die erste Wurzel zum Beispiel, die Ásgárd, die dem Bereich von Aesir entspringt und durch den Brunnen der Vergangenheit bewässert wird, stellt die „Schicksale der Helden“ dar, von der Ursache bis zur Wirkung für alle Hierarchien der Existenz, und die Götter sind von diesem unumstößlichen Gesetz nicht mehr befreit als jede andere Lebensform. Doch jeder Augenblick verändert den Lauf des Schicksals, da jedes Wesen innerhalb der Grenzen seiner eigenen selbst geschaffenen Kondition frei handelt.

Die zweite Wurzel wird durch Mimirs Brunnen bewässert. Sie holt ihre Nahrung aus der Erfahrung der Materie, denn diese Erfahrung wurde durch das göttliche Auge des Geistes erworben, da Odin sich täglich mit Mimirs Kopf unterhält. Die dritte Wurzel wird von vielen Lebensflüssen bewässert: von all den verschiedenen Ausdruckskräften, die notwendig sind, um die Anforderungen aller Bewußtseinsarten zu erfüllen. Während der ersten Hälfte seines Lebens wird Yggdrasil, die mächtige Esche, Mjötvidr (zunehmendes Maß) genannt, während in seinem Wachstumsprozess die Energien des Baumes aus seinen spirituellen Wurzeln in die zukünftigen Welten fließen. Seine Substanzen gedeihen auf allen Ebenen. Sie werden durch die nährenden Brunnen, die seine drei Wurzeln des Geistes, der Materie und der Form ernähren, angereichert. Nach Erscheinen der vollen Reife wird der Baum Mjötudr (sich erschöpfendes Maß) genannt. Seine Säfte fließen dann in das Wurzelsystem zurück, die Lebenskräfte verlassen die materiellen Reiche, wie der Herbst seines Lebens die Früchte und Samen für die zukünftigen kommenden Leben bringt. Schließlich überwiegt die Ruhe während des nachfolgenden Reifriesen – oder Ruhezyklus.

Diese Metapher eines Baumes, die in so vielen Mythen und Schriften verwendet wird, um einen Kosmos zu beschreiben, ist bemerkenswert genau. Wir wissen, wie auf Erden mit jedem Frühjahr der Fluß der Kräfte seine wachsende Kraft in jeden Ast und jedes Blatt einflößt und dabei Schönheit und Vollkommenheit den Blüten spendet, die im Laufe der Zeit zu Früchten reifen, die die Samen zukünftiger Bäume tragen; und wie, wenn das Jahr sich seinem Ende zuneigt, der Saft in das Wurzelsystem zurückkehrt, es ernährt und einen festeren Halt für das Wachstum im nächsten Jahr liefert. Wir erkennen auch eine Analogie hierzu in jedem Menschenleben: Das Fleisch eines Babies ist zart und fein, es nimmt aber an Größe und Gewicht bis zum mittleren Leben zu; danach kehrt sich der Prozeß um und endet in der transparenten Zartheit des alten Menschen. So erfüllen bei der Verkörperung von Welten die göttlichen Kräfte die latente ungeformte Materie mit Charakter, Struktur und Gestalt, zunehmender Substanz und Festigkeit. Der in Schichten angeordnete Kosmos expandiert von innen nach außen und verzweigt sich durch alle Grade der Materie bis die Grenze für diese Phase seiner Evolution erreicht worden ist, wonach sich die Lebenskräfte in die spirituellen Bereiche zurückziehen und die göttliche Wurzel die Essenz oder das Aroma der Erfahrung in sich einzieht. So kommt es, daß Bewußtheiten sich durch vielschichtige Welten verkörpern und sich dabei den Met der Erfahrung der Götter verdienen.

Yggdrasil ernährt alle Wesen mit einem lebenspendenden Honigtau. Die von ihren Zweigen auf all ihren Schelfen der Existenz herabhängenden Welten erhalten aus den göttlichen Wurzeln, was für das Wachstum nötig ist: Veranlagungen aus Urds Brunnen, materielle Substanz aus Mimirs Brunnen und geeignete Ausdrucksmittel aus Hwergälmirs Lebensflüssen. Beim Tod, wenn sich der Geist zurückzieht wie der Nährsaft in die Wurzeln, bleiben die Samen zukünftiger Verkörperungen als eine unvergängliche Aufzeichnung, während die leere materielle Hülle für zukünftige Zwecke wiederaufbereitet wird, genauso wie die im Winter vom Baum fallenden Blätter zerkrümeln, um die Erde anzureichern.

Yggdrasil ist nicht unsterblich. Seine Lebenszeit ist von gleicher Dauer wie die Hierarchie, die der Baum repräsentiert. Zerstörerische Kräfte sind immer am Wirken und führen zu seinem schließlichen Untergang und Tod: Seine Blätter werden von vier Hirschen gefressen, seine Rinde wird von zwei Ziegen angeknabbert und seine Wurzeln werden von der Schlange Nidhögg (die von unten Nagende) untergraben. Wenn sie ihre Zeitspanne gelebt hat, wird die mächtige Esche zu Fall gebracht. Das ist die Lehre von der vorübergehenden Natur der Existenz und der Unbeständigkeit der Materie.

Während des Lebens der Esche baut sich ein Eichhörnchen sein Nest in dem Baum und läuft den Stamm auf und ab und hält die Verbindung zwischen dem Adler oder dem heiligen Hahn hoch oben in ihrer Krone und der Schlange an ihrer Basis aufrecht. Das kleine Nagetier läßt an das Leben oder das Bewußtsein denken, das die Höhe und die Tiefe der Existenz überspannt. Es wird auch als ein Bohrer beschrieben, der durch die dichteste Materie bohren kann. Im Hávamál wird erzählt, wie Odin den in den Tiefen eines Gebirges verborgenen bardischen Met suchte, die Hilfe eines Eichhörnchens (oder Bohrers) erbat, um den Felsen zu durchdringen, und mit der Hilfe einer Schlange durch das Bohrloch eintrat. Einmal im Innern überredete er die Tochter des Riesen Suttung, der den Met in seiner unterirdischen Behausung verborgen hatte, ihm davon zu trinken zu geben, und so erlangte er Weisheit. Das ist ein häufig wiederkehrendes Thema: Die Gottheit sucht den Met in der Materie, profitiert und lernt von ihm, ehe sie zu den übernatürlichen Welten zurückkehrt.

3 – Götter und Riesen

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Wenn wir die Mythologien im Lichte der theosophischen Vorstellungen studieren, erkennen wir, daß ihre Götter personifizierte Naturkräfte sind, die nicht statisch oder vollkommen sind, sondern evolvierende Intelligenzen in vielen Graden repräsentieren. Einige sind unserer Beschaffenheit so weit voraus, daß sie unsere höchsten Vorstellungen übertreffen. Sie haben in der Vergangenheit die Phase rudimentären Selbstbewußtseins durchgemacht, in der wir uns heute befinden und einen spirituellen Status erlangt, den wir noch erreichen müssen. Andere mögen sogar weniger evolviert sein als das Menschenreich. Diese befinden sich auf dem Wege „abwärts“ in die Materie und haben unsere Stufe der materiellen Entwicklung noch nicht erreicht.

Die Götter und Riesen der Edden sind die zwei Seiten der Existenz, die Dualität, aus der Welten geformt werden. Die Götter sind bewußte Energien, Intelligenzen aufgeteilt in viele Grade. Sie verkörpern sich in Sternen, Planeten, Menschen – in jeder Lebensform. Dies schließt scheinbar leblose materielle Organisationen – Felsen, Sturmwolken, Ozeanwellen – ein, die wir im allgemeinen nicht als lebendig ansehen, sondern die, da sie Organisationen von Atomen sind, die Dynamik der Atome, die sie zusammensetzen, besitzen wie auch ihre eigene einmalige charakteristische Struktur und Bewegung. Die Energien, die diese Dynamik im Universum liefern, sind die individuell evolvierenden Bewußtheiten, von den Mythen Götter genannt.

Die Riesen, ihre Gegenstücke, sind Trägheiten: kalt, unbeweglich, unförmig. Sie werden nur zu Materie, wenn sie von den Göttern vitalisiert und in Bewegung gesetzt werden, und sie hören zu existieren auf, wenn die Götter weggehen. Die Zeitperioden, in denen die Organisationen und Organismen mit Leben erfüllt werden, sind die in den Edden genannten Riesen; d.h. sie sind die Lebensdauer sowohl der Götter als auch ihrer Körper.

In vielen Erzählungen finden wir einen oder mehrere Götter zu der Riesenwelt wandern und manchen Riesen besuchen, „um zu sehen, wie seine Halle eingerichtet ist“. Es gibt häufig eine Konfrontation zwischen einem Gott und einem Riesen, die an dem klassischen Ratespiel teilnehmen, worin die Protagonisten sich abwechselnd Rätsel aufgeben, die der andere lösen muß. Der Verlierer büßt sein Leben ein. Die Bedeutung dieses Wettstreits ist offensichtlich ein Austausch von Information für das Wohl des Hörers oder Lesers und symbolisiert auf meisterhafte Art und Weise den Weg, auf dem eine göttliche Energie die substantielle Seite ihrer Natur, in der sie sich verkörpert, informiert. Im Gegenzug dazu empfängt sie die Erfahrung der Existenz und sich erweiterndes Verständnis. Der nachfolgende „Tod“ des Riesen (der die Begegnung immer verliert) stellt einen Wechsel des Zustandes, des Wachstums, dar, da die rudimentäre materielle Natur aus ihrer früheren Kondition stirbt, indem sie eine weiter fortgeschrittene Evolutionsstufe betritt.

Die Existenz ist anscheinend nie endend; die Wesenheiten sind fortgeschritten oder unreif nur im Verhältnis zu anderen Wesenheiten, aber nie in irgendeinem absoluten Sinn weder in der Zeit noch in der Art. Wie die aions (Äonen) der Gnostiker sind die altnordischen Riesen sowohl Welten als auch Zeitperioden, wie schon gesagt; Zeitalter, in denen die Götter in geeigneten Formen verkörpert sind und auf diese einwirken. Häufig wird ein Riese der „Vater“ eines Individuums genannt, was auf die Eigenschaften eines Zeitalters hinweist, als ob man sagen würde, daß eine Person „ein Kind der Renaissance“ oder „ein Produkt seiner Zeit“ sei. Ein kürzerer Zyklus innerhalb eines größeren kann sich auf eine Tochter des Riesen beziehen, und verschiedene Töchter würden dann eine Reihe von Zyklen innerhalb eines längeren Zyklus repräsentieren.

Wenn die Götter Welten formen und sich in ihnen verkörpern, dann sagt man von ihnen, daß sie die Tafeln für ihr Festgelage vorbereiten, denn an den stellaren, planetarischen und anderen materiellen „Tafeln“ nehmen die göttlichen Intelligenzen den „Met“ der Erfahrung zu sich, wodurch sie ernährt werden. Im Gegensatz zu den Riesen, die als Vehikel oder Träger der göttlichen Energien während der Lebenszeiten der Götter dienen, sind die Aions ohne Leben, während deren sich die Götter aus der Existenz entfernen, zu ihren übernatürlichen Sphären zurückkehren und die Materie in einem Zustand der Entropie zurücklassen. Solche Zeitalter sind die Reifriesen. Sie stellen Perioden der Trägheit dar, in denen keine Energien vorhanden sind. Während dieses totalen Bewegungsmangels gibt es kein Leben oder keine Existenz im so freigemachten Raum; keine Atome bewegen sich, keine Formen sind organisiert, weil keine göttliche Energie anwesend ist, um irgendwelchen Wesen Leben zu spenden. In den östlichen Philosophien wird eine solche äußerste Ruhe pralaya (Auflösung) genannt, wenn die Bewußtheiten sich in ihren entsprechenden Nirvanas befinden und die Materie gänzlich aufgelöst ist. Die einzig mögliche Beschreibung eines derartigen Zustandes wäre, was die Wissenschaft als absoluten Nullpunkt (0° Kelvin) erwähnt: absolute Ruhe, vollständige Bewegungslosigkeit, die Abwesenheit jeglicher Art von Existenz. Für uns ist das natürlich ein hypothetischer Zustand, undenkbar für Lebewesen, aber die moderne Wissenschaft nähert sich der Vorstellung von dem Reifriesen sehr, indem sie anerkennt, daß die Materie das Produkt von Energien in Bewegung ist – daß ohne Bewegung es keine Materie geben würde.

Örgälmir („ursprünglicher Ton“)13 der Edda ist gleich Brahmā, der „sich Entfaltende“ der Hindu-Kosmogonie, der erste Durchbruch der vibrierenden Bewegung, der die Bildung eines Kosmos initiiert; der letzte Riese Bärgälmir („Ton des Erreichten“), der „in der Mühle zermahlen“ und zur Wiederverwertung „gerettet“ wird, gleicht Śiva, dem Zerstörer/Regenerator. Es würde schwierig sein, sich eine effektivere Beschreibung des Urknalls und der Schwarzen Löcher der Astrophysik auszudenken als diese mythischen Namen. Sie suggerieren die Systole und die Diastole eines großen kosmischen Herzens. Die erstere strömt die Energien in die Manifestation aus, die einen Kosmos aus dem Chaos organisieren. Die letztere resorbiert die Lebensenergien in das unbekannte Herz des Seins und läßt die körperlichen Sphären zur Auflösung zurück, die in den Mühlen der Götter zur eisigen Homogenität des Reifriesen zermahlen werden.

In jeder Existenzart, ob es das Leben einer Galaxie, eines Menschen oder eines Atoms ist, gibt es ein Zusammenspiel zwischen Energie und Trägheit, Bewußtsein und Substanz, Geist und Materie, Götter und Riesen. Die Gegensatzpaare sind für ewig miteinander verknüpft, gegenseitig unentbehrlich. Es könnte kein Riese ohne seinen entsprechenden Gott sein, denn es erfordert Energie, um die Struktur von Atomen zu organisieren; andererseits, die Götter benötigen Vehikel, um Erfahrung zu erwerben, wobei das Bewußtsein genährt wird. Ohne materielle Welten irgendwelcher Art hätte das Bewußtsein keinen Weg, um zu wachsen oder sich selbst zum Ausdruck zu bringen. Folglich sind Götter und Riesen ewig gegenseitig abhängig und relativ nebeneinander. So wird der Met der Götter in dem Brauhaus des Riesen Ägir (Raum) gebraut und auf den Tafeln des Sonnen- und Planetensystems serviert. Das ist die altnordische Version des Hindugedanken, daß das Universum für die Erfahrung und Emanzipation der Seele existiert.

Im Laufe der Zeiten wurden schließlich die Götter der Mythen als menschenähnliche Persönlichkeiten betrachtet. Die griechischen Gottheiten scheinen am meisten unter dieser Demütigung gelitten zu haben, obwohl die Gottheiten der Edda in volkstümlichen Geschichten und Kommentaren auch durch billigen Spott erniedrigt worden sind. Ihre sich teilweise überdeckenden dynamischen Kraftfelder und die Gravitationswirkungen, die sie verursachen, wurden in den volkstümlichen Geschichten als eheliche, außereheliche und blutschänderische Beziehungen dargestellt, die von Generationen von Laien und Gelehrten gleichermaßen als das schlechte Betragen von sehr unwahrscheinlichen Gottheiten beurteilt worden sind. Die Edda selbst gibt ein amüsantes, übertriebenes Beispiel dieser Einstellung in „Lokis Zankrede“.

Odin

Das Haupt unter den Aesir ist natürlich Odin. Als Allvater ist er die göttliche Wurzel allen Seins in allen Welten, die in allen Lebensformen, im kleinsten Teilchen wie auch im Kosmos selbst gegenwärtige göttliche Essenz. Wenn Odin die riesigen Welten besucht, reitet er ein achtbeiniges Roß namens Sleipnir (Gleiter), von Loki gezeugt, und er benutzt zahlreiche Namen und Beinamen, die in jedem Fall seine besondere Mission kennzeichnen. Er besitzt einen magischen Ring, der sich zu acht gleichen Ringen in jeder neunten Nacht vermehrt. Dies bezieht sich offensichtlich auf sich vermehrende Zyklen, worin jede spiralförmige Windung eine Anzahl kleinerer Windungen enthält und eine stets wiederkehrende Bewegung sowohl in der Zeit, als auch im Raum repräsentiert: Die Räder innerhalb von Rädern der biblischen Symbolik. Dieses Spiralmuster kann unter Pflanzen und Tieren in der ganzen Natur gefunden werden, von den atomaren Welten bis zu den großen schwungvollen Bewegungen der Sterne und Galaxien im Raum.

Das erste und ausführlichste Lied der Älteren Edda, Völuspá, wendet sich an Odin, den göttlichen Wanderer, der die Welten durchquert und die Tiefen der Materie um der Erfahrung willen aufsucht, die Runen der Wahrheit. Denn Odin ist sowohl individuell als auch universal. Auf der planetarischen Ebene ist er der führende Geist des Planeten Merkur; er ist gleichzeitig der innere Gott jeden Wesens auf Erden und der göttliche Bote, Hermod, der auch sein Sohn ist und dem griechischen Hermes entspricht. Odins Gemahlin ist Frigg, die weise Mutter der Götter, ein Vorbild der Güte und die Hüterin des Geheimwissens. In den altnordischen Mythen entspricht sie der ägyptischen Isis und auch in anderen Systemen der universalen unbefleckten Mutter, aus der alle energiereichen Lebensursachen (die Götter) hervorgehen oder absteigen. Frigg wird erwähnt als die eine, die „das Schicksal jedes Wesens kennt, obwohl sie selbst nichts sagt“ (Lokasenna, siehe dort). Ihre Macht ist derjenigen Odins gleichwertig und obwohl ihr Einfluß überall vorhanden ist, ist sie nie aufdringlich. Wir beobachten auch, daß von Frigg nicht berichtet wird, daß sie ein Haus (vgl. Grimnismál) bewohnt, obwohl sie als Saga einen von Odins Wohnsitzen teilt. Wir können daraus folgern, daß, während Frigg der unmanifestierte, passive Aspekt von Odin ist, die Weisheit ihrer ewigen Vergangenheit in der Sagaform (vgl. S. 97, Fußnote) sie (Frigg) auf der Lebensstufe repräsentiert.

Da Odin auf vielen Ebenen erscheint – als eine schöpferische Kraft in allen Welten, der Logos der klassischen griechischen Philosophie, und auch als der Informant des menschlichen Geistes – ist er allgegenwärtig und wird auf allen Existenzstufen gefunden, manchmal verkleidet, oft unter verschiedenen Namen, aber immer erkennbar. Das verstärkt die Vorstellung, daß die göttliche Essenz sowohl in allen Lebensformen gegenwärtig ist, als auch, daß sie das einzige selbst existierende Ideal im Tod (nonlife) ist, wenn der Kosmos in Nichts aufgelöst ist. Es ist daher nicht überraschend, daß Odin auch als Allvater erwähnt wird und unter der einen oder anderen Maske in jeder Geschichte und jedem Gedicht entdeckt werden kann. Das auffallendste Beispiel ist in Völuspá enthalten, wo Odin „die ganze heilige Verwandtschaft“ – sich auf alle Lebensformen im Universum beziehend – genannt wird. In Hávamál ist er „Der Hohe“, in Vaftrudnismál ist er der Gagnrád (vorteilhafter Rat), in Grimnismál ist er Grimnir (maskiert oder verkleidet), in Vägtamskvädet ist er Wegtam (weggewohnt: mit Wegen vertraut). In Walhalla grüßt er seine Helden als Ropt (verleumdet, mißverstanden) und Nikar (Austeiler von Mißgeschick) aus Gründen, die erklärt werden sollen (S. 83).

Thor

Eine andere universal anerkannte Gottheit ist Thor, der dem Jova oder Jupiter der Römer entspricht und in gewisser Hinsicht auch dem griechischen Zeus. Als Quelle aller Vitalität und Kraft hat auch er viele Namen, die auf verschiedene Phänomene hindeuten, zu denen die elektromagnetische Kraft gehört. Thor ist nicht nur der Blitzeschleuderer, der das Wetter kontrolliert (vergleichbar mit Jupiter der Fröhliche und Jupiter Pluvius), er ist auch der Regent des Planeten Jupiter. Wenn Thor Wior heißt, repräsentiert er Vitalität, die Lebenskraft, die jedes Wesen belebt. Als Hlorridi ist er die Elektrizität, die wir auf Erden kennen, und er besucht uns aus dem Himmel in Blitz und Donner.

In der Weite des Raumes ist Thor Thrudgälmir (Thors Ton), die erhaltende Energie, (Fohat der orientalischen Philosophie), die den Kosmos aus dem Chaos organisiert und die galaktischen Feuerräder in Wirbel versetzt. Thrud oder Thor ist die vorantreibende Kraft, die die Atome in Bewegung hält und, gleich dem hinduistischen Vischnu, alle Dinge während ihrer Lebenszeit in Tätigkeit hält. Thors Hammer ist Mjölnir (Müller), die zermalmende Kraft, die sowohl zerstört als auch erschafft. Er ist der elektrische Strom, der stets zu der Hand zurückkehrt, die ihn aussendet. Symbolisiert durch den Swastika, entweder drei- oder vierarmig, repräsentiert er die wirbelnde Bewegung, die ewig sich bewegende Kraft, die niemals aufhört, während alles lebt in Zeit und Raum.

Thrudgälmir hat zwei Söhne: Modi (Zorn) oder Magni (Kraft), die auf die zwei Pole der Elektrizität oder den Magnetismus auf der kosmischen Ebene hinweisen. Alles, was mit Thor verbunden ist, wiederholt die Dualität der bipolaren Kraft. Seine Söhne, zentrifugal und zentripetal wirkende Kräfte, manifestieren sich als Strahlung und Gravitation in allen Lebensformen. Im menschlichen Bereich kennen wir diese Kräfte als Haß und Liebe, Abstoßung und Anziehung. Thors eiserner Gürtel bildet den Stromkreis für den elektrischen Strom; seine zwei stählernen Handschuhe lassen auf die Dualität der positiven und negativen Polarität schließen. Seine Wagenräder sprühen Funken von Blitzen durch die Himmel; aus diesem Grunde ist er, wenn er umherwandert, unfähig, die Regenbogenbrücke der Götter, Bifrost zu benutzen, da seine Blitze die Brücke in Brand setzen würden. Er muß daher die Wasser (des Raumes), die die Welten voneinander trennen, durchwaten. Dies scheint für den Gott kein Problem zu sein, daher ist es verblüffend, daß ein Lied völlig einem eher monotonen Austausch von Prahlereien zwischen Thor und dem Fährmann Hárbard gewidmet ist, den Thor zu überreden versucht, ihn über einen Fluß zu befördern. Es ist offensichtlich ein Trick, um die Notwendigkeit eines Leiters zur Beförderung der elektrischen Kraft zu demonstrieren. (Das Lied ist hier nicht enthalten.) Auf dem Planeten Erde wird Thors Handlung durch seine zwei adoptierten Kinder Thalfi (Geschwindigkeit) und Röskwa (Arbeit), vertraute Diener unserer machthungrigen Zivilisation, unterstützt.

Thors schöne Frau heißt Sif. Sie besitzt langes goldenes Haar, das der Stolz aller Götter ist. Es repräsentiert die Wachstumsvitalität wie auch die Ernte, die sich aus ihr ergibt und, analog dazu, die evolutionäre Kraft und den Drang zum Fortschritt, der den Lauf der Existenz für alle Wesen weiterbestehen lassen.

Sonnen- und andere Götter

Die Sonnengottheit unserer Welt ist Balder. Er stirbt und wird täglich, jährlich wiedergeboren und repräsentiert die Lebenszeit der Sonne. Dies ist ein Weg, um die ewig neuen Aspekte zu beschreiben, die sich mit jedem größeren oder kleineren Zyklus ergeben, wenn der Sonnengott „stirbt“ und mit jeder Rotation und Umdrehung des Planeten Erde wiedergeboren wird. Die Seele der Sonne heißt Alfrödul, das „strahlende Elf-Rad“, während das sichtbare Gestirn mit dem Spitznamen „Dwalins Spielzeug“ belegt wird. Wie die physische Sonne unser Leben auf Erden unterhält, so erhält ihre Lebensessenz unser spirituelles Leben.

Als der Sonnengott von seinem blinden Bruder Hödur (Unkenntnis und Finsternis) getötet wurde – eine bewegende Geschichte, die in Vägtamskvädet erwähnt wird –, stirbt Balders ergebene Frau Nanna an einem gebrochenen Herzen. Ihre Nachfolgerin ist ihre Halbschwester Idun, die ihre Aufgabe erbt, die Götter mit den Äpfeln der Unsterblichkeit zu versorgen. Aus dem Zusammenhang kann geschlossen werden, daß Idun unsere Erde repräsentiert, während Nanna für den Körper des Mondes steht, der vor einer langen Zeit starb. In dem theosophischen Schema ist der Mond auch der Vorgänger unseres jetzigen lebenden Planeten.

Der Planet Mars wird in der Edda von dem Gott Tyr repräsentiert – ein Wort, das „Tier“ bedeutet, d.h. ein belebtes Wesen, eine Energie, daher ein Gott. Tyr ist unter seinen Brudergottheiten eine heroische Figur, denn er hat seine rechte Hand geopfert, um dem gefesselten Fenris (Fenris), dem Wolf, zu helfen, der, wenn er befreit ist, dazu ausersehen ist, die Sonne zu verschlingen.

Der Gott unseres Planeten Erde, Freyr, ist der Bruder von Freyja, der altnordischen Venus-Aphrodite. Sie sind die Kinder von Njörd, der durch den Planeten Saturn repräsentiert wird und der auch (wie der griechische Chronos) für die Zeit steht. Freyja ist die Förderin und Beschützerin der menschlichen Rasse, die sie an ihrer Brust in der Form eines Juwels trägt – das Brisingamen: die spirituelle Intelligenz in der Menschheit (brising Feuer, besonders das Feuer des erleuchteten Verstandes; men Juwel). Freyrs Frau ist Gerd, Tochter des Riesen Gymir.

Loki

Unter den Göttern nimmt Loki einen einzigartigen Platz ein. Nachdem er Göttlichkeit erlangt hat, obwohl vom Stamme der Riesen, repräsentiert er eine höchst geheimnisvolle und heilige Qualität in der menschlichen Natur. Einerseits ist er die göttliche Intelligenz, die sich in der frühen Menschheit erhob (Freyjas Juwel, mit dem er verknüpft ist) und auch der freie Wille, durch den die Menschheit ihre Einstellung für das Gute oder Böse wählen kann; andererseits ist er der Betrüger, der Abtrünnige, der den Göttern Unglück bringt und andauernd wegen seines boshaften Benehmens ins Gebet genommen wird, woraufhin er auch das Werkzeug ist, das die durch ihn herbeigeführte Situation bessert. Alles in allem verkörpert er das menschliche Gemüt, schlau, töricht, unreif. Wenn er in seinem versöhnlichsten Charakter betrachtet wird, wird Loki Lopt (hochfliegend) und richtet sich an die erhebenden, aufstrebenden Züge in der menschlichen Intelligenz.

Es gibt noch viel mehr Götter im Pantheon, zwei von ihnen erfordern eine besondere Erwähnung: Forseti, Gerechtigkeit, dessen Funktion in dem altnordischen Universum genau der von Karma in den orientalischen Philosophien entspricht. Ein anderer ist Bragi, die Personifizierung der poetischen Inspiration, die Weisheit der Skalden und die göttliche Erleuchtung in der Seele – des Universums und des Menschen.

Aus den Geschichten geht unstreitig hervor, daß die Wanir Götter sind, die höher stehen als die Aesir in einem Universum aus vielen Ebenen der Wahrnehmung, der Erkenntnis, der Einsicht und des Verstehens, wo in unendlicher Aufeinanderfolge hierarchischer Leben der Größere den Kleineren, der in ihm enthalten ist, inspiriert. Die zwei Götterklassen, Wanir und Aesir14 entsprechen scheinbar den asuras und suras der Hindu (Nichtgötter und Götter, die ersteren haben eine doppelte Bedeutung: entweder oberhalb oder unterhalb der Götter). Die Wanir werden fast immer als „die weisen Wanir“ erwähnt und scheinen keine direkte Rolle in den Lebenssphären zu spielen. Die Aesir andererseits inspirieren lebende Himmelskörper, die Planeten im Raum. Als Bewohner in Asgard (Wohnort der Aesir) besuchen sie die Riesenwelten, gewöhnlich verkleidet, oder sie senden Abgesandte, um sie zu repräsentieren. Ein klares Beispiel hierfür ist der avatára Skirnir – ein „Strahl“ des Gottes Freyr – der ausgesandt wird, um die Riesenmaid Gerd im Auftrag des Gottes zu umwerben. Die reine Gottheit kann keinen direkten Kontakt mit der Materie haben, sondern muß „verkleidet“ sein, oder, um einen allgemeinen elektrischen Ausdruck zu benutzen, durch einen Transformer „abwärts transformiert“ werden, oder was die altnordischen Mythen einen alf (Elf) bezeichnen, was einen „Kanal“, eine Seele bedeutet. Die „Verkleidungen“ der Götter sind in jedem Fall Seelen und geeignet und charakteristisch für die Mission, an der sie gerade beteiligt sind.

Einige der am geheimnisvollsten und schwierigsten Passagen in jeder Mythologie beschäftigt sich mit dem Krieg der Götter. In der biblischen Offenbarung sind es Michael und die Engel, die den himmlischen Drachen mit seinen Truppen bekämpfen; in der Rig-Veda herrscht der Kampf zwischen den suras und asuras, und in der Edda kämpfen dieselben kosmischen Mächte als die Wanir und Aesir gegeneinander. Weil das westliche Denken lange gewohnt war, die Gottheit als eine einzelne göttliche Persönlichkeit, die einzige Lebensebene oberhalb des Menschen im Kosmos anzusehen, repräsentieren die Aesir nach allgemeiner Ansicht eine ältere und die Wanir eine jüngere Klasse entsprechender Gottheiten. Es gibt jedoch starke Anzeichen dafür, daß diese zwei Kräfte zu verschiedenen Existenzebenen, eine höher als die andere, gehören; sie gleichen auch den kumāras (Skt. Jungfrauen) und agniṣhwāttas (jene, die vom Feuer gekostet haben), beziehungsweise Göttern, die unmanifestiert bleiben, und jenen, die sich in materiellen Welten verkörpert haben. Dies wird durch den Vers (25) in der Völuspá untermauert. Er erzählt von den Aesir, daß sie aus ihrer himmlischen Festung hinausgedrängt wurden und die Wanir „siegreich“ in den göttlichen Bereichen zurückblieben. Der Kampf, der die kosmische Kraft Thors und eine neue Schöpfung auslöste, scheint das Ergebnis des Verbrennens von Gullweig(Gier nach Gold) zu sein, der, gleich dem rätselhaften Phoenix, sich schöner nach jeder Reinigung durch Feuer „hochgehoben auf den Speeren“ der Götter erhebt. Gleich der Transmutation der Alchemisten von unedlem Metall in Gold, findet dieses mystische Thema eine bereitwillige Antwort in der menschlichen Seele. Wir erkennen seine Anwendung auf den Hunger nach Erleuchtung im Menschen, der in den Göttern in der Schöpfung eines Universums resultiert; es ist der Drang, der sie zur Manifestation antreibt. Paradoxerweise besitzt der Durst nach Gold auch die entgegengesetzte Anwendung in unserer menschlichen Sphäre, wo er zur Habgier nach Besitztümern wird.

Auf der Ratsversammlung der Götter machte Odin den Beratungen ein Ende: Sollten alle Götter büßen oder nur die Aesir? Die „besiegten“ Aesir überließen das Feld den Wana-Göttern, die in ihren Himmeln zurückblieben, währenddessen die verdrängten Aesir sich verpflichteten, die Welten zu beleben und zu erleuchten. Dies scheint die Aesir mit den Agniṣvāttas zu identifizieren, weil sie die Welten im Kosmos mit Leben erfüllen. Es ist ihre Gegenwart in den Lebewesen, die die Nostalgie der Seele nach ihrer spirituellen Heimat erweckt. Für die Götter ist es ein erhabenes, von Odin, dem Allvater, angestiftetes Opfer. Die göttliche Gegenwart im Herzen drängt nach Vermehrung der Weisheit.

Wieder einmal berieten die Götter: Wer hat die Luft mit dem Bösen vermischt und Ods Maid der Riesenrasse gegeben? Das kann umschrieben werden mit: „Wer hat der menschlichen Rasse die Macht des freien Willens gegeben, das Gute oder das Böse zu wählen und die Intelligenz (das Freyja-Prinzip, Odins Tochter und der Menschheit Braut – die höhere menschliche Seele), mit Hilfe derer sie aufgrund dieser Entscheidungen lernen und wachsen kann?“

Wer wirklich? Eine deutliche Antwort wird nicht gegeben aber, wenn man an den göttlichen „Abtrünnigen“ denkt, ist es klar, daß ein Aspekt von Gullweig Loki ist – die niedere Natur, die sich zum Selbstbewußtsein entwickelt hat und folglich eines göttlichen Formats aus einer früheren materiellen Kondition. Seine schelmischen Streiche sind charakteristisch für die menschliche Natur, undiszipliniert und unvollkommen, doch potentiell gottgleich. Loki begleitet fast immer die Aesir auf ihren Wanderungen durch die Riesenwelten und funktioniert dabei als Mittelsperson. Er stellt die Brücke dar zwischen Gott und Zwerg (die spirituelle Seele und die tierische Natur) im Menschen und legt eine deutliche Dualität frei, zerrissen zwischen den edlen und üblen Impulsen. Da Loki Freyjas Brisinga-Juwel stahl, wurde die menschliche Intelligenz von ihrem eigentlichen Ziel abgewendet und für niedrige Zwecke mißbraucht.

Ein Pakt, der zwischen den Wanir und den Aesir geschlossen wurde, mündete in einen Austausch von Geiseln.15 Die Titanen Mimir und Hönir wurden von den Aesir zu den Wanir geschickt, die im Gegenzug die Götter Njörd und seinen Sohn Freyr zu den Aesir hinabschickten. Die Wanir fanden bald, daß Hönir (die Intelligenz auf der kosmischen Skala) nutzlos war, es sei denn, Mimir (die veränderliche Grundmaterie) war zur Hand, um ihn zu beraten (die Vernunft ohne materiellen Handlungsbereich). So schnitten sie Mimirs Kopf ab und schickten ihn zu Odin, der ihn täglich konsultierte und von ihm die Geheimnisse der Existenz erfuhr.

Für uns ist das vielschichtige Universum der mythischen Geschichten eine ungewohnte Lebensanschauungsweise, aber sie ist inbegriffen in den meisten alten Kosmologien der Welt. Mimir allein besitzt neun Namen auf neun Lebensebenen mit neun Himmeln und Welten. Andere Systeme können sieben oder zwölf verwenden. Unsere westliche Kultur hat das Universum auf drei Stockwerke begrenzt mit Gott oben, dem Menschen in der Mitte und dem Teufel im Keller. Das erlaubt kein Zielbewußtsein für irgendeine Lebensform, die anders ist als die menschliche. Die ganze Schöpfung befindet sich unterhalb unseres eigenen hohen Standes. Die ganze Schöpfung entwickelt sich auf die menschliche Lebensform zu, und da scheint alles zu einem toten Ende zu kommen. Was das sich entwickelnde Bewußtsein und Verständnis betrifft, so gibt es da keine Berücksichtigung einer Verbesserung oder eines Wachstums unterhalb der menschlichen Stufe. Sie gibt uns sehr wenig, um vorwärts zu schauen und sie macht die Begriffe Unendlichkeit und Ewigkeit bedeutungslos. Im Gegensatz dazu postuliert das traditionelle Sagengut endlose Aussichten auf Zeit und Raum mit Lebensformen, die sich durch zahllose Kombinationen der Spiritualität und der Materialität erstrecken und wo unsere Welt ein schmaler Querschnitt auf ihrer eigenen Ebene ist. In einem solchen Universum kann man automatisch gut mit Geist und böse mit Materie gleichsetzen. Da gibt es immer eine gleitende Skala der Relativität, wo „gut“ Rechtschaffenheit, Harmonie im Zusammenhang dazu und „böse“ Disharmonie ist. Die verblüffende biblische Erwähnung der „spirituellen Verruchtheit auf hohen Plätzen“ kann als bedeutende Unvollkommenheit in einem spirituellen Zustand oder als böse relativ zu einem höheren Stand erklärt werden. In allen Mythen sind Götter und Riesen, Energie und Trägheit, Bewußtsein und Substanz, unentwirrbar miteinander verbunden, immer relativ. Sie können von unserem begrenzten Maßstab von Gut und Böse nicht beurteilt werden. Doch sie ändern sich beständig, vom Geringeren zum Größeren wachsend. In dem Maße, wie der Begrenzte seine Einschränkungen erweitert, wird das Egozentrische universal.

In der brahmanischen Literatur werden die Götter und die Riesen auch in der Gestalt von lokas und talas unter anderen gefunden. Diese repräsentieren die vielen Welten der Manifestation, einschließlich der materiellen Welt, die wir bewohnen. Ein loka ist das aufwärts tendierende Bewußtsein auf jeder Ebene, das tala ist die entsprechende abwärts tendierende Materie – die Ausdrücke „aufwärts“ und „abwärts“ sind natürlich symbolisch. Dieses Zueinander-in Beziehung-stehen der Götter und Riesen in ewiger Opposition wird in Grimnismál gut beschrieben, das den Versuch unternimmt, die „Schelfe“ der Substanz zu beschreiben, die die „Hallen“ oder „Behausungen“ ihrer entsprechenden Bewohner, die Götter, erbauen.

Die Erklärung des Krieges im Himmel muß der Intuition jedes Einzelnen überlassen werden. Man nimmt einen Fortschritt der göttlichen Intelligenzen wahr, die die materiellen Welten, wahrhaftige Höllen gegenüber diesen wohltuenden Einflüssen, inspirieren, so daß niedrigere Wesen ein gewisses Maß ihrer Erleuchtung empfangen können. Dieser Unterton der Anteilnahme der Götter an niedrigeren Bereichen um ihrer Bewohner willen wird in allen Gott-Geschichten der Wikinger (oder ihrer damaligen Vorfahren) stark empfunden. Er kann sehr wohl der wahre Grund dafür sein, daß uns diese Überlieferungen ansprechen und fortlaufend verehrt und wiedererzählt werden.

4 – Kosmische Schöpfung

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Vor dem Erscheinen irgendeines Systems von Welten existierte nichts außer Finsternis und Stille – Ginnungagap (gähnende Leere). Die Götter haben sich in ihre überirdischen Sphären zurückgezogen; Raum und Zeit sind bloße Abstraktionen, denn die Materie ist in Abwesenheit jeglicher organisierender Vitalität nicht existent. Es ist das Chaos der griechischen Kosmogonie, ehe die Ordnung, der Kosmos, ins Dasein gelangt. In den Stanzen des Dzyan16 steht: „Es gab keine Zeit, denn sie lag schlafend in dem unendlichen Schoß der Dauer.“ Die Edda nennt dies den Fimbulvetr (mächtiger Winter) – die lange kalte Nacht des Nichtseins.

Als sich die Stunde der Geburt eines Kosmos näherte, schmolz die Hitze von Muspellsheim (Feuerwelt) das in Niflheim (Nebelhölle) angesammelte Eis und erzeugte einen fruchtbaren Dampf in der Leere. Dies ist Ymir, der Eisriese, aus dem die Götter Welten erschaffen werden: unmanifestierte Welten und „Sieg-Welten“, worin sich die Lebensströme verkörpern werden. Ymir wird durch die vier Milchströme unterstützt, die von der Kuh Audhumla, dem Fruchtbarkeitssymbol, dem noch unmanifestierten Lebenssamen, in die vier Richtungen ausströmen. „Erschlagen“ von den Göttern, wird Ymir Örgälmir, (Urlaut), die Schlüsselnote, deren Obertöne durch die schlafenden Schelfe des Raumes schwingen. Ähnlich wie der tibetanische Fohat, der die Atome herumwirbeln läßt, beschreibt dies bildlich ein erstes Vibrieren, das die Bewegung in der innersten Protosubstanz organisiert. Daher werden Wirbel erzeugt, deren Größe und Geschwindigkeiten die Wellenlängen und Frequenzen bestimmen, die die verschiedenen Bereiche der Materie ausmachen. Wie die Edda sagt: „Dies war das erste der Äonen, als Ymir hauste. Es gab keine Erde, keine See, keine Wogen; die Erde war nicht noch der Himmel. Gähnender Abgrund allein: kein Wachstum. Bis Burs Söhne die Tafeln hoben; sie, die die Macht besaßen, Midgárd zu erschaffen. Die Sonne vom Süden schien auf die Steine des Feldes; dann wuchsen grüne Gräser in dem fruchtbaren Boden.“17

In der Umschreibung lautet dies so: „Ehe die Zeit begann, existierten keine Elemente, denn es gab „keine Wogen“ – keine Bewegung, folglich keine Formen und keine Zeit. Diese bildliche Beschreibung könnte schwerlich übertroffen werden. Die Materie und das ganze phänomenale Universum sind, wie wir jetzt wissen, Wirkungen der methodischen Bewegung der elektrischen Ladungen. Organisiert als Atome mit ihrer Vielzahl von Teilchen vereinigen sie sich, um die vielen Materiearten zu bilden, die Sonnen und Planeten zusammensetzen. In der Abwesenheit der organisierenden Kräfte, der Götter, existiert keines dieser Dinge. Der Raum selbst ist eine Abstraktion, unvorstellbar, nicht existent, jedoch das alleinige Sein. In Ginnungagap, der „Abgrund von Ginn“, unausdrückbares, unaussprechbares Nichtsein, jenseits aller Kontemplation und nicht vorstellbar, erlaubt Ymir, der Reifriese, „kein Wachstum“ bis die Schöpferkräfte ihn „erschlagen“ und aus seinem Körper die Welten formen: „die Tafeln erheben“, an denen sie sich am Met des Lebens laben.

Die Kuh Audhumla leckt Salz von den in Ginnungagap angesammelten Eisblöcken und entdeckt das Haupt des Buri (Raum als Abstraktion, nicht Raum, der Dimension besitzt). Buri entspricht dem „elternlos“ – dem „selbst-geborenen“ der Hindu-Kosmogonie. Audhumla, der ursprüngliche Lebenssamen, kann mit der hinduistischen vāc, der ersten Vibration oder dem ersten Laut, auch als eine Kuh dargestellt, verglichen werden. Wir finden dieselbe Vorstellung in der biblischen Mythe, Johannes 1,1: „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.“ Das Wort (gr. Logos) bedeutet Vernunft und enthält auch den Begriff Laut, Schwingung. In jedem Fall findet die erste Erregung der Aktivität ihren Ausdruck als eine erste Ideenbildung im göttlichen Geist (mind) oder als eine Grund- oder Schlüsselnote, auf der eine Reihe von Obertönen aufgebaut ist, von denen jeder Ton die Grundnote einer neuen Obertonreihe wird. Wenn Sie einmal auf den langsam aus dem Gehör verschwindenden Nachhall gehört haben, werden Sie den auf der einen tiefen Note aufgebauten Dur-Akkord vernommen haben. Er ist durchaus als ein genaues Symbol denkbar, um einen Urknall zu beschreiben, dessen energiereiche Impulse sich als Harmonie bis zu den Grenzen ihrer Entwicklung vermehren. Durch eine solche Vermehrung der Schwingungen, genannt Götter, könnten damit Formen organisiert werden, die ihnen als Vehikel dienen, in die sie sich verkörpern und in denen sie wohnen, seien sie Sonnen, Menschen oder subatomare Leben.

Aus dem abstrakten Buri emaniert Bur (Raum als Ausdehnung) und aus diesem evolviert ein dritter, dreieiniger Logos, zusammengesetzt aus Odin, Wili (Wille) und We (Heiligkeit – Ehrfurcht in ihrem ursprünglichen Sinn). Diese sind die Noumena oder Prototypen der Elemente, die wir in unserer Sphäre Luft, Feuer und Wasser nennen: die Essenz des Geistes (Atem), der Vitalität (Hitze) und der Flüssigkeit (Gemüt – mind) – subtile Ursprünge vertrauter Zustände der Materie. Es gibt eine vielsagende Verbindung zwischen dem, was die Mythen die „Wasser des Raumes“ nennen – die Basis jeglicher Existenz und der allgemeine Grund von Universen – und Wasserstoff (aus dem griechischen hydor: Wasser), wenn wir uns erinnern, daß Wasserstoff das einfachste, leichteste und am reichlichsten vorhandene Element ist und dasjenige, welches in der Zusammensetzung aller bekannten Substanzen eine Rolle spielt. Der zweite Zweig der Trinität kann in dem zweiten Element, Helium, genannt nach helios, die Sonne, gesucht werden, wo es zuerst entdeckt wurde. Eine Verbindung kann auch zwischen dem Feuer und dem Element Sauerstoff gefunden werden, das sich mit anderen Elementen bei der Verbrennung chemisch verbindet. Ein Aspekt des göttlichen Feuers ist Mundilföri, der „Hebel“ oder die „Achse“, die die „Räder“ der Galaxien, Sonnen, Planeten oder Atome dreht. Es ist die Kraft, die der rotierenden und fortschreitenden Bewegung den Anstoß gibt und dabei Wirbel, dynamische Wesenheiten in den Wassern des Raumes erschafft.

Es ist verblüffend, wie die in den Mythen gefundenen mehr oder weniger dunklen Hinweise in der modernen Wissenschaft erkennbar sind, sogar in solch anspruchsvollen Bereichen, wie in den Theorien über die Sternenentstehung und die Kosmologie. Die letztere zeigt, wie physikalische Prozesse stattfinden, die erstere deutet die Ursachen an, die sie herbeiführen. In der Chemie sprechen wir von drei Zuständen der Materie – fest, flüssig und gasförmig. Die Mythen nennen diese Erde, Wasser und Luft und fügen zweite weitere hinzu: Feuer und Äther, die in der alten Wissenschaft als Attribute der Götter enthalten waren.

In dem fernen mythischen Morgen der Zeit muß sich unsere Erde mit all ihren Einzelbewohnern noch in einem Zustand befunden haben, den wir nur als ätherisch bezeichnen können. Der Globus mußte sich noch aus seinem ursprünglichen Nebel (Nifl), geboren in Niflheim (die ursprüngliche Nebelwohnstatt) verdichten. Wir können uns vorstellen, wie der göttliche Daseinswille sich durch die transzendenten, unvorstellbaren geistigen Bereiche spiralförmig abwärts windet, dann durch die Schichten der ideenbildenden und intelligenten Ebenen, durch ätherische und immer gröbere, obwohl noch immaterielle Substanzen, dabei Atome bildend, Moleküle organisierend, Organismen aufbauend, bis alle Prinzipien und Aspekte einer Welt mit ihren entsprechenden Lebensformen ausgeatmet worden sind. Aus diesem Antrieb empfing der Staub lange verstorbener früherer Sterne, die über die Bereiche des schlafenden Raumes verstreut waren, erneut den Kuß des Lebens, und jenem schöpferischen Drang gehorchend, bildete er Energiewirbel, die zu Materie wurden, aus der unsere Welten sich formten.

Bevor unser Planet physisch wurde, waren die weniger festen Zustände der Materie – Feuer und Äther – zweifellos auffallender; Feuer wird noch als vitale Stufe aller lebenden Körper gefunden. Sogar der Raum selbst, soviel wir von ihm wissen, liefert solch ein Lebenszeichen: eine Temperatur von 2,7° K, wenn auch kaum eine Hitzewelle, ist noch ein Beweis für die – wie auch immer – geringfügige Bewegung der – wie auch immer – schwachen Vitalität. Der Äther wird unter diesem Namen heute nicht anerkannt. Trotzdem werden verhüllende Worte, wie das „interstellare Medium“ und „intergalaktische Medium“ in der Astrophysik verwendet, um ihn anzudeuten. Seit jener entfernten Vergangenheit, als unser Globus sich zu verfestigen begann, entfernte sich das ätherische Element anscheinend aus unserem Wahrnehmungsbereich. In der Zukunft, wenn die Erde langsam ätherischer wird, wie die theosophischen Aufzeichnungen vorhersagen, werden wir ihn unzweifelhaft gemeinsam mit der Erhöhung der Radioaktivität wiederentdecken.

Wir haben gesehen, wie Ymir, der Eisriese, durch die göttlichen Kräfte in die Substanzen umgewandelt wurde, welche eine Welt bilden. Die ursprüngliche Protosubstanz wird als Örgälmir (der Urlaut), die Grundnote eines Kosmos, ein Ausgießen von Energie so potent, daß es unvermeidlich an das Phänomen erinnert, das die Wissenschaftler den Urknall nennen. Die Schöpfung der Erde im Grimnismál (40-41) wird poetischer dargestellt: „Aus Ymirs Fleisch wurde die Erde geformt, die wogenden Meere aus seinem Blut, aus seinem Gebein die Berge, die Sträucher aus seinem Haar und aus seiner Hirnschale der Himmel. Mit seinen Augenbrauen umgaben die wohltätigen Kräfte Midgárd für die Menschensöhne; aber aus seinem Hirn sind alle dunklen Wolken erschaffen worden.“ Die schützenden Augenbrauen, die die menschliche Domäne umgeben, lassen stark an die bogen- oder ringförmigen Van-Allen-Gürtel denken, die eine übermäßige kosmische Strahlung aufhalten.

Der schöpferische Prozeß der fortschreitenden Manifestation (in der Theosophie der „absteigende Bogen“ genannt – Mjötvidr in der Edda) kennzeichnet das mit Nahrung-versorgen oder das Ernähren des Lebensbaumes, während die anschließende Evolution des Geistes und die Abnahme der Materie (der „aufsteigende Bogen“ der Theosophie und Mjötudr in der Edda) zur Erschöpfung der Nahrung führt, die Yggdrasil ernährt. Odin wird Ofnir (Eröffner) zu Beginn einer Lebensphase genannt, wenn er untrennbar von Örgälmir, der Grundnote, ist, deren Nachhall sich im Kosmos vervielfältigt. Dieser systolische Schlag des kosmischen Herzens muß zu gegebener Zeit von einer Diastole abgelöst werden, wenn die Expansion vollendet ist, die Götter wieder einmal in das Herz des Seins zurückgezogen werden, und das wird tatsächlich bekräftigt: Am Ende des Lebens ist Odin Swafnir (der Schließer) verbunden mit Bärgälmir (die Stimme der Erfüllung). Dieser Materie-Riese wird „auf der Mühle zermahlen“ – zur Formlosigkeit homogenisiert, als Materie vernichtet mit einer bemerkenswerten Ähnlichkeit zu dem, was die Wissenschaft jetzt ein Schwarzes Loch nennt. Man sagt von ihm auch, daß er „auf einen Bootskiel gesetzt und gerettet wird“ – eine Allegorie, die an die Noahchitische Flut erinnert, die auch die Erneuerung der Lebensformen nach einer Auflösung sicherstellt. Es kann sehr gut möglich sein, daß der Bestattungsbrauch so seinen Ursprung nahm: Man legte ein totes Oberhaupt auf sein Scheiterhaufen-Schiff und ließ das brennende Schiff auf die offene See treiben.

Die Flüsse des Hwergälmir oder verschiedene Klassen oder Reiche des Lebens verfolgen ihren Lauf der Verkörperung durch die Schelfe und Wohnstätten der Weltsysteme. Sie repräsentieren die große Vielfalt der Organismen, die durch die vielen Arten von Elf-Seelen, die menschlichen natürlich eingeschlossen, benutzt werden. Es gibt die Zwerge und die Licht-Elfen und auch die finsteren Elfen, die sich noch nicht „aus dem Steinfundament der Halle hinauf zu den Schutzwällen durchgekämpft haben“ (Völuspá, 14).

Während der Lebenszeit eines kosmischen Wesens ist Allvater Odin besonders vergleichbar mit Thrudgälmir (Laut des Thor), Unterstützer allen Lebens. Wir haben gesehen, wie Thrud (auf der kosmischen Skala), Thor (im Sonnensystem), Hlorridi (auf der Erde) die Energie in allen Bereichen des elektromagnetischen Spektrums repräsentieren und wie alle ihre Attribute die Assoziation der Kraft in verschiedenen Anwendungen haben. Thors Hammer, Mjölnir, erschafft Materie und zermahlt sie bis zur Vernichtung. Als Mittel zur Schöpfung und Zerstörung weiht er Ehen und erschlägt auch Riesen, so waltet er seines Amtes bei den Fortpflanzungsriten und bringt aber auch den Tod, indem er das Bewußtsein aus den Lebenssphären zurückzieht.

5 – Irdische Schöpfung

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Die Schöpfung unseres Planeten wird auf verschiedene Weise beschrieben. Die irdische Gottheit ist Freyr, der Tapfere. Er ist der Sohn von Njörd und der Bruder Freyjas, und er besitzt ein magisches Schwert, von dem gesagt wird, daß es kürzer sei als die übliche Waffe, aber unbesiegbar, wenn sein Schwertschwingender mutig ist. Es muß von jedem Krieger Odins verdient werden, der Walhalla erreichen möchte.

Die Seele der Erde ist Idun, die Hüterin der Äpfel der Unsterblichkeit, die sie den Göttern nur zu ganz bestimmten Zeiten anbietet. Sie gibt auch flehentlichen Bitten zwischen den Mahlzeiten nicht nach. Idun ist die Tochter des Riesen Iwaldi – „die Älteste seiner jüngeren Brut“ von Kindern. Nanna, die Seele des Mondes, eine seiner „älteren Brut“, starb an gebrochenem Herzen beim Tode ihres Gemahls Balder, dem Sonnengott (Vgl. Vägtamskvädet). Das läßt darauf schließen, daß unser lebender Planet eine andere Sonne sieht, einen anderen Aspekt des Sonnendaseins als sein Vorgänger. Die Söhne von Iwaldi sind die Elemente, die unseren Planeten zusammensetzen; sie sind die Lebenskräfte, die einst die Wohnstatt von Nanna bildeten, aber nach ihrem Tod jene von Idun zu bilden begannen. Nach den theosophischen Lehren besteht jeder Planet, einschließlich unserem eigenen, wie auch die Sonne, aus verschiedenen unsichtbaren Globen zusammen mit dem einen, den wir kennen. Sie betrachten auch unsere Erde als die fünfte in einer Reihe von sieben Verkörperungen der planetarischen Gottheit, der Mond war die vierte gewesen. Unser Planetensystem ist daher eine Stufe weiter fortgeschritten als die ehemalige zusammengesetzte Welt des Mondes.

Viele Überlieferungen betrachten den Mond als Elter der Erde und behaupten, daß seine Substanzen und Lebensessenzen immer noch auf seinen Nachfolger übertragen werden. Eine gewisse Stütze erfahren die Mythen durch die Tatsache, daß der sichtbare Mond sich langsam vermindert, besonders die der Erde zugewandte Seite. Eine Redensart schildert den Mond als eine Mutter, die die Wiege ihres Kindes, die Erde, im Kreise um sich bewegt. Der volkstümliche Kinderreim, Hans und Grete, hatte seinen Ursprung in der Edda, wo ihre Namen Hjuki und Bil lauten. Sie gehen zum Mond, um von seiner Substanz zu holen und sie zur Erde zurückzubringen. Wenn sie dort sind, können wir ihre Schatten sehen, die sich gegen die Mondscheibe abzeichnen, geradeso wie wir den Mann im Mond sehen. Amerikanisch-indianische Überlieferungen sprechen von der Erde als „Mutter Erde“ und vom Mond als „Großmutter Mond“, was dasselbe Thema der Nachfolge stützt.

In einer Geschichte erzählt die Edda die Bildung der Erde als einen Kampf zwischen zwei Gruppen: Die eine besteht aus zwei von Iwaldis Söhnen, den Zwergen Sindri und Brock (das Pflanzen- und Mineralreich), die andere aus Dwalin (die unerwachte menschlich-tierische Seele) und unterstützt durch Loki (Verstand). Der Kampf fand statt, um zu ermitteln, wer die geeignetsten Gaben für die Götter erschaffen könnte.

Brock und Sindri erschufen für Odin den sich selbst erneuernden Ring, Draupnir, von dem acht gleiche Ringe jede neunte Nacht abfielen, um dadurch die zyklische Erneuerung und Bewahrung der Lebensformen sicherzustellen. Sie machten für den Erdgott Freyr einen goldenen Eber. Dieses Symbol für die Erde wird auch in den Hindu Purānas gefunden, wo Brahmá in der Gestalt eines Ebers die Erde aus den Wassern des Raumes emporhebt und sie auf seinen Hauern trägt. Für Thor formten die Zwerge den Hammer Mjölnir, den Zertrümmerer. Dieser ist Blitz und Donner in den volkstümlichen Darstellungen, die, wie wir gesehen haben, Elektrizität und Magnetismus repräsentieren oder Haß und Liebe, Zerstörung und Schöpfung und, in der Form des Swastika, ewige Bewegung. Er hat die Eigenschaft, immer wieder zu der Hand zurückzukehren, die ihn ausschickte, dabei einen Kreis vollendend. Zusätzlich zu seinen physischen Bedeutungen ist dies eine Weise, um das Gesetz der Gerechtigkeit auszudrücken, das die universale Natur an allen seinen „Schelfen“ beherrscht. Wir erkennen leicht in ihm die orientalische Lehre von Karma, das auf jeder Lebensstufe herrscht, um die Harmonie, wo immer sie gestört worden ist, wieder herzustellen, und auf der kosmischen Skala das zyklische Wiedererscheinen von Welten zu verursachen. Thors Hammer ist etwas kurzstielig, denn während der Hammer geschmiedet wurde, machte sich Loki als eine Biene unkenntlich und fügte dem Zwerg einen bösen Stich zu, der den Blasebalg betätigte. Der Zwerg stockte nur einen Augenblick, aber dies genügte, um das Geschenk zu verunstalten und Lokis und Dwalins Sieg zu gewährleisten. Trotzdem sind die Geschenke der Zwerge die besten, die durch das Pflanzen- und Mineralreich für den göttlichen (Odin), vitalen (Thor) Planetengeist (Freyr) erzeugt werden können. Man muß jedoch bemerken, daß diese Gaben, so wie sie durch die Mineralien und Pflanzen hervorgebracht werden, auf physikalische Eigenschaften begrenzt sind, die ihre Schöpfer betreffen: Odins Ring bezeichnet den zyklischen Fortschritt von Ereignissen mit ständig wiederkehrenden Parallelen, woraus die wechselnden Jahreszeiten charakteristisch sind. Freyrs Eber mit seinen leuchtenden goldenen Borsten zieht seinen Wagen durch die Himmel; während der schöpferische und zerstörerische Hammer von Thor die Lebenskraft und die Kräfte repräsentiert, die wir mit den Elementen verbinden – Donner und Blitz, seismische Belastungen und Bewegungen und das Zusammenspiel von Schwere- und Magnetfeldern.

Im Wettstreit mit den Zwergen erschafft Dwalin mit der Hilfe von Loki für Odin den magischen Speer, der niemals sein Ziel verfehlt, wenn er von einem, der reinen Herzens ist, geworfen wird. Dies ist der evolutionäre Wille, oft durch einen Speer symbolisiert, manchmal auch durch ein Schwert. Es ist der eingeborene Drang in jedem Lebewesen, zu wachsen und zu einem weiter entwickelten Zustand fortzuschreiten. Es befindet sich darin eine mystische Bedeutung des Opfers, da Odin, der an den Lebensbaum angenagelt ist, auch durch einen Speer durchbohrt wird. Der Speerstoß wurde auch anderen gekreuzigten Erlösern zugefügt.

Was Thor, Dwalin und Loki anbelangt, die das goldene Haar von Sif, seinem Weib (die Ernte), wieder zurückgeben, das von Loki gestohlen worden war – der menschliche Mißbrauch der reichen Fülle der Erde? – so hat dies möglicherweise Bezug auf mehr als das physische Getreide der Erde. Die Gabe des Wiederaussäens und das unendliche Potential des evolutionären Wachstums bringt ein großes Versprechen für die Welt, die im Begriff steht, gebildet zu werden. Freyr erhält als seine Gabe das Schiff Skidbladnir, das alle Samen jeder Lebensart enthält, jedoch „zusammengefaltet werden kann wie ein Taschentuch“, wenn sein eigenes Leben beendet ist.

Während die physischen, astralen, vitalen und alle anderen Erfordernisse für den neuen Planeten auf diese Weise gesammelt und erneut gebildet werden, sind die spirituellen Prinzipien, Lif und Lif (das Leben und der Überlebende; letzterer bedeutet „schwer zu töten“ oder unzerstörbar) „ im Gedächtnisschatz der Sonne verborgen.“ Diese sind der quasi-unsterbliche Teil des Planeten, die unsterbliche Geist-Seele des Menschenreiches, die Sonnenessenz der Menschheit, die während der Lebenszeit der Sonne andauert. Allegorisch lernen wir in dieser Geschichte, daß, obwohl die Elementalreiche gute und nützliche Geschenke für die sich verkörpernden Gottheiten hervorbringen, die menschliche Genialität von einer höheren Ordnung ist und somit den Kampf gewinnt.

Der unserem Planeten gegebene Name Midgárd bedeutet „mittlerer Platz“. Diese Anordnung unseres Globus in eine zentrale Position entspricht auffallend der theosophischen Beschreibung unseres irdischen Heimes als aus einer Reihe von Globen zusammengesetzt, von denen der zentrale Globus die Sphäre ist, die wir bewohnen. Die Zahl der ätherischen Begleiter variiert in den verschiedenen Mythologien; weil die höchsten von ihnen so spirituell sind, so weit jenseits menschlichen Verstehens, da unvorstellbar, werden sie insgesamt in einigen mythischen Kosmogonien vermißt oder nur ungefähr angedeutet. Die zwölf in der Edda in Grimnismál aufgezählten deuten ein Muster an, wo sechs zunehmend materielle Globen den tiefsten Stand in unserem eigenen erreichen, denen dann sechs zunehmend spirituelle Globen folgen werden, die in der göttlichen Spitze des irdischen Systems ihren Höhepunkt erfahren. Unser Globus ist der RieseThrym in der Edda. Er ruht auf dem materiellsten der Schelfe, die die Substanzen für die zwölf Behausungen der Gottheiten enthalten und liefern. Wie die anderen mythologischen Geschichten hat die Edda ihre universalen und irdischen Überschwemmungen. Wir haben gesehen, wie Bärgälmir, das Endergebnis eines kosmischen Aktivitätszyklus, „auf einem Bootskiel gerettet“ wird, um ein neues Weltensystem am Anfang der nächsten Manifestationsperiode zu werden. Ähnliche Muster tauchen auf einer kleineren Skala innerhalb der Lebensspanne der Erde auf. Hier folgt ein Riese dem anderen und innerhalb jeder Riesen-Periode folgt eine Reihe der anderen von kürzeren, aber immer noch enormen Riese, als deren Töchter, welche die größeren planetarischen Lebenszeiten analog widerspiegeln.

Es gibt immer Ähnlichkeiten zwischen der ersten einer Reihe und der ersten einer untergeordneten Reihe, zwischen der zweiten der einen und der zweiten der anderen ; manchmal wird ihnen der gleiche Name gegeben oder einer, der sehr ähnlich ist und zur Unklarheit führen mag, der aber auch der Enthüllung eines Planes dient. Als ein Beispiel gibt es klare Analogien, die zwischen den Riesen Ymir, Gymir, Hymir und Rymir gezogen werden können, die verschiedene Phasen einer Reihe von kosmischen Ereignissen repräsentieren.

Was unseren Planeten betrifft, so wissen wir, daß er die ganze Zeit über Gegenstand allmählicher Veränderungen ist. Dazu ereignen sich gelegentlich Kataklysmen. Ein Grund dafür sind die Verwüstungen durch die Bewohner, die über eine lange Zeit die Gesetze verletzen, welche die Ökologie beherrschen. Wenn die zerstörende Wirkung durch den Menschen unerträglich wird, rebelliert die Natur, sie führt eine heftige Veränderung herbei und stellt das Gleichgewicht der Kräfte wieder her. Das ist ein Teil des normalen Prozesses des restaurativen Systems der Erde und der Wiedergewinnung und Erholung ihrer Gesundheit.

Die größten Umwälzungen jedoch, die radikale Veränderungen in der Anordnung von Kontinenten und Meeren verursachen, werden durch den rhythmischen Puls der Lebensströme des Planeten beherrscht. Sie finden in Abständen statt, deren Länge jede weltliche Geschichte überschreitet. In den theosophischen Überlieferungen werden während der vier und einhalb Milliarden Jahren der gegenwärtigen Lebenszeit der Erde bis heute nur vier solcher größeren Katastrophen aufgezeichnet. Kleinere Ereignisse sind natürlich häufiger.

Die Mythologien erwähnen einstimmig Geschichten von Fluten und die Wiederbevölkerung des Globus nach seiner fast vollständigen Entblößung menschlichen Lebens. Einige amerikanische Überlieferungen erzählen von einer Reihe von Sonnen, die einander folgen. Jede Sonne dauert, solange die herrschenden Elemente Luft, Feuer und Wasser im Gleichgewicht sind. Allmählich gewinnt das eine oder andere Element Vormachtstellung und verursacht eine Zunahme der Belastung, bis ein kritischer Punkt erreicht worden ist, wobei eine heftige Entspannung das Gleichgewicht wiederherstellt und dabei die Gestalt von Landmassen und Ozeanen verändert. Die Bewohner der neuen Welt sehen die Sonne einen anderen Weg am Himmel nehmen. Nach den Überlieferungen sowohl der Nahuatl als auch der Hopi befinden wir uns jetzt in der fünften Sonne. Die Zuni stellen ausführlicher dar, daß wir uns in der vierten Welt aber mit einem Fuß in der fünften befinden. Vergleichen Sie dies mit den theosophischen Lehren: daß wir uns in der vierten von sieben Runden rund um die Globenreihe der Erde befinden und auch auf dem vierten von sieben Globen der Globenreihe (eine Kette genannt), aber in der fünften Menschheit auf diesem Globus.

6 – Die Naturreiche

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Während die Götter und Riesen sich als ergänzende Pole der Gottheit und der Materie auf einer abgestuften Skala repräsentierten, die sich sowohl in Richtung zum Geist als auch zur Materie erstreckte, war die Natur für die altnordischen Aufzeichner der Mythen mit Lebewesen auf allen Evolutionsstufen reichlich ausgestattet. Jedes derartige Wesen repräsentierte seinen Gott (Bewußtsein-Energie), der sich selbst in seiner eigenen geeigneten Weise oder Seele zum Ausdruck brachte und in einer passenden Gestalt, seinem Riesen, verkörperte. Unsere sichtbare, greifbare Welt war eine von vielen, ein dürftiger Querschnitt einer gewaltigen Reihe von Gott-Riese-Nebeneinanderstellungen, durch die die Lebenswoge bei einem Spielraum für unendlich viele Arten evolutionären Wechsels und Wachstums ewig floß.

Das Bindeglied, das den Gott und seinen entsprechenden Riesen sowohl trennt als auch vereint, ist sein Alf (Elf), der, wie wir wissen, Fluß oder Kanal bedeutet. Der Elf drückt seine gottgleichen Qualitäten durch die substantielle Form in dem ihm möglichen Grad aus. Dies macht jedes Wesen zu einer Triade: erstens, das göttliche Bewußtsein oder der ewige Odin, der Allvater, die unsterbliche Wurzel jedes Wesens; dieser erfüllt den Riesen oder den Körper mit Leben, welcher stirbt und in der Mühle zermahlen und aufgelöst wird, wenn das göttliche Leben dahingeschwunden ist. Das Bindeglied der zwei ist ein Elf – die aktiv evolvierende Seele, die den göttlichen Einfluß zu der materiellen Welt kanalisiert und sich selbst zu ihrer Hamingja, ihrem Schutzengel oder ihrem individuellen Gott-Selbst evolviert. Die Elf-Seele beteiligt sich an beiden Einflußarten: Inspiriert durch ihre göttliche Natur wird sie fortschreitend harmonischer, so, wie sie sich allmählich mit dieser veredelnden Quelle ihres Seins vereinigt, während ihre materiellen Tendenzen, niedergedrückt von dem schweren Hemmklotz der Materie, ihrem Riesen, sterblich bleibt. Das wird am klarsten im Wölundlied gezeigt, wo die Elf-Seele, die Menschheit, von einem üblen Zeitalter gefangengehalten wird. Dieses wird jedoch sowohl durch die Tugend des spirituellen Willens und der Entschlossenheit als auch der Genialität überwunden.

Durch den langen, langsamen Evolutionsverlauf gewinnen die Elfen zunehmend die bewußte Vereinigung mit ihren göttlichen Mentoren und werden dadurch allmählich unsterblich. Aber bis sie diesen Zustand erreichen, verbringt jeder einzelne dieser Protégés der Götter eine glückliche Ruhe zwischen den Erdenleben unter den Gottheiten in der Festhalle (Raum) des Riesen Ägir, aber ohne ihre Umgebung wahrzunehmen. Es gibt zahlreiche Klassen von Elfen auf verschiedenen Bewußtseinsstufen: Licht-Elfen sind jene, die zwischen den Leben unter den Göttern bei ihrem himmlischen Festessen schlafen, während die Elfen der Dunkelheit zu niedrigeren Welten hinabgezogen werden.

Die Seelen, welche die menschliche selbstbewußte Stufe in ihrer Evolution noch nicht erreicht haben, werden „Zwerge“ genannt. Diese elementalen Seelen verkörpern sich in Tieren und Pflanzen, in den Mineralien im Innern des Globus und in den Kräften des Windes und des Wetters. Volkstümliche Geschichten beschreiben sie als kleines Volk. Das ist wahrscheinlich das Ergebnis der Übersetzung des isländischen midr, des schwedischen mindre als „kleiner“. Dies ist ganz legitim und hat zu der Vorstellung Anlaß gegeben, daß Zwerge kleiner seien als Menschen. Jedoch, eine gleichberechtigte Interpretation und eine, die sinnvoller ist, ist jene, daß sie geringer als Menschen sind – weniger evolviert, weniger vollkommen in ihrer Entwicklung. Nach ihren Namen zu urteilen beziehen sie sich offensichtlich auf verschiedene Tiere, Pflanzen und andere Geschöpfe der unterhalb des Menschen stehenden Reiche, so daß sich die Verkleinerungsform wahrscheinlich mehr auf ihre Evolutionsstufe bezieht als auf physische Größe.

Unter den elementalen Zwergen (jene zu den Lebensreichen gehörenden, die sogar weniger entwickelt sind als die Minerale) befinden sich die Trolle, von denen gesagt wird, daß sie feindselig gegenüber den Menschen sind, und die Tomtar, die dem Menschen auf vielerlei Weise dienen und helfen. In den volkstümlichen Geschichten wird der Troll als ein scheußliches Monster geschildert, der Tomti als ein niedlicher kleiner Geist, der ein graues Gewand und eine rote phrygische Mütze trägt. Jeder alte Bauernhof hatte seinen Tomti, der das Vieh und die Ernte schützte, die Pferde vor dem Ausrutschen auf dem Eis bewahrte und zahlreiche andere Dienste das Jahr hindurch leistete. Alles, was er dafür erbat, war ein Teller mit heißem Reisbrei neben dem Scheunentor am Heiligabend. Die Trolle andererseits waren die Verbündeten der Zauberer und nicht abgeneigt, dem Nichtsahnenden eigene Streiche zu spielen. Es ist erwähnenswert, daß es in einer derartigen Folklore keinen wirklichen Austausch zwischen Menschen und Zwergen auf einer emotionalen oder mentalen Ebene gab. Ob nützlich oder schädlich, die Zwerge sind nicht absichtlich wohlwollend oder übelwollend, sondern lediglich nicht denkende Naturkräfte, die automatisch und ohne Freundlichkeit oder Bösartigkeit handeln, so daß des Menschen Rücksicht auf sie eigenartig unpersönlich war. Sie würden einen Tomti kaum gern haben, obwohl sie für seine Taten sehr wohl dankbar sein mögen.

Die Existenz sowohl der klassischen Fee mit ihren hauchdünnen Flügeln als auch der Gnomen und Kobolde und anderer „kleinen Leute“ in passender Kleidung kann insgesamt nicht geleugnet werden, obwohl ihre äußere Erscheinung die Schöpfung menschlicher Phantasie ist. Verschiedene alte Legenden, die von diesen und anderen „unbeseelten“ Bewohnern von Wolkenkuckucksheim erzählen, geben ein sehr wirkliches Wissen wieder, das im Laufe der Zeitalter entstellt oder mißverstanden wurde: daß es unterhalb der Mineralien auf der evolutionären Skala Wesenheiten und Kräfte gibt, die sich selbst in den Eigenschaften der materiellen Elemente oder Zuständen der Materie ausdrücken. Sie sind Wesen, die zu definieren wir uns schwer tun würden, denn wir haben keine Vorstellung von dem Typ von „Seele“, der sich in Mineralien verkörpert, noch weniger in Kreaturen unterhalb von ihnen auf der Leiter des evolutionären Fortschritts. Klassische und mittelalterliche Geschichten schildern diese Bewohner der Elemente als Salamander (des Feuers), Undinen (des Wassers), Sylphen (der Luft) und Gnomen (der Erde). Die Edda klassifiziert sie unter die Zwerge und schreibt ihre Herkunft den Titanen oder Riesen der entsprechenden Elemente zu. So wie der griechische Ozeanus (die „Wasser“ des Raumes) die Undinen zeugte, so tat Ägir in den altnordischen Mythen mit seinem Weib Ran, der Göttin des Meeres, um die neun Wogen zur Geburt zu bringen. Was wir heute Naturgesetze nennen, auf deren Merkmale wir uns beständig verlassen – alle die chemischen und physischen, automatischen und halbautomatischen Funktionen der natürlichen Welt – sind Äußerungen von Elementalkräften. Ohne sie könnten wir weder mit der Materie, in der wir leben, in Berührung kommen, noch könnten wir auf ihr Verhalten vertrauen. Sie sind die Former der Wolken, die Oberflächenspannung, die einen Tautropfen abgrenzt, sie verursachen, daß die Flamme auflodert und das Wasser fällt. Jedoch, wenn diese Wesen keine bestimmten Größen und Formen besitzen, dann werden sie im allgemeinen nicht als Lebensformen erkannt, obwohl sie jedwede Form annehmen können, die sich die volkstümliche Einbildungskraft vorstellt. Wenn Feenvolk oder Kobolde gelegentlich von vollkommen rationalen Menschen gesehen worden sind, so ist dies auf mentale Bilder zurückzuführen, die von Volksmärchen und Bräuchen, besonders in gewissen Gegenden, erzeugt werden, die so stark sein können, daß eine sensitive Natur, die Gerüchte mit ihren eigenen Eindrücken verbindet, sie auf jene Weise wahrnehmen läßt. Die Bilder erzeugende Fähigkeit ist eine sehr starke Kraft.

Von den Zwergen sagt man, daß sie im Zuge Dwalins folgen, weil die niedrigeren Naturreiche den Wachstumsimpuls von Dwalin erhalten (den in Verzückung versetzten – die menschliche Seele, die noch nicht zu ihrer Möglichkeit erweckt worden ist). Dargestellt als Ask und Embla (Esche und Eiche), Miniaturen des Weltenbaumes Yggdrasil, befand sich die menschliche Rasse noch in einem vegetierenden Zustand, ohne Gedanken, ohne Vernunft und nur wie die Pflanzen wachsend ohne Selbstbewußtsein, bis „die Götter zurückschauten und ihr Elend sahen.“ Der Planet wurde damals noch von den Kindern des Iwaldi, der Riesenperiode, deren Lebenszeit unser Mond war, geformt.

Die Zwerge in Dwalins Zug, die in Völuspá (Der Seherin Weissagung) erwähnt werden, enthalten solche beschreibende Bezeichnungen wie Entdeckung, Zweifel, Wille, Leidenschaft, Fehler, Geschwindigkeit, Geweihtragend und viele mehr. Einige Namen sind obskur, andere sind klare Merkmale gewisser Pflanzen und Tiere, „bis zu Lofar, dem Überlegenen, hinaus“.

Die Menschheit, deren Elend das Mitgefühl der Götter anwachsen ließ, wurde von ihnen mit den eigenen Qualitäten der Götter ausgestattet, wodurch der Mensch zu einem ásmegir (Gottmacher), einem potentiellen Gott, in einer dreifachen Kombination gemacht wurde: ein Zwerg, ein Verwandter von Dwalin, ist seine tierische Natur; in seinem menschlichen Selbst ist er ein Elf, ein Kanal oder eine Seele, die seine Zwergennatur mit den Göttern verbindet; und die spirituelle Seele ist seine Hamingja, eine Verwandte der Nornen, sein Wächter und Mentor, der ihn nie verläßt, es sei denn, der Mensch bewirkt durch beharrliches unaufhörliches Übeltun, daß seine Verbindung mit der Gottheit abreißt und zwingt so die Hamingja, ihren Schützling zu verlassen.

Eine verständlichere Einordnung kommt ans Tageslicht, wenn wir feststellen, daß der Mensch aus drei Gaben der drei schöpferischen Aesir besteht, und somit aus ihren Naturen zusammengesetzt ist:“Aus einer solchen Schar [von evolvierenden Naturreichen des Lebens] gingen in der Halle drei Aesir, mächtig, mitfühlend, hervor. Sie schufen auf der Erde die Esche und die Erle, ohne Macht und ohne Bestimmung. Odin verlieh ihnen Geist, Hönir kritisches Urteilsvermögen, Lodur gab ihnen Blut und göttliches Licht“ (Völuspá 17,18). Damit wird der Mensch zu einem zusammengesetzten Wesen. In Viktor Rydbergs scharfsinniger Analyse waren die niedrigsten Elemente bereits gemeinsam in der Esche und in der Erle vor dem Aufkommen der schöpferischen Götter. Ihre „Gaben“ vervollständigten den Menschen als einen Ásmegir, einen Gottmacher – ein werdender Áse –, der an den göttlichen Attributen teilhat, die das Universum mit Form, Kräften und Organisation ausstatten. Auf jeder Ebene ist ein Mensch ein wesenhafter Teil der Tätigkeiten, die das Universum beleben. Dieselbe Vorstellung wird in der Genesis gefunden: die göttlichen Elemente des universalen Lebens hauchen ihren eigenen Atem in den Menschen und schaffen ein menschliches Ebenbild von sich, das latent alles besitzt, was das universale Leben enthält.

Die sterbliche Hülle kann als dreiteilig beschrieben werden: Erstens, der Körper, der aus den Elementen der Erde zusammengesetzt ist; zweitens, das formende Modell, das jeden Organismus veranlaßt, seine Gestalt durch das ganze Leben hindurch beizubehalten; drittens, die vegetative Wachstumskraft in allen Geschöpfen, die physische Energie oder das Magnetfeld. Diese drei Bestandteile waren schon in der Esche und der Erle gegenwärtig. Zu diesen physischen Teilen fügten die Götter ihre eigenen Eigenschaften hinzu: Lodur steuert und laeti, buchstäblich Blut und Unverwechselbarkeit bei: Blut im Sinne von Blutlinie, genetischer Erbzusammenhang, während Unverwechselbarkeit offensichtlich das ist, was in der Sanskritliteratur mit svabhāva, Selbst-werden, bezeichnet wird: die besondere Kombination und das besondere Verhältnis von Eigenschaften, die jeder Wesenheit ihre Einzigartigkeit verleihen. Diese zwei zusammenhängenden Gaben bilden das göttliche, von Lodur gelieferte Licht oder Ebenbild, das gemeinsam mit der Gabe von Hönir, odr, Verstand oder latente Intelligenz, die menschliche Elfennatur bildet. Das wird, wenn durch göttliche Kraft entfacht, ein ásmegir, ein zukünftiger Gott (s. Rig-Lied). Die höchste Gabe stammt von Odin, der den Menschen seine eigene spirituelle Essenz schenkt.

Verschiedene erfolglose Versuche waren früher gemacht worden, um die Erde mit lebensfähigen menschlichen Formen zu bevölkern. Die Edda beschreibt den Lehmriesen Mokkurkalfi, der zerstört und beseitigt werden mußte. Diese Geschichte wird in der Jüngeren Edda erzählt und bezieht sich auf Thors Kampf mit dem Riesen Hrungnir: Hrungnir ergötzte sich in Ásgárd (Asenwohnort) mit Bier, das in den Schalen geboten wurde, aus denen Thor gewöhnlich trank. Er leerte sie alle, bis er sehr betrunken war und zu prahlen begann, wie er Walhalla nach Riesenheim schaffen wollte, Ásgárd versenken und alle Gottheiten außer Freyja und Sif erschlagen, die er mit sich fortzuführen gedenke. Da er weiter irres Zeug redete, fuhr Freyja fort, ihn immer wieder zum Trinken aufzufordern. Schließlich sprachen die Götter, seines Prahlens müde, Thors Namen aus und alsbald trat der Blitzeschleuderer mit seinem hoch erhobenen Hammer in die Halle. Thor wollte wissen, auf wessen Erlaubnis Hrungnir in Ásgárd eingeladen worden war und von Freyja bedient wurde, was nur den Göttern zusteht. Der Riese behauptete, auf Odins Einladung da zu sein, und Thor schwor, daß er es bald bedauern würde, diese Einladung angenommen zu haben. Ein Wort gab das andere. Schließlich verabredeten Thor und Hrungnir, einen Kampf an der Grenze zwischen Ásgárd und Riesenheim auszutragen, und Hrungnir eilte nach Hause, um sich für den Kampf zu rüsten.

Die ganze Riesenwelt war durch den bevorstehenden Kampf aufgeschreckt, denn sie befürchteten schlimme Konsequenzen, ganz gleich wer siegreich sein sollte. So schufen sie einen Riesen aus Lehm, neun Meilen hoch, den sie Mokkurkalfi nannten. Sie konnten jedoch kein Herz finden, das groß genug war, um die Plastik zu beleben, so gaben sie ihr das Herz einer Stute. „Aber“, sagt die Erzählung in Snorris Edda, „Hrungnirs Herz ist natürlich aus Stein und es hat drei Ecken.“ Sein Kopf ist auch aus Stein und er trägt einen Schild aus Stein und eine Steinaxt.

Hrungnir, der von Mokkurkalfi (auch Leirbrimir – Schlammwasser genannt) begleitet wurde, erwartete Thors Kommen, aber als er den Ásen sich nähern sah, geriet der Lehmriese derart in Panik, daß „er sein Wasser verlor“. Thors Begleiter, Thjalfi, lief schnell zu Hrungnir und sagte ihm: „Du bist dumm, wenn du deinen Schild vor dich hältst. Thor hat dich gesehen und will dich von unten her angreifen.“ So stellte sich Hrungnir auf seinen Schild und schwang seine Axt mit beiden Händen. Mit flammenden Blitzen und Donnergetöse ging Thor auf ihn zu. Im gleichen Augenblick schleuderten Thor seinen Hammer und Hrungnir seine Axt, so daß die Axt in Stücke zerbrach. Eine Hälfte fiel zu Boden, daher stammen alle Wetzsteinfelsen; die andere Hälfte traf Thor in den Kopf, so daß er vorwärts auf den Boden fiel. Aber Thors Hammer zerschlug Hrungnirs Schädel und, als der Riese vornüber sank, fiel sein Fuß auf Thors Hals.

Thjalfi hatte inzwischen den Lehmriesen leicht zu Fall gebracht, und nun versuchte er, Hrungnirs Fuß von Thors Kehle wegzuheben, aber er konnte ihn nicht bewegen. Alle Aesir eilten herbei, um zu helfen, aber auch sie konnten den Fuß nicht anheben. In diesem Augenblick kam Thors drei Jahre alter Sohn Magni hinzu. Seine Mutter war die Riesin Järnsaxa (Eisenschere). Magni stieß den Fuß des Riesen leicht beiseite und entschuldigte sich dafür, daß er so spät zur Rettung hinzukam, aber Thor, der stolz auf seinen Sohn war, „verübelte ihm seine Verspätung nicht“. Es blieb jedoch noch ein Stück der Steinaxt in Thors Kopf stecken. Da machte die Seherin Groa (Wachstum) den Versuch, es mit Zaubergesängen zu entfernen; aber sobald Thor fühlte, daß es sich löste, wollte er sie belohnen und erzählte ihr von seiner Rettung des ehemaligen Riesen Örvandil (Orion), den er in einem Korb über die eisigen Wogen hinübergetragen habe. Eine Zehe, die aus dem Korb herauslugte, erfror; die habe Thor abgebrochen und an den Himmel geworfen, wo man sie bis heute leuchten sehen kann. Wir nennen sie Sirius. Groa war über die Geschichte so erfreut, daß sie alle ihre Zauberlieder vergaß, und so blieb die Steinaxt bis zum heutigen Tag in Thors Haupt stecken.

Wie viele Erzählungen aus der Jüngeren Edda, enthält auch diese eine Andeutung von Gedanken, die wir teilweise interpretieren können, obwohl diese Erzählung wahrscheinlich Veränderungen unterlag, die sie für den Humor und den Charakter der Wikinger geeignet machte. Der drei Jahre alte Held und das eiserne Zeitalter, das ihn gebar, hat sicherlich eine Bedeutung, genauso wie die Anspielung auf den Sirius. In groben Zügen hat der Lehmriese Parallelen in vielen Überlieferungen, wie der Adam aus Staub in der Genesis 2,7. Die Menschheit brauchte zweifellos Millionen von Jahren, um eine Form zu entwickeln, die als ein denkendes, verantwortliches Wesen überleben konnte. Auch erwachte die mentale Fähigkeit nicht über Nacht, denn auch das konnte sich nur sehr allmählich entwickeln. Die theosophische Überlieferung sieht für die Erweckung des Denkvermögens mehrere Millionen Jahre vor. Nach den Stanzen des Dzyan waren die Söhne der Vernunft (mānasaputras), welche die Denkfähigkeit in der menschlichen Rasse erweckten, nicht in der Lage, sich in den frühesten Formen der Menschheit oder sogar in der frühen dritten Menschheit zu verkörpern. Diese seien, sagten sie, „keine geeigneten Vehikel für uns“. Die seltsamen kleinen „Lehmköpfe“, die in einer mexikanischen Gegend gefunden wurden, können auch diese Phase unserer Entwicklung symbolisieren. Nur allmählich, als die Vehikel geeignet wurden, waren die Menschen der dritten „Wurzelrasse“ fähig, den Anreiz des Denkens von jenen zu empfangen, die die menschliche Phase der Evolution in einem früheren Weltzyklus absolviert hatten. Das gegenwärtige menschliche Geschlecht wird, wenn es in der Vollendung seiner Evolution als weise Seelen erfolgreich ist, dann seinerseits jene erleuchten und inspirieren müssen, die jetzt „die Zwerge in Dwalins Zug“ sind – in einem weit entfernten zukünftigen Zeitalter auf einer neuen und wiedergeborenen Erde, dem Nachfolger des Globus, zu dessen Bestehen wir heute beitragen.

7 – Rig, Loki und das Denkvermögen

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Eines der am meisten inspirierenden Ereignisse, auf das in jeder Mythologie und Schrift, obgleich auf verschiedene Weise, hingewiesen wird, ist das, was die Edda das Kommen des Rig nennt. Rig ist ein Strahl oder eine Personifikation von Heimdal, der Sonnenessenz, die herabstieg, um sich mit der noch unfertigen Menschheit zu vereinigen und dabei das Denkvermögen der noch nicht denkfähigen, halbbewußten Urmenschen zu aktivieren, die zu gegebener Zeit so werden sollten, wie wir jetzt sind.

Im Riglied entstand aus dem ersten Versuch, eine Menschheit zu schaffen, eine Rasse von „Knechten“, ein brutaler, primitiver Menschentyp. Diese wurden den „Urgroßeltern“ in einer armseligen Hütte geboren, deren verschlossene Tür das Eintreten des Gottes verhinderte. Eine zweite Anstrengung versprach mehr: hier war die Tür des Häuschens nur angelehnt, und der Gott hinterließ den „Großeltern“, die dort wohnten, seine Nachkommen, die zu achtbaren, sich selbst respektierenden Menschen wurden, und aus denen eine gleichartige Rasse entstand. Bei dem dritten Versuch hießen die „Eltern“, die in einem stattlichen Haus wohnten, den Gott mit weit geöffneter Tür willkommen. Dieses Mal brachte der göttliche Samen eine edle Rasse hervor, deren Abkömmlinge selbst königlich wurden.

Es ist eine bemerkenswerte Geschichte, und die Symbolik ist außerordentlich transparent. Jede Rasse der halbgöttlichen Menschen bezieht sich, wenn wir den theosophischen Schlüssel anwenden, auf unermeßliche Zeitperioden. Diese „Rassen“ haben natürlich ganz andere Nachkommen als das, was wir heute Rassen nennen; ethnische Gruppen, die die Erde gemeinsam bewohnen. Diese variieren, wie wir wissen, nur wenig, hauptsächlich in der Farbe. Alle sind eine Menschheit. Im Gegensatz dazu legen die „Zwergen“-Reiche unter sich auffällige Unterschiede an den Tag: zum Beispiel Gold und Granit, wobei die beiden Substanzen nur wenig Ähnlichkeit miteinander haben; Zedern und Löwenzahn gehören beide der Pflanzenwelt an, während Nachtfalter und Mammuts dem Tierreich zugehören. Allein die Menschen sind einheitlich mit nahezu identischen Formen und Sinnen ausgestattet. Unsere Unterschiede sind mehr in den Bereichen der Ideen und des Fühlens, der Talente und Meinungen ausgeprägt.

Die Zeit, die seit dem ersten von den Göttern gemachten Versuch verstrich, um unsere Intelligenz zu erwecken bis der ganze menschliche Strom erreicht worden war, wird nicht angegeben, aber wir können vermuten, daß Millionen Jahre dafür eingerechnet werden müssen. Die Mythen verkürzen zwangsläufig ihre Information auf den kleinstmöglichen Umfang. Die biblische Genesis zum Beispiel, erzählt die Sage von der Erweckung des Denkvermögens des Menschen, indem sie sagt, daß „die Söhne Gottes sahen, daß die Töchter der Menschen schön waren; und sie nahmen sich zu Weibern, welche sie nur wollten. Zu jenen Zeiten – und auch nachmals noch –, als die Söhne Gottes zu den Töchtern der Menschen sich gesellten und diese ihnen Kinder gebaren, waren die Riesen auf Erden. Diese wurden mächtige Menschen, die jeher Menschen von Ansehen waren“ (Gen. 6: 2,4). Es gibt auch eine andere Version des Ereignisses, als die Schlange von Eden Eva dazu drängt, die Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu sich zu nehmen. Auch er ist ein Erwecker: Luzifer, der glänzende und schönste Engel, der Lichtbringer, der sich den elohim (Göttern) widersetzt. In den griechischen Mythen ist es Prometheus und im Altnordischen Loki. Beide sind Titanen, Riesen, die durch die Evolution zur Gottheit heranwuchsen. Als sie die menschliche Stufe überschritten hatten, brachten sie der Menschheit das göttliche Feuer aus dem Bereich der Götter. Der Name Loki bezieht sich auf liechan oder liuhan (erleuchten), auf das Lateinische luc-, lux, auf das Altenglische lēoht (Licht) und auf das Griechische leukos (weiß). Der glänzende Stern Sirius wird Lokabrenna (das Brennen des Loki) genannt.

Das Erwecken der Fähigkeit, vernünftig zu denken, der Selbsterkenntnis und des Urteilsvermögens, war das entscheidendste Ereignis in der Evolution der Menschheit. Es brachte unseren menschlichen Lebensstrom an den Punkt, wo bewußt eine Wahl getroffen werden konnte, wo vernünftiges Denken den Instinkt ablöste, und wo die Erkenntnis von Gut und Böse ein entscheidender Faktor in der weiteren Entwicklung der Arten sein wird. Die nicht denkenden Naturreiche werden durch das innere Überwachen des Instinkts geführt, das nur eine begrenzte Freiheit erlaubt. Aber wenn einmal das Denkvermögen aktiv wird und sich selbst als ein getrenntes Wesen bewußt wird, kommt hier eine entsprechende Verantwortlichkeit ins Spiel, und der Handelnde ist für alles, was er tut, denkt und fühlt, sowie für seine Reaktionen auf die Anreize des umgebenden Universums verantwortlich. Jeder Augenblick bringt eine Wahl, und jede Entscheidung erzeugt einen endlosen Strom von Konsequenzen, und jede geht auf ihren Vorläufer zurück. Loki war der Unfriedenstifter, der Anstifter von Ungerechtigkeiten in vielen Erzählungen geworden, denn er stellt zu häufig das niedere, reflektierende Gehirn ohne Beseelung – Inspiration – dar. Er ist jedoch der ständige Begleiter der Götter und dient als Vermittler für ihren Umgang mit den Riesen. Vielleicht wurde seine boshafte Natur etwas überbetont, denn seine Ungezogenheit sagt dem Wikingertemperament zu. Es ist gut, wenn wir uns auch klarmachen, daß er, während er häufig für Unruhe in Ásgárd sorgt, auch das Werkzeug für die Lösung von Problemen ist, die aus seinen eigenen Handlungen erwachsen.

Das Denkvermögen des Menschen verhält sich so: Es bringt uns kein Ende der Schwierigkeiten, wenn es sich selbstsüchtig bedient, wenn wir aber der Führung von Bragi, dem weisen Barden, der die poetische Inspiration darstellt, vertrauen, löst es sie schließlich.

8 – Tod und Wiedergeburt des Menschen

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Das Weiterleben nach dem Tod des Körpers wurde von den altnordischen Sehern als erwiesen betrachtet, und die Abenteuer des Bewußtseins setzen sich nach dem Tod ohne Unterbrechung fort. Wenn ein menschlicher Körper stirbt, schifft sich der ehemalige Bewohner auf eine Reise durch das Königreich von Hel, der Königin des Todes, ein: Sie wird beschrieben als halb-blau, d.h. als halbtot doch halblebend und sie ist die Tochter von Loki – dem Denkvermögen (mind). Auf diesen interessanten Punkt wird in vielen Mythologien hingewiesen. Das läßt darauf schließen, daß der Tod nach dem Erwachen der Intelligenz ins Dasein gelangte, so daß der Gebrauch dieser Gabe und des freien Willens, der sie begleitet, universal mit der Einführung des Todes und der Gelegenheit verbunden ist, die es der Seele erlaubt, sich durch die im Leben gewonnenen Erfahrungen kritisch zu beurteilen und daraus zu profitieren, wie auch Ruhe und Erholung zu erlangen.

Wenn ein Mensch stirbt, ehe er sich auf die Reise nach Hels Domäne einschifft, wird die Seele mit einem streng ihrem Charakter entsprechenden Schuhwerk ausgestattet: Eine gute und freundliche Person wird mit festen Schuhen ausgerüstet, wogegen der grobe und erdgebundene Mensch spärlich beschuht wird oder barfuß inmitten der Felsen und dornigen Sträucher hindurchgehen muß, um Urds Brunnen zu erreichen, wo seine Zukunft entschieden wird. Urd, wie wir gesehen haben, ist Ursprung – in der Vergangenheit erzeugte Ursachen. Sie wässert sowohl den individuellen Lebensbaum der Seele als auch den kosmischen Yggdrasil: Die Vergangenheit bestimmt die zukünftigen Konditionen des Menschen sowohl im Tod als auch in zukünftigen Leben.

An Urds Quelle wird die Seele durch Odin, ihrem innersten Selbst, „Vater der Götter“, wie auch ihrem eigenen „Vater im Himmel“ gerichtet. Aber, obwohl Odin Recht spricht, so tut er dies entsprechend der Eingebung von Urd – der Seele Vergangenheit bestimmt das Richten ihres inneren Gottes und ihre Unterbringung in dem vielschichtigen Reich von Hel. Die Seele sucht, ihrem Richterspruch folgend, ihre geeignete Wohnstatt und findet den Platz, der ihr eigener entsprechend der Anziehung unter den endlos variierenden Regionen des Todes ist. Die eine mag sich sonniger Wiesen mit Blumen erfreuen, wenn dies mit ihren natürlichen Neigungen übereinstimmt; eine andere von übler Veranlagung mag in einen mit Gift durchtränkten Käfig unterhalb der unteren Tore, die zu den niedrigen Welten führen, eingesperrt sein. Die Edda gibt die Dauer dieser Zustände nach dem Leben nicht einzeln an, aber wir können sowohl aus der Logik als auch aus griechischen, tibetanischen und anderen mythischen Quellen schließen, daß mit Gewißheit angenommen werden kann, daß jedes Individuum solange in einer eigenen Traumwelt verweilt, bis deren Anziehung erschöpft ist. Eine andere Beschreibung der Bedingungen nach dem Tod wird in Lokis Zankrede angeführt, wo die Elfen beim Festessen der Götter anwesend, ihrer Umgebung aber nur schlafend bewußt sind.

Zu gegebener Zeit ist der Áse-Macher bereit, seine Wanderung durch das Leben auf Erden wiederaufzunehmen. Wieder besucht er den Brunnen von Urd, die jetzt die Aufgabe hat, eine Mutter für seine neue Geburt auszusuchen. Wieder einmal sehen wir die Vergangenheit die Zukunft in einer zwangsläufigen Folge von Ursache und Wirkung bestimmen. Wir haben gesehen, wie Bärgälmir, das Endergebnis eines Kosmos oder irgendeiner Welt, zermahlen und für die Wiederverwendung in einer späteren Manifestation als Örgälmir gerettet wurde. Das gleiche Gesetz kann analog für das menschliche Leben, das ein Universum auf einer kleineren Skala ist, angewendet werden. Geradeso wie im Frühling in den Boden eingebrachte Samen nach vielen Tagen und Nächten ihre Früchte dort hervorbringen, wo sie gesät wurden, so müssen die Samen der Gedanken und Handlungen ihre Ernte von Gut und Böse in dem Feld tragen, wo sie ihren Ursprung nahmen, sogar nach vielen Toden und Geburten.

Die einzig wahre Hölle in der Edda ist Niflhel, die Sphäre der absoluten Materie, wo das Material für neue Welten aus dem wertlosen Rest der alten Welt geformt wird, nachdem sie in der Mühle zermahlen, homogenisiert und zur Formlosigkeit vermindert worden war. Sie ist der große Kessel von Sinmara, der, wie der Kessel der walisischen Ceridwin, Muttermaterie enthält. Es scheint, daß nur eine Seele, die derart verkommen ist, daß sie ihrem inneren Gott keinen Met anbieten kann, das gefürchtete Schicksal der totalen Auslöschung erfahren kann. Nachdem nun ihr ganzes Wesen mit der Riesen-Seite der Natur verbunden ist, hat sie jegliche Spur an Spiritualität verloren, und ihre Hamingja kann nicht mehr länger ihre Rückkehr zu den göttlichen Sphären, die ihre Heimat ist, hegen und inspirieren. Eine solche Seele steigt nach Niflhel der absoluten Auslöschung ab, nachdem sie unwiederbringlich durch und unter das Haus von Hel mit seinen vielen prächtigen und düsteren Hallen gewandert ist und keinerlei Zuwachs an bleibendem Geist aufweist. Alle anderen besuchen Urds Brunnen, wo ihr kommendes Los im Leben ausgewählt wird: die geeignetsten und nützlichsten Bedingungen für das weitere Wachstum der Seele. Die so gewählten Umstände sind nicht immer nach unserem Geschmack, denn wir besitzen nicht die Weisheit unserer göttlichen Hamingja, um die genauen Bedürfnisse der Seele zu erkennen. Es kann sehr wohl sein, daß für den einen ein glückliches Leben erweiterte Sympathien und ein umfassenderes Bewußtsein bringen wird. Aber es ist sehr oft das Leiden, das das Bewußtsein für die Bedürfnisse eines anderen weckt und die Weisheit, sie recht zu befriedigen. Dadurch wird die Seele reifer und in die Lage versetzt, sich mit der universalen Seele in göttlichem Mitgefühl zu verschmelzen. Die rechte und passende Auswahl aus dem Brunnen der Vergangenheit wird trotzdem getroffen werden.

Die Edda hält wie andere traditionelle Klassiker die Wiederverkörperung des Bewußtseins auf allen Ebenen und die absolute Gerechtigkeit des Naturgesetzes als selbstverständlich. Es gibt eine christliche Anmerkung am Schluß des zweiten Liedes von Helge Hundingsbane:

Es herrschte der Glaube in früheren Tagen, daß die Menschen nach dem Tod wiedergeboren werden; aber dies wird jetzt eine alte Weibergeschichte genannt. Man sagt, daß Helge und Sigrun wiedergeboren werden mußten; er wurde dann Helge Hadingskate und sie Kåra Halfdansdotter genannt, wie in den Liedern der Krähe erzählt wird; und sie war eine Walküre.

Es ist wert, zu beobachten, daß wir gerade in den ältesten Relikten irgendeiner Mythologie den größten Teil an universaler Theosophie und die umfassendsten Vorstellungen finden. Es scheint, daß die dazwischenliegenden Jahrtausende wenig getan haben, außer, die reinen Darstellungen der Vorgeschichte zu zerstören. Um zu den ursprünglichen Vorstellungen zu gelangen, müssen wir uns häufig durch Schleier aus unwissenden und hemmenden Vorurteilen hindurchwühlen, die Jahrhunderte hindurch dazwischengelegt wurden und die Juwelen des Gedankengutes, die sie enthalten, wirksam verbergen.

9 – Initiation

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Jeder Mensch bringt bis zu einem gewissen Grad das göttliche Bewußtsein zum Ausdruck, das alle Lebensformen mit Leben erfüllt – Odin-Allvater, Quelle aller Götter – und wir fühlen unsere spirituelle Verbindung mit einem größeren Leben, unserer individuellen Hamingja. Mental sind wir an sich Teil der Intelligenz, die das Sonnensystem informiert und erfüllt, personifiziert als das Freyja-Prinzip; auch emotional werden wir zu den treibenden Energien der Idun und der umgebenden Welt hingezogen. Unsere äußere Schale, der physische Körper, wird aus dem Material geformt, das in dem Bereich verfügbar ist, in dem wir uns verkörpern, obwohl er nach Mustern modelliert wird, die wir selbst in unserer langen Vergangenheit durch zahllose Wahlen und Entscheidungen geformt haben.

Während alle Naturreiche aus denselben Bestandteilen bestehen, so hängt doch der Grad, bis zu dem sie die verschiedenen Qualitäten offenbaren, von der Stufe ab, zu der sie sich entwickelt haben. Wir, die wir den menschlichen Lebensstrom ausmachen, äußern, da wir alle Eigenschaften besitzen, die wir bei unserer Wanderung durch die Zwergenreiche ins Spiel gebracht haben, auch die besondere menschliche Charakteristik des Selbstbewußtseins und des intellektuellen Feuers. Und in unseren inspirierten Augenblicken haben wir eine dunkle Ahnung von dem spirituellen Bewußtsein, das in zukünftigen Äonen unser sein wird. So sind wir als einigermaßen intelligente Menschen in der Lage, unsere Evolution zur Gottheit mit Wissen und Absicht zu verfolgen und beschleunigen so unser Wachstum, während wir das größere Schicksal verdienen, das uns auf der nächsten Sprosse der Leiter bewußten Lebens erwartet.

In den mythischen Schriften, in Märchen, Legenden und Volksüberlieferungen sind sicherlich keine Märchen inspirierender als jene, die von Helden erzählen, die uns auf der Wanderung durch die Lebensbereiche vorangehen; edle Seelen, die eine größere Perspektive, eine größere Wahrheit, eine erleuchtetere Vision als wir erreicht haben. Zu allen Zeiten und in allen Rassen haben überragende Einzelpersonen – Buddhas, Bodhisattwas, Avatāras, „Einherjer“ (Odins Krieger) – gelebt, die das „Himmelreich mit Gewalt genommen haben“, die, anstatt mit dem Strom in einem langsam sich windenden Wachstum dahin zu treiben, das Ziel der menschlichen Evolution erreicht haben, wo „der Tautropfen in das glänzende Meer einfließt“, um Sir Edwin Arnolds inspirierte Redewendung zu gebrauchen.

Alle Mythologien enthalten manche Erzählung vom Kampf eines Helden, seinen Prüfungen, und entweder von seinem Fehlschlag oder seinem Erfolg beim Überwinden von Hindernissen – den Echos seiner eigenen Vergangenheit –, um sich mit seinem göttlichen Selbst zu vereinigen. Im Westen steht die am besten bekannte Initiationsgeschichte in den christlichen Evangelien, die viele der aufgezeichneten Symbole enthalten, die einem solchen Ereignis zugeschrieben werden. Eine andere volkstümliche Mysteriengeschichte ist die Bhagavad-Gītā, worin die menschliche Seele den Rat ihres göttlichen Selbst bei der Überwindung der gewohnten und allzuoft nachsichtigen Neigungen des menschlichen Ego, die besiegt werden müssen, erhält. Auch die Edda enthält ähnliche Erzählungen, eine der aufschlußreichsten ist die schöne Allegorie von Swipdag. (Vgl. Das Fjölswinnlied)

Derartige Legenden sind Paradebeispiele für jene, die ernsthaft wünschen, die Last des Leidens, welche die menschliche Rasse heimsucht, zu erleichtern. Diejenigen, die sich dem rigorosen Training der selbstgeleiteten, beschleunigten Evolution unterziehen, helfen notwendigerweise dem Fortschritt des Ganzen, und durch Beispiel und Ermutigung stacheln sie eine Kettenreaktion spirituellen Wachstums an. Daher nehmen diejenigen, die höchst leidenschaftlich wünschen, ihren Mitmenschen zu helfen, dem endlosen Kreis von Irrtum und Leiden, dem die Menschheit unterworfen ist, zu entrinnen, den Weg des Selbsttrainings ihrer ganzen Natur auf sich, so daß sie allen helfen und ihre Evolution unterstützen können. Jene, die erfolgreich diese Wanderung vollenden, die von allen menschlichen Unternehmungen die anspruchvollste ist, werden, wenn sie bekannt sind, als Erlöser und Heilande verehrt; denn sie sind die „Vollkommenen“, die in dem Schulzimmer Erde nichts mehr zu lernen haben, aber zurückkehren, um jenen zu helfen und die zu lehren, die hinter ihnen auf der evolutionären Leiter zurückbleiben. Die Sagen, die die Prüfungen des Initianden erzählen, sind die populärsten und bestbekannten aller Geschichten und Legenden, sogar in der exoterischen Literatur, obwohl sie selten als solche erkannt werden. In diesen Abenteuergeschichten muß der Held zuerst selbst vollständig furchtlos werden; er muß dem „Drachen“ der Weisheit die Geheimnisse des „Vogelsangs“ entreißen: das bedeutet, er muß aus erster Hand die Struktur und die Funktionen des Universums kennen; er muß willens sein, alle persönlichen Ambitionen zu opfern, sogar den Erfolg seiner eigenen Seele für eine allumfassende Sorge für die Wohlfahrt des Ganzen. Einer, der im Erreichen einer solchen selbstlosen Universalität erfolgreich ist, wird ein Mitarbeiter der Götter, eine wohltätige Kraft, die kraftvoll die Entwicklung der Welt, in der er ein Bestandteil ist, vorantreibt.

Die sagenhafte Heimat der Auserwählten der Edda, in welche die Helden gehen, nachdem sie im Kampf gefallen waren, ist Walhalla (wal Wahl oder Tod + hall Halle). Hauptsächlich durch Wagners Opern populär gemacht, ist Walhalla eine der bestbekannten aber am wenigsten verstandenen altnordischen Allegorien. Sie wurde hochnäsig als eine komische Parodie des Himmels betrachtet, wo wilde Wikinger ein Zechgelage abhalten. Von den Walküren zu diesem Bereich des Kriegsgottes Odin gebracht, werden sie jede Nacht mit Schweinefleisch und Met verwöhnt, und jeden Morgen kehren sie zum Kampf zurück, nur, um immer wieder erschlagen zu werden. Walhalla wird durch viele Hindernisse geschützt: Sie ist von einem Wassergraben, Thund, umgeben, in dem ein Werwolf, Thjodwitnir, nach Menschen fischt. Ihre Pforte wird durch Magie gesichert, und über dem Tor der Halle hängt ein Wolf angenagelt, der von einem bluttriefenden Adler gekrönt wird. Zusätzlich wird sie durch Odins zwölf Wolfshunde geschützt. Um die Bedeutung von dem allen zu verstehen, müssen wir die benutzten Ausdrücke definieren.

Jedes Hindernis zur Halle der Auserwählten steht symbolisch für einige Schwächen, die besiegt werden müssen. Der Krieger, der den Strom der Zeit (Thund) und den Strom des Zweifels (Ifing) überqueren möchte, muß eine unerschütterliche Entschlossenheit und Selbstführung wahren, wenn er nicht von den turbulenten Strömungen zeitlicher Existenz weggefegt werden will. Er muß dem bestialischen Verlangen seiner tierischen Natur (die Verlockungen von Thjodwitnir) ausweichen, wenn er das andere Ufer erreichen will. Viele Schriften verwenden die Allegorie eines Flusses. Der Buddhismus, zum Beispiel, spricht von vier Stufen des Fortschritts, beginnend mit jenen, die in den Strom eingetreten sind und endend mit jenen, die erfolgreich das andere Ufer erreicht haben. Die ganze Natur, sagt man, freut sich, wenn ein Aspirant sein Ziel erreicht hat.

Als nächstes muß der Kandidat, der nach Walhalla strebt, die Hunde Geri (Gier) und Freki (Völlerei) überwinden: Er muß das Verlangen, selbst das Verlangen nach Weisheit, die er sucht, vermeiden, wenn er sie erlangen will. Um das Geheimnis der magischen Pforte zu finden, muß er Stärke der Aspiration, Reinheit des Motivs und eine unbeugsame Entschlossenheit haben. Der Wolf und der Adler müssen besiegt und über dem Eingang zur Halle angenagelt werden, um diese gegen ihr Eindringen zu schützen. Das bedeutet Besiegen der bestialischen Natur (der Wolf) und des Stolzes (der Adler) – Selbstsucht in jeder Gestalt, die, gleich dem Proteus der Griechen, sich in jeder neuen Form erhebt, um jene herauszufordern, die sich den Bereichen der Götter nähern.

Auf alle Offensiv- und Defensivwaffen muß verzichtet werden, und sie müssen in die konstruktiven Materialien umgewandelt werden, die den heiligen Tempel bilden. Die Mauern von Walhalla sind aus den Speeren der Krieger aufgebaut, das Dach besteht aus ihren Schilden. Selbst innerhalb der Halle ist ein Panzer ausgelegt: „Auf den Bänken sind Panzerhemden ausgebreitet.“

Die Übergabe von Waffen ist ein Kennzeichen der Mysterienüberlieferung. Der Kandidat für Universalität kann der wahren Natur des Strebens zufolge sich nicht als vom Ganzen getrennt betrachten; er kann folglich keine Verwendung für teilende, trennende Mittel irgendwelcher Art haben, in Gedanken, Worten oder Taten. Zuerst müssen Angriffswaffen abgelegt werden, da Harmlosigkeit kultiviert werden muß. Danach müssen alle Verteidigungsmittel fallengelassen werden und schließlich jeglicher persönlicher Schutz. Der Einherjer ist über die Vorstellung des Getrenntseins hinausgetreten. Sein Werk liegt nicht im Unmittelbaren, sondern in der Ewigkeit. Er ist nicht länger mehr durch ein Selbst gebunden, sondern er erweitert sich unbegrenzt. Die Heldenseele hat sich aller persönlicher Angelegenheiten entledigt, indem sie sich vollständig auf das göttliche Gesetz verläßt, dem sie vorbehaltlos dient.

Wenn diese Mythen ihren Ursprung bei den Wikingern hätten, die gemäß einer ihrer Vorschriften sogar auf ihren Schilden mit dem Schwert in der Hand schliefen, so wäre dies untypisch. Ferner bestätigt das die Theorie, daß die altnordischen Mythen diesen Kriegern weit vorausgehen und aus derselben archaischen Quelle stammen wie andere frühere Überlieferungen. Denn da gibt es eindeutig viel mehr als dem Auge in dem poetischen Zauber der Edda begegnet, sogar, wenn es in ihren manchmal derben Anekdoten verborgen liegt.

Das Schlachtfeld, wo die Krieger jeden Tag kämpfen, wird Wigridsslätten genannt, was mit „das Feld der Weihe“ übersetzt werden kann. Es erinnert an den dharmakṣetra – das Feld von Dharma (Pflicht, Rechtschaffenheit) – in der Bhagavad-Gītā, wo der Kampf zwischen den Kräften des Lichtes und der Finsternis in der menschlichen Natur stattfindet. In diesem Klassiker sind viele seiner Gegner die Freunde und engen Verwandten des Helden, denen er sich entgegenstellen muß. Sie bedeuten Charakterzüge und Gewohnheiten, die ihm lieb geworden und daher schwer zu überwinden sind. In beiden Allegorien ist das Schlachtfeld der Mensch selbst, wo in feindlichen Gliedern alle menschlichen Eigenschaften aufgestellt sind, die selbst wieder die Widerspiegelung der Eigenschaften der größeren Natur sind. Der tägliche Kampf beeinflußt zutiefst den evolutionären Lauf aller Wesen. Von Zeit zu Zeit verläßt ein Einherjer die Welt der Menschen, um sich in die Reihen der Götter einzureihen; solche seltenen Vorläufer, die Zutritt zum „glänzenden Aufenthaltsort“ erlangen, vereinen ihre Kräfte mit der göttlichen Absicht der Natur. Die Walküren, unsere eigenen inspirierenden tiefsten Selbste, suchen immer auf dem Feld der Weihe nach würdigen Rekruten, die sich entscheiden, den Göttern in ihrer endlosen Arbeit zur Erfüllung des Zyklus zu helfen, wenn die Menschheit als ein Ganzes in ihr göttliches Erbe und ihre göttliche Verantwortlichkeit eintreten wird.

„Die Halle der Auserwählten schimmert golden in Gladsheim (Froheim)“, nach Grimnismál (8). Hier kürt Odin täglich die Helden nach der Schlacht. Auch hier werden die Einherjer mit Bier und Met verwöhnt und mit den drei Ebern der Luft, des Wassers und des Feuers, die die verschiedenen Aspekte der Erde symbolisieren, ernährt, denn sie sind die Essenz ihrer Erfahrung während des menschlichen Lebens auf diesem Planeten. Die Eber, die die Einherjer ernähren, stellen auch die schöpferischen Kräfte dar, den aktiven Aspekt der drei Naturelemente. Vers 18 in Grimnismál, wenn wir diese gegen die entsprechenden drei Eber austauschen, würde dann lauten: „Der Geist läßt das Gemüt von Willen und Wunsch durchdrungen sein.“ So erlaubt das höhere Selbst oder der Geist des Menschen dem menschlichen Ego, in den Feuern der Seele getestet zu werden, um seine Integrität zu beweisen. Wenn der Mensch erfolgreich ist, bringt er seinen inneren Gott zur Geburt. Der Sterbliche verdient seine Unsterblichkeit, indem er sich mit der innewohnenden Gottheit vereinigt.

Odin, Allvater, ist die Essenz des universalen, schöpferischen Bewußtseins auf allen Existenzebenen. Der Name ist eine Form von Odr, universale Intelligenz, (äquivalent zu dem griechischen Nous und dem Mahat im Sanskrit), wovon die spirituelle Seele des Menschen ein Kind ist. Odraerir, mystischer Spender von Odr, ist eines der heiligen Gefäße, die „Kwasirs Blut“ – göttliche Weisheit (Griechisch theos-sophia) enthalten. Kwasir war eine „Geisel“ oder ein avatāra, der von dem „weisen Wanir“ an die Aesir geschickt wurde. Dies ist ein aufschlußreicher Hinweis auf den Abstieg der göttlichen Inspiration von erhabenen kosmischen Mächten herab zur Götterwelt, die noch weit oberhalb unserer eigenen liegt. Wir können daraus das kontinuierliche Evolutionsmuster herleiten, worin Odin, Allvater, sich aus einem früheren niedrigeren Zustand zu unserer Welt und göttlichen Wurzel jedes Lebewesens in unserer Sphäre erhoben hat und jetzt auf höhere Stufen voranschreitet, unterstützt durch die Inspiration noch erhabenerer Gottheiten.

Während in einem allgemeinen Sinn Allvater in allen Manifestationen mit enthalten ist, hat Odin auch seine eigene Domäne als ein Planetengeist: Er ist das Schelf, genannt Froheim, wo Walhalla, die Halle der Auserwählten, liegt. Obwohl Wal Wahl bedeutet, bedeutet es auch Tod, wenn es auf Odins Krieger, die „Einherjer“ angewandt wird. Verwandt mit dem griechischen koiranos, „Befehlshaber“, ist der Einherjer einer, der einen bedrängt, einem befiehlt oder einen kontrolliert – sich selbst. Jeder hat sich darüber hinaus entschlossen, als ein persönliches Ego zu sterben, um dadurch Transzendenz des Bewußtseins in dem unpersönlichen universalen Bereich der Götter zu erlangen. Anders ausgedrückt, er hat das niedrigere menschliche Selbst überwunden und sich mit dem kosmischen Ziel des Lebens vereinigt. Das ist ein kontinuierlicher Prozeß – des Wachstums, daher des Wechsels, wobei jeder Wechsel ein „Tod“, eine Transformation von einem Zustand in einen anderen, gewöhnlich von einem niedrigeren in einen vollkommeneren Zustand ist. Die „Ehrenden der Auserwählten“ (Walküren), die die Helden zu Odins heiliger Halle bringen, sind eng mit der Hamingja oder dem Schutzengel, der spirituellen Seele, dem Beschützer und Tutor jedes Menschen verwandt.

Wenn Allvater seine Helden in Walhalla willkommen heißt, wird er Ropt, „der Verleumdete“, genannt, und im Lied von Odins Leichnam ist er Nikar, der „Schöpfer“ von Unglück. Diese geheimnisvollen Hinweise werden klar, wenn wir erkennen, daß Odin der Initiator ist, der, sowohl instruierend als auch inspirierend, das menschliche Ego den streitenden Feuern seiner eigenen komplexen Seele unterwerfen muß, aber das Ergebnis der Prüfung nicht beeinflussen kann und darf. Folglich ist es nur der erfolgreiche Initiand, der um die wahre Natur Odins, des Hierophanten, weiß, und den Bringer von Prüfungen als Ropt erkennt.

Walhalla bietet noch einen anderen Aspekt, der mit östlichen Schriften der frühesten Antike verbunden ist: Odin in Grimnismál erzählt seinem Schüler, daß es „fünfhundert Türen und weitere vierzig“ zu Walhalla gibt; und daß achthundert Krieger aus jeder Tür herauskommen, wenn Odin zum Krieg mit dem Wolf heraustritt. Ferner erzählt man uns, daß es fünfhundertvierzig Gemächer in dem sich wölbenden Bilskirnir (dem glänzenden Wohnsitz) gibt, das größte davon gehört „meinem Sohn“ – der Sonnengottheit. Wenn wir 540 mit 800 multiplizieren, erhalten wir 432 000 Krieger und dieselbe Anzahl von Gemächern. In der babylonischen und indischen Chronologie kommt diese Zahl häufig vor. Ein Mehrfaches von ihr erklärt besonders astronomische Zyklen, während durch verschiedene Zahlen dividiert, sie für irdische Ereignisse mit häufigerem Vorkommen gültig ist, sogar bis zum Pulsschlag des menschlichen Herzens, das allgemein mit 72 Schlägen pro Minute angegeben wird. Sie drückt auch in menschlichen Jahren die Länge des Eisernen Zeitalters, im Sanskrit das kali yuga, aus, wo die Kräfte der Finsternis am herausfordernsten sind. Seltsam, daß dies die Zahl sein soll, die Odins Kämpfenden zugeordnet wird. Sie weist sicher nachdrücklich auf eine gemeinsame Quelle hin, aus der diese weit voneinander getrennten Überlieferungen zu uns gekommen sind, und auf manche verborgene Bedeutung, so daß alle altnordischen Erzählungen, die Schlachten des Auserwählten, die größte Popularität erlangt haben: Selbst, wenn wir die verborgene Bedeutung nicht erkennen können, besitzt dieses Thema einen Reiz, der nicht geleugnet werden kann. Auf dem Feld des Kampfes oder der Hingabe stoßen wir täglich auf gefährliche Feinde: Charakterschwäche und Gewohnheiten, die wir angenommen haben, vertraute Schwächen, zu denen wir angezogen worden sind – was die Gitā unsere Freunde, Verwandten und Lehrer nennt.

Denn die Evolution der menschlichen Rasse kann definiert werden als sich entwickelndes Bewußtsein, ein wachsendes Verständnis des Lebens. Das ist nicht nur eine reine Kenntnis von Tatsachen und Beziehungen, noch ist es ein wachsendes Verständnis von uns selbst oder von anderen. Es erfordert vielmehr eine direkte Verwirklichung und persönliche Entdeckung der geistigen Einheit aller Wesen. Mit ihr kommt eine Selbstidentifizierung mit allen zustande, was mit den Worten: „Ich bin nicht meines Bruders Wächter; ich bin mein Bruder“ gut zum Ausdruck kommt. Das Selbst ist Nichtselbst. Im Übergang von einer begrenzten Innerlichkeit des Ego zu einer alles einschließenden Selbst-Transzendenz, gelangt die menschliche Seele auf natürliche Weise zu einer Identifizierung mit allem was ist. Der von Yggs Helden bestrittene Kampf, der ihnen Zugang zu Walhalla verschafft, ist die beständige Willensausübung, die feste Kontrolle jedes Gedankens und Impulses, die vollständige Selbstlosigkeit zu jeder Zeit, in allen Situationen. Das Gebot „zum Wohle der Menschheit zu leben, ist der erste Schritt,“ (s. Die Stimme der Stille) wird in den Heldengedichten der altnordischen Menschen stillschweigend bekräftigt, wie es im Lied von Swipdag offensichtlich ist, wo der Held, vereinigt mit seiner Hamingja – der Freyja seiner Träume – zurückkehrt, um „die Aufgabe der Jahre und der Zeitalter“ zu erfüllen. Der Verbündete der Götter sucht nicht nur Gutes zu tun, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, sondern auch überall für den Hauptzweck der Wohltätigkeit zu leben, was ständig als Merkmal der Gottheiten, „die wohltätigen Kräfte“, betont wird. Die Einherjer sind für ihre persönlichen Wünsche in der Tat gestorben und, um eine Metapher aus anderen Mythen zu übernehmen, „jungfräulich“ in eine universale Bedeutung geboren worden, die sie in die Lage versetzt, ihre natürlichen Plätze in dem einzunehmen, was das theosophische Schrifttum die Hierarchie des Mitleids nennt. Odins Helden ruhen sich nicht auf ihren Lorbeeren aus, sondern fahren fort, einen lebenswichtigen Teil in dem ewigen Lebenskampf als Verbündete der Götter zu spielen.

Alte Schriften weisen darauf hin, daß immer, seit Gottheiten zu den Menschen herabstiegen und die frühen Rassen unterrichteten, dort eine ununterbrochene Aufeinanderfolge spiritueller Lehrer, Vermittler zwischen den Göttern und den Menschen, gelebt haben. Deren Mission ist es, die menschliche Rasse in ihrer Evolution zur Vollkommenheit zu inspirieren und ihr zu helfen. Solche Adepten in der Lebenskunst sind die Einherjer. Von Zeit zu Zeit kann sich ein göttlicher Strahl bei einem dieser höheren Menschen verkörpern, die die einsame Straße gewählt haben, um ihr menschliches Selbst mit der göttlichen Essenz im Herzen des Seins zu verschmelzen. Sogar unter den höchsten Göttern steigen Boten, „Geiseln“, zu ihren jüngeren Brudergottheiten als avatárische Strahlen herab. Skirnir (vgl. Skirnismál) stellt eine solche „Geisel“ für den menschlichen Bereich dar.

Es gibt viele Erzählungen, die mit diesem Motiv verbunden sind, Erzählungen, die aussagen, wie die sich entwickelnde Seele ihr spirituelles Selbst, die Schlafende Schönheit oder die Schönheit auf dem Glasberg sucht, die nur für den tapferen, reinen und vollständig selbstlosen Helden erreichbar ist. Er allein kann aus seiner Scheide oder vom Amboß oder von dem Felsen oder dem Baum das mythische Schwert des spirituellen Willens ziehen, das von einem Gott dort hingelegt worden ist. Mit dieser magischen Waffe besiegt er den Drachen oder die Schlange (der Selbstsucht) und gewinnt inneres Wissen, woraufhin er die Sprache der Vögel und alle Stimmen der Natur versteht. Er muß alle Schwächen, alle Versuchungen überwältigen, jegliche Furcht überwinden, um, aufgesessen auf dem Roß seiner gehorsamen tierischen Natur, über den brennenden Fluß, der die Welt der Menschen von jener der Götter trennt, zu springen. Dort gewinnt er die Wiedervereinigung mit seiner göttlichen Hamingja. Der Gottmacher ist ein Gott geworden.

Übrigens sind nicht alle Erzählungen, in denen der Ritter einen feuerspeienden Drachen erschlägt, eine liebliche Jungfrau rettet und das Königreich schützt, bloße Allegorie ohne physische Realität. Sie sind zu universal verbreitet, um leicht abgetan zu werden. Während es gewiß ist, daß sie die Überwindung der niedrigeren Natur des Helden und die Gewinnung seines innersten Herzenswunsches symbolisieren, ist es auch möglich, daß diese symbolischen Erzählungen auf einen historischen Rahmen gelegt worden sind, was eine allgemeine Praxis der Mythen zu sein scheint. Wir können über die Möglichkeit spekulieren, ob die frühesten Menschenrassen unserer Lebensrunde die Erde mit wenigstens einigen der riesigen Saurier, ob mit Flügeln, im Wasser oder erdgebunden, teilten, ehe letztere ausgelöscht wurden. Wer weiß, welche einsamen Überbleibsel von einst reichlich vorhandener Spezies lange genug überlebten, um mit der frühen Menschheit in Wechselwirkung zu treten? Irgendeine Begegnung mit ihnen, die stattgefunden haben mag, kann der Ursprung für Legenden gewesen sein, die lange nachdem die Ereignisse selbst vergessen waren, überdauerten. Wenn Seeschlangen als mythische „Drachen“ bezeichnet werden, brauchen wir nicht weit zu schauen, um ihre Spuren zu finden; bis zum heutigen Tage hören wir Gerüchte von solchen „Ungeheuern“, die in Loch Ness und anderswo gesehen werden. Von den mythischen skandinavischen Drachen sagt man, daß sie einen überwältigenden, widerlichen Gestank verströmt haben, der viele Möchtegern-Drachentöter besiegt hat. Es ist tatsächlich entmutigend, zu glauben, daß einem enormen Krokodil mit Rachengestank gegenübergetreten werden kann. Aber das nur nebenbei.

Der universale Reiz der Mythen kann von einem schlummernden Verlangen herrühren, das wir alle haben, um kühne Taten der Verwegenheit zu vollbringen. Indem wir das führen, was banales Leben zu sein scheint, haben wir dennoch ein tiefverwurzeltes Verlangen, den in den Sagen angedeuteten Sieg, den inneren Sieg des All-Selbst über sich selbst, zu gewinnen. Das Ziel der menschlichen Evolution muß schließlich mit oder ohne entschlossene Anstrengung erreicht werden. Wir können uns in einer langsamen, unmotivierten Runde von endlos wiederkehrenden Fehlern entlangtreiben lassen und dauernd aus den vermeidbaren Ergebnissen unserer Torheit leiden. Wir können uns auch aktiv der wohltätigen Führung der Natur widersetzen und mit intensiver Selbst-Konzentrierung unsere Interessensphäre auf einen mathematischen Punkt mit endgültiger Auslöschung einschränken. Eine dritte, von den Helden gewählte Alternative ist die Entscheidung, die Absichten der Götter zu verfolgen. Welche Vorgehensweise auch immer verfolgt wird, sie wird unausweichlich zu einem Augenblick führen, in dem eine Wahl getroffen werden muß: entweder bewußte Existenz als Götter oder Auflösung in den Wassern des Raumes als unbewegliches Eisriesenmaterial, das in der Mühle der Auslöschung gemahlen wird. Skirnir, der im Auftrag des Gottes Freyr das Riesenmädchen Gerd umwirbt, deutet dies an, als er sie mit Rimgrimnir, dem eiskalten (Eisriesenaspekt von) Mimir als die letzte Materiegrundlage aller Universen bedroht. Das würde totale Abtrennung von der energiereichen, göttlichen Kraft der Götter bedeuten. Gerd ist anscheinend eine Rasse der Menschheit, der die Gelegenheit gegeben wird, zwischen Unsterblichkeit und Vernichtung zu wählen.

Für jeden kommt der Augenblick, in dem die gewisperten eindringlichen Aufforderungen in der Stille der Seele gefühlt werden. Jene, die dem Ruf folgen, den Göttern zu dienen und die zukünftigen Leiden der Menschheit lindern zu helfen, sind auf dem Weg, Einherjer, Helden, zu werden, die die verstreuten Kräfte der Seele unter dem einzigen Befehl des universalen Zieles aufbieten und diese Tendenz der Bemühung durch Lebenszeiten hindurch aufrechterhalten. Es ist lediglich eine Beschleunigung der natürlichen Evolution des Gottmachers, die diese heroischen Seelen unternehmen, und durch die Zerstörung der persönlichen Selbstsucht vereinigen sie ihre Kräfte mit dem weitreichenden Werk der Götter unserer Welt. Gerade diese Botschaft können wir in den Mythen finden: Die Initiierung einer neuen Lebensart. Denn Initiierung bedeutet „Beginnen“. Es ist ein Eintreten in einen neuen Pflichtenkreis, in eine erhabenere und, für uns, göttliche Lebensarena. Der „Einherjer“ wird als ein Krieger der Götter gekrönt und teilt mit ihnen „die Aufgaben der Jahre und der Zeitalter.“

Bildtafeln

Photographische Reproduktion der ersten fünf Seiten des Codex Regius, wie er von Saemund dem Weisen vor tausend Jahren niedergeschrieben wurde. Völuspá nimmt die ersten vier Seiten ein und endet auf Seite 5, wo Hávamál auf Zeile 4 beginnt. Beachte bitte das Monogramm von Bischof Brynjolv LL (Lupus Loricatus) unten auf der ersten Seite und das Datum, als er ihn erwarb, 1643.

Mit Erlaubnis reproduziert aus den Arna Magnussonar Sammlungen in Reykjavik, Island.

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10 – Völuspá

(Die Prophezeiungen der Sibylle)

Hovern Sie über die Hervorgehobenen Begrife um die Glossareinträge zu lesen.

Anmerkungen der Übersetzerin

Unter den Liedern und Geschichten der Edda gehört der Ehrenplatz fraglos der Völuspá. Sie ist wohl der verständlichste als auch der rätselhafteste Teil des altnordischen Schrifttums. In ihr sind die majestätische historische Darstellung der in Bildung begriffenen Welten, der Attribute des kosmischen Lebensbaumes, seines Verfalls, seines Todes und seiner späteren Erneuerung und Wiedergeburt umrissen. Um den Fortschritt der Ereignisse, die von der Seherin erzählt werden, zu folgen, müssen wir uns häufig an andere Lieder und Sagor18 wenden, die unverhüllter sind, denn in der Völuspá nehmen wir das Werk von Ewigkeiten in einem Augenzwinkern zusammengepreßt und die endlose Weite eines Universums in einem Sandkorn wahr.

Die Vala oder Völva, die Seherin, die das Gedicht spricht, stellt die unauslöschliche Aufzeichnung der Zeit dar. Eine Aufzeichnung von Ereignissen, die sich von einer anfanglosen Vergangenheit auf eine endlose Zukunft hinbewegt, wobei Universen in aufwallenden Lebenswogen einander folgen. Die Vala personifiziert die Aufzeichnung der Vergangenheit: Ihr Gedächtnis, das in die „Vorzeit“ zurückreicht, erinnert sich an neun frühere Weltenbäume, die seit langem ausgelöscht und jetzt wieder belebt sind.

Völuspá ist die Antwort der Seherin auf Odins Suche nach Wahrheit. Die kosmische Aufzeichnung wird von Allvater befragt – der bewußten, göttlichen Intelligenz, die sich periodisch als ein Universum, angetrieben durch den Drang, Erfahrung zu gewinnen, manifestiert. Er ist die Wurzel aller Leben, die ihn zusammensetzen, immanent in jedem Teil seiner Welten, und doch jenseitig. Wenn die Vala sich an Odin als „all Ihr heiligen Verwandten“ wendet, zeigt dies nicht nur das innige Verhältnis, das alle Wesen miteinander verbindet, sondern identifiziert sie auch mit dem fragenden Gott. Odins erwähnter Wunsch, „den Ursprung, das Leben und das Ende der Welten“ zu erfahren, ist ein Hinweis, diese Information im Interesse aller „größeren und geringeren Söhne Heimdals“ (1)19 – aller existierenden Lebensformen innerhalb dieses Sonnensystems, Heimdals Wohnstatt – und übrigen Zuhörer – zu entlocken.

Für diejenigen, die sich die Gottheit als eine vollkommene, allwissende, allgegenwärtige und unveränderliche Person vorstellen, mag es fremd klingen, einen Gott zu finden, der eine Information über etwas erbittet, besonders über Welten unterhalb seiner eigenen göttlichen Sphäre. Aber in den Mythen sind die Gottheiten nicht statisch, in göttlicher Vollkommenheit erstarrt, sondern wachsende, lernende Intelligenzen von vielerlei Graden. Die Völuspá benutzt einen poetischen Trick, um anzudeuten, daß das Bewußtsein Welten der Materie betritt, um zu lernen, zu wachsen und ein größeres Verständnis zu entwickeln, während es selbst durch die Zusammenarbeit mit der Materie, durch die es wirkt, diese inspiriert.

Die Vala „erinnert sich an in der Vorzeit geborene Riesen“ – an jetzt tote Welten, deren mit Leben erfüllten Bewußtheiten sie seit langem verlassen haben, worauf ihr uninspiriertes Material zur Entropie und zum Chaos zurückkehrt. Sie erinnert sich an „neun Lebensbäume, bevor dieser Weltenbaum aus dem Boden wuchs“ (2). Anderswo wird Heimdal erwähnt, der „von neun Jungfrauen geboren worden ist“; auch daß Odins Nachtwache, als er auf den Lebensbaum stieg, „neun ganze Nächte“ lang dauerte (Hávamál 137). Das alles zusammengefaßt deutet darauf hin, daß unser Erdsystem das zehnte in einer Reihe ist, das dem Eisriesen Ymir folgte, als da „keine Erde, kein Meer, keine Wellen“ waren (3).

Jeder Weltenbaum ist ein Ausdruck der göttlichen Bewußtheiten, die geeignete Formen schaffen, um im Met der Erfahrung zu leben und diese Erfahrung gewinnen zu können. Wenn sie zu gegebener Zeit zurückgezogen werden, so kann alles, was nicht fortschreiten oder Nutzen aus der Gemeinschaft mit den Göttern ziehen kann, das heißt, alles was unvollkommenes Material ist, zum Eisriesen werden.

Die weise Sibylle, die analog zur kosmischen Vala, Wölfe bändigt, scheint die verborgene Weisheit oder das okkulte Verständnis zu symbolisieren. (Es ist wert, anzumerken, daß das Wort „okkult“ alles Verborgene oder schwer Verständliche bedeutet, geradeso wie ein Stern okkult ist, wenn er für unsere Sicht durch den Mond oder einen anderen Körper verborgen ist. Das bloße a, b, c ist okkult, bis es verstanden wird.) Die Vala, Heid, ist das verborgene Wissen, das auf den Egoisten eine Faszination ausübt, folglich wird es „immer von üblen Leuten gesucht“, obwohl es von demjenigen in aller Harmlosigkeit erworben werden kann, der weise ist und „Wölfe zähmt“, der seine tierische Natur unter Kontrolle hält, und der durch Selbstdisziplin und Dienstleistung die Geheimnisse der Natur gewinnt. Der Unterschied zwischen den beiden Sibyllen wird in dem Gedicht klargemacht: „Sie weiß vieles; ich sehe mehr“ (45). Die eine gehört zu den menschlichen Angelegenheiten auf Erden, die andere stellt eine Übersicht über kosmische Aufzeichnungen dar.

Die Skalden unterschieden drei verschiedene Arten von Magie: Sejd oder Prophezeiung ist die Eigenschaft der Vorhersehung von kommenden Ereignissen als natürliche Folge jener der Vergangenheit. In den meisten Ländern gab es noch bis vor kurzem viele „weisen Frauen“, die diese Kunst praktizierten, jedoch meistens in trivialen Angelegenheiten. Solche Wahrsagerinnen findet man noch heute; viele von ihnen nutzen die allgemeine Leichtgläubigkeit aus und prophezeien mehr oder weniger falsche „Schicksale“ für ein Honorar. Eine zweite Art von Magie ist Galder – ein Zaubergesang, der vorgibt, die Zukunft nach Wunsch zu lenken. Derartige Zaubersprüche, wenn sie einigermaßen erfolgreich sind, sind häufig Hexerei, ob sie in gutem Glauben und in Unkenntnis ausgeführt werden oder gefährlicher, mit der Wucht des Wissens und dem Willen und der Entschlossenheit hinter ihnen. Unvermeidlich vollenden ihre Auswirkungen ihren Kreislauf und beeinflussen negativ sowohl den Urheber als auch die Teilhaber, die unschuldig oder unwissentlich darin verwickelt sind.

Eine dritte Form der Magie ist das „Lesen der Runen“ – das Lesen des Buches der Symbole der Natur und das Gewinnen fortschreitender Weisheit. Dies ist Odins Studium, als er in dem Lebensbaum hängt (Hávamál 137): „Ich erforschte die Tiefen, fand Runen der Weisheit, nahm sie mit Singen auf und fiel von da noch einmal nieder“ – vom Baum.

Die Vala erzählt vom Ende des Goldenen Zeitalters der Unschuld und vom Tod des Sonnengottes Balder durch die Handlung seines blinden Bruders Hödur – Unkenntnis und Finsternis – angestiftet von Loki, dem bösartigen Elf der menschlichen Intelligenz. Wie in vielen anderen Geschichten vom Fall der frühen Menschen aus der Unschuld, hat der Urheber, der unsere Kenntnis des Guten und Bösen und die Kraft, zwischen ihnen zu wählen, verursachte, die Schuld für alle nachfolgenden Übel in der Welt auf sich genommen. Der biblische Luzifer, der „Lichtbringer vom strahlenden Morgenstern“, ist in einen Teufel transformiert worden; der griechische Prometheus, der der Menschheit das Feuer des Denkens gab, wurde für die Dauer der Welt an einen Felsen gekettet und wird nur befreit werden, wenn Herakles, die menschliche Seele, am Ende ihrer Mühen Vollkommenheit erlangt haben wird. Ähnlich wurde Loki unterhalb der unteren Pforten der Unterwelt gebunden, um Qualen bis zur Vollendung des Zyklus zu erleiden. In jedem Fall brachte das Opfer uns Menschen das innere, notwendige Licht, um unseren Weg zur Gottheit zu erleuchten, der durch bewußte Anstrengung und selbstbewußte Regeneration in die letztliche Wiedervereinigung mit unserer göttlichen Quelle gewonnen werden wird.

Die Völuspá gibt eine anschauliche Beschreibung von Ragnarök. Diese wurde als das „Zeitalter des Feuers und des Rauches“ übersetzt, wahrscheinlich, weil Rök im Schwedischen Rauch bedeutet, und Schüler der Mythologie haben das als charakteristisch für das angeblich verdrossene Temperament der Wikinger, das dem Verhängnis und der düsteren Stimmung ergeben ist, betrachtet. Es gibt aber eine bessere Interpretation des Wortes: Ragna, Plural des isländischen Regin (Gott, Herrscher) und Rök (Grund, Ursache oder Ursprung) ist die Zeit, wenn die Götter zu ihrer Wurzel, ihrem Grund am Ende der Welt zurückkehren. Die Beschreibung der Schrecken, die den Weggang der Götter begleiten, sind in der Tat äußerst unerquicklich und werden durch das Heulen der Höllenhunde betont; jedoch, dies ist nicht das Ende. Nach dem Umfallen des Weltenbaumes fährt das Gedicht fort, die Geburt einer neuen Welt zu beschreiben und endet mit einer Note gelassener Zufriedenheit in der Morgendämmerung eines neuen und goldenen Zeitalters., Viele Menschen sind sich dessen nicht bewußt und haben trotz der Vertrautheit mit Wagners „Ring der Nibelungen“ stillschweigend die Auswirkungen auf eine kosmische Wiedergeburt unbeachtet gelassen. Doch, das Beispiel entspricht viel genauer der Tendenz anderer tiefer Gedankensysteme als der Vorstellung eines endgültigen Endes. Ein derartiges unwiderrufliches Ende wird nicht in den Mythen gefunden; statt dessen lernen wir vom ununterbrochenen Fluß der Natur in das Dasein und zurück zu der unbekannten Quelle, unvermeidlich von einer neuen Manifestation gefolgt – ein Bild, das alles, was wir von der Natur wissen, besser widerspiegelt und eine weit größere Vision von dem ewigen Lebens-Impuls hervorruft, der durch grenzenlose Unendlichkeiten und ewige Dauer schlägt.

Völuspá

1. Hört mich, all Ihr heiligen Verwandten,20
Größere und geringere Söhne Heimdals!
Ihr wünscht, daß ich die alten Geschichten erzähle,
O Vater der Seher, die ältesten, die ich weiß.

2. Ich erinnere mich an Riesen, geboren in der Vorzeit,
Sie, die mich vor langer Zeit ernährten;
An neun Welten erinnere ich mich, an neun Lebensbäume,
Ehe dieser Weltenbaum aus dem Boden wuchs.

3. Dies war das erste der Weltalter, als Ymir schuf.
Da war keine Erde, kein Meer, keine Wellen;
Erde war nicht, noch Himmel;
Gähnender Abgrund allein: kein Wachstum.

4. Bis Burs Söhne den Boden hoben;
Sie, die die Macht besaßen, Midgárd zu erschaffen.
Die Sonne schien von Süden auf die Steine des Feldes;
Dann wuchs grüner Rasen im fruchtbaren Boden.

5. Die Sonne hielt sich nach Süden gemeinsam mit dem Mond.
Auf ihrer rechten Seite war des Himmels Tor.
Die Sonne wußte nicht, welche Wohnstatt sie hatte;
Die Sterne kannten noch nicht ihre Plätze.
Der Mond kannte nicht seine Macht.

6. Die Mächtigen gingen zu ihren Richterstühlen,
Alle heiligen Götter, um Rat zu halten;
Sie benannten die Nacht und die Mondphasen, trennten den Morgen vom Mittag,
Abenddämmerung und Abend, die Jahre zu zählen.

7. Die Aesir trafen sich auf dem Idafeld,
Zimmerten hohe Gebäude und Altäre;
Sie erbauten Essen und schmiedeten Gold,
Schufen Zangen und härteten Werkzeuge.

8. An goldenen Tafeln spielten sie freudig im Hof;
Mangelten nicht des Reichtums an Gold;
Bis aus der Riesen Heim kamen
Drei sehr übermäßige Riesenmädchen.

9. Die Mächtigen gingen zu ihren Richterstühlen
Alle heiligen Götter, um Rat zu halten:
Wer sollte schaffen eine Menge von Zwergen
Aus Tafeln Blut und den Gliedern des Toten?

10. Da war Kraft-Sauger, Meister der Zwerge
Wie Durin weiß;
Da wurden viele menschenähnliche Zwerge geschaffen aus der Erde
Wie Durin sagte.

11. Wachsen und Verfall, Norden und Süden,
Ost und West, All-Dieb, Koma,
Bifur, Bafur,21
Bömbur, Nori.

12. Án, Ánar, Ai, Met-Zeuge,
Weg, Zauberer, Windelf, Thráin,
Verlangen, Sehnsucht, Weisheit, Farbe,
Leichnam und junger Rat.

13. Scheibe und Keil, Entdeckung, Nali,
Hoffnung und Wille, Hahn, Sviur,
Schnell, Geweih tragend,
Ruhm und Einsam.

14. Zeit ists, die Zwerge von Dwalins Art
zu nennen, bis Lofar hinauf, dem Überlegenen:
Sie, die sich aus der Halle Steinfundamente
hinauf zu den Schutzwällen durchgekämpft haben.

15. Erklärer, Fahrer, Gauner, Kanal,
Heiligtum-der-Jugend und Eichenschild-Träger,
Flüchtling, Frost und
Finder und Illusion.

16. Während Zeitalter fortdauern
Soll der großen, großen Reichweite
Von Lofars Ahnen
Gedacht werden.

17. Aus solch einer Schar gingen in der Halle hervor
Drei Aesir, mächtig, mit Milde.
Sie fanden auf der Erde die Esche und die Erle,
Von wenig Kraft und ohne Bestimmung.

18. Odin verlieh ihnen Geist,
Hönir Urteilsvermögen,
Lodur gab ihnen Blut
Und Göttliches Licht.

19. Eine Esche steht, weiß ich, mit Namen Yggdrasil;
Dieser hohe Baum wird bewässert durch weiße Eiszapfen täglich;
Davon kommt der Tau, der in die Täler tropft;
Immergrün steht er über Urds Quelle.

20. Davon kommen Maiden, vielwissende,
Drei aus der Halle unter dem Baum:
Eine wurde Ursprung genannt, die zweite Werden.
Diese zwei formten die dritte, Schuld genannt.

21. Sie gaben Gesetze,
Sie bestimmten das Leben
Für die Kinder von Generationen,
Und die Schicksale der Männer.

22. Sie erinnern sich an das erste Morden in der Welt,
Als Gullweig22 auf einem Speer hochgehoben wurde;
Dreimal wurde sie verbrannt und dreimal wiedergeboren,
immer wieder – doch sie lebt noch.

23. Heid war ihr Name.
In welches Haus sie kam
weissagte sie gut und war gewandt in Zaubereien.
Sie wurde von üblen Leuten viel gesucht.

24. Da gingen die Mächtigen zu ihren Richterstühlen,
Alle heiligen Götter, um Rat zu halten;
Sollten die Aesir allein das Unrecht büßen,
Oder alle Götter Wiedergutmachung leisten?

25. Odin schleuderte seinen Speer unter die Heerschar.
Dies wurde der erste Krieg in der Welt.
Die Schutzwälle wurden aufgerissen in der Festung der Aesir;
Siegreiche Wanir durchschritten das Feld.

26. Da gingen die Mächtigen zu ihren Richterstühlen,
Alle heiligen Götter, um Rat zu halten:
Wer hat die Luft mit Frevel erfüllt
Oder Ods Maid der Riesenrasse gegeben?

27. Von Zorn bezwungen, zögerte Thor nicht;
Er bleibt nicht ruhig, wenn er solches hört;
Eide wurden gebrochen, Worte und Schwüre,
Mächtige Verträge wurden da gebrochen.

28. Sie weiß, wo Heimdals Horn verborgen ist,
Unter dem heiligen sonnendurchtränkten Baum;
Sie sieht einen Strom gemischt mit einem Eiszapfenstrom
geschöpft aus Allvaters Pfand. Weißt du [soviel] wie jetzt oder was [noch]?23

29. Sie saß einsam draußen, als der Alte kam;
Der furchtbare Áse schaute ihr in das Auge:
„Was fragst du mich? Warum forderst du mich heraus?
Ich weiß alles, Odin. Ich weiß, wo du dein Auge verbargst.

30. „In des schrecklichen Mimirs Quelle.
Mimir trinkt Met jeden Morgen
Aus Allvaters Pfand.“
Weißt du [soviel] wie jetzt oder was [noch]?

31. Der Vater der Scharen gab ihr Ringe
Und Juwelen, um
Weisheit und Überlieferung von ihr zu erhalten.
Weit und breit überflog sie die Welten.

32. Sie sah Walküren, zu reiten bereit: Schuld trug Rüstung.
So also kehrten Krieg, Kampf und Speerwunde ein.
So wurden der Helden Maiden genannt,
Walküren stiegen auf, um über die Erde zu reiten.

33. Ich sah das für Balder bestimmte Schicksal,
Den sanften Gott, Odins Kind.
Hoch über dem Feld, da wuchs
Dünn und zierlich der Zweig der Mistel.

34. Der Zweig, den ich sah, sollte werden
Ein drohender Leidenspfahl, abgeschossen von Hödir.
Balders Bruder, geboren vor seiner Zeit,
Doch im Alter von einer Nacht ging Odins Sohn zum Kampf.

35. Er wusch nicht seine Hände, noch kämmte er sein Haar
Ehe er Balders Feind auf den Scheiterhaufen trug.
Frigga beweinte in ihrem wäßrigen Palast
Walhallas Weh.
Weißt du [soviel] wie jetzt oder was [noch]?

36. Sie sah den einen gebunden unter dem Hof,
Wo der Kessel aufbewahrt wird.
Der Schuft ähnelt Loki.
Die unglückliche Sigyn bleibt bei ihrem Gatten.
Weißt du [soviel] wie jetzt oder was [noch]?

37. Ein Strom von Dolchen und Schwertern
wälzt sich von Osten
Durch Täler von Bosheit.
Ihr Name ist Scabbard.

38. Auf nördlichen Feldern stand ein goldener Saal
für Sindris Geschlecht.
Ein anderer stand auf dem auftauenden Ozean,
Des Riesen Brimirs Biersaal.

39. Einen Saal sieht sie weit von der Sonne entfernt
An den Küsten des Todes, mit seiner Tür nordwärts gekehrt.
Gifttropfen fallen herein durch das Gewebe,
Denn dieser Saal ist aus Schlangen gewoben.

40. In den Strömen waten sah sie
Eidbrüchige, Mörder, Ehebrecher.
Da sog Nidhögg Leichen,
Wölfe zerreißen Menschen.
Weißt du [soviel] wie jetzt oder was [noch]?

41. Östlich im Eisenwald saß die Alte,
Fenrirs Nachkommen pflegend.
Von ihnen allen wird ein gewisses Etwas kommen,
Das in Trolls Gestalt den Mond einnehmen wird.

42. Es nährt sich vom Leben jener, die sterben,
Und blutrot färbt es den Wohnsitz der Kräfte.
Schwarz wird die Sonne, die Sommer darauf,
Alle Winde abscheulich.
Weißt du [soviel] wie jetzt oder was [noch]?

43. Dort im Felde, die Harfe spielend,
Sitzt der heitre Egter, die Schwertmädchen hütend;
Dort krähte für ihn in der Menschen Welt
Fjalar, der feuerrote Frühlingshahn.

44. Für die Aesir krähte der Goldkammgeschmückte,
Der die Krieger in Heervaters Halle weckt;
Doch ein anderer kräht unter der Erde:
Ein braunroter Hahn in den Hallen der Hel.

45. Garm heult vor der Gnipa-Höhle der Hel.
Was fest ist, wird gelöst, und Freki rennt frei.
Sie weiß viel; ich sehe mehr:
Zu Ragnarök, der Sieg-Götter schweren Todeskampf.

46. Brüder kämpfen und erschlagen einander.
Blutsbande der Geschwister Söhne werden gebrochen.
Arg ist die Welt. Unzucht ist weit verbreitet,
Verführung der Gatten anderer zur Treulosigkeit.

47. Beilzeit, Schwertzeit, Schilde bersten;
Windzeit, Wolfzeit, ehe die Welt vergeht.
Lärm auf den Feldern, Trolle in voller Flucht;
Nicht einer will den andren schonen.

48. Mimirs Söhne erheben sich. Der sterbende Weltenbaum
schwankt hin und her
Beim Klang der schrillen Schicksalstrompete.
Laut bläst Heimdal das erhobene Horn.
Odin berät sich mit Mimirs Haupt.

49. Mit einem Rauschen in dem alten Baum
Wird der Riese frei.
Die Esche, Yggdrasil,
Erzittert, wo sie steht.

50. Garm heult vor der Gnipa-Höhle der Hel.
Was fest ist, wird gelöst, und Freki rennt frei.

51. Rymir steuert westwärts; der Baum ist umgestürzt;
In titanischem Zorn
Iörmungandr windet sich
Peitscht die Wellen zu Schaum.

52. Der Aar schreit laut;
Bleknäbb zerreißt die Leichen.
Nagelfar wird losgemacht.

53. Es fährt ein Kiel von Osten, über die See,
Es kommen Muspells Leute mit Loki am Steuer.
Monster fahren mit Freki.
Solcherart ist der Zug von Byleists Bruder.

54. Was ist mit den Aesir? Was ist mit den Elfen?
Die Riesenwelt tobt; die Aesir halten Rat.
Die Zwerge stöhnen vor steinernen Türen,
Die Herren der Berge.
Weißt du [soviel] wie jetzt oder was [noch]?

55. Feuer zieht von Süden mit lodernden Flammen.
Von der kampfbereiten Götter Schwert
ist aufgespießt die Sonne.
Berge brechen auf. Hexen eilen daraus.
Menschen gehen der Hel Weg; die Himmel bersten.

56. Dann erhebt sich Hlins zweiter Lebenskummer,
Da Odin eilt zum Kampf mit dem Wolf,
Belis Nagel blitzt hervor gegen das Feuer:
Da muß Friggas Held fallen.

57. Siegvaters Sohn, Widar der Mächtige,
Kommt herbei zum Kampf mit der Todesbestie.
Er stößt sein Schwert vom Rachen zum Herzen
Des Sohnes der Erfüllung. Der Vater ist gerächt.

58. Da nähert sich der glänzende Nachfahr der Erde:
Odins Sohn stößt auf den Wolf.
In rasendem Zorn erschlägt er Midgárds Kummer.
Dann kehren alle Menschen nach Hause.

59. Neun Schritte nur vom Ungeheuer weg
Wankt der Sohn der Erde.
Die Sonne wird allmählich schwach; die Erde sinkt in die Wasser;
Die funkelnden Sterne fallen vom Firmament.
Feuer umschlingen den Lebens-Träger;24
Hitze schlägt zu den Himmeln hoch.

60. Garm heult vor der Gnipa-Höhle der Hel.
Was fest war, löst sich, und Freki rennt frei umher.

. . .

61. Sie sieht auftauchen eine andere Erde aus dem Meer,
Wieder einmal grünen.
Fluten fallen, der Adler schwingt sich hoch
Aus den Bergen, nach Fischen suchend.

62. Die Aesir treffen sich auf dem Idafelde,
Um über den mächtigen Erd-Mulcher25 zu urteilen;
Um sich da ihrer früheren Heldentaten zu erinnern
Und der Runen von Fimbultyr.

63. Da werden im Grase gefunden
Die wunderbaren goldnen Tafeln;
Die in alten Zeiten
Den Rassen gehörten.

64. Ernten werden wachsen auf unbesäten Äckern,
Alle Übel werden beseitigt, und Balder kehrt wieder.
Mit ihm wird Hödir auf Ropts heiliger Erde bauen
Als sanfte Götter der Auserwählten.
Weißt du [soviel] wie jetzt oder was [noch]?

65. Dann kann Hönir frei sein Schicksal ausfindig machen,
Die Wünschelrute bewegen, die Zeichen lesen;
Und die zwei Brüder werden ihre Wohnstatt erbauen
Im weiten Windheim.
Weißt du [soviel] wie jetzt oder was [noch]?

66. Sie sieht eine Halle heller als die Sonne,
Vergoldet, leuchtend auf Gimle.
Dort werden die tugendhaften Scharen leben
Und sich heiterer Gemütsruhe zeitalterlang erfreuen.

67. Nun kommt der Drache der Finsternis geflogen
Tief drunten,
Aus den Bergen der Nacht.
Er schwingt sich über die Felder in gefiederter Gestalt.

11 – Gylfaginning

(Gylfis Verklärung26)

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Anmerkungen der Übersetzerin

Der Titel dieser Erzählung, Gylfaginning, wird gewöhnlich mit „Gylfis Verspottung“ wiedergegeben, denn das Verb ginna bedeutet im Isländischen verspotten oder zum Narren halten. Dies kann jedoch ein anderes Beispiel für ein semantisches Mißverständnis sein, wie jenes, das Zwerge zu kleinen Leuten anstatt zu unentwickelten Seelen macht. Im Isländischen gibt es ein Hauptwort Ginn, das in der Tat eine sehr hohe Bedeutung hat. Es ist das Wort für das unbeschreibbare göttliche Prinzip oder die Essenz jenseits der Aesir, jenseits der Wanir, jenseits aller möglichen Manifestationen, wie hoch auch immer. Es entspricht am nächsten dem Sanskritwort tat, das einfach „TAT“ („JENES“) bedeutet – eine Abstraktion, die zu heilig ist, als daß sie durch eine Namensgebung herabgesetzt werden könnte. Es ist das EINE – All-Wesen – die selbst-existente Leere, die die All-Fülle ist, nicht begreifbar vom endlichen Verstand, und es ist die durch das Wort Ginnungagap – „der Abgrund von Ginn“ – ausgedrückte Vorstellung.

Die Geschichte wird dann in sich selbst folgerichtig und kann somit ausgelegt werden. Das Ásgárd der Geschichte ist offensichtlich als eine irdische Örtlichkeit geschildert worden, das fortgeschrittene, obwohl menschliche Wesen beherbergt. Doch es behält eine Atmosphäre der Unnahbarkeit und liegt in einem so großen Saal, daß das Dach kaum gesehen werden kann. Der Gaukler am Eingang des Saales läßt an ein Stadium der Erfahrenheit in der Magie denken – ein Element, das immer einen Eindruck macht, dem aber hier nur geringe Bedeutung zugemessen wird: Der Ausführende zeigt seine Wunder außerhalb der Grenzen. Er bringt den besuchenden König ins Heiligtum, wo drei Hierophanten thronen. Ihre Namen oder das Fehlen ihrer Namen enthalten in sich selbst ein interessantes Rätsel, das andeutet, daß, während es Unterschiede in der Stellung gibt, keine Unterscheidung im Rang gemacht wird.

Nicht eher ist der Neophyt eingetreten, bis sich das Tor hinter ihm schließt – eine aufschlußreiche Einzelheit und lebensnah. Daraufhin wird er mit dem langen Gedicht Hávamál vertraut gemacht, das, wie wir sehen werden, auf die drei Stufen des spirituellen Wachstums ausgerichtet ist.

Nachdem er von der Triade der göttlichen Könige alle Weisheit, die er von ihnen empfangen konnte, erhalten hat, „kehrte“ König Gylfi „zu seinem Land zurück und erzählte die Botschaften, die er gehört und gesehen hatte“, und verwirklichte so die Bestimmung eines wahren spirituellen Schüler-Lehrers.

Gylfaginning

König Gylfi war ein weiser Mann mit großem Wissen. Er wunderte sich, wieso die Ása-Leute so wissend waren, daß alles nach ihren Wünschen ging. Er überlegte, daß dies entweder durch der Leute eigene Natur oder durch die Götter verursacht wurde, denen sie sich weihten. Er beschloß, das herauszufinden und bereitete sich vor, als ein alter Mann verkleidet, in aller Stille nach Ásgárd zu wandern. Aber die Ásá-Leute waren weiser. Sie sahen seine Reise, ehe er kam und veranlaßten, daß er von allen Seiten von Illusionen umgeben war. Als er am Hofe ankam, sah er einen Saal so hoch, daß er dessen oberen Teil schwerlich sehen konnte. Sein Dach war mit goldenen Schilden bedeckt wie andere Dächer mit Schindeln bedeckt sind.

Am Eingang des Saales sah er einen Mann, der sieben kleine Schwerter auf einmal jonglierte. Man fragte Gylfi nach seinem Namen, und er gab ihn als Gángläri (wandernder Schüler) an. Er sagte, er sei auf wässrigen Wegen (über das Meer) gekommen und wünschte, hier Unterkunft zu finden. Er fragte, wem der Saal gehöre. Der Jongleur erwiderte, daß er dem König gehöre, „und ich werde dich zu ihm führen, damit du ihn sehen kannst,“ sagte er, „so daß du ihn selbst nach seinem Namen fragen kannst.“

Der Mann ging in den Saal; Gylfi folgte. Auf einmal schloß sich die Tür hinter ihm. Er sah viele Räume und viele Menschen, einige beim Spielen, einige beim Trinken, andere mit Waffen beim Schwertfechten.

Er sah drei hohe Sitze, einer über dem anderen, mit drei Gestalten darauf sitzend, eine auf jedem Sitz. Er fragte, welche Namen diese Oberhäupter besäßen, und sein Führer antwortete, daß derjenige auf dem niedrigsten Sitz ein König mit Namen Der Hohe sei; der über ihm wurde der Ebenso Hohe genannt, und der oberste würde der Dritte genannt.

Der Hohe fragte den Fremden nach seinem Auftrag; und es wurden ihm wie für alle anderen in des Hohen Saal Nahrung und Getränke zur Verfügung gestellt.

Gylfi sagte, daß er zuerst zu wissen wünschte, ob hier ein Weiser gefunden werden könnte. Der Hohe antwortete, daß er den Platz nicht heil verlassen würde, wenn er nicht der Klügere wäre und begann mit der Befragung:

Trete vor – während du fragst.
Der Antwortende soll sitzen.

[Hier folgt das Gedicht Hávamál, wobei dem Bewerber die alte Weisheit gelehrt wird. Dem Schluß von Gylfaginning folgt Hávamál. Siehe nächstes Kapitel.]

Fußnote

12 – Hávamál

(Des Hohen Lied)

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Anmerkungen der Übersetzerin

Des Hohen Lied ist schon ein Rätsel. Es hat drei ganz ausgeprägte und verschiedene Stile, jeder mit seinem inneren einheitlichen Charakter. Gelehrte sind verständlicherweise durch die nur wenig zusammenpassende Nebeneinanderstellung der Teile dieses langen Gedichtes verblüfft gewesen.

Der erste und längste Teil scheint ein Buch über elementare Etikette, eine Art von rustikaler Emily Post zu sein. Er legt Anstandsregeln für den Verkehr mit Menschen und für die Wahrung von Freundschaften nieder. Er erklärt die Pflichten eines Gastgebers und eines Gastes an der Festtafel. Er umreißt einige einfache Hausmittel für allgemeine Gebrechen; er beschreibt geeignete Trinkgewohnheiten, um eine gesunde und vernünftige Einstellung (unter Vermeidung von Katzenjammer) zu bewahren und gibt andere Informationen über einfache Ratschläge und praktische Weisheit in Worten, die geeignet sind, ein halbbarbarisches Volk zu lehren, das Gemeindeleben anzunehmen.

Die zweite Unterteilung, formell im Vers 111 angekündigt, richtet sich an den Zwerg Loddfáfnir. Hier liegt das Schwergewicht auf der rechten und ehrenhaften Handlung, auf der Rücksicht auf andere und einem freundlichen Verhalten. Loddfáfnir steht deutlich eine Stufe über der breiten Masse, die Anweisungen für die Wahrung der einfachsten Höflichkeiten benötigen, aber er ist noch ein Zwerg, weil er als Seele seine Menschlichkeit noch nicht in irgendeinem merklichen Ausmaß entwickelt hat. Dieser Abschnitt ist auf die meisten von uns anwendbar, und Loddfáfnir kann in diesem Stadium als Jedermann betrachtet werden. Die Zwergnatur kann sich gradweise, indem sie den Grundsätzen des Gottes folgt, in die volle Menschlichkeit entfalten. Loddfáfnir als eine Seele, die zu einem bestimmten Grad erweckt ist und danach strebt, ihren Zustand zu verbessern, kann schließlich als Schüler oder Jünger in dem dritten und Schlußabschnitt angesprochen werden, der in einer ganz anderen Stimmung abgefaßt ist. Seine Symbolik trotzt einer Analyse, während sie das innere Auge zu Bildern von unbeschreiblicher Größe richtet. Die kurzen lakonischen Verse weisen derart brillant auf Vorstellungen und derart gewaltige Einsichten hin, daß sie sehr wohl der Gegenstand sind, über die der Auserwählte im Streben nach göttlicher Weisheit nachdenkt.

Natürlich ist das Lied des Hohen für drei sehr verschiedene Zuhörer beabsichtigt: Der erste Teil ist für das Volk – ein ungeschliffenes Volk, nur an dem einfachsten Rat interessiert, der sich an seine tägliche Beschäftigung wendet; als nächster, die einfache Moral irgendeiner exoterischen Schule oder Kirche, allgemeine Sitten für ein anständiges Leben. Der dritte ist das mystische Wachrufen der strebenden Seele in einem Schüler, der sein Leben dem Dienst der göttlichen Bestimmung geweiht hat. Er richtet sich an jene Individuen, die in der Lage sind, dem Engagement der Götter nachzueifern, und die ihre Kraft und Entschlossenheit für die göttliche Aufgabe einsetzen: „die Runen“ durch Odin, den inneren Gott von allen, „aufzunehmen“ (138).

Dieselben drei natürlichen Unterteilungen können in jedem Gedankensystem oder in jeder Religion erkannt werden. Es gibt immer sehr viele, die phantasielos und auf sich selbst konzentriert sind, damit zufrieden, das Beste aus ihren Verhältnissen zu machen und sich des Lebens zu erfreuen. Sie hängen im allgemeinen an konventionellen Normen und beanspruchen und zeigen ein respektables Äußeres. Es gibt auch eine zweite, ziemlich zahlreiche Gruppe, die an der Spekulation über unsichtbare Ursachen von beobachtbaren Phänomenen Freude haben, und die sich nebenbei mit einer Vielfalt abergläubischer Praktiken beschäftigen. Unter ihnen sind viele, die nach größerem Wissen streben und erkennen, daß das Universum Geheimnisse enthält, die es zu entdecken gilt. Sie ermangeln aber häufig der notwendigen Einsicht und Ausdauer, die nur durch Selbstdisziplin erreicht wird.

Die dritte Gruppe übt nur eine geringe populäre Anziehungskraft aus. Sie setzt sich aus jenen zusammen, die in das Heiligtum ihrer Seele eingedrungen sind und aus erster Hand ein gewisses Maß an Wahrheit bestätigt erhielten. Diese sind die Auserwählten, die wenigen, die für die spirituelle Natur arbeiten, die gleichgültig gegenüber Lob und Tadel sind, die sich nicht um ihre eigenen Ziele kümmern, da sie wissen, daß diese mit dem größeren universalen Schicksal verbunden sind. Sie geben keiner persönlichen Befriedigung nach, obwohl paradoxerweise, ihr Altruismus das Rückgrat und das Durchhaltevermögen des menschlichen evolutionären Impulses für die gesamte Menschheit bildet, und dessen Förderung die größte Zufriedenstellung aller bringen muß.

Es ist für die Lehrer der Weisheit immer notwendig gewesen, einen Unterschied unter ihren Nachfolgern zu machen: Diejenigen, die sich unwiderruflich auf das edle Werk der Götter festgelegt haben, erhalten einen größeren Anteil an Wissen und mit ihm eine schwerwiegendere Verantwortung. Jesus sagte seinen Jüngern: „Euch ist es gegeben, das Geheimnis des Reiches Gottes zu wissen: denen aber draußen widerfahren alle diese Dinge durch Gleichnisse“ (Markus 4:11). Auch Gautama, der Buddha, hatte eine esoterische Schule, in der würdige Arhats weitergehende Instruktionen und Übungen empfingen. So verhielten sich auch Pythagoras und zahlreiche andere Führer und geistige Lehrer durch die Zeitalter hindurch.

Das Lied des Hohen zeigt die verschiedenen Zuhörer, an die es einmal durch die Art und Weise der Ansprache und, mehr sogar, durch seinen Gehalt gerichtet ist. Der Teil, worin der Lehrer das allgemeine Publikum anspricht, endet mit einem Gleichnis, das von Odins früherer Frage nach Weisheit erzählt. Die Verse 104-110 erzählen in einer ziemlich obskuren Sprache, wie Odin mit der Hilfe des Eichhörnchens Rati (was auch ein Bohrer bedeuten kann) ein Loch in des Riesen Gebirge bohrt und in der Gestalt einer Schlange eintritt. Er überredet die Tochter des Riesen, ihm einen Schluck aus der Quelle der Weisheit zu geben, die von dem Riesen verborgen wurde. Durch die Geschichte sind zahlreiche Symbole miteinander verwoben, jedes mit verschiedenen Bedeutungen – ein typisches Beispiel für die in Mythen angewandte Methode, Wahrheiten zu erzählen. Rati, der Bohrer oder das Nagetier, gleich dem Eichhörnchen im Lebensbaum, stellt das Bewußtsein dar, das Zugang zu den Tiefen der materiellen Welt ermöglicht, wo Odin nach Weisheit verlangt, wie auch nach den Höhen seiner Krone. Gunnlöd, des Riesen Tochter – unfähig, die Höhen der Göttlichkeit zu erklimmen, wurde in Tränen zurückgelassen, obwohl der „kostbare Met Odraerirs“ – Gefäß der Inspiration – eine Sprosse auf der Leiter der Existenz emporgetragen, auf unseren eigenen „alten Schrein der Erde“ erhoben wurde. Die Frage wird von dem Eisriesen gestellt, ob der Gott als Sieger hervorgegangen sei oder ob er von dem Riesen Suttung, die frühere Verkörperung der Erde, überwunden wurde. Odin konnte versichern, daß er tatsächlich unbeschadet zu dem Reich der Götter zurückgekehrt sei.

Gunnlöd, „die gute Frau“, personifiziert ein Zeitalter, als inmitten des riesigen Materialismus ihres Vaters – des größeren Zyklus – wenigstens ein Teil von ihr die Gottheit willkommen hieß und fähig war, einen Schluck an Weisheit anzubieten. Es wird zudem der Eindruck vermittelt, daß „Odraerir hier jetzt zu der Erde altem Schrein hochgekommen ist“, angesichts der theosophischen Lehre, daß unser Planet (der den heiligen Met liefert) selbst seit seiner früheren Verkörperung auf einer niedrigeren, materielleren Ebene eine Stufe höher fortgeschritten ist, und daß das, was damals das Astralmodell des Mondes war, jetzt der Rest unseres gegenwärtigen, festen, physischen Satelliten ist. Dies läßt natürlich darauf schließen, daß die Menschheit eine Stufe aufwärts geschritten ist. Der „alte Schrein“ bezieht sich auf eine frühere Phase auf dem „abwärts führenden Bogen“ in Richtung Materie.

Unter den frühen göttlichen Lehrern der Menschheit gab es viele, die keine Spur ihres Auftretens hinterlassen haben; es scheint, daß Odin einer aus dieser Reihe war, denn in der Geheimlehre stellt H. P. Blavatsky fest, daß

der Tag, an dem vieles, wenn nicht alles von dem, was hier aus den archaischen Aufzeichnungen wiedergegeben ist, als richtig befunden werden wird, ist nicht sehr weit entfernt. Denn die modernen Symbologen werden die Gewißheit erlangen, daß selbst Odin … einer von diesen fünfunddreißig Buddhas ist; einer von den frühesten in der Tat, denn der Kontinent, zu dem er und seine Rasse gehörten, ist auch einer der frühesten.

– II, 423 (dtsch. Ausgabe II, 442)

Ob der Schlußteil von Hávamál seitdem ein so großes Alter erreichen konnte oder in seiner gegenwärtigen Form von späteren Lehrern rekonstruiert und weitergegeben worden ist, ist für uns heute unmöglich zu ermitteln. Man kann in diesen Versen die wahre Essenz der esoterischen Kosmogonie erkennen und eine tiefe Ehrfurcht und Dankbarkeit empfinden, wenn wir über das göttliche Opfer des dem Lebensbaum innewohnenden kosmischen Geistes nachdenken. Diese göttliche Verkörperung, die während der Existenz irgendeiner Welt stattfindet, treibt als bewußte Energie die Welt ins Dasein, und als aktives Bewußtsein nimmt sie ihren Schluck aus dem Brunnen der Weisheit, der von dem Riesen Mimir bewacht wird, der Materie, aus der die Welten geformt sind.

Die Verse 137 bis 142 vermitteln einen bemerkenswert genauen Ausdruck für einige Grundlehrsätze der alten Weisheit. Sie erklären die Periodizität des manifestierten Lebens und der karmischen Arbeitsweise, die auf jeder Existenzebene von jedem Ereignis, jedem Wort und jeder Tat zum nächsten Ereignis wandert, bzw. zur nächsten Tat führt. Der siebzehnte Galder (Zauberspruch) erzählt auch, daß diese Instruktionen unter dem Siegel der Verschwiegenheit gegeben wurden, während die Schlußverse klar zeigen, warum das so sein muß: Es ist nicht möglich, die Bedeutung dieser Lehren zu begreifen, bis die Natur im Verständnis ausreichend gereift ist. Sie sind „nützlich für die Menschenkinder, aber nutzlos für die Söhne der Riesen“ (163): Nur die spirituelle Intelligenz ist fähig, die innere Botschaft zu empfangen; die zeitliche, nicht inspirierte Riesen-Natur ist nicht dazu imstande, denn sie ermangelt der Einsicht, sie zu erkennen. Aus diesem Grunde ist wenig von den Mysterienschulen der alten Welt bekannt – oder eigentlich der modernen –, außer der einen Tatsache ihrer Existenz aus sehr entfernten Zeiten. Das Wissen, das sie vermittelten, konnte nicht an jede unqualifizierte Person preisgegeben werden, nicht eigentlich wegen eines Verbotes, sondern wirkungsvoller wegen der Notwendigkeit einer entwickelten Fähigkeit des Verstehens. Dieses Verständnis (das Wort bedeutet wörtlich Umarmung) innerhalb der eigenen Sphäre von Sympathie und Liebe des Menschen muß natürlich aktiv sein, ehe die tieferen Lehren empfangen werden konnten. Daraus folgt, daß es derart unmöglich sein muß, die Mysterien bis zu irgendeinem nennenswerten Grad zu verraten, wie höhere Mathematik einem Käfer zu erklären. Trotzdem, die Verletzung des Vertrauens ist ein ernsthafter Fehler beim Täter, der sich dem ungünstigen Karma der Rasse hinzufügt. Doch, so viel wie verstanden werden kann, wird von dem erleuchteten Wesen „zurückgebracht“ und mit jenen geteilt, die fähig sind, von dem, was er zu geben hat, zu profitieren. König Gylfi als Gángläri vollendete seine Aufgabe und erzählte die Dinge, die er gelernt hatte, die von da an von einem zum anderen weitergegeben wurden. (Siehe Schlußfolgerung von Gylfaginning)

Man kann bemerken, daß, gleich anderen mystischen Gedichten, Hávamál teilweise die Form eines Liebesliedes annimmt, das an das Rubaiyat oder den Gesang von Salomon erinnert, weil diese Form vielleicht der Ausdrucksweise am nächsten kommt, die der Mensch sich für die ergreifende Ekstase der Einheit mit dem göttlichen Selbst, dem inneren Gott, ausdenken kann, da es nichts Vergleichbares in der materiellen Existenz gibt. Die volle und wesentliche Expansion des menschlichen Bewußtseins bezieht sich natürlich auf jene, deren ganze Natur dem Gott im Inneren unterworfen ist und ihn widerspiegelt, das heißt, auf die Einherjer [Selbstbesieger] Odins, so genannt, weil ihr eigenes persönliches Ego des „Einen“ unter vollständiger Kontrolle steht.

Hávamál

1. Prüfe einen Eingang, ehe du hineingehst;
Denn ungewiß ist, wo Feinde weilen.

2. Heil den Großherzigen! Ein Gast ist eingetroffen. Weist ihm einen Platz.
Der ist in Eile, der sich selbst am Feuer bewähren muß.

3. Wärme braucht, wer aus der Kälte kommt;
Essen und Getränke braucht der Mensch, der aus dem Gebirge kommt.

4. Wasser braucht, wer zu seinem Gastgeber kommt, ein Handtuch und Begrüßung;
Einen freundlichen Empfang für den, der Worte begehrt und ein freundliches Gehör.

5. Witz und Verstand braucht der Wanderer in fremden Landen; Daheim ist alles leicht.
Rühme dich nicht deiner Taten unter jenen, die weise sind.

6. Hebe deine Klugheit nicht hervor; sei vorsichtig; der Weise schweigt
Auf fremdem Boden und erregt keinen Ärger. Einen besseren Freund hat kein Mensch als klugen Verstand.

7. Der vorsichtige Gast, der zum Festmahl kommt, schweigt, wenn geflüstert wird;
Er spitzt seine Ohren, mit seinen Augen späht er; so beobachtet der Weise.

8. Selig ist der Mensch, der sich Ehr und Achtung erwirbt;
Aber ungewiß der Nutzen, geboren in des andern Brust.

9. Glücklich ist, wer selbst Ehr und Lebensweisheit besitzt.
Anderer Rat ist oft schlechter Rat.

10. Keine bessre Bürde kann ein Mensch tragen als gesunden Menschenverstand und gute Manieren;
Besser als Gold nützen sie als starke Stütze in der Not.

11. Keine bessre Bürde kann ein Mensch tragen als gesunden Menschenverstand und gute Manieren;
Und kein schlimmerer Vorrat wird mitgenommen als ein Übermaß an Bier.

12. Bier ist nicht so gut, wie sie sagen, für die Menschenrasse;
Je mehr ein Mensch trinkt, desto weniger weiß er, wie er einen klaren Kopf behalten kann.

13. Im Delirium phantasiert, wer sich betrinkt, seine Besinnung wird geraubt;
Durch jenes Vogelgefieder wurde auch ich gefesselt an Gunnlöds Hof.

14. Trunken war ich, sinnlos trunken im Saal des friedfertigen Fjalar;
Am besten ist das Bierfest, wenn jeder heimgeht und Sinn und Vernunft bewahrt.

15. Liebenswürdig und heiter soll ein Menschensohn sein, und tapfer im Kampf;
Heiter und freundlich erweise sich ein Mann, wenn er seinen Tod erwartet.

16. Ein Feigling glaubt, ewig zu leben, wenn er das Gefecht flieht;
Doch das Alter verschont ihn nicht, obwohl die Speere ihn verschonen.

17. Ein Tor auf einem Fest sitzt gaffend da und murmelt vor sich hin;
Wenn er aber getrunken hat, sieht man seinen Geisteszustand stark enthüllt.

18. Wer weitgereist ist,
Äußert jeden Gedanken wohl überlegt.

19. Klebe nicht am Becher,27 trink mäßig, sprich gut oder schweig;
Niemand wird dein Benehmen tadeln, gehst du früh zu Bett.

20. Der Gefräßige ohne Manieren macht sich selber krank;
Einem Törichten wird sein Magen zur Zielscheibe des Gespötts in kluger Gesellschaft.

21. Herden wissen, wann Zeit zur Heimkehr und verlassen die Weide.
Ein Narr aber kennt nicht das Maß seines Magens.

22. Der Armselige von gemeiner Veranlagung verhöhnt alles;
Er weiß nicht, was er wissen sollte, daß er selbst nicht fehlerfrei.

23. Ein Narr durchwacht die Nächte und sorgt sich um alle Dinge;
Schwach ist er, wenn der Morgen anbricht, und die Dinge sind noch wie zuvor.

24. Der Narr meint, daß alle, die ihn anlachen, seine Freunde sind;
Er weiß nicht, wie sie über ihn sprechen.

25. Der Narr meint, daß alle, die ihn anlachen, seine Freunde sind;
Er findet es nur in der Versammlung heraus, wenn wenige für ihn sprechen wollen.

26. Ein Narr dünkt sich allweise in einer sichern Ecke;
Er weiß nicht, was er sagen soll, wird er durch kluge Menschen geprüft.

27. Ein Narr unter den Erfahreneren sollte schweigen;
Niemand bemerkt, wie wenig er versteht, wenn er still ist.

28. Weise dünkt sich, wer zu fragen weiß und zu antworten versteht;
Aber kein Fehler auf Erden kann verborgen bleiben.

29. Wer viel spricht, sagt schlecht gewählte Worte;
Eine ungezügelte Zunge spricht ihr eigenes Verderben.

30. Verspotte keinen andern, der zu deiner Sippe kommt;
Viele fühlen sich weise auf ihrem eigenen Berg.

31. Schlau dünkt sich, wer den Gast verläßt, der über andere gespottet hat;
Wer sich über einen andern lustig macht, erkennt nicht die Gefahr um sich.

32. Oft geraten Freunde beim Gelage aneinander und zanken sich;
Das kann zu Streitigkeiten unter den Gästen führen.

33. Beizeiten nehme man jedes Mahl zu sich und gehe nicht hungrig als Gast;
Sonst sitzt er würgend da, ohne eine Frage zu stellen.

34. Es ist ein langer Umweg zu einem untreuen Freund, wohnt er auch gleich am Wege;
Aber zu einem guten Freund, wie weit auch entfernt, gibt es manche Abkürzungen.

35. Ein Gast soll beizeiten gehen und nicht zu lange bleiben;
Die Freude verliert an Reiz, wenn er zu lange an eines anderen Tafel weilt.

36. Besser dein eignes Heim, wo jeder sein eigner Herr ist;
Zwei Ziegen und ein Strohdach sind besser als betteln gehen.

37. Besser dein eignes Heim, wo jeder sein eigner Herr ist;
Das Herz blutet jedem, der erbitten muß sein Mahl alle Mittag.

38. Von seinen Waffen weiche niemand mehr als einen Schritt auf dem Feld;
Ungewiß ist, wie bald man zum Speere greifen muß.

39. Niemanden sah ich so reich, daß er ablehnte, was geboten wurde;
Noch jemanden zu großzügig, dem Lohn unerwünscht war, wenn verdient.

40. Wer Geld hat, braucht nicht zu leiden;
Aber Sparen ist eine Tugend, die einen Makel nach sich ziehen kann.

41. Freunde sollen mit Waffen und Gewändern sich erfreuen;
Gabe und Gegengabe helfen eine Freundschaft ertragen.

42. Zu einem Freund sei ein Freund und gib Gabe gegen Gabe;
Spaß soll mit Spaß erwidert werden und List mit List.

43. Zu einem Freund sei ein Freund, zu ihm und seinem Freund;
Aber mit des Feindes Freunden sei nicht durch Freundschaft verbunden.

44. Wenn du einen Freund weißt, vertraue ihm und erstrebe sein Wohlwollen,
Teile seine Neigungen und tausche Geschenke aus; und besuche ihn oft.

45. Wenn du einen Mann weißt, der Schlechtes denkt, dessen Wohlwollen du aber wünschest,
Sprich freundlich zu ihm, obwohl du Falsches fühlst, Vergelte Lügen mit Schlauheit.

46. Dies gilt auch von ihm, dem du Übel zutraust, dessen Denkart verdächtig ist;
Begegne ihm mit Lächeln, wähle deine Worte gut; zahle Gaben mit gleicher Münze.

47. Als ich jung war, wanderte ich einsam und ging abseits vom Weg;
Ich fühlte mich reich, als ich einen anderen fand, denn ein Mann ist eine gute Gesellschaft.

48. Edle, mutige Menschen leben am besten; selten beschleicht sie Sorge.
Ein Törichter fürchtet viele Dinge und mißgönnt jede Gabe.

49. Ich gab meine Gewänder zwei Holzmännern auf dem Felde;
Sie fühlten sich in bester Form, in Lumpen gekleidet; nackt, schämt sich ein Mann.

50. Der Tannenbaum verdorrt auf einem trocknen Hügel ohne Schutz der Rinde oder Nadeln;
So geht es dem Mann, den niemand mag; warum soll er lange leben?

51. Heißer als Feuer brennt die Liebe eines friedliebenden Mannes für seinen treulosen Freund
Für fünf Tage; aber am sechsten stirbt seine Freundschaft.

52. Nicht immer groß muß die Gabe sein, oft erwirbt man mit wenig;
Mit einem halben Brot, einem Schluck aus dem Becher gewann ich einen treuen Gesellen.

53. Kleine Sandhaufen und winzige Bäche, gering ist der Verstand der Menschen;
Alle sind nicht gleich klar in der Weisheit; jedes Alter ist von zweierlei Art.

54. Mäßig weise sollte ein jeder sein – nicht allzuweise;
Das schönste Leben ist dem beschieden, der wohl weiß, was er weiß.

55. Mäßig weise sollte ein jeder sein – nicht allzuweise;
Denn eines Weisen Herz verliert die Freude, wenn er sich allzuweise dünkt.

56. Mäßig weise sollte ein jeder sein – nicht allzuweise;
Sein Schicksal kennt keiner voraus; so bleibt die Seele sorgenfrei.

57. Feuer wird durch Feuer angezündet, bis es stirbt, und Flamme wird durch Flamme angezündet.
Der Mann erkennt den Mann durch seine Rede, den Sprachlosen durch sein Schweigen.

58. Früh aufstehen soll, wer dem andern nach seinem Leben oder seinem Gut trachtet;
Der schlafende Wolf gewinnt selten einen Knochen oder ein schlafender Mann den Sieg.

59. Früh aufstehen soll, wer wenig Arbeiter hat, und selbst zu Werke gehn;
Viel wird versäumt durch einen, der verschläft; der Emsige ist halb reich.

60. Von Anmachholz und Dachschindeln weiß ein Mann das Maß;
Gleichermaßen von Feuerholz, womit er ausreicht für eine ganze oder halbe Jahreszeit.

61. Rein und gesättigt reit’ er zum Ting, obwohl arm gekleidet;
Keiner schäme sich der Flecken auf den Schuhen noch des minderwertigen Reittiers.

62. Frage und Antwort werden mit Vorbedacht gestellt und gegeben von einem, der weise genannt wird;
Ziehe nur einen in dein Vertrauen, was drei wissen, weiß die Welt.

63. Er forscht und späht, wenn er über die Wellen schweift, der Seeadler auf der ewigen See;
So ergeht es dem Mann in einer Menge, wo wenige für ihn sprechen wollen.

64. Ein weiser Mann bleibt in seinem Recht und seiner Autorität innerhalb der Grenzen;
Im Zusammentreffen von Kriegern wird er finden, daß keiner der Tapferste ist.

65. Für jedes Wort, das er spricht, wird einem Mann in gleicher Münze zurückgezahlt.

66. An manchen Orten kam ich allzufrüh, allzuspät an andern;
Das Bier war getrunken oder noch nicht gebraut; unziemlicher Gast kommt ungelegen.

67. An manchen Orten wäre ich eingeladen worden, käme ich ohne Nahrung aus;
Oder zwei Schinken hingen bei meinem Freund, als ich gerade gegessen hatte.

68. Unter den Menschenkindern ist Feuer das Beste und die scheinende Sonne,
Wenn der Mensch die Anlage zur Gesundheit besitzt und ohne Laster lebt.

69. Kein Mensch ist in allen Dingen unglücklich, obgleich seine Gesundheit schwach ist; einer ist mit Söhnen gesegnet,
Ein anderer mit Freunden, ein dritter mit vollen Scheunen, ein vierter mit guten Taten.

70. Besser leben und glücklich leben; ein guter Mensch kommt noch zur Kuh;
Ich sah das Feuer in eines Reichen Haus erlöschen; der Tod stand vor der Tür.

71. Ein Lahmer kann reiten; ein Handloser Rinder hüten, ein Tauber kann ein edler Krieger sein;
Besser blind sein als auf dem Scheiterhaufen zu brennen; niemandem nützt ein Toter.

72. Ein Sohn ist besser, sogar spät geboren nach des Vaters Lebensende;
Denkmale werden selten errichtet, es sei denn, durch die Familie.

73. Zweie sind Kampfgefährten, aber die Zunge ist der Fluch des Kopfes;
Unter jedem Gewand erwarte ich eine Faust.

74. Eine Nacht magst du deinem Vorrat trauen, aber karg ist der Schiffszwieback, und rasch ändert sich eine Herbstnacht;
Das Wetter wechselt oft im Laufe von fünf Tagen, wieviel mehr in einem Monat.

75. Wer nichts weiß, der weiß auch nicht, daß viele für andere nur Narren sind;
Einer mag reich sein, ein anderer arm. Niemand gebe ihm die Schuld dafür.

76. Vieh stirbt, Verwandte sterben; du mußt auch sterben;
Doch nimmer stirbt ihm die Stimme der Hochachtung, wer sich einen guten Namen verdiente.

77. Vieh stirbt; Verwandte sterben; du mußt auch sterben;
Doch eines weiß ich, das nimmer vergeht: eines Toten Ruf.

78. Viele Schafhürden sah ich bei den Söhnen des Reichen; sie tragen jetzt den Bettelstab;
Reichtum ist wie das Zwinkern eines Auges, der unbeständigste der Freunde.

79. Wenn ein Narr Güter oder einer Frau Gunst gewinnt, so wächst sein Stolz, doch nicht sein Verstand;
Hin geht er in närrischer Blindheit.

80. Dieses also ist bekannt; wenn du nach den Runen fragst, die nur den herrschenden Mächten bekannt sind,
Nach jenen; die von den Barden des Geheimwissens niedergeschrieben wurden, hätte man besser geschwiegen.

81. Der Tag soll abends gelobt werden, eine Frau auf ihrem Scheiterhaufen; des Schwertes Schneide, wenn geprüft;
Das Mädchen, wenn verschmäht, das Eis, wenn überquert, das Bier, wenn es getrunken ist.

82. Bäume sollen gefällt werden, wenn der Wind bläst, segle, wenn die Brise günstig ist;
In der Dunkelheit schäkere ich mit dem Mädchen, denn viele Augen sehen bei Tag;
Du brauchst Schnelligkeit von einem Schiff, Schutz von einem
Schild, Hiebe von einer Klinge, Küsse von einem Mädchen.

83. Beim Feuer trink Bier, auf Eis ziehe Linien mit Schlittschuhen, kaufe ein Pferd, wenn es mager ist, und eine Klinge, wenn sie rostig ist.
Das Pferd ernähre gut und den Hund dressiere.

84. Vertraue nicht den Worten eines Mädchens, noch einer Frau,
Denn auf einem wirbelnden Rad wurden ihre Herzen geboren und Wankelmütigkeit wurde in ihrer Brust verankert.

85. Traue keinem brechenden Bogen, keiner flackernden Flamme, keinem schnappenden Wolf, keiner geschwätzigen Krähe,
Keinem grunzenden Eber, keiner wurzellosen Weide, keiner anschwellenden Flut, keinem sprudelnden Kessel;

86. Fliegendem Pfeil, hereinbrechender Woge, einnächtigem Eis, geringelter Schlange,
Bettrede der Braut, brüchigem Schwert oder verspieltem Bär, noch den Kindern eines Königs;

87. Siechem Kalb, sturem Knecht, der Seherin schönen Worten, eben erschlagenem Wal,28
Solch allen soll keiner voreilig trauen.

88. Verlasse dich nicht auf ein früh gesätes Feld, noch zu früh auf einen Sohn;
Noch auf einen Töter des Bruders, sogar auf einen breiten Weg;

89. Noch auf ein halbverbranntes Haus, ein windschnelles Pferd (es würde mit einem gebrochenen Bein unbrauchbar sein);
Keiner ist so überzeugt, daß er diesen vertraut.

90. So ist die Frauenliebe, unbeständig gleich dem Reiten auf glattem Eis mit einem unbeschlagenen Pferd,
Einem lebhaften, zweijährigen, schlecht dressierten, oder einem steuerlosen Schiff auf stürmischer See oder gleich der Rentierjagd eines Lahmen auf glatter Bergwand.

91. Offen bekenne ich, denn ich weiß beides, wie trügerisch des Mannes Stirn gegenüber Frauen ist;
Wenn wir am freundlichsten sprechen, denken wir am schlechtesten; dies ködert selbst die Schlaueste.

92. Du sollst freundlich sprechen und Geschenke bieten, wenn du des Mädchens Liebe gewinnen willst;
Lobe den Liebreiz der Schönen, die Wünsche eines jungen Verehrers werden erfüllt.

93. Seiner Liebe soll kein anderer Vorwürfe machen!
Oft ist ein Weiser, nicht ein Narr, von einem hübschen Gesicht betört worden.

94. Noch soll niemand einen anderen dafür tadeln, was vielen widerfährt;
Ein Weiser wird oft durch überwältigendes Verlangen in einen Narren verwandelt.

95. Das Gemüt weiß nur, was dem Herzen nahe liegt, es allein sieht die Tiefe der Seele;
Kein schlimmeres Übel überfällt den Weisen, als ohne inneren Frieden zu leben.

96. Dabei lernte ich, als ich im Schilfe kauerte und auf meine Liebe wartete,
Mein Körper und meine Seele schienen mir klug. Gleichwohl erwarb ich sie nicht.

97. Billings Maid29, weiß wie die Sonne, wurde von mir schlafend gefunden;
Alle fürstliche Freude schien mir nichts neben dem Leben mit ihrer Schönheit.

98. „Am Abend, Odin, sollst du kommen, wenn du die Maid gewinnen willst;
Es wäre unschicklich, wenn nicht wir allein davon wüßten.“

99. Zurück lief ich und glaubte mich glücklich, hoffte, die Lust des Weisen zu erfahren.
Ich hatte gehofft, ihre Zärtlichkeit und Wonne zu erringen.

100. Als ich zurückkehrte, da war die ganze tapfere Kriegerschar aufgeweckt;
Mit brennenden Fackeln und lodernden Lichtern war der Weg gefährlich für mich.

101. Am Morgen kehrte ich zurück, die Wächter schliefen;
Einen Hund fand ich ans Bett der heiligen Frau gebunden.

102. Manch süße Maid, nach der du begehrst, ist treulos;
Das erkannte ich klar, als die schlaue Maid, die ich mit List zu verführen hoffte, mich lächerlich machte; ich gewann nicht das reizende Weib.

103. Ein Mann, heiter in seinem Haus und fröhlich unter Gästen, sollte stets einen einsichtigen Standpunkt einnehmen;
Ein gutes Gedächtnis und eine ungezwungene Sprache, wenn er klug sein und weise sprechen will;
Ein Idiot hat nichts zu sagen; das ist das Merkmal des Narren.

104. Ich besuchte den alten Riesen, nun bin ich zurück: mit Schweigen gewann ich dort wenig;
Viele Worte sprach ich zu meinem Gewinn in Suttungs Saal.

105. Gunnlöd auf goldenem Thron reichte mir einen Trunk des kostbaren Mets.
Übel vergalt ich ihre Schmerzen.

106. Ratis Mund schaffte Raum für mich, nagte durch den Fels;
Über und unter mir erstreckten sich des Riesen Wege. Groß war meine Gefahr.

107. Eines wohlverdienten Schlucks erfreute ich mich; dem Klugen mangelt wenig;
Odraerir ist hier jetzt aufgestiegen zu der alten heiligen Stätte der Erde.

108. Ich zweifelte, ob ich sogar jetzt der Riesen Wohnstätte entkommen wäre,
Hätte ich nicht Gunnlöd, die gute Frau, die ich in meinen Armen hielt.

109. Die Eisriesen eilten des andern Tags, Odins Rat in des Hohen Halle zu hören;
Sie fragten nach Bölwerk [Unheilstifter],
Ob er seine Freiheit erbettelt habe oder von Suttung bezwungen wurde.
Den Ringeid, sagt man, hat Odin geschworen.

110. Wer vertraut noch seiner Treue?
Suttung, seines Mets beraubt, Gunnlöd in Tränen!

. . .

111. Es ist Zeit, vom Rednerstuhl zu sprechen
An der Quelle Urds;
Ich sah und schwieg,
Ich beobachtete und dachte,
Ich hörte, was gesagt wurde,
Von Runen hört ich reden,
Es mangelte nicht an Wissen
In des Hohen Halle.
In des Hohen Halle
Hört ich es sagen.

112. Ich sage dir, Loddfáfnir, höre auf den Rat;
Du wirst gewinnen, wenn du ihn beobachtest, Nutzen ziehen, wenn du ihm folgst.
Stehe nachts nicht auf, wenn nichts geschieht,
Es sei denn, du müßtest das Klosett [außerhalb des Hauses] aufsuchen!

113. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Schlafe nicht in den Armen, gelockt von einer Zauberin;
Sie kann zuwege bringen, daß du nicht zum Ting oder zur Versammlung gehst;
Nahrung wird dich nicht erfreuen, noch menschliche Gesellschaft; traurig wirst du schlafen gehen.

114. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Niemals verführe eines anderen Weib mit sanften Worten.

115. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Wenn du Gefahr im Gebirge oder im Fjord erwartest, versorge dich gut mit Lebensmitteln.

116. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Eröffne keinem üblen Mann dein Mißgeschick; von einem Mann mit schlechter Gesinnung erfährst du keinen Dank für dein Vertrauen.

117. Ich sah einen Mann Schaden nehmen durch die Worte einer verräterischen Frau;
Ihre giftige Zunge verwundete ihn zu Tode und war ohne Wahrhaftigkeit.

118. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Wenn du einen Freund weißt, dem du vertraust, besuche ihn oft;
Dornengestrüpp und Gras wachsen hoch auf unberührten Wegen.

119. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Gewinne gutmütige Menschen mit glücklichen Runen, singe fröhliche Lieder solange du lebst.

120. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Beeile dich nicht, den Bund der Liebe mit deinem Freund zu brechen;
Kummer wird dein Herz zerreißen,
Wenn du dich nicht mehr traust, alle deine Gedanken einem anderen zu sagen.

121. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat;
Wechsle keine Worte mit einem Dummkopf.

122. Von übelgesonnenem Mann wirst du keinen guten Gewinn erlangen,
Aber ein edler Mann mag dich mit seiner Größe ehren.

123. Eine Freundschaft ist gefestigt, wenn jeder seine Gedanken dem anderen mitteilen kann;
Alles ist besser als zerrissene Bande; kein Freund ist derjenige, der schmeichelt.

124. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Verschwende keine drei Worte im Streit mit einem Schurken:
Oft gibt der Bessere nach,
Wenn der Schlechtere Schläge austeilt.

125. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Mache dir deine eigenen Schuhe und den Schaft für deinen Speer.
Ein Schuh mag schlecht geformt, ein Speer verbogen sein, wenn man dir übel will.

126. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Wenn dir Ärger begegnet, nimm es als für dich bestimmt an;
Gib deinem Feind keinen Frieden.

127. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Niemals erfreue dich über aufgedecktes Übel, aber stets erfreue dich über Gutes.

128. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Starre nicht in die Luft während der Schlacht – Menschen können Ebern gleich wüten –
Auf daß du nicht deinen Verstand verlierst.

129. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Wenn du eine gute Frau zur Ehe verpflichten und ihre Gunst gewinnen willst,
Mußt du Großmütigkeit versprechen und dein Wort halten;
Niemand ist verdrießlich wegen einer guten Gabe.

130. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Sei vorsichtig; am meisten beim Bier,
Bei eines andern Weib, und zum dritten,
Hüte dich vor Dieben.

131. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Verspotte nicht einen Wanderer oder einen Gast.

132. Sie, die drinnen sitzen, wissen oft nicht, welche Art von Mensch eintritt;
Keiner ist so gut, daß er keine Fehler hat, keiner so miserabel, daß ihm alle Tugenden mangeln.

133. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Lächle nicht über den grauhaarigen Geschichtenerzähler; oft ist gut, was die Alten sprechen;
Runzlige Lippen können gewählte Worte sprechen.
Aus ihm, dessen Haupt gebeugt, dessen Haut welkt und der zwischen Stöcken humpelt.

134. Ich sage dir Loddfáfnir, befolge den Rat:
Beschimpfe keinen Gast noch weise irgendeinen ab; heiße den Armen willkommen.

135. Es bedarf einer starken Türangel, um die Tür für alle offenzuhalten;
Spende deine Almosen, damit nicht einer dir Unheil wünscht.

136. Ich sage dir, Loddfáfnir, befolge den Rat:
Wenn du Bier trinkst, suche die Hilfe der Erdkraft, denn Erde wirkt ihm entgegen wie Feuer der Seuche;
Eiche ist ein Laxativ, Getreide wirkt gegen Zauberei,
Das Heim gegen Gezänk, der Mond gegen Haß,
Beißen hilft gegen Schlangenbiß,
Runen gegen üble Absichten,
Felder aus Erde lassen Hochwasser zurückgehen.

. . .

137. Ich weiß, daß ich hing am windigen Baum,
Neun lange Nächte, vom Speer verwundet,
Dem Odin geweiht, mein Selbst meinem Höheren Selbst in dem Baum,
Dessen Wurzel niemand kennt, woraus er entsprang.

138. Niemand brachte mir Brot, niemand versorgte mich mit Getränk;
Ich erforschte die Tiefen, fand Runen der Weisheit,
Nahm sie unter Singen auf und fiel von da noch einmal nieder.

139. Neun machtvolle Lieder lernte ich,
Von dem weisen Sohn Bölthorns, Bestlas Vater;
Ich trank einen Trank des kostbaren Mets
Geschöpft aus Odraerir.30

140. Ich begann zu gedeihen, weise zu werden,
zu wachsen, und fühlte mich wohl;
Worte aus Worten führten mich zu neuen Worten;
Taten aus Taten führten mich zu neuen Taten.

141. Runen wirst du kennenlernen und gut lesbare Stäbe,
Sehr starke Stäbe, mächtige Stäbe,
Gezeichnet von dem Mächtigen, der spricht,
Gefertigt vom weisen Wanir, geschnitzt von den höchsten Herrschern.

142. Odin unter Aesir, Dwalin unter Elfen,
Dáin31 unter Zwergen,
Allwitter32 unter Riesen.
Ich selbst habe auch einige geschnitzt.

143. Weißt du zu schreiben?
Weißt du zu erklären?
Weißt du zu verstehen?
Weißt du zu prüfen?
Weißt du zu beten?
Weißt du zu opfern?
Weißt du zu übermitteln?
Weißt du zu sühnen?

144. Besser nicht zu beten als im Übermaß geopfert, die Gabe neigt stets dazu, zurückgegeben zu werden.
Besser nichts geschickt als zuviel verschwendet.
So schrieb es Thund für den Verlauf der Zeit,
Wo er aufstand. Wo er wiederkam.

145. Ich kenne Lieder, unbekannt der Königin oder irgendeinem Menschensohn;
Hilfe heißt eines, und es kann dir helfen
In Traurigkeit und Sorgen und großen Schwierigkeiten.

146. Ein zweites weiß ich, das allen jenen bekannt sein sollte,
Die Heiler sein wollen.

147. Ein drittes weiß ich, dessen ich bedarf, um jeden Feind zu fesseln.
Ich kann ihre Klingen stumpf machen,
So daß Schwert oder Täuschung nicht schaden können.

148. Ein viertes weiß ich: wenn Krieger Kettenglieder um meine Gliedmaßen legen;
Ich kann einen Zauber singen, der mich befreien wird.
Fesseln fallen von meinen Füßen und das Schließband von meinen Händen.

149. Ein fünftes weiß ich: wenn ich Pfeile nahe auf meine Horde zufliegen sehe;
So rasch ihr Flug auch sei, ich kann sie in der Luft aufhalten,
Wenn ich sie deutlich sehe.

150. Ein sechstes Lied sing ich: wenn jemand mir mit harten Unkrautwurzeln schaden will
Oder ein Hel-Mensch mich haßt, so fügt er sich selber Schaden zu, nicht mir.

151. Das siebte sing ich: wenn ein furchterregendes Feuer in der Halle, wo die Krieger sitzen, lodert;
Wie hell einer auch brennt, bereits brennt,
Ich kann ihn bergen; diesen Zauber kann ich singen.

152. Das achte, das ich singe, ist für jeden
Das glückbringendste Wissen, das er lernen kann;
Wenn Hader unter den Kindern des Anführers gehegt wird,
So kann ich ihn rasch schlichten.

153. Das neunte, das ich weiß, wenn es notwendig ist,
Mein Boot auf der Woge zu retten,
Ich kann den Wind auf dem Meer beruhigen
Und die stürmische See beschwichtigen.

154. Ein zehntes weiß ich, wenn Hexen
Hoch oben in der Luft reiten;
Ich kann sie vom rechten Weg abbringen,
Sie ihrer Gestalt, ihres Verstandes berauben.

155. Ein elftes weiß ich; es ist hilfreich im Krieg,
Alte Freunde führe ich im Kampf; ich singe es unter dem Schild,
So daß sie mit Stärke heil in den Kampf ziehen,
Heil aus dem Kampf,
Heil, wo immer sie gehen.

156. Ein zwölftes weiß ich: wenn ich einen Baum sehe
Mit einem hoch aufgehängten Mann,
Ich kann Runen schnitzen und zeichnen, So daß der Gehängte zu mir zu sprechen sich beeilt.

157. Ein dreizehntes weiß ich: wenn sie wünschen,
Daß ich eines Bürgers Sohn mit Wasser weihe,
So soll er nicht fallen, wie unterlegen er auch sei, er soll Durch kein Schwert fallen.

158. Ein vierzehntes weiß ich: ich kann der Kriegerhorde die Namen wohltätiger Götter nennen;
Die Aesir und Elfen,
Ich kann alle unterscheiden,
Was ein unweiser Mann nicht kann.

159. Ein fünfzehntes weiß ich, das der In-Gang-Bringer
Bei Tagesanbruch sang;
Er sang den Aesir Stärke, den Elfen Fortschritt,
Verstandesstärke dem Gott der Götter.

160. Ein sechzehntes kann ich singen,
Wenn ich Glück und Gunst der klugen Maid begehre,
Die Liebe der weißarmigen Frau kann ich gewinnen,
Und daß sie ihren Sinn mir zuwendet.

161. Ein siebzehntes singe ich, damit die geliebte Maid
Mich nicht bald wieder verläßt,
Für eine lange lange Zeit magst du, Loddfáfnir,
Dieser Lieder ledig bleiben.
Es wäre gut, wenn du sie behältst,
Du kannst dich glücklich schätzen, wenn du sie lernst,
Es wäre nützlich, sie gut zu beachten.

162. Ein achtzehntes weiß ich, das ich aber niemals
Vor einer Maid oder eines Mannes Weib gesungen habe.
Alles was am besten ist, sei nur einer bekannt, ihr, die mich Wie eine Schwester umarmte.
Das ist der Lieder Schluß.

163. Jetzt ist des Hohen Lied gesungen in des Hohen Halle:
Nützlich den Menschenkindern; nutzlos den Riesensöhnen.
Heil ihm, der es singt! Heil ihm, der es kennt!
Glücklich ist der, der es erhält!

(Schlußfolgerung von Gylfaginning)

(König Gylfi, der sich selbst Gángläri nennt, hörte alle diese Dinge.)

Schließlich sprach der Hohe: „Wenn du noch weiter fragen kannst, ich weiß nicht, woher du die Fragen nimmst, denn ich hörte seitdem keine weiteren Berichte über die Bestimmungen der Zeitalter. Erfreue dich daher dessen, was du gelernt hast.“

Gángläri hörte danach einen starken Donner von allen Seiten und schaute durch den Eingang nach draußen; und als er um sich schaute, fand er sich selbst auf einem ebenen Flachland ohne Hof oder Halle in Sicht.

So kehrte er zu seinem Land zurück und erzählte diese Botschaften, die er gehört und gesehen hatte. Und nach ihm wurden diese Sagen von einem zum anderen weitergegeben.

13 – Wafthrudnismál

(Das Lied der Illusion)

Hovern Sie über die Hervorgehobenen Begrife um die Glossareinträge zu lesen.

Anmerkungen der Übersetzerin

Dies ist eine von verschiedenen Balladen und Geschichten, die von der illusorischen Natur der materiellen Welten handelt, worin das Bewußtsein getäuscht wird. Wafthrudnir bedeutet „er, der sich in Rätsel verwickelt“. Es ist ein Thema, das die Fehlbarkeit unserer Sinneswahrnehmungen eingesteht. Hinduschriften heben ebenfalls die trügerische Natur der Materie hervor. Im Sanskrit wird Illusion Māyā genannt, ein Wort, das von abgeleitet wird, was abmessen bedeutet. Es bezieht sich also auf alles, was begrenzt ist, das gemessen werden kann, wie groß oder klein es auch immer sein mag. Dies bezieht sich sowohl auf Raum und Zeit als auch auf alle Dinge, die in der Raum-Zeit existieren. Nur unendlicher Raum in der ewigen Dauer, anfanglos, endlos, grenzenlos und unvorstellbar kann in Wahrheit Realität genannt werden. Die scheinbare Dualität von Raum-Zeit ist selbst illusorisch – ein unvermeidliches Phänomen, das zur endlichen Existenz gehört, wie gewaltig in den Ausmaßen und wie sehr wir es auch jenseits davon im Bewußtsein zu erreichen suchen.

Es ist wichtig zu begreifen, daß Illusion nicht Nichtexistenz bedeutet. Illusion existiert; illusorische Dinge existieren; wir sind von Illusionen umgeben, und sie sind in Wahrheit ein Teil des illusorischen Universums. So gewohnt sind wir, gewisse Irrtümer für Wirklichkeit zu halten, daß wir uns dessen kaum bewußt werden. Die Wissenschaft sagt uns zum Beispiel, daß Materie hauptsächlich aus Löchern besteht – winzige Teilchen, die sich rasch in verhältnismäßig großen Mengen eines scheinbar leeren Raumes bewegen: Unsere Sinne stimmen mit dieser Kenntnis nicht überein, wie eine angestoßene Zehe leicht bestätigen wird. Wir zweifeln jedoch nicht an der Struktur der Materie, die aus Atomen aufgebaut ist, die wir nie gesehen haben. Wir beobachten einen schönen Sonnenuntergang und sehen dem rotgoldenen Lichtglobus zu, wie er hinter dem Horizont verschwindet, obwohl wir uns bewußt sind, daß er bereits acht Minuten früher verschwunden ist, weil das Licht, das wir sehen, acht Minuten braucht, um uns im Mittel über etwa 159,5 Millionen km Entfernung zu erreichen. Wir sehen eine rote Blume, weil sie alle Lichtstrahlen, außer den roten, absorbiert. Was wir sehen sind die Farben, die die Blütenblätter zurückgewiesen haben. Wir nehmen also Dinge wahr, die voneinander verschieden sind. Da die Sinne das Gemüt und die Gefühle einer Person unterrichten, hängt ihr Bericht zum großen Teil von der Haltung, den Stimmungen, dem Verständnis und der voreingenommenen Erfahrung des Individuums ab. Wegen der Unterschiede unseres geistigen Horizontes, scheint jemand, der mehr weiß als wir – ein Spezialist auf irgendeinem Gebiet, das uns nicht vertraut ist – Zauberkunststücke zu vollbringen.

Nichtsdestoweniger muß Wahrheit existieren: Das Universum existiert, folglich existiert auch Wissen über das Universum. In dem Lied der Illusion betritt das Gott-Selbst, Odin, das forschende, prüfende Bewußtsein, die materiellen Welten, indem es durch kosmische Untiefen substantieller Existenz absteigt, um dem Riesen Wafthrudnir zu begegnen und zu „sehen, wie seine Halle eingerichtet ist“, denn durch das Durchqueren der materiellen Sphären gewinnt das göttliche Bewußtsein den Met der Weisheit, der die Götter ernährt. Aber Odin weigert sich, sich auf der Bank in der Halle der Illusion niederzulassen. Das Bewußtsein ist in dieser Sphäre nicht zu Hause.

Während der ersten Hälfte der Geschichte (11–19) fragt Wafthrudnir den Gott: Die Materie wird von dem eintretenden Bewußtsein, das sich selbst Gagnrád (vorteilhafter Rat) nennt, informiert, inspiriert, und sie entwickelt sich durch ihn und lernt von ihm. Im letzten Teil ist es Odin, der lernt, indem er den Riesen fragt, bis bei der letzten Entscheidung der Besucher sich selbst als Allvater zu erkennen gibt. Das ist im wesentlichen der Lauf der Ereignisse, der in vielen Schriften erzählt wird: Erstens, das Spirituelle liefert seine Energien und Impulse der Materie, wobei es Formen für seine Wohnstätte organisiert, aufbaut und sich in ihnen verkörpert. Danach ist es die Materie, die einwärts gezogen wird, sozusagen, indem sie die Substanz für das Wachstum, für die Vervollkommnung und Erweiterung der spirituellen Natur liefert. So sind die zwei Seiten der Existenz für immer verwandt und paarweise angeordnet mit der Tendenz, zuerst die eine Richtung und dann die andere zu sein. Das Bewußtsein, das den Bereich des Riesen betreten hat, obwohl es zeitweise durch die Gewebe der Illusion gefangen wurde, wird, wie Wafthrudnir von Njörd sagt, „mit der Vollendung der Zeitalter … mit der Weisheit des Leides (39) zurückkehren.“ So auch wir.

Wafthrudnir wird gelehrt, und wir werden daran erinnert, daß das Fundament der Götter und jenes der Riesen nur durch den ewig fließenden Strom, genannt Zweifel, getrennt wird, auf dem keine Eisbrücke jemals gebildet werden kann; also, daß das ewige Schlachtfeld (Leben), auf dem die destruktiven und die wohltätigen Kräfte im Menschen und in der Natur kämpfen, für diesen Zweck existiert. Der Gott deutet hier den Lauf der Evolution der Wesenheiten an, wobei die materielle Seite der Existenz Zugang zu dem „Fundament der Wohltätigen Götter“ verschaffen kann.

Danach gibt die Riesenwelt ihre Weisheit preis, wenn Odin die Geschichte der vergangenen Schöpfung seinem Gastgeber entlockt. Vers 23 nennt Mundilföri als den Vater der Sonne und des Mondes und zeigt deren Nutzen als eine Maßeinheit für die Jahre an. Mundilföri ist der „Hebel“ oder die Achse, die die galaktische Sphäre rotieren läßt, der Zentralpunkt, der die Bewegung unserer Milchstraße vermittelt. Die nächste Antwort, in Vers 25, spricht nicht nur vom Tag und der Nacht der Erde sondern auch von den Mondphasen, die auch in der Völuspá genannt werden. Es ist nur ein kleiner Hinweis, aber wir können ohne übertriebene Kühnheit vermuten, daß die Barden einiges Wissens von Astronomie und den jahreszeitlichen Ereignissen besaßen, jedenfalls bedeutend genug, um in den Zeitdokumentationen der Mythen aufgenommen zu werden. Vers 42 ist bemerkenswert enthüllend, wenn wir in Betracht ziehen, daß dies des Riesen Antwort ist: Die Materie von neun Welten ist er, abstammend von den „Höllen unterhalb Niflhel“ – der wurzellosen Wurzel der Materie.

Im Gegensatz dazu, ruht das spirituelle menschliche Element „Leben und Überlebender … im Gedächtnisschatz der Sonne“ während des langen Fimbulvetr, dem kalten Winter der Inaktivität, wenn das Leben mit den Göttern (44) aus unserem Ökosystem gegangen ist. Sie werden mit Morgentau genährt werden und die zukünftigen Zeitalter schaffen.

Hier sehen wir wieder ein neues Leben, das dem Tod der gegenwärtigen Systeme von Welten folgt. Jene, die jetzt die Aesir sind, werden von ihren Nachkommen, einem neuen Thor und einem neuen Odin (in seinem Sohn Widar) gefolgt, die den „Tod“ des Vaters der Zeitalter „rächen“ wollen.

Schließlich enthüllt Odin seine Identität, indem er die unbeantwortbare Frage stellt – unbeantwortbar von jedem außer von der Gottheit selbst: Was hat Odin in das Ohr des toten Sonnengottes geflüstert? Wir mögen uns wundern, welches Geheimnis jenseits des Bereiches des Todes vom Allvater der vergangenen und zukünftigen Welten bewahrt wurde.

Wafthrudnismál

1. ODIN: Rate mir, Frigg, da ich zu Wafthrudnir, dem in Rätseln Starken,33 reisen möchte,
Um ihn in seiner Halle aufzusuchen!
Ich sehne mich danach, die alte Weisheit
Von ihm, dem allwissenden Titan, zu hören.

2. FRIGG: Daheim würde ich Heervater lieber verweilen sehen,
In den Höfen der Götter;
Denn keinen anderen Riesen weiß ich,
Der die gleiche Stärke wie Wafthrudnir besitzt.

3. ODIN: Viel bin ich gewandert, viel habe ich geprüft;
Viel von den verschiedenen Kräften habe ich gelernt.
Nun will ich in Wafthrudnirs Halle erfahren,
Wie es in dieser beschaffen ist.

4. FRIGG: Glück sei mit dir, und dann auf der Rückkehr
Möge Zufriedenheit auf den Wegen sein, die du nimmst!
Noch lasse dich dein Witz im Stich, Vater der Zeitalter.
Wenn du Wafthrudnir in ein Gespräch verwickelst.

5. Also fuhr Odin, um bei einem Diskurs die Weisheit zu Erforschen und den Witz des allwissenden Titanen:
An der Halle von Ims Vater angekommen, trat der Denker umgehend ein.

6. ODIN: Heil dir, Wafthrudnir, hier komme ich
In diese Halle, dich zu sehen.
Zuerst will ich wissen, ob du weise bist
Oder allwissend, Riese?

7. WAFTHRUDNIR: Wer ist der Mann, der in meiner Halle
Solche Worte gegen mich schleudert?
Niemals wirst du diesen Platz verlassen,
Wenn du nicht weise bist.

8. ODIN: Gagnrád34 ist mein Name. Ich kam zu Fuß
Und durstig zu deiner Halle;
Ich bin weit gewandert und brauche ein Willkommen
Und deine Gastfreundschaft, Riese.

9. WAFTHRUDNIR: Warum stehst du, Gagnrád, und sprichst an der Haustür?
Tritt vor und setz dich in die Halle. So werden wir beurteilen, ob der Fremde
Oder dieser alte Barde mehr weiß.

10. GAGNRÁD: Ein armer Mann, der in eines Reichen Haus kommt,
Sollte schweigen oder weise sprechen;
Eitles Geschwätz dient ihm schlecht.
Wer zu einem gefühlskalten35 Gastgeber kommt.

11. WAFTHRUDNIR: Sage mir denn, Gagnrád,
So du auf der Diele dein Glück versuchen willst:
Wie heißt das Roß, das jeden Tag herzieht
Über die Söhne der Ewigkeit?

12. GAGNRÁD: Glänzende Mähne [Skinfaxi] heißt er; der Rosarote
Zieht den Tag über die Söhne der Ewigkeit;
Er wird als das beste Roß von den Menschen gehalten;
Seine Mähne strahlt ewig Sonnenlicht aus.

13. WAFTHRUDNIR: Sage mir denn, Gagnrád,
So du auf der Diele dein Glück versuchen willst;
Wie heißt das Roß, das vom Osten
Die Nacht über wertvolle Mächte herzieht?

14. GAGNRÁD: Frostmähre [Hrimfaxi] heißt das Roß, das jede
Nacht im Raum über wertvolle Mächte herzieht;
Jeden Morgen fällt der Schaum von seinem Zaum:
Davon tropft der Tau in die Täler.

15. WAFTHRUDNIR: Sage mir denn, Gagnrád,
So du auf der Diele dein Glück versuchen willst:
Wie heißt der Strom, der den Grund der Götter
Und Titanen teilt und trennt?

16. GAGNRÁD: Zweifel heißt der Strom, der den
Grund der Götter und Titanen teilt und trennt;
Er wird für immer frei und offen fließen;
Kein Eis bildet sich je auf diesem Fluß.

17. WAFTHRUDNIR: Sage mir denn, Gagnrád,
So du auf der Diele dein Glück versuchen willst:
Wie heißt das Feld, wo die Schlacht geschlagen wird
Zwischen Surt und den wohltätigen Göttern?

18. GAGNRÁD: Wigrid heißt das Feld, wo die Schlacht geschlagen wird
Zwischen Surt und den wohltätigen Göttern.
Eine hunderttägige Reise auf jeder Seite,
Solches Feld ist für sie geschaffen.

19. WAFTHRUDNIR: Weise bist du, Gast. Gehe zu der Bank
Und laß uns sitzend sprechen.
Unsere Häupter wollen wir hier in der Halle wetten.
Auf unsere Weisheit und unseren Witz, Gast.

CAPITULUM

20. GAGNRÁD: Sage mir zuerst, wenn dein Witz ausreicht,
Und, Wafthrudnir, du es weißt:
Woher kamen zuerst die Erde und der Himmel über ihr;
Du kluger Riese?

21. WAFTHRUDNIR: Aus Ymirs Fleisch war die Erde geformt,
Die Berge wurden aus seinem Gebein gebaut;
Aus des eiskalten Riesen Schädeldecke der Himmel,
Und das wogende Meer aus seinem Blut.

22. GAGNRÁD: Sage mir zum andern, wenn dein Witz ausreicht,
Und, Wafthrudnir, du es weißt:
Woher kam der Mond, der über die Menschen wandert,
Oder ebenso die Sonne?

23. WAFTHRUDNIR: Mundilföri ist der Vater des Mondes
Und ebenso der Sonne.
Beide werden jeden Tag am Himmel gegenüber gehalten
Um die Jahre für den Menschen zu messen.

24. GAGNRÁD: Sage mir zum dritten, so du wissend genannt wirst,
Wafthrudnir, wenn du es weißt:
Woher kommen der Tag, der über die Menschen zieht
Und die Nacht mit ihrer Dunkelheit?

25. WAFTHRUDNIR: Die Morgendämmerung [Delling] erzeugt den Tag,
Während die Nacht die Tochter der Abenddämmerung [Nörwi] ist.
Zunahme und Abnahme des Mondes sind die dienlichen Mächte,
Geschaffen zum Zeitmaß der Menschen.

26. GAGNRÁD: Sage mir zum vierten, so du vorherwissend genannt wirst,
Wafthrudnir, wenn du es weißt:
Woher kam der Winter oder der warme Sommer
Zuerst zu den vorherwissenden Mächten?

27. WAFTHRUDNIR: Der Windkalte [Windswal] ist der Vater des Winters
Aber der Milde [Swasud] ist des Sommers Erzeuger;36

28. GAGNRÁD: Sage mir zum fünften, so du die Vergangenheit Wissender genannt wirst,
Wafthrudnir, wenn du es weißt:
Wer von den Aesir als erster oder von Ymirs
Geschlecht in alten Zeiten aufwuchs?

29. WAFTHRUDNIR: Vor unzähligen Jahren, ehe die Erde erschaffen war,
Wurde Bärgälmir geboren;
Sein Vater, so wird gesagt, war Trudgälmir;
Örgälmir seines Vaters Vater.

30. GAGNRÁD: Sage mir zum sechsten, so du wissend genannt wirst,
Wafthrudnir, wenn du es weißt:
Woher Örgälmir unter die Riesensöhne kam
Im Morgengrauen der Zeit, der weise Riese?

31. WAFTHRUDNIR: Aus Eliwágor entsprangen Gifttropfen
Bis sie zu einem Riesen37 wurden.

32. GAGNRÁD: Sage mir zum siebten, so du geschickt genannt wirst,
Wafthrudnir, wenn du es weißt:
Wie erzeugte Nachkommen der kühne Riese,
da er keine Riesin kannte?

33. WAFTHRUDNIR: Nach und nach aus dem Wort des Frostriesen
Wuchsen Mann und Maid gemeinsam;
Fuß mit Fuß paarte sich und gebar dem Riesen
Einen vielhäuptigen Sohn.

34. GAGNRÁD: Sage mir zum achten, so du die Vergangenheit Wissender genannt wirst,
Wafthrudnir, wenn du es weißt:
Was ist das erste, an das du dich erinnerst, oder was dir als frühestes bekannt ist,
Du allweiser Riese?

35. WATHRUDNIR: Vor unzähligen Wintern, ehe die Erde geschaffen war, wurde Bärgälmir geboren;
Das erste, an das ich mich erinnere, ist, daß der vorherwissende Riese in den Mehlkasten38
Gelegt wurde.

36. GAGNRÁD: Sage mir zum neunten, so du schlau genannt wirst,
Wafthrudnir, wenn du es weißt:
Woher kommt der Wind, der über den Wogen weht,
Obwohl er selbst nicht gesehen wird?

37. WAFTHRUDNIR: Räswälg hat sich am Ende der Himmel niedergelassen.
Ein Riese in Adlergestalt;
Von seinen Schwingen werden die umherziehenden Winde angefacht,
Die über der Menschen Schar heulen.

38. GAGNRÁD: Sag mir zum zehnten, Wafthrudnir, wenn du der Götter Los vollständig weißt:
Woher kam Njörd zu den Ása-Söhnen?
Er herrscht über Höfe und Heiligtümer,
Erzeugt vom Ása-Stamm.

39. WAFTHRUDNIR: Im Heim der Wanir schufen ihn weise Mächte
Und sandten ihn als Geisel zu den Göttern;
Am Ende der Zeiten soll er heimkehren
Mit der Weisheit des Leides.

40. GAGNRÁD: Sage mir zum elften, wo die Helden sich jeden Tag
Einander schlagen?

WAFTHRUDNIR: Sie bestimmen den Erwählten, reiten vom Kampf heim
Und sitzen versöhnt beisammen.

41. GAGNRÁD: Sage mir zum zwölften, Wafthrudnir, wie weit, weißt du,
Reicht die Ewigkeit der Götter Schicksal.
Von der Ewigkeit der Runen und der Götter,
Was ist am wahrsten, sag du, allweiser Riese.

42. WAFTHRUDNIR: Von den Runen der Riesen wie auch der Götter
Sage ich die Wahrheit;
Denn ich bin in neun Welten gekommen,
Aus Höhlen unterhalb tiefstem Niflhel.

43. GAGNRÁD: Viel bin ich gewandert, viel habe ich geprüft,
Viel von den verschiedenartigen Mächten habe ich gelernt:
Welche Menschen leben noch, wenn für den Menschen
Der schreckliche Fimbul-Winter endet?

44. WAFTHRUDNIR: Leben und Überlebender, aber sie ruhen verborgen
Im Gedächtnisschatz der Sonne.
Morgentau ist ihre Nahrung, und von ihnen werden geboren
Zukünftige Zeiten.

45. GAGNRÁD: Viel bin ich gewandert, viel habe ich geprüft,
Viel von den verschiedenartigen Mächten habe ich gelernt:
Woher wird die Sonne an einen spurlosen Himmel kommen,
Wenn Fenris diese überfallen [verschlungen] hat?

46. WAFTHRUDNIR: Eine Tochter nur gebar das Elfen-Rad
Ehe Fenris sie überfiel;
Die strahlende Maid wird auf ihrer Mutter Wege fahren,
Wenn die Götter gegangen sind.

47. GAGNRÁD: Viel bin ich gewandert, viel habe ich geprüft,
Viel von den verschiedenartigen Mächten habe ich gelernt:
Wer sind die Mädchen, die über die wäßrige
Wüste unfehlbar den Weg finden?

48. WAFTHRUDNIR: Drei mächtige Flüsse fließen durch die Lande
Der Mädchen des einen Schwiegersohn Suchers39:
Sie sind selbst Hamingjor,
Obwohl sie durch Riesen aufgezogen wurden.

49. GAGNRÁD: Viel bin ich gewandert, viel habe ich geprüft,
Viel von den verschiedenartigen Mächten habe ich gelernt:
Wer von den Aesir bleiben als Götter,
Wenn Surts Flammen erloschen sind?

50. WAFTHRUDNIR: Widar und Wali werden in Heiligtümern der Götter weilen,
Wenn Surts Flammen erloschen sind.
Modi und Magni sollen den Mjölnir schwingen
Und Vingnirs40 Aufgabe erfüllen.

51. GAGNRÁD: Viel bin ich gewandert, viel habe ich geprüft,
Viel von den verschiedenen Mächten habe ich gelernt:
Was wird aus dem betagten Odin,
Wenn der Herrscher Herrschaft beendet ist?

52. WAFTHRUDNIR: Der Wolf wird den Vater der Zeiten verschlingen,
Aber Widar wird kommen, ihn zu rächen;
Widar wird die eisigen Kiefer spalten
Mit Vingnirs heiliger Waffe.41

53. GAGNRÁD: Viel bin ich gewandert, viel habe ich geprüft,
Viel von den verschiedenen Mächten habe ich gelernt:
Was flüsterte Odin in das Ohr seines Sohnes,42
Als letzterer auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde?

54. WAFTHRUDNIR: Keiner weiß, was du in der Vorzeit
Am Scheiterhaufen in das Ohr deines Sohnes sprachst.
Mit dem Tod auf den Lippen habe ich meine Geschichte erzählt,
Runen der Vergangenheit und von Ragnarök.

14 – Thor und Loki in Jotunheim43

(Riesenheim)

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Anmerkungen der Übersetzerin

Diese unterhaltsame Episode muß ein großes Vergnügen für ein Publikum von einfachen Leuten geboten haben. Sie ist anscheinend ein Ereignis in der Geschichte unseres Globus, als eiskalte Winde die Absenkung des Wasserspiegels begleiteten, während die polaren Eiskappen sich über die Kontinente ausbreiteten und noch mehr Wasser des Globus absorbierten. Gleichzeitig gab es eine Änderung in der Position der Midgárd-Schlange des Äquators, oder vielleicht des Bogens der Milchstraße. Es gibt keinen Zweifel, die Ereignisse bezeichnen eine Periode der Vergletscherung, aber welche Eiszeit, das ist noch eine offene Frage.

Dieses Lied hat in einem Punkt eine auffallende Ähnlichkeit mit der Suche der Götter nach dem großen Kessel, was mit Hymirs Lied im Zusammenhang steht (welches noch folgt). In beiden Erzählungen stiftet Loki eine verbotene Tat an, was Thors Zorn auf den erfolglosen Übeltäter heraufbeschwor, aber hier ist es der Sohn des Bauern – ein kleinerer Zyklus –, der die Knochen bricht.

Wie Wafthrudnismál (das Lied der Illusion) kennzeichnet Thors und Lokis Besuch der Riesenwelt die falsche Wahrnehmung, der das Bewußtsein in der Welt der Riesen unterworfen ist. Wir nehmen Dinge nicht so wahr wie sie wirklich sind. Alle Bewußtheiten, sogar die Götter, so scheint es, werden durch die Illusion heimgesucht, die die Existenz in der Materie auszeichnet.

Thor und Loki in Jotunheim

Einst überzog ein eisiges Zeitalter das Festland, zerstörte die Ernte und tötete Menschen und Tiere. Thor, begleitet von Loki, machte sich auf den Weg, um dem Riesen Räswälg Vorhaltungen zu machen, der in Adlergestalt eiskalte Winde über Midgárd fächelte. Sie mußten natürlich einen Umweg nehmen, weil, wie früher bemerkt, Thors Wagen die Regenbogenbrücke Bifrost, welche die Welt der Menschen mit jener der Götter verbindet, nicht überqueren konnte: seine Blitze würden die Brücke in Brand setzen. So durchquerten sie den Fluß Ifing (Zweifel), der die Grenzen zwischen jenen Welten markiert.

Bei Midgárd genossen sie die Gastfreundschaft eines armen Bauern, der zwei Kinder, Thjalfi und Röskwa, hatte. Um das kärgliche Mahl aufzubessern, schlachtete Thor die zwei Ziegenböcke, die seinen Wagen zogen, Tandgniostr und Tandgrisnir (Zahnzermalmer und Zahnknirscher). Er wies seine Begleiter an, die Gebeine unzerbrochen sorgfältig in ihre Häute zu legen. Während des Festmahls flüsterte Loki dem Sohn des Bauern zu, daß er das Knochenmark kosten solle, das, wie er sagte, magische Eigenschaften besäße, und der Junge brach einen Knochen, um der Aufforderung nachzukommen. Am nächsten Morgen erweckte Thor die Tiere mit einem Schlag seines Hammers auf jede der Häute wieder zum Leben, nur, einer seiner Böcke war lahm. In einem Wutanfall drohte der Blitzeschleuderer, den Bauern und seine ganze Familie zu vernichten, aber der alte Mann besänftigte den Gott, indem er seine beiden Kinder als Thors Diener anbot. Daraufhin begleitet Thjalfi (Rede) die Götter auf ihrem Ausflug, während Röskwa (Arbeit) zurückblieb, um ihre Rückkehr abzuwarten.

Eines Abends suchten sie auf ihrer Reise Unterkunft in einem eigenartig gestalteten Gebäude, das zwei Zimmer enthielt; das eine sehr groß, das andere klein. Durch lautes Gebrüll beunruhigt und erschreckt, versteckten sich die Wanderer in dem kleineren der beiden Zimmer. Als sie am Morgen herauskamen, entdeckten sie einen ungeheuren Riesen in der Nähe schlafend: Das Haus war sein Fausthandschuh, das Gebrüll sein Schnarchen. Neben ihm lag sein Proviantsack. Da beide Götter hungrig waren, versuchten sie den Sack zu öffnen, aber sogar Thor war es nicht möglich, die Knoten zu lösen. So wollte er versuchen, den Riesen zu wecken. Dreimal schlug er seinen Hammer gegen den Schädel des Riesen, was den Schläfer veranlaßte, sich zu rühren und etwas von Fliegen zu murmeln. Aber er wurde nicht wach. Die Götter gingen hungrig weiter. Jedoch, von diesem Tag an gibt es drei Täler, die den Berg spalten, auf dem der Riese schlief.

Schließlich erreichten die beiden, Aesir und Thjalfi, das Heim des Königs der Riesen, dessen Name Utgárdaloki Loki-des-äußersten-Hofes bedeutet. Hier wurden die Götter zu einer Reihe von Wettkämpfen herausgefordert. Zuerst maß sich Thjalfi in einem Wettlauf mit dem Begleiter des Riesen, wurde aber schmachvoll abgehängt. Dann bot Loki, der inzwischen einen Bärenhunger hatte, an, jeden Riesen im Essen zu übertreffen. Auch er unterlag, denn, obwohl die beiden gemeinsam mit dem Mahl endeten, hatte der Riese sowohl die Platte als auch das Essen verschlungen. Thor bot an, jedes beliebige Trinkhorn auszutrinken, aber, als er ein riesiges Gefäß ansetzte, gelang es ihm nicht, die Höhe des Inhalts mehr als ein wenig zu senken. Dann sollte er die Katze des Riesen vom Boden aufheben. Beschämt durch solch eine einfache Aufgabe, gelang es ihm trotzdem nicht, auch nur eine ihrer Pfoten anzuheben. Er wollte daraufhin mit einem Riesen ringen und wurde lachend der ältlichen Amme des Riesen gegenübergestellt, die den Blitzeschleuderer leicht auf die Knie zwang.

Nach diesen würdelosen Niederlagen gingen die Götter, um zu ihrer eigenen Sphäre zurückzukehren. Dabei wurden sie ein Stück des Weges von ihrem Gastgeber begleitet, der – als sie das Gelände sicher verlassen hatten – fortfuhr, die Illusionen zu erklären, deren Opfer sie gewesen waren. Obwohl Thjalfi die Schnelligkeit des Blitzes hatte, siegte sein Gegner im Wettlauf mit der Kraft der Gedanken, die ihn leicht hinter sich ließ. Lokis Gegner war Logi (Flamme), der nicht nur das Essen, sondern auch die hölzerne Platte verzehrte. Das Trinkhorn, das Thor nicht leeren konnte, hatte seine Spitze in den Tiefen des Ozeans. Die ganze Riesenwelt hat aus Furcht gezittert, als die Höhe des Wassers sich um einiges verringerte. Die Katze war in Wirklichkeit die Midgárd-Schlange Iörmungandr, die Thor zu einem beunruhigenden Grad bewegt hatte. Was des Riesen ältliche Amme, Elli, anbelangt, so war sie in Wirklichkeit das Alter, das jeden, selbst die Götter im Laufe der Zeit zu beugen vermag.

Als Thor in einem mächtigen Wutanfall seinen Hammer hob, um diese durch Tricks erlittenen Niederlagen zu rächen, konnte weder sein Gastgeber noch irgendeine Stadt auf der flachen Ebene, die sich in alle Richtungen endlos erstreckte, mehr gesehen werden.

15 – Hymiskvädet

(Hymirs Lied)

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Anmerkungen der Übersetzerin

Unser Sonnensystem ist in einem Teil des Raumes beheimatet, von dem wir gewisse Anordnungen von Sternen sehen. Unsere Erde dreht sich um ihre Achse derart, daß jede Seite in der Hälfte der Zeit [eines Tages] mit Sonnenlicht bestrahlt wird und die andere Hälfte der Zeit im Schatten liegt, während wir uns entlang des fast kreisförmigen Weges ihres Umlaufes bewegen. Die Sterne, die wir sehen, sind jene auf der Schattenseite unseres Planeten, das heißt, jene außerhalb des Sonnensystems in der Richtung, der wir nachts gegenüber liegen. Diese Richtung wechselt natürlich mit den Jahreszeiten, so daß wir im Laufe eines Jahres bei einem Umlauf rund um die Sonne nachts allen Sternen begegnet sind, die uns in unserer solaren Nachbarschaft umrundet haben. Jene Sterne, die sich eng auf einer Höhe mit unserer Umlaufbahn bewegen, die Ebene der Ekliptik genannt, sind in 30 Bogengraden gruppiert, und diese Gruppen werden die zwölf Konstellationen des Tierkreises genannt. Gemeinsam bilden sie einen vollständigen Kreis (360 Grad). Unsere Sonne, die in einem Arm einer spiralförmigen Galaxie, die wir die Milchstraße nennen, gelegen ist, wird so von den zwölf „Tieren“ (d. h. belebte Wesen) des himmlischen „Zoos“ umgeben.

Wir brauchen ein klares Bild dieses Szenariums, damit wir erkennen, wie die Erzählung von dem Riesen Hymir an den Auftakt zu einer neuen Verkörperung denken läßt, vielleicht unserer Sonne, vielleicht eines Planeten, wie die Erde. Nach den theosophischen Lehren lebt ein Planet eine Anzahl von Leben mit Ruhepausen, vergleichbar dem Tod, während der Lebenszeit der Sonne. Er macht auch kürzere Ruhepausen, vergleichbar dem Schlaf, innerhalb seiner eigenen Lebenszeit durch. Dieser Ablauf ist analog zu dem des Menschen und anderer Lebenstypen, was sowohl Schlafen und Wachen als auch Tod und Geburt einschließt.

Hymir ist offensichtlich eine Vorstufe in der Bildung eines Himmelskörpers. Seine neun Töchter, oder Äonen, sind die neun Mütter des Gottes Heimdal, des Gottes der Anfänge, der, wie wir gesehen haben, eine Sonnengottheit, ist. Er hat eine besondere Verbundenheit mit der Konstellation Aries, dem Widder, dem Wendepunkt des Anfangs: des Jahres zur Frühjahrs-Tagundnachtgleiche, des zodiakalen Jahres (25920 irdische Jahre) und zu jeder Lebenszeit unseres Planeten. Er wird als der Wind personifiziert, der wie der Widder mit den Hörnern stößt oder mit seinem Kopf schubst. Als Vater von Heimdals neun Müttern repräsentiert Hymir anscheinend den Beginn der gegenwärtigen Verkörperung unseres Sonnensystems innerhalb des umfassenden Planes der Sterne, wo unsere Sonne ihre Heimat hat. Am Lebensende wird er Rymir genannt. Beide Namen deuten auf Ymir hin. Eine universale Vorstellung wird hier auf einen besonderen Fall angewandt.

Ein interessantes Streiflicht kann hier erwähnt werden: In der biblischen Geschichte in Genesis 17 kommt eine Transformation vor mit dem Zusatz des Buchstabens H, dem Hauchlaut, der Atem, Geist, das Lebensprinzip, symbolisiert: Abram wird zu Abraham, und sein Weib Sarai wird zu Sarah. Es ist möglich, daß das Altnordische denselben Brauch benutzte, um die Inspiration, das Einhauchen des Lebens in die Materie anzudeuten, wenn Ymir mit dem Einhauchen der göttlichen Kraft Hymir wird, die unsere Welt mit Leben ausstattet.

In der Erzählung von Hymir haben die Götter durch Weissagung gelernt, daß der Titan Ägir – Raum – für den Met der Erfahrung, durch den sie ernährt werden, sorgen konnte, denn er „besaß diesen Met in Fülle“. Aber als Thor Ägir befahl, ein Festmahl für die Götter vorzubereiten, antwortete der Riese: „Bring mir zuerst einen Kessel dafür. Dann werde ich das Festmahl für die Götter bereiten.“

Da aber kein Kessel groß genug für den Met vorhanden war, wußten die Götter nicht mehr weiter, bis Tyr44 sich erinnerte, daß sein Verwandter Hymir solch einen Kessel besaß. Thor und Tyr machten sich daran, Hymir zu finden und sich den Kessel „nötigenfalls durch Schlauheit“ anzueignen. Auf ihrem Weg durch Midgárd trafen sie Egil, den „Bergbauern, Sohn des Schwachäugigen“ – von Thjazi, die vorherige Evolutionsperiode. Egil wurde damit betraut, sich um die zwei Ziegenböcke zu kümmern, die den Wagen des Blitzschleuderers zogen, und die Götter gingen zu Fuß weiter.

Im Haus des Riesen wurden sie von der Frau begrüßt, die ihnen riet, sich zu verstecken, ehe Hymir in übler Laune eintreffen sollte. Es war schon spät am Abend, als der „mißgebildete rauhe Hymir“ von der Jagd nach Hause kam. Wir werden mit einer reizvollen Kenning bekanntgemacht, die beschreibt, wie „Eiszapfen bei seinem Eintreten klirrten, denn sein Gesichtswald [Bart] war gefroren“ (10). Die Frau versuchte, seine Stimmung zu besänftigen, ehe sie ihm beibrachte, daß ihr junger Verwandter Tyr angekommen sei und „einen edlen Widersacher mit Namen Wior“ mitgebracht habe. Dies hebt die Abneigung des Materie-Riesen hervor, sich auf die Gott-Energie auf eine Weise einzulassen, die Newtons erstes Gesetz der Bewegung ins Bewußtsein bringt: „Ein Körper verharrt im Ruhezustand oder fährt fort, sich mit derselben Geschwindigkeit in derselben Richtung zu bewegen, solange keine andere Kraft auf ihn einwirkt.“

Bei des Riesen wütendem Blick brach der Firstbalken entzwei, und acht Kessel fielen herab, nur einer blieb unzerbrochen. Mit der üblichen (obligatorischen) Gastlichkeit ordnete Hymir an, daß drei Ochsen für das Abendmahl geschlachtet werden sollten. Thor verschlang allein zwei von ihnen, so daß der Riese und der Blitzeschleuderer sich am folgenden Morgen aufmachen mußten, um Fische für ihre Mahlzeit zu fangen. Wior wollte rudern, wenn der Riese einen Köder bereitstellen würde. So lud Hymir Thor witzelnd ein, einen Ochsen aus seiner Herde zu nehmen, wohl wissend, daß das eine ganz unmögliche Aufgabe sei. Thor jedoch vollbrachte das Kunststück ohne Schwierigkeit. Auf See „holte Hymir zwei Wale gemeinsam an Bord“ (21). Thor bekam die Midgárdschlange Iörmungandr an die Angel mit dem Ergebnis, daß Eisberge zitterten, Vulkane ausbrachen und die ganze Welt bebte bis Thor das Ungeheuer der Tiefe zurückgab.

In dieser Geschichte überlappen sich verschiedene Interpretationen, und die Beschreibungen können auf irdische, solarsystematische oder kosmische Ereignisse angewandt werden. Die Midgárdschlange, so wissen wir, stellt den Äquator dar, was immer wieder in der Erdgeschichte aufgezeigt wird. Sie kann auch auf die Ebene der Ekliptik bezogen werden, die der scheinbare Weg der Sonne quer durch den Himmel ist. Sie kann auch die Milchstraße sein, die sich rund um den Himmel mit den Jahreszeiten wie ein enormes Sternenband zu krümmen scheint, das in die „Wasser“ des Raumes eingetaucht ist. Die Schlange ist einer von Lokis drei gefürchteten Nachkommen; die anderen zwei sind Fenris, der Wolf, der die Sonne am Ende ihrer Lebenszeit verschlingen wird, und Hel, die kalte, halbblaue Königin der Todesbereiche.

Hymir war durch den Erfolg des Gottes verstimmt. Lange Zeit sprach er kein Wort, aber er „steuerte das Ruder in die falsche Richtung“ (25). Das kann auf einen Wechsel in der Anordnung der beobachteten Sterne hindeuten, entweder durch die Einführung eines neuen Körpers oder durch die Zerstörung eines früheren Planeten. Es kann auch einfach einen Wechsel der Neigung der Polarachse der Erde bedeuten – etwas, von dem bekannt ist, daß es viele Male stattgefunden und Spuren in der magnetischen Ausrichtung von Gesteinen hinterlassen hat. Es gibt keine Erwähnung einer weiteren Richtungsänderung, doch erreichte das Boot bald seinen Landungsplatz. Hymir bat den Gott „entweder die Wale zum Dorf zu tragen oder den Wasserbock [das Boot] am Ufer festzubinden“ (26).

Wir hatten bis jetzt unsere Aufmerksamkeit auf eine sehr kuriose Reihe von Dingen gelenkt: Wir sehen nebeneinandergestellt einen „Wasserbock“, einen rudernden Mann, einen Fisch, den Widder, den Ochsen oder Stier und die „zwei Wale gemeinsam.“ Übersetzt in die alten üblichen Beschreibungen der Tierkreiskonstellationen erkennen wir in ihnen Steinbock beziehungsweise Wassermann, Fische, Widder, Stier und Zwillinge, alle stehen gemeinsam für die Störung der Midgárdschlange. Diese Bedeutung ist unverkennbar, weil wir feststellen, daß diese sechs aufeinanderfolgenden Konstellationen 180 Grad des Himmels überdecken, das heißt, einen halben Kreis, oder soviel wie auf einmal gesehen werden kann. Kann dieses Zusammentreffen nur reiner Zufall sein?

In das Haus des Riesen zurückgekehrt, wurde Thor herausgefordert, ein Trinkgefäß zu zerbrechen, aber obwohl er den Kelch mit aller Kraft gegen eine Säule schleuderte, blieb er ganz, während die Säule entzweibrach. Als die Frau des Riesen Thor zuflüsterte, daß er den Pokal am Schädel seines Gastgebers zerbrechen sollte, da es keine härtere Substanz gäbe, tat der Áse so wie ihm gesagt wurde mit dem Ergebnis, daß „ganz blieb des Riesen Helmspitze, aber der Rand des Weinkelches entzweibrach“ (31). Danach waren die Götter frei, das Gefäß davonzutragen, jedoch nicht ohne zuvor die gigantische Horde des Riesen zu überwältigen, die ihnen folgte. Das konnte natürlich durch Mjölnir, Thjors Hammer, bewältigt werden.

Als sie den Platz erreichten, wo Egil, der Unschuldige, sich um Thors Ziegen kümmerte, war eines der Tiere lahm, geradeso wie in der vorangegangenen Erzählung. Loki hatte den Bauern überredet, einen Markknochen zu brechen. Auch hier wurde der Zorn des Blitzeschleuderers nur besänftigt, als Egil seine beiden Kinder Thor als Diener anbot. Daher wird Hlorridi, der irdische Aspekt von Thor, sobald er auf Erden gefunden wird, von Thjalfi (Geschwindigkeit) und Röskwa (Tat), den Kindern des Egil, des „unschuldigen Bergbauerns“, begleitet, die ihm als einfache Mittel der vitalen Elektrizität dienen.

Die Suche nach dem Kessel von Hymir ist ein Lied, das immer wieder gelesen werden kann, ohne daß „eine Glocke“ des Verstehens „läutet“. Erst wenn wir den Schlüssel der zeitlosen Kosmologien anwenden, erkennen wir, wie die Idee übermittelt worden sein könnte, daß die Götter den geeigneten Platz für die Wiederverkörperung eines Sternes oder Planeten suchten. Der Kessel scheint ein besonderes Raumvolumen darzustellen, das gewisse Anforderungen befriedigt. Eine solare oder planetarische Bewußtheit, die ins Leben treten soll, muß ihre geeignete Heimstatt finden, und dies wird definiert als der Platz, von dem aus gewisse umgebende Sterne sichtbar werden. Das ist, wenn Sie darüber nachdenken, nur ein Weg, um einen besonderen Standort im Raum zu definieren, und das heißt, seine Umgebung zu beschreiben. Der Kessel von Hymir wird hier genau festgelegt durch die Benennung von sechs aufeinanderfolgenden Tierkreiskonstellationen, die eine Hemisphäre oder die Hälfte des Himmels umspannen, wie er von unserem Sonnensystem aus erscheint.

So erzählt Hymirs Lied anscheinend von einem Himmelswesen, das sich vorbereitet, in eine neue Manifestation einzutreten: Es sucht durch den Wunsch nach Leben (Tyr) und vermittels der elektromagnetischen Lebenskraft (Thor) seinen eigenen alten Lebensraum (Kessel) wieder. Dieser höchst geniale Kunstgriff demonstriert wieder und gut die Methode, die von den Weisen angewandt wurde, um ihr Wissen durch die Mittel der Überlieferung zu bewahren. Menschen, die selbst höchst unfähig sind, auch nur die einfachsten Anekdoten zu begreifen, konnten so als unwissende Übermittler von wissenschaftlichen Tatsachen benutzt werden. Das Zerbrechen des Firstbalkens bei des Riesen grimmigen Blick und die Zerstörung von allen Kesseln außer einem, die an dem Balken hingen, berührten zweifellos viele von ihnen als sehr komisch. Aber innerhalb des Scherzes kann die Aufzeichnung eines astronomischen Ereignisses von ehrfurchtgebietenden Ausmaßen gesichert worden sein, als die polare Rotationsachse eines globalen oder universalen Systems umkippte und nur einen „Kessel“ oder unzerbrochenen Behälter zurückließ: die Örtlichkeit, wo ein Globus in dem Raum wiedergeboren wird, den er früher einmal innehatte. Thors Einfangen und Freilassung der Midgárdschlange bekräftigt das gleiche Bild der Ereignisse.

In Ásgárd erwarteten die Götter den geräumigen Kessel, als „zum Ting der Götter der siegreiche Thor kam und Hymirs Kessel mitbrachte“. Jetzt trinken die Götter feierlich mit Ägir jeden Herbst, „wenn das goldene Korn eingesammelt wird“, wie in manchen Versionen übersetzt wird. Wie man sagt, ist die Ernte der Höhepunkt jeder Aktivitätsperiode, jeweils eines Tages, eines Lebens oder eines Äons. Sodann nehmen die Götter den mystischen Met zu sich, der in dem Raum gebraut worden war, in dem eine Welt gelebt hat und gestorben ist.

Hymiskvädet

1. Die Götter der Wahl45 hatten eine gute Jagd,
Aber sie dürsteten sehr, bevor sie satt waren;
Sie schüttelten die göttlichen Stäbe, besahen die Zeichen,
Und fanden, daß Ägir reichlich Kost hatte.

2. Der Bergbauer saß draußen, froh wie ein Kind,
Scheinbar der Sohn des Schwachäugigen;
Yggs46 Sohn sah ihm in die Augen:
„Du sollst häufig ein Festmahl für die Aesir zubereiten.“

3. Angst ergriff den Riesen bei den schroffen Worten des Kriegers;
Er plante Rache gegen die Götter;
Er begehrte von Sifs Gatten47, ihm den Kessel zu bringen,
„Dann werde ich euch das Bier brauen.“

4. Aber nirgendwo mochten die edlen Götter
Oder der weise Wanir ihn finden;
Bis der treue Tyr Hlorridi48
Diesen freundlichen Rat gab:

5. „Im Osten der Eliwágor wohnt
Der vielweise Hymir an des Himmels Ende:
Mein kampfliebender Vater besitzt einen solchen Kessel.
Einen geräumigen Braukessel Meilen tief.“

6. „Glaubst du, wir könnten den Saftkocher bekommen?“
„Wenn wir List anwenden.“

7. Sie wanderten denselben Tag eine lange Tagesreise
Von Ásgárd fort, um Egil zu erreichen;
Er hütete die gehörnten Böcke,
Als sie zu Hymirs Halle eilten.

8. Der Sohn49 fand seiner Mutter Mutter,
Die grauenhafte mit 900 Häuptern;
Aber hervor kam eine andere, goldgeschmückte Frau
Mit hellen Brauen, um ihrem Sohn Met zu bringen.

9. Die Frau: „Nachkommen der Titanen,
Ich will euch unter einem Kessel verbergen, ihr edlen Zwillinge;
Oft ist mein Mann gram den Gästen
Und übler Laune.“

10. Spät abends kam der mißgebildete Hymir
Von der Jagd heim;
Eiszapfen klirrten als er eintrat,
Denn des Mannes Gesichtswald [Bart] war gefroren.

11. „Heil dir, Hymir, sei sanften Muts!
Der Nachfahr ist gekommen in deine Halle;
Den wir erwartet von weit her;
Mit ihm kommt ein edler Widersacher, Freund der Krieger, Wior mit Namen.

12. „Sieh sie unter dem Giebel,
Schutz suchend, ängstlich, hinter dem Pfosten.“
Bei dem Blick des Riesen allein, barst die Säule,
Und über ihr der Dachbalken brach entzwei.

13. Acht Kessel fielen von der Firststange herunter;
Nur einer, hart gehämmerter, blieb unzerbrochen.
Die Gäste schritten vor, als der grimmige alte Riese
Mit finsterem Blick seinem Widersacher folgte.

14. Nichts Gutes ahnte er
Als draußen auf dem Boden
Er den Schrecken der Riesen stehen sah.
Er gebot drei Ochsen zu schlachten und zu braten.

15. Jeder von den dreien wurde um einen Kopf kürzer gemacht
Und zum Grillen weggetragen; Sifs Gemahl allein
Verzehrt vor dem Schlafengehen
Zwei von Hymirs Ochsen hierbei.

16. Hrungnirs alter Verwandter50 dachte,
Daß Hlorridis Mahl zu üppig ausgeteilt wurde.
„Morgen müssen wir drei, glaube ich,
Fische zum Essen finden.“

17. Wior war willens, auf dem Wasser zu rudern,
Wenn der kühne Riese für den Köder sorgte.
„Geh zu meiner Herde, wenn das Herz du hast,
Du Berg-Riesen-Zerschmetterer, um den Köder zu holen!
Ich erwarte, obwohl du es nicht leicht finden wirst,
Den Köder von meinen Ochsen zu holen.“

18. Der Gott eilte unbekümmert zum Wald,
Wo allschwarzer Ochse stand;
Der Thursen Fluch51 brach vom Bullen
Dem hohen Sitz [dem Haupt] beide Hörner.

19. Sprach Hymir: „Du Wagen-Meister52
Bist schrecklich,
Wenn du ruhig bist;
Deine Taten sind weit schlimmer.“

20. Der aufblitzende Gebieter der Böcke bat den Affensproß,
Weiter hinaus zu rudern,
Aber der Riese hatte keine Lust,
Weiter zu rudern.

21. Der mächtige Hymir hob an Bord des Schiffes
Ein Paar Wale gemeinsam;
Aber im Heck fertigte Sifs Wior
Listig eine Leine sich.

22. Der Retter der Menschen, der Schlange Fluch,
Steckte des Ochsen Kopf an den Haken;
Da schnappte nach dem Köder der eine, den die Götter hassen,
Der in den Tiefen sich um alle Länder schlängelte.53

23. Dann zog der tapfere Thor mutig
Die giftige Schlange zum Schiffsrand auf;
Er schlug mit seinem Hammer verächtlich
Auf den Scheitel des Kopfes von Wolfs54 fürchterlichem Bruder.

24. Berge krachten,
Die Felder schrieen laut;
So brach die frühere Welt zusammen;
Die schleimige Schlange sank in die See.

25. Unglücklich war Hymir
Als sie heimwärts ruderten;
Lange Zeit sprach der Riese kein Wort;
Er steuerte das Ruder in die falsche Richtung.

26. Da sprach Hymir: „Willst du die Arbeit
Mit mir teilen:
Trage du die Wale heim zum Dorf,
Oder binde den Wasserbock [das Boot] am Ufer fest.“

27. Hlorridi55 ergriff den Bug und zog das Seepferd56 ans Ufer
Mit Spriet, Ruder und Eimer;
Des Riesen Wogen-Eber57 trug er zum Dorf
Durch dunkle Waldpfade.

28. Aber der Riese von starrsinniger Gewohnheit
Wetteiferte mit dem Gott;
Er sagte, der Mann sei nicht stark, doch ein kräftiger Ruderer,
Wenn er ein Trinkgefäß zerbrechen könne.

29. Hlorridi schleuderte den Kelch auf der Stelle,
Die Steinsäule bekam einen Riß, aber der Pokal blieb ganz;
Sitzend [geschleudert] durchbrach er die Säulen der Halle,
Doch ganz war der Kelch, den er seinem Gastgeber aushändigte.

30. Schließlich gab des Riesen Nebenfrau, eine freundliche Frau,
Diesen Rat, alles was sie wußte:
„Schlage mit ihm auf Hymirs Schädel;
Er ist härter als jeder Kelch.“

31. Thor sprang auf, machte sich bereit,
Sammelte seine Ása-Kraft:
Ganz blieb des Riesen Helmspitze;
Der Rand des Weinkelchs brach entzwei.

32. Sprach Hymir: „Ich habe den kostbaren Schatz verloren,
Sehe den Kelch, zerbrochen, von meinem Schoß gefallen;
Dieses Wort kann ich nimmer ungesagt machen.
Dieser Schluck war zu bitter.

33. „Du darfst den Kessel aus dem Hof
Wegtragen, wenn du kannst.“
Zweimal versuchte Tyr ihn zu bewegen,
Aber er stand fest und unbeweglich.

34. Modis Vater58 aber griff den Rand
Mit solcher Kraft, daß sein Fuß den Fußboden durchbrach.
Sifs Gemahl hob ihn auf sein Haupt;
Die Henkel klirrten gegen seine Fersen.

35. Sie waren noch nicht weit gekommen
Als Odins Sohn zurücksah;
Er sah Hymirs Horden sich nähern
Aus Höhlen im Osten, Hunderte an Häuptern.

36. Er ließ den Kessel herunter, setzte ihn nieder
Und griff mit Mjölnir die mörderische Menge an.
Er schlug die schrecklichen Steinriesen,
Die mit Hymir hinter ihm her eilten.

37. Sie wanderten nicht lange, als Hlorridis Bock
Taumelte und halb tot vor ihnen niederfiel;
Das schwerfällig gehende Tier war lahm;
Dies hatte Loki verschuldet.

38. Aber ihr habt gehört, wer auch immer
In göttlichen Zaubersprüchen bewandert ist,
Kann leicht sehen den Lohn, den er von dem Ackersmann empfing,
Der seine beiden Kinder einbüßte.

39. Zum Ting der Götter kam der siegreiche Thor
Und brachte Hymirs Kessel mit;
Jetzt trinken die Götter feierlich mit Ägir jeden Herbst,
Wenn das goldene Korn eingesammelt wird.

16 – Grimnismál

(Grimnirs Lied)

Hovern Sie über die Hervorgehobenen Begrife um die Glossareinträge zu lesen.

Anmerkungen der Übersetzerin

Dies dürfte vielleicht die klarste Instruktion sein, die die Zusammensetzung der Welt betrifft, die in einer noch vorhandenen Mythologie gefunden wird. Sie läßt sich gut mit den Beschreibungen der inneren Natur unseres Universums vergleichen, die in anderen Quellen gefunden werden können. Zum Beispiel in der Kabbala und den persischen und hinduistischen Schriften. Tatsächlich, wenn wir Die Geheimlehre als einen Prüfstein anwenden, ist Grimnirs Lehre überraschend freimütig.

Odin in Verkleidung (Grimnir bedeutet maskiert, verkleidet) erklärt seinem Schüler Agnar die Konstruktion unseres Universums, angefangen von den erhabensten Ebenen der Gottheit bis zu den tiefsten materiellen Welten. Er rundet das bruchstückhafte Bild ab, das in Völuspá in bezug auf die in einem Universum ablaufenden schöpferischen und destruktiven Prozesse gezeichnet wurde. Die Astrologie der Mythen befaßt sich nicht mit Geburtstabellen und persönlichen Prophezeiungen. Sie beschäftigt sich mit den Eigenschaften lebendiger Welten, mit dem Charakter und den Funktionen ihrer planetarischen Gottheiten und den gegenseitigen Beziehungen und Vitalkräften, die durch die Himmelskörper zwischen ihnen zirkulieren.

In Grimnismál finden wir die zwei frühesten Rassen der Erde, die unter der direkten göttlichen Aufsicht heranwachsen: Agnar, der Ältere, wurde von Frigg, Mutter der Aesir, erzogen und Geirröd, der Jüngere, von Odin. Allvater veranlaßt Geirröd, Agnar von seiner Stelle zu verdrängen – die zweite Menschheit die erste abzulösen. Es gibt eine exakte Parallele im Alten Testament, wo von Rebecca erzählt wird: „Zwei Völker sind in deinem Schoß und zwei Arten von Menschen … ein Volk soll stärker sein als das andere Volk; und das ältere soll dem jüngeren dienen (Gen. 25:23). Dann folgt die Familiengeschichte von Esau, der sein Geburtsrecht [Erstgeburt] an seinen jüngeren Bruder verkaufte.

Die dritte Menschheit wird durch den Sohn von Geirröd symbolisiert, auch Agnar genannt, der durch Grimnir instruiert wird, jetzt Väratyr (Gott des Seins oder Gott-der-ist) genannt. Der Junge, der dieses Privileg durch einen Akt der Gefälligkeit erlangt hat, wird über die Formation und Zusammensetzung des Sonnensystems unterrichtet: seinen „Schelfen“ der Substanz, sichtbare und unsichtbare – „Ebenen“ der theosophischen Literatur – und den Höfen, Hallen oder Häusern, die die Wohnsitze ihrer entsprechenden Götter sind. Die Charakteristika dieser Wohnsitze göttlicher Mächte werden sehr genial vorgebracht, obwohl keine Worte ein genügendes Verständnis ihrer Eigenschaften geben können: Das menschliche Bewußtsein nimmt einfach keine Schwingungen auf, ob nah oder fern, die außerhalb des Bereiches unserer Sinneswahrnehmungen auftreten. Bis wir die entsprechenden Sinne entwickelt haben, die solche Substanzen wahrnehmen können, müssen wir damit zufrieden sein, die Sphären als geeignete Wohnstätten für die Mächte anzusehen, die sie benutzen.

Die erste Welt wird Thrudheim genannt – „ein heiliges Land nahe den Aesir und den Elfen“ (4). Ihr Gott, Thrudgälmir, ist jener Aspekt der dreieinigen Gottheit, der Vishnu, der erhaltenden Macht der trimurti59 oder göttlichen Triade entspricht. Die anderen zwei sind Örgälmir, der, gleich Brahmá der Hindu, die ausströmende, expansive Kraft, der „Schöpfer“ ist, während der dritte, Bärgälmir, der Ertrag eines Lebens, Śiva, dem Zerstörer-Regenerator gleicht. Die drei sind eindeutig untrennbar, da sie die drei Aspekte der Antriebskraft sind, ob in einem Universum oder in irgendeiner anderen Wesenheit, die sich selbst als ständiger Wechsel ausdrückt. Die Beschreibungen der zwölf Wohnstätten der Götter sind Gegenstand von vielen Interpretationen. Sie können für die zwölf Richtungen im Raum angewendet werden, die höchst allgemein als die zodiakalischen Kräfte, und auch für die planetarischen Kräfte, durch deren modifizierende Eigenschaften diese Einflüsse gefiltert werden ehe wir sie empfangen. Sie können sich auch auf die unsichtbaren Eigenschaften unserer irdischen Gottheit beziehen, die alle den oben genannten entsprechen und durch diese näher bestimmt werden. Analogie ist ein einleuchtender Führer, Mythen zu verstehen, vorausgesetzt, sie wird nicht verzerrt dargestellt oder führt zu Extremen. Was die zwölf Gottheiten anbelangt, die in Grimnismál genannt werden, so variieren sie stark in ihren Merkmalen. Es überrascht nicht, daß derart verschiedene Charaktere, wie Ull und Thrym, einbezogen sind, die jeweils die höchste spirituellste Lebenssphäre unseres irdischen Systems darstellen und auch die am tiefsten in die Materie versunkene, den Globus, den wir gegenwärtig bewohnen.

Es ist gut, uns daran zu erinnern, daß wir an den qualitativen Kräften teilhaben, die unendlich viele verschiedene Charakteristika, nicht Persönlichkeiten, wie groß auch immer, besitzen. Wenn wir die kosmischen Prozesse und ihre dynamischen Kräfte auf ihren eigenen Ebenen studieren könnten, würden wir sie so vielleicht wahrnehmen, aber von unserem menschlichen mikrokosmischen Standpunkt aus können sie nur schwach als zu unserem Sonnensystem gehörende Prinzipien vorgestellt werden. Die Figuren in den Mythen sind vermenschlicht – sogar durch bloße Nennung – und können uns nur die undeutlichste Annäherung ihrer wahren Charaktere und Funktionen geben. Gerade so liefert die Tierkreissymbolik nur die schwächsten Andeutungen, was die verschiedenen Einflußbereiche betrifft, die die verschiedenen Richtungen im Raum beherrschen. Wir sind einfach nicht dafür ausgestattet, sie zu unterscheiden.

Die Lieder sind nicht immer der Reihe nach klar, und wir finden uns plötzlich in eine oberflächliche Erwähnung von Walhalla gestürzt, in der Odins Krieger mit den drei Ebern genährt werden – den Ergebnissen ihrer Siege auf Erden, die, wie wir gesehen haben, durch einen Eber sowohl im Altnordischen als auch in anderen Mythologien symbolisiert werden. Ihre Namen, Andhrimnir, Sährimnir und Eldhrimnir, beziehungsweise Atem (Luft, Geist), See (Wasser, Gemüt) und Feuer (Hitze, Wunsch und Wille), bilden ein Symbol innerhalb eines Symbols, da diese Merkmale Natur und Mensch gemeinsam betreffen. Wenn Vers 18 frei wiedergibt: „Der Geist läßt das Gemüt von Wunsch und freiem Willen durchdrungen sein; wenige wissen, was die Einherjer ernährt“, so ist die Schlußfolgerung, daß die Besieger des Selbst durch eine zunehmende und entschlossene Sublimierung der Wünsche und des Willens ernährt werden. Das ist Psychologie von hohem Rang. Sie liefert Substanz und Bestimmung für die menschliche Evolution als fortschrittliche Veränderung und bietet einen mächtigen Anreiz für das Wachstum der menschlichen Seele. Weit über die Vorstellung hinaus, daß die Evolution nur die Körper betrifft, gibt es dabei die Erkenntnis, daß das, was evolviert, das Bewußtsein der Wesen ist, und daß im Menschenreich der freie Wille einen bedeutsamen Teil in diesem Prozeß spielt. Die Instruktion und das Training von Agnar hat als ihre praktische Anwendung die Förderung des Verstehens der Rolle, die sie – die menschliche Seele – im kosmischen Drama zu spielen hat.

Odin beschreibt seine zwei Wolfshunde, Geri und Freki (19), als seine treuen Begleiter. Er füttert sie, Gier und Völlerei, obwohl er selbst nur von Wein allein lebt. Wein oder Met werden verwendet, um Weisheit anzudeuten. So unterstützt und benutzt der Gott die tierische Natur, obwohl er sich selbst nur durch Weisheit erhält. Das Neue Testament bietet eine Parallele in der bekannten Geschichte von der Hochzeit zu Kanaan, wo Jesus Wasser (rituelle Einhaltung) in Wein (spirituelles Lehren) umwandelt. Odins Raben, Hugin und Munin, beschreiben auch Bewußtseinsaspekte, die zur Gewinnung von Erfahrung erforderlich sind. Hugin bedeutet Gemüt [mind] in allen mit diesem Wort verbundenen Assoziationen: mentales Leistungsvermögen ist nur eines seiner Bedeutungen. Es kann auch für Zweck, Absicht, Stimmung, Haltung, Veranlagung angewandt werden – alle gelten für Hugin. Auch Munin hat viele Bedeutungen. Das Gedächtnis ist das wichtigste von ihnen. Ohne Gedächtnis gäbe es keine Veränderung des Denkvermögens [mind]. Durch eine solche Modifikation, die von der sich anhäufenden Erfahrung bewirkt wird, wird Intelligenz genährt und Leistungsfähigkeit erlangt. Der Charakter wird verändert und die Evolution geht voran. Wir bauen stets auf dem Bewußtsein vergangener Erfahrungen auf. Aber mehr als das: Munin bedeutet auch Motivation, den Hauptfaktor in der Ausrichtung des Denkens und der anschließenden Handlung. Es ist Hugin, der auf seinen Ausflügen Gefahr läuft, gefangenzuwerden, aber die Angst um Munin ist ewig.

Allvater spricht vom Thund, dem Strom der Zeit, der den Walhalla umgebenden Wassergraben bildet. Darin tollt Thjodwitnirs Fisch – die Menschheit. Thjodwitnir ist einer von Fenris Namen, dem von Loki gezeugten Wolf, die brutale Ausgeburt des zügellosen Gemüts. Es ist der Werwolf, der ewig nach den menschlichen Seelen fischt, um sie vom rechten Weg abzubringen. Diejenigen, die erfolgreich den Strom überqueren, werden dem „Tor der Wahl“ oder dem „Tor des Todes“ gegenübergestellt, dessen Riegel nur von wenigen geöffnet werden kann und das, wie wir gesehen haben, zu der Halle der Auserwählten – Walhalla – führt.

Grimnir erklärt dann seinem Schüler, wie der Lebensbaum beschaffen ist und die Gefahren, denen er sich aussetzt. Es gab bisher keinen Versuch, die Namen der Lebensströme oder der Kampfrosse der Götter zu übersetzen. Es genügt, daß unter ihnen solche Benennungen wie Wegekundig und Krieg (in verschiedenen Formen) sind, welche die Eigenschaften der verschiedenen Reiche von Wesenheiten und ihre Stellung auf der evolutionären Skala andeuten. Dann folgen die Namen der Rosse der Götter. Nur wenige der klareren Bedeutungen werden vorgebracht. Nicht übersetzte Namen, ausgenommen jene, die anderswo erklärt wurden, werden in Kursivschrift wiedergegeben.

Die „schließliche Segnung Ulls von demjenigen, der zuerst das Feuer berührt“, bedeutet ein Versprechen der menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit. Es ist ein Wink, daß die unmanifestierte Welt von Ull – der Höhepunkt der Gottheit in dem System, zu dem unsere Erde gehört – erreichbar ist. Das „Feuer“ dieser unerschaffenen „kalten“ Welt von reinem Bewußtsein kann schwerlich in Ausdrücken erklärt werden, die in unserer Existenz verständlich wären, aber die Worte geben uns eine dunkle Ahnung von dem Bereich, zu dem unser essentielles Selbst gelangen kann.

Die Schlußverse von Grimnismál bedürfen keiner Erklärung. In ihnen enthüllt der Vater der Götter und der Menschen seine vielen Namen und erreicht seinen Höhepunkt mit den aufschlußreichen Worten: „der Öffner und der Schließer, alle sind eins in mir.“

Grimnismál

König Rödung hatte zwei Söhne; der eine hieß Agnar, der andere Geirröd. Agnar war zehn Winter, Geirröd acht Winter alt. Beide ruderten auf einem Boot und fischten, als der Wind sie in die See hinaustrieb. In der Dunkelheit strandeten sie, gingen an Land und trafen einen armen Bauern, der ihnen für den Winter Unterkunft gab. Die Frau pflegte Agnar, aber der Mann lehrte Geirröd. Als der Frühling kam, gab der Mann ihnen ein Schiff. Aber als er und seine Frau sie an den Strand brachten, sprach der Mann allein mit Geirröd.

Sie hatten günstigen Wind und gelangten bald zu ihres Vaters Anlegeplatz. Geirröd war vorn am Bug; er sprang an Land, stieß jedoch das Schiff weg und sagte: „Geh hin, wo dich die Trolle fassen können!“ Das Schiff trieb in die See.

Geirröd stieg hinauf nach Hause und wurde wohl empfangen. Sein Vater war gestorben und Geirröd wurde an seiner Statt König und ein vortrefflicher Mann.

Odin und Frigg saßen auf Hlidskjalf60 und überschauten die Welt. Da sprach Odin: „Siehst du Agnar, deinen Pflegesohn, wie er in einer Höhle mit einem Riesenweib Kinder zeugt? Aber Geirröd, mein Pflegling, ist ein König und herrscht über die Länder.“ Frigg erwiderte: „Er ist so geizig, er läßt seine Gäste hungern, wenn sie zu zahlreich sind.“ Odin sagte, das sei eine große Lüge. Da schlossen sie eine Wette hierüber ab. Frigg sandte ihre Magd Fulla61 zu Geirröd, um ihn vor einem Zauberer zu warnen, der bei Nacht kommen und sein Unwesen treiben würde, und sie fügte ein Zeichen hinzu, damit kein Hund, wie bissig er auch immer sei, diesen Mann angreifen würde. Es war aber die größte Unwahrheit, daß es König Geirröd an Gastfreundschaft mangele, aber er ließ den Mann, über den Hunde keine Macht besaßen, gefangennehmen. Der Mann trug einen blauen Fellmantel und nannte sich Grimnir.62

Er wollte nicht mehr über sich sagen, auch wenn sie ihn noch so sehr fragten. Der König ließ ihn peinigen und setzte ihn zwischen zwei Feuer. Da blieb er acht Nächte.

König Geirröd hatte einen Sohn, zehn Winter alt, den er Agnar nach seinem Bruder nannte. Agnar ging zu Grimnir, gab ihm ein mit Getränk gefülltes Horn und sagte, sein Vater täte übel, daß er einen unschuldigen Mann peinigen ließe.

Grimnir leerte das Horn; da brannte sein Mantel. Er sprach:

1. „Heiß bist du, Feuer, und viel zu stark!
Laß’ uns scheiden, Flamme!
Das Fell verkohlt, obwohl ich den Saum hochziehe.
Der Mantel beginnt zu brennen.

2. Acht Nächte saß ich zwischen Feuern hier
Und keiner brachte mir Nahrung;
Agnar nur, er allein soll herrschen,
Geirröds Sohn, im Land der Goten.

3. Heil dir, Agnar, in allen Dingen
Väratyr63 wünscht dir Glück!
Denn nur für einen Trank sollst
Du je eine größere Belohnung erhalten.

4. Ein heiliges Land sehe ich liegen
Den Aesir nah und nah den Elfen;
Aber in Thrudheim soll Thor wohnen
Bis der Herrscher Herrschaft zerbrochen ist.

5. Regentäler nannten sie jene bewaldeten Täler,
Wo Ull64 seine Halle errichtet hat;
Elfheim gaben die Götter Freyr im
Anfang der Zeit als Morgengabe.

6. Eine dritte Wohnstatt gibt es,
Wo gütige Mächte die Halle mit Silber bedeckten;
Schelf der Erwählten hat sich der Áse aus Weisheit
In der Dämmerung der Zeit erbaut.

7. Tiefer Strom ist die Vierte;
Daraus fluten kühle Wogen;
Dort trinken Odin und Saga ewig
Aus goldenen Pokalen.

8. Gladsheim heißt die fünfte, wo golden schimmert
Die Halle der Erwählten.
Da krönt Odin täglich die Verleumdeten,
Jene in der Schlacht Getöteten.

9. Leicht erkannt werden kann von jenen, die zu Odin kommen, diese Halle;
Ihr Bau besteht aus Speeren, überdacht mit Schilden,
Die Bänke sind mit Brünnen [Harnischen] bestreut.

10. Leicht erkannt werden kann von jenen, die zu Odin kommen, diese Halle;
Ein Wolf hängt am westlichen Tor,
Bluttropfend über ihm ein Aar.

11. Die sechste ist Thrymheim, wo Thjazi hauste,
Der mächtige alte Riese;
Nun baut Skadi, die schlanke Götterbraut,
Auf ihres Vaters ehemaligem Boden.

12. Breitblick heißt die siebente, wo
Balder seine Hallen aufstellte;
In jenem Land, ich weiß,
Sind die wenigsten schädlichen Runen.

13. Himmelsberg heißt die achte, wo Heimdal
Der Heiligtümer walten soll;
Der Wächter der Götter trinkt mit Freude
Met in diesem glücklichen Haus.

14. Volkwang ist die neunte. Freyja herrscht hier
Und weist die Sitze in der Halle zu;
Täglich begrüßt sie die Hälfte der Erwählten.
Odin hat die andere Hälfte.

15. Die Scheinende ist die zehnte, gestützt auf goldenen Säulen
Und überdacht mit Silber.
Forseti verbringt da seine Tage
Und richtet weise allen Streit.

16. Schiffshimmel ist die elfte,
Wo Njörd sich seine Halle eingerichtet hat;
Der Männerfürst, der harmlose,
Herrscht über hoch gebauter Heiligkeit.

17. Verborgen im Dickicht und hohem Schilf
Liegt das Weideland Widars;
Da soll mein Sohn absteigen,
Um seinen Vater zu rächen.

18. Andhrimnir läßt Sährimnir
In Eldhrimnir65 sieden
Das beste Fleisch!
Wenige wissen, was die Einherjer essen!

19. Geri und Freki werden vom
Krieggewohnten Vater der Scharen ernährt;
Aber von Wein allein lebt ewig
Odin, der waffengeschmückte.

20. Hugin und Munin fliegen jeden Tag
Über das Schlachtfeld Erde.
Ich fürchte, daß Hugin nicht zurückkehrt,
Doch sorge ich mich mehr für Munin.

21. Thund66 heult und Thjodwitnirs Fisch67
Spielt in dem Strom;
Der flutende Strom scheint allzu mächtig für
Das Durchwaten der Zelebranten.

22. Das Tor der Wahl ist in der Wand,
Heilig, vor den heiligen Türen;
Prächtig ist das Tor, und nur wenige wissen,
Wie es verschlossen ist.

23. Fünfhundert Zimmer und vierzig mehr
Sind in Bilskirnirs Bau;
Von allen Hallen, die Dächer haben,
Scheint mir meines Sohnes die größte.

24. Fünfhundert Türen und vierzig mehr
Weiß ich in Walhalla;
Achthundert Einherjer gehen aus jeder auf einmal heraus,
Wenn sie Zeugnis ablegen.68

25. Heidrun ist die Ziege in Heervaters Halle,
Die Schattengebers Äste benagt;
Sie füllt den Becher der Schöpfung voll mit edlem Met,
Nie vertrocknet der Trank.

26. Eikthyrnir ist der Hirsch in Heervaters Halle,
Der Schattengebers Äste benagt;
Tropfen von seinem Geweih fallen in Hwergälmir,
Daraus entspringen alle Wasser.69

27. Sid und Wid, Säkin, Äkin, Swal und Gunntro,70 Fjörm und Fimbultul;
Rin und Rinnandi, Gipul, Göpul, Gammal und Geirwimmel,
Die sich rund um die Wohnsitze der Götter winden;
Thyn und Win, Thöll und Höll, Grat und Gunnthorin.

28. Wina heißt einer, ein anderer Wägswinn, ein dritter Tjodnuma.
Nyt und Nöt, Nönn und Hrönn, Slid und Hrid,
Sylg und Ylg, Wid und Wand, und Strand.
Göll und Leiptr, diese fließen nahe der Menschheit
Und strömen wieder zur Hel nieder.

29. Körmt und Örmt und beide Karlögar,
Wo Thor täglich watet auf seinem Weg, Gericht zu halten
Unterhalb Yggdrasils Esche; andernfalls würde die Brücke der Aesir
In Flammen aufgehen und die heiligen Wasser kochen.

30. Glad und Gyllir, Gler und Skeidbrimir,
Silvertopp [Silfrintopp] und Sinir, Gisl und Falhofnir,
Gulltopp und Lättfot; diese reiten die hohen Götter täglich
Auf ihrem Weg, Gericht zu halten bei der Esche Yggdrasil.71

31. Drei Wurzeln strecken sich nach drei Seiten
Unter der Esche Yggdrasil:
Eine beherbergt Hel, unter einer anderen sind die Frostriesen;
Die dritte, die Menschen der Menschheit.

32. Ratatosk heißt das Eichhörnchen, das in Yggdrasils Esche rennt:
Die Worte des Adlers oben in der Krone bringt es dem Nager [Nidhögg] nieder.

33. Der Hirsche sind vier, die mit krummem Halse
An den Ästen nagen.
Dáin und Dwalin,
Dunör und Duratror.

34. Mehr Schlangen gibt es am Yggdrasilbaum
Als ein unkluger Affe meint;
Goin und Moin, die Söhne von Grab-Zeuge, [Grafwitnir], der Drache Graurücken [Grabak]; Geist;
Der Öffner [Ofnir] und Schließer [Swafnir] die, so glaube ich, an des Baumes Zweigen zerren.

35. Die Esche Yggdrasil muß mehr ertragen als die Menschen wissen;
Der Hirsch weidet oben,
Ihr Stamm fault,
Und unten nagt die Schlange Nidhögg.

36. Hrist und Mist reichen mir das Horn,
Skäggjöld und Skögul, Hild und Trud, Hlöck und
Härfjätter, Göll und Geirönul,
Randgrid, Rádgrid und Reginleif,
Diese reichen den Einherjern Met.

37. Árwak und Allswinn sollen aufwärts und weg
Von hier die bewegliche Sonne ziehen;
Aber unter ihren Flanken bargen
Milde Mächte die Eisenkühle.

38. Swalin72steht davor und
Schirmt den strahlenden Gott ab;
Berge und Wellen würden verbrennen,
Sollte er zur Seite fallen.

39. Sköll heißt der Wolf, der dem strahlenden Gott
Bis zu den schützenden Wäldern folgt;
Der andere, Hati, Sohn des Hrodwitnir,73
Eilt der Himmelsbraut voraus.

40. Aus Ymirs Fleisch wurde die Erde gebildet,
Die wogenden Meere aus seinem Blut;
Aus seinen Gebeinen die Berge, Sträucher aus seinem Haar,
Und aus seiner Hirnschale der Himmel.

41. Aus seinen Augenbrauen schufen die wohltätigen Mächte
Midgárd den Menschensöhnen
Aber aus seinem Hirn sind alle
Dunklen Wolken erschaffen worden.

42. Ulls Gunst hat und die aller Götter,
Wer zuerst das Feuer anrührt;
Denn Welten öffnen sich rund um die Söhne der Aesir,
Wenn die Kessel von der Feuerstelle hochgehievt werden.

43. Iwaldis Söhne gingen in der Vorzeit
Skidbladnir zu bauen,
Das beste der Schiffe für den sanftmütigen Freyr,
Njörds wohltätigen Sohn.

44. Die Esche Yggdrasil ist die edelste der Bäume, Skidbladnir der Schiffe,
Odin der Aesir und Sleipnir der Rosse,
Bifrost der Brücken, Bragi der Barden, Hábrok der Habichte,
Und der Hunde, Garm.

45. Nun habe ich mein Antlitz den siegreichen Göttern gezeigt,
Um ihr Wohlwollen zu erwecken;
Alle Aesir werden zu den Bänken des Furchtbaren gerufen,
Des Furchtbaren Festmahl.

46. Ich hieß Grim, ich nannte mich Gángleri,
Herjan [Herjer] und Hjälmberi,74
Tack und Dritter [Thridi], Tunn [Thudr] und Unn [Udr],
Helblindi und Hár;

47. Sann [Sadr] und Swipal und Sangetal bin ich,
Härteit und Nikar [Hnikar],
Bilögd [Bileyg], Bálögd [Baleyg], Bölwerk, Fjölnir,
Grim und Grimni [Grimnir], Glapswinn [Glapswidr] und Fjölswinn;

48. Breitrandiger Hut und Vollbart, Siegvater,
Nikud, Allvater, Todvater;
Atrid und Farmatyr. Nie nannte ich mich zweimal dasselbe,
Seit ich unter die Menschen fuhr.

49. Grimni [Grimnir] war ich bei Geirröds, aber bei Ásmund Jalk,
Und Kjalar, als ich einen Schlitten75 zog,
Tro [Thro] dort im Ting, Oski und Omi,
Jafnhár und Bäflindi, Göndli und Hárbard bei den Göttern.

50. Swidur und Swidrir war ich, als ich
Den alten Riesen betrog;
Als ich zum einzigen Fluch
Von Midwitnirs Sohn wurde.

51. Trunken bist du, Geirröd, und außer Sinnen;
Viel hast du verloren,
Als du aller Einherjer und Odins Gunst verscherztest.

52. Vergeblich wurde gesprochen, denn es nützt dir nichts,
Freunde täuschen und trügen dich;
Ich sehe meines Freundes Schwert liegen,
Tropfend von Blut.

53. Ygg erhält den Gefallenen, dein Leben ist verstrichen;
Die Beschützer sind erzürnt;
Hier siehst du Odin,
Komm heran, wenn du kannst!

54. Odin bin ich nun, Ygg war ich zuvor,
Thund hab ich davor geheißen:
Wak und Skilfing, Wafud und Ropt,
Öffner und Schließer: alle sind eins in mir.“

König Geirröd saß und hielt sein Schwert quer auf seinen Knieen. Als er aber vernahm, daß Odin gekommen sei, sprang er auf und wollte ihn [Grimnir: Odin] aus den Feuern führen. Da glitt ihm sein Schwert aus seinen Händen und fiel auf seinen Griff gerade als der König stolperte und vornüber fiel. Sein eigenes Schwert durchdrang ihn. So fand er den Tod. Da verschwand Odin. Danach war Agnar König eine lange Zeit.

17 – Thrymskvädet

(Der Diebstahl von Thors Hammer)

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Anmerkungen der Übersetzerin

Vor langer Zeit, bevor die Menschheit Denkvermögen und Verantwortung erlangte, wurde Thors Hammer von dem Riesen Thrym gestohlen. Thors Hammer stellt nicht nur die Zerstörungskraft, sondern auch die Schöpferkraft dar, einschließlich der Zeugungskraft; daher ist Mjölnir das Symbol der Hochzeit. Loki, Agent der Götter und Sprecher für die Riesen, wird von Thor ausgesandt, um den Hammer aufzutreiben. Umgehend borgt Loki Freyjas „Federgestalt“ und macht sich auf den Weg, um das unersetzliche Emblem der Schöpfung ausfindig zu machen. Er kehrt mit der Kunde zurück, daß Thrym tatsächlich Mjölnir gestohlen und tief in der Erde verborgen habe. Als Austausch für seine Rückkehr verlangt der rohe Riese, daß Freyja seine Braut werde. Freyja ist nicht nur der innewohnende Geist der Venus und Freyrs Schwester, die Erdgottheit, sondern stellt auch, wie wir gesehen haben, die höhere Intelligenz unserer Menschheit dar. Sie führt und schützt unsere menschliche Rasse, die ihr Brisinga-Juwel ist.

Als die Göttin Thryms unverschämten Wunsch hörte, schnaubte sie mit einer solchen Vehemenz, daß das wertvolle Schmuckstück zersprang. Tatsächlich, alle Götter, die sich trafen, um sich mit dem Notfall zu befassen, nahmen des Riesen Ultimatum mit Bestürzung auf. Während ihrer Beratung schlug Heimdal vor, daß Thor sich selbst als Freyja in Brautkleidung verkleiden sollte, so daß er selbst sein Eigentum wiedererlangen möge. Seine vergeblichen Proteste wurden von den versammelten Gottheiten zurückgewiesen, und Thor unterwarf sich nur widerwillig der Demütigung, in feine Leinen gekleidet zu werden, und, zwei rundliche Steine auf seiner Brust tragend, reiste er schließlich zu Thryms Halle. Dabei wurde er von Loki, der als eine Brautjungfer gekleidet war, begleitet.

Während der Hochzeitsfeierlichkeiten ist der Riese über den außerordentlichen Appetit und Durst der Braut entsetzt. Nur Lokis Schlagfertigkeit rettet die Situation, als er erklärt, daß Freyja in Erwartung dieses glücklichen Ereignisses lange gefastet habe. Als Thrym sich beugte, um seine Braut zu küssen und dabei ihren Schleier hob, leuchtete der Blitz des Donnergottes grell auf. Thrym taumelte von der Wucht getroffen durch die ganze Halle zurück. Hier intervenierte Loki wieder mit einer Erklärung, die glücklicherweise den Riesen (der offensichtlich ein bißchen einfältig war) befriedigte.

Thrym ordnete an, daß Mjölnir herbeigeholt und auf den Schoß der Braut gelegt werden sollte, um die Hochzeit zu vollziehen. Und so kam es, daß Thors Kraft für den Gott wiederhergestellt wurde, nachdem sie in der materiellen Sphäre durch eine Rasse mißbraucht worden war, die als Menschheit noch nicht zu ihrer Verantwortlichkeit erwacht war. Es mag hier nicht unangebracht sein, anzunehmen, daß unser eigenes hedonistisches Zeitalter anscheinend nicht das erste ist, das schöpferische und zerstörerische Kräfte mißbraucht. Die Kreativität, symbolisiert durch Thors Hammer, kann offensichtlich auf viele Existenzebenen angewandt werden. Sie ist die Kraft, die Leben enthaltende Aktionswirbel in Bewegung setzt, um Formen für Götter, die sie bewohnen können, aufzubauen.

Unsere Erde liefert analoge Beispiele: angefangen von der Vermehrung von Mineralkristallen über die vielen genialen Vorrichtungen, die Pflanzen für die Verbreitung von Sporen und Samen besitzen, über die der Jahreszeit entsprechende Paarung der Tiere bis zur menschlichen Sexualität, erschließt jede Entwicklungsstufe mehr Gelegenheiten als die vorherige für Kreativität. Wir Menschen sind in unserer Kreativität nicht auf die physische Welt begrenzt. Wir erfreuen uns größerer kreativer Freiheit als irgendeine frühere Stufe des Fortschritts: unsere vielseitige Intelligenz und ausschließlich menschliche Intuition sind Tore zu wissenschaftlichen und künstlerischen Welten, zu Bereichen der Inspiration und philosophischen und spirituellen Idealen, die für „die Zwerge in Dwalins Zug“ nicht verfügbar sind. Das verlangt von uns eine hohe Verantwortung für die Herrschaft über unsere Erde und die Naturreiche unterhalb des Menschen, die unserer Führung folgen.

Man sollte erwähnen, daß die theosophische Geschichte aufzeichnet, daß der Planet seit dem Zeitalter, als die kreativen Kräfte von den Räumen der Götter zur Erde kamen, eine sogar dichtere Materialität durchgemacht hat als die vorhergehende, als Thors Hammer gestohlen wurde. Damals war der Planet mit seinem gegenwärtigen Zustand vergleichbar. Wir sind inzwischen sogar weiter abgestiegen und begannen, wieder aufzusteigen. In der Mitte seines Lebens begannen die schwersten Atome der Erde ihre Substanz abzustrahlen, d.h. die Radioaktivität begann. Das geschah vor Millionen von Jahren, obwohl sie erst vor kurzem entdeckt wurde. Der Planet wird fortfahren, seine Materie zu verfeinern (mit Zeitspannen der Konsolidierung, die fortschreitend kürzer werden) bis er schließlich stirbt. Wir befinden uns nach der brahmanischen und theosophischen Chronologie nach dem Nadir oder Wendepunkt, als wir begannen, unsere langsamen Schritte einmal mehr aufwärts in spirituelles Wachstum zu wenden. Die Geschichte von Wölund erzählt, wie es der materiellen Menschheit damals, in des Planeten dunkelster Stunde erging (S. 221–229).

Thrymskvädet

Zornig war Wing-Thor, als er erwachte und seinen Hammer vermißte. Er schüttelte seinen Bart und raufte seine Haare. Sohn-der-Erde tastete um sich, und seine ersten Worte waren:

THOR: Höre, Loki. Was ich zu sagen habe, niemand weiß es, weder auf Erden noch im Himmel: der Hammer ist dem Ásen gestohlen worden. Sie gingen zum Haus der schönen Freyja, und seine ersten Worte waren:

THOR: Leihe mir, Freyja, dein Federhemd, damit ich meinen Hammer finden möge.

FREYJA: Ich würde es dir geben, und wär’ es von Gold. Ich würde es dir geben, und wär’ es aus Silber.

Loki flog, das Federhemd schwirrte: er ließ der Aesir Reich hinter sich, bis er des Riesen Welt erreichte, wo Thrym, der Thursen auf einem hohen Sitz saß und goldene Halsketten für seine Hunde flocht und die Mähnen seiner Rosse strählte.

THRYM: Wie steht’s mit den Aesir? Wie steht’s mit den Elfen? Warum bist du zu der Riesen Welt gekommen?

LOKI: Schlecht steht’s mit den Aesir. Hältst du Hlorridi Hammer verborgen?

THRYM: Ich halte Hlorridis Hammer acht Tagesreisen unter der Erde verborgen; niemand soll ihn zurückholen, er brächte denn Freyja zur Frau mir daher.

Weg flog Loki, das Federhemd schwirrte. Er verließ des Riesen Welt und erreichte der Aesir Reich. Dort traf Thor ihn in der Mitte der Halle, und seine ersten Worte waren:

THOR: Hast du den Auftrag wie auch die Arbeit wohl vollbracht? Laß mich hören die Botschaft aus der Ferne. Sitzend schweift ein Sprecher oft ab; zurückgelehnt mag er leicht lügen.

LOKI: Ich habe die Arbeit und den Auftrag wohl vollbracht: Thrym, der Thursenprinz, hat den Hammer. Niemand soll ihn zurückholen, er brächte denn Freyja ihm zur Frau.

Sie suchten die schöne Freyja auf, und diese Worte sprach er alsbald:

THOR: Schmücke dich, Freyja, mit einem Brautkleid. Wir beide reisen zu der Riesenwelt.

Wild war Freyja. Sie schnaubte vor Wut, so daß die ganze Halle der Götter erbebte. Das Brisingamen [Juwel] wurde zerbrochen.

FREYJA: Ich müßte wahrlich mannstoll sein, wenn ich mit dir zur Riesenwelt gehen würde.

Alle Götter und Göttinnen eilten zur Beratung. Die mächtigen Aesir berieten darüber, wie Hlorridis Hammer zurückgewonnen werden könnte. Da sprach Heimdal, der weiseste der Aesir, der weiser im Vorhersehen war als die Wanir:

HEIMDAL: Laßt uns Thor ein Brautkleid anlegen und ihn das Brisingamen tragen! Laß ihn einen klirrenden Schlüsselbund tragen, ein Frauengewand umwalle seine Knie, auf seiner Brust trage er rundliche Steine und auf seinem Kopf einen bräutlichen Schleier!

THOR: Die Aesir würden mich als unmännlich schelten, legt’ ich das bräutliche Linnen mir an.

LOKI, SOHN DER LÖFÖ76 [LAUFEY]: Schweig Thor! Solche Worte! Bald werden die Riesen sich in Ásgárd niederlassen, wenn du nicht deinen Hammer heimholst.

Sie legten Thor bräutliches Linnen an, dazu das große Brisingamen-Juwel; von seiner Taille baumelten Schlüssel und ein Frauenrock fiel über seine Knie; auf seiner Brust zwei rundliche Steine. Sie umhüllten sein Haupt mit einem teuren Schleier. Da sprach Löfös Sohn:

LOKI: Ich werde als deine Brautjungfer gehen. Wir beide werden zur Riesenwelt reisen.

Sprach der Thursenkönig:

THRYM: Steht auf, ihr Riesen. Bestreut die Bänke. Sie bringen mir Freyja zur Frau, die Tochter Njörds aus Noatun! Bringt mir Kühe mit goldenen Hörnern und rabenschwarze Ochsen zur Freude dieses Riesen; Schätze und Edelsteine habe ich in Hülle und Fülle; Freyja nur fehlt mir noch.

Gegen Abend trafen die Gäste ein; Bier wurde den Riesen gereicht. Sifs Gemahl77 aß allein einen ganzen Ochsen, acht Lachse und alle für die Frauen bestimmten Leckereien; und er trank dazu noch drei Fäßchen Met.

THRYM: Wer sah je eine Frau gieriger schlingen? Nie sah ich eine Braut so gierig schlingen oder ein Mädchen so viel Met trinken.

Zwischen ihnen saß der schlaue Loki, der auf des Riesen Worte erwiderte:

LOKI: Freyja genoß acht Tage lang nichts, so groß war ihr Verlangen nach der Riesenwelt.

Thrym lüftete den Schleier, um die Braut zu küssen, doch er taumelte durch die ganze Halle zurück.

THRYM: Warum sind Freyjas Blicke so grimmig? Ihre Augen brennen wie Feuer.

Zwischen ihnen saß der schlaue Loki, der auf des Riesen Worte erwiderte:

LOKI: Frejya schlief acht Nächte lang nicht mehr, so sehr sehnte sie sich nach der Riesenwelt.

Da trat des Riesen Schwester ein, die sich ein Brautgeschenk erbat.

THRYMS SCHWESTER: Gib mir die rotgoldenen Ringe von deinen Händen, ehe dich verlangt nach meiner Liebe und meiner Gunst.

THRYM: Bringt den Hammer herein, die Braut zu weihen. Legt den Mjölnir in den Schoß der Maid, verbindet unsere Hände mit dem Hochzeitsband.

Da lachte das Herz in Hlorridis Brust, als der Nüchterne den Hammer fühlte. Zuerst schlug er Thrym, den Thursenkönig, dann lähmte er dessen ganze Verwandtschaft. Er schlug auch die alte Schwester des Riesen, die sich ein Brautgeschenk zu erbitten gewagt hatte. Schläge erhielt sie, keine Ringe und Münzen, Hammerschläge statt Schmuck.

So gelangte der Hammer wieder einmal zu Odins Sohn.

18 – Kvädet om Rig

(Das Riglied)

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Anmerkungen der Übersetzerin

Vor langer langer Zeit, die menschliche Rasse hatte die Fähigkeiten noch nicht erlangt, die uns von den Tieren heute unterscheiden: die Macht der Sprache, abstrakter Gedanken, der Kunst, der Kreativität und der Einfühlung. Das ist die Geschichte unseres Erwachens in die rudimentäre Menschheit, in der das Training, das Schärfen und die Vervollkommnung des menschlichen Instruments eingeleitet wurde – etwas, das heute noch andauert.

Rig78 ist ein Strahl von Heimdal, „dem weisesten Ásen“, eines solaren Einflusses. Symbolisch ist er mit Thrym verbunden, dem Gott des Anfangs, und mit der Tierkreis-Konstellation Widder. Das Lied erzählt, wie der Abstieg dieses gottgleichen Einflusses in die Menschheit jener frühen Zeit in drei Stufen stattfand. Die Menschheit war noch stumm, ermangelte des Denkvermögens und vegetierte ziellos dahin, indem sie mit unendlicher Langsamkeit den evolutionären Weg dahintrieb. Sie besaß keinen Ansporn oder Wunsch zum Wachstum, als die mitfühlenden Götter zurückschauten und ihr Elend sahen. Und so „reiste auf grünen Wegen der starke, verständige, weise Áse, der mächtige, männliche, wanderende Rig“(1). Er stieg zur Menschheit herab, um die Möglichkeit im Menschen zu erwecken, ein Ásmegir, ein Gottmacher, zu werden.

Der erste Versuch war erfolglos: die Tür der menschlichen Behausung, eine miserable Hütte, war verschlossen (2). Bei dem zweiten Abstieg fand der Gott den Menschen in einer komfortablen Heimstätte, deren Tür angelehnt war (13) – teilweise aufnahmefähig. Das dritte Unterfangen fand den Menschen in einem Haus wohnen, dessen „Tür offenstand“ (23): diese menschlichen Formen waren geeignet, den göttlichen Zufluß des selbstbewußten Denkens zu empfangen.

Von dieser Zeit an wurde die Menschheit selbstbewußt und fähig, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Mit dem Denkvermögen kam Willensfreiheit, und mit der Wahl kam Verantwortlichkeit. Der Mensch war jetzt für seine Gedanken und Handlungen verantwortlich und mußte sie auf moralische und intellektuelle Ebenen erheben und nicht nur auf physische Gründe wie zuvor.

Es ist bemerkenswert, daß der Nachkomme des Gottes in der dritten Behausung von seinem göttlichen Vater gelehrt wurde. Ihm wurden Runen der Weisheit gegeben, und er erwarb erfolgreich für sich den Titel „Rig“. Aus dieser Rasse heraus entwickelten sich die nachfolgenden Menschheiten, deren jüngste, König, fähig war, zu heilen und den „Vogelgesang zu erlernen“, d. h. der Mensch konnte die Sprachen der Natur verstehen und besaß Einsicht und Verständnis.

In dem plötzlichen und unerwarteten Schluß des Liedes, wird König von einer Krähe gewarnt, mehr männlichen Objekten nachzugehen als Vögel zu jagen: er möge „ein Roß reiten, mit dem Schwert hauen und den Feind zu Fall bringen“ – Symbole, wie die tierische Natur kontrolliert, das Schwert des Willens oder des Wissens ergriffen und der Feind des menschlichen Fortschritts – der Egoismus – erschlagen werden kann. Diese Warnung könnte eine Vorahnung der Perversion der Göttlichen Begabung durch die nachfolgende Rasse sein. Die Geschichte von Rig wird häufig dafür verwendet, um als Stütze für das Kastensystem zu dienen, das in den meisten Gesellschaften, ob offen oder unbemerkt, existiert. Es mag sein wie es will, sie besitzt auch eine weit größere Bedeutung. Wir müssen die Struktur der Mythen berücksichtigen, die wiederholt tiefere Schichten der Bedeutung bis zur Grenze unseres individuellen Verständnisses enthüllen. Wenn wir die Evolution hauptsächlich als die Entfaltung des Bewußtseins mit ihren Strukturen und den daraus folgenden entsprechenden Persönlichkeiten betrachten, erkennen wir das göttliche Mitgefühl im Abstieg von Rig, unseres göttlichen Vaters. Er kam, um uns mit den spezifischen menschlichen Eigenschaften auszustatten, die, nach vielen Verwicklungen im Verlauf unserer Leben, die Vollkommenheit unserer Spezies bringen wird.

Kvädet om Rig

In früheren Zeiten erzählten sich die Menschen, daß ein gewisser Aesir namens Heimdal sich erhob und am Strand entlang ging, als er zu einer Hütte kam und sich Rig nannte. Von dieser Geschichte stammt dieses Lied.

1. Auf grünen Wegen reiste
der starke, verständige Weise Áse,
Der mächtige, männliche wandernde Rig.

2. Als er die Mitte der Straße entlang ging,
Kam er zu einer Hütte, deren Tür geschlossen war
Und trat ein. Auf dem Boden war ein Feuer.
Ein grauhaariges Ehepaar saß am Herd,
Áe und Edda79 im alten Kopftuch.

3. Rig wußte, wie er ihnen guten Rat geben konnte,
Er setzte sich inmitten der Bank,
Ihm zur Seite die Eheleute.

4. Edda bediente ihn mit einfacher Kost,
Ein Brot, schwer und hart von grobem Korn;
Dann brachte sie mehr Nahrung auf den Tisch,
Suppe in der Schüssel wurde auf die Platte
Gestellt, gekochtes Rindfleisch, das Beste der Kost.

5. Rig wußte, wie er ihnen guten Rat geben konnte,
Dann erhob er sich und bereitete sich zur Ruhe vor;
Er lag in der Mitte des Bettes, ihm zur Seite
Die Ehegatten.

6. Drei Nächte weilte er bei ihnen,
Dann ging er fort, die gerade Straße hinunter,
Neun Monate vergingen.

7. Einen Sohn gebar Edda, er wurde mit Wasser gewaschen,
Er hatte dunkle Haut und wurde Knecht genannt.

8. Seine Haut war runzlig, seine Hände waren rauh,
Mit knotigen Knöcheln und gebrochenen Nägeln;
Die Finger waren dick, das Gesicht häßlich,
Sein Rücken war krumm, seine Fersen waren lang.

9. Er wuchs und gedieh, gebrauchte seine Stärke,
Um Bast zu binden, Bürden herzurichten und
Schleppte Holz den ganzen Tag.

10. Da kam zu der Hütte eine umherwandernde Maid
Mit narbigen Sohlen, sonnengebräunten Armen
Und platter Nase. Ihr Name war Magd.

11. Sie saß in der Mitte der Bank;
Mit ihr saß der Sohn des Hauses.
Sie flüsterten und kicherten, bereiteten das Bett,
Knecht und Magd in mühsamen Tagen.

12. Zufrieden hausten sie und gebaren Kinder …
(Hier folgen die Namen ihrer zwölf Söhne und zehn Töchter.)
Sie legten Höfe an, düngten Felder,
Züchteten Schweine, hüteten Geißen,
Gruben Torf. Von ihnen stammt der Stand der Knechte.

13. Rig ging inmitten der Straße
Und kam zu einer Halle, deren Tür angelehnt war;
Er trat ein, da war Feuer auf dem Boden, bei ihrer Arbeit
Saßen die Bewohner.

14. Afve und Amma80 gehörte das Haus.
Der Mann schnitzte an einem Baumstamm für einen Webstuhl,
Er trug einen gepflegten Bart, und seine Haare waren gekämmt,
Ein passendes Hemd. Eine Truhe stand in der Ecke.

15. Die Frau spann Garn auf einem surrenden Rad,
Breitete die Arme aus und richtete einen Schußfaden.
Sie trug ein Kopftuch um ihren Kopf,
Einen Schal an ihrer Brust
Und Broschen an ihren Schultern.

16. Rig wußte, wie er ihnen Rat geben konnte,
Saß zwischen ihnen auf der Bank
Mit den Leuten an jeder Seite…
(Hier fehlt ein Teil des Liedes)

17. Rig wußte, wie er ihnen Rat geben konnte,
Er erhob sich von dem Tisch und bereitete sich vor, schlafen zu gehen;
Er lag in der Mitte des Bettes mit den einheimischen Leuten auf jeder Seite.

18. Drei Nächte blieb er,
Dann ging er inmitten der Straße dahin;
Neun Monate verstrichen.

19. Ein Kind gebar Amma, es wurde mit Wasser gewaschen und Karl81 genannt;
Der Junge wurde trockengelegt. Er war rosafarben und hübsch mit funkelnden Augen.

20. Er wuchs und gedieh;
Zähmte Ochsen, schmiedete Pflüge,
Zimmerte Häuser und große Scheunen,
Schuf Lastwagen und lenkte einen Pflug.

21. Zu dem Heim wurde eine Braut mit unverbundenen Augen,
in einem Rock aus Ziegenleder gebracht und mit Karl vermählt.
Alert war ihr Name, sie war mit einem Schleier geschmückt.
Sie bauten gemeinsam, vereinigten ihre Besitztümer,
Errichteten ein Heim und machten ihr Bett.

22. Sie lebten zufrieden…
(Ihre Kinder werden genannt: zwölf Jungen und zehn Mädchen)
Von diesen stammten alle freien Menschen.

23. Von dort ging Rig die Mitte des Weges entlang,
Kam zu einer Halle mit der Tür nach Süden,
Und die Tür war offen, ein Ring am Pfosten.

24. Er trat ein. Der Boden bestreut;
Da saßen, freundliche Blicke wechselnd,
Fader und Moder82, ihre Finger ineinander geschlungen.

25. Der Mann drehte die Sehne, spannte den
Ulmenholzbogen und befiederte Pfeile,
Während die Frau eifrig Linnen preßte
Und Ärmel stärkte, um ihre Arme zu bedecken.

26. Sie trug einen großen Kopfschmuck, einen Edelstein auf ihrer Brust,
Eine blau gezierte Bluse und eine Schleppe;
Ihre Braue war heller, ihre Brust lichter,
Ihr Hals weißer als glitzernder Schnee.

27. Rig wußte, wie er sie beraten konnte,
Er setzte sich in die Mitte der Bank
Mit den Leuten der Halle an jeder Seite.

28. Mutter deckte den Tisch mit dem bestickten Tuch,
Brachte dünne weiße Scheiben aus Weizenbrot.
Sie stellte Teller aus getriebenem Silber
Voll Verzierungen auf den Tisch:
Fisch und Schwein und gebratene Wildvögel,
Wein in einer Karaffe, teure Pokale.
Sie tranken und vergnügten sich bis der Tag verging.

29. Rig wußte, wie er sie beraten konnte,
Er erhob sich und bereitete sich vor, schlafen zu gehen.
Er lag in der Mitte des Bettes
Mit den Leuten der Halle an jeder Seite.

30. Hier lebte er mit ihnen drei Nächte;
Er ging inmitten des Weges.
Neun Monate vergingen.

31. Einen Sohn gebar Moder. Er war in Seide gehüllt,
Er wurde mit Wasser gewaschen und Jarl83 genannt.
Seine Haare waren hell, seine Wangen waren rosig.
Seine Augen funkelten gleich einer jungen Schlange.

32. Jarl wuchs auf dem Boden der Halle auf.
Er schwang bald den Schild, spannte Sehnen,
Schnitzte Bogen, spitzte Pfeile, schleuderte den Speer, schwang die Lanze,
Bändigte Hunde, ritt Pferde, schwang das Schwert und schwamm durch die Wellen.

33. Aus den verbergenden Wäldern kam der wandernde Rig, kam Rig mit großen Schritten.
Er lehrte ihn Runen, gab ihm seinen Namen und nannte ihn Sohn,
Gab ihm Erbgüter, Besitztümer, Farmländereien und alte Städte.

34. Der mächtige Jarl ritt durch dichte Wälder
Über schneebedeckte Berge zu einer fernen Halle;
Er schleuderte seinen Speer, schwang seinen Schild,
Gab seinem Roß die Sporen, hieb mit seinem Schwert,
Erweckte Fehde, blutiges Feld, fällte
Krieger, erkämpfte Land für sich.

35. Allein herrschte er über achtzehn Höfe,
Er wechselte Güter und gab allen Juwelen,
Wertvolle Steine, flinke Pferde, verteilte Ringe,
Zerschlug das rote Gold.84

36. Boten gingen über feuchte Wege
Und erreichten die Halle, in der Herse lebte.
Er hatte eine Maid mit schlanken Fingern,
Schneeweiß, edelgesinnt. Ihr Name war Erna.85

37. Sie gewannen sie und brachten sie nach Hause.
Sie trug hochzeitliches Linnen und wurde mit Jarl vermählt.
Sie bauten gemeinsam und waren zufrieden, sie vermehrten
Ihre Rasse und wurden sehr alt.

38. (Hier folgen die Namen ihrer Kinder.)
Kon86 war der Jüngste.
So wuchsen Jarls Söhne, sie zähmten Rosse
Rundeten Schilde, schnitzten Pfeile und
Schwangen Lanzen.

39. Aber Kon, der Jüngste, kannte
Ewige Runen und alterlose Runen.
Mächtig war er, Menschen zu retten,
Schwerter abzustumpfen und die See zu besänftigen.

40. Er verstand den Vogelsang, Feuer zu stillen,
Sorgen zu lindern und Leiden zu heilen,
Er besaß die Kraft von acht Männern und
Eine klare Vision.

41. Jarl maß sich mit Rig in Runen,
Er vollbrachte Meisterstücke und tat das Bessere.
Er gewann das, was sein Los war:
Rig genannt zu werden und Runenkunde.

42. Kon, der Junge, ritt durch Sumpf und Wald,
Ließ Pfeile fliegen, wenn ein Vogel sich über ihn schwang.
Da sang eines Tages eine Krähe auf einem Zweig:

43. „Warum, Kon der Junge, tötest du Vögel?
Du solltest lieber ein Pferd reiten,
Mit dem Schwert hauen und den Feind fällen.“

44. „Andere Könige haben prächtige Häuser und
Bessere Güter als du besitzt;
Sie können einen Kiel reiten, eines Schwertes Schneide
Blutig machen und Wunden schlagen.“

19 – Loki stiehlt das Brisinga-Juwel

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Anmerkungen der Übersetzerin

Hier liegt ein Beispiel vor, wie Lokis Dreistigkeit eine Folge von Ereignissen in Bewegung setzt, die mit dem Verlauf der menschlichen Evolution lebhaft verknüpft ist. Auf Betreiben von Odin, einmal mehr in seiner Rolle als Schicksal, gelangt der Schwindler Loki in den Besitz von Freyjas wertvollem „Feuerjuwel“ – der menschlichen Intelligenz. Wir haben gesehen, daß Freyja die höhere, spirituelle Begabung der Intelligenz repräsentiert, und als die planetarische Gottheit der Venus die Förderin und Beschützerin des intelligenten Reiches ihres Bruders Freyr, der menschlichen Rasse auf dem Planeten Erde, ist.

Als Freyja Odin gegenübertritt und ihn nach ihrem Juwel fragt, stellt der Gott eine Bedingung, die zutiefst bedeutungsvoll ist: Sie muß einen Kampf zwischen den zwei mächtigsten Königen der Welt anzetteln, einen, der nicht durch den Sieg von irgendeinem gelöst werden kann, außer durch das endgültige Erschlagen von beiden „durch einen Christen.“ Diese Phrase spiegelt natürlich die Einstellung eines Zeitalters wider, als christliche Missionare militant das Evangelium des Friedensfürsten über die Länder Nordeuropas und Islands verbreiteten. Jedoch, das Kreuz ist die ewige Opposition der Kräfte des Lichtes und der Finsternis: Es kann keine Existenz und sicherlich keinen Fortschritt ohne die Spannung zwischen den Gegensatzpaaren geben, die Leben bedeuten. Es ist eine signifikante philosophische Vorstellung, die beinahe unbemerkt bleibt, verloren in der Leichtfertigkeit von Lokis Schlichen. In einem weiterblickenden Rahmen wird es offensichtlich, daß Freyrs Kampf für die Dauer der Existenz weitergeht, von Zeit zu Zeit gelindert, wenn ein anderes menschliches Herz veranlaßt wird, die feindlichen Armeen in sich selbst zu überwältigen, zu gewinnen und den Frieden zu erlangen, der das Verständnis überschreitet. Das muß Freyjas kostbarem Juwel einen zusätzlichen Glanz verleihen.

Loki stiehlt das Brisinga-Juwel 87

Man sagt, daß Loki herausfand, daß Freyja das Juwel von den Zwergen erhielt. Er erzählte dies Odin. Odin verlangte darauf, daß Loki ihm das Juwel bringen sollte. Loki wendete ein, daß man es nicht bekommen könnte, und begründete das damit, daß niemand Freyjas Heim gegen ihren Willen betreten könnte. Odin sagt, daß er gehen müsse und nicht zurückkehren sollte bis er das Juwel bekommen hätte. Loki schlich davon und beklagte sich laut. Er ging zu Freyjas Haus und fand es verschlossen. Er versuchte einzutreten, konnte es aber nicht. Es war sehr kalt draußen, und bald fror er. Er verwandelte sich alsbald in eine Fliege und flog zu allen Schlössern, um einen Spalt zu suchen. Aber er konnte nirgendwo ein Loch finden, das groß genug war, um einzudringen. Endlich fand er am Dachbalken ein Loch, nicht größer als eine Nadel Platz hatte. Durch dieses Loch drang er ein. Einmal drinnen, schaute er umher, um zu sehen, ob jemand wach wäre, aber er fand, daß alle schliefen. Er ging in Freyjas Bett und entdeckte, daß sie das Juwel um ihren Nacken trug, daß aber der Verschluß nach unten gekehrt war. Loki verwandelte sich in einen Floh, setzte sich auf ihre Wange und stach sie, worauf sie aufwachte, sich umdrehte und wieder in Schlaf fiel. Nachdem Loki seine Flohverkleidung aufgegeben hatte, nahm er das Juwel an sich, öffnete das Haus und gab Odin das Juwel.

Als Freyja am Morgen erwachte und sah, daß alle Türen offenstanden, ohne daß sie aufgebrochen waren und daß das kostbare Juwel fort war, ahnte sie, was geschehen war. Sie eilte zur Halle, zu König Odin, geradeso wie sie war, und sagte ihm, daß er schlecht gehandelt hätte, das Juwel ihr stehlen zu lassen. Sie ersuchte ihn, es wieder zurückzugeben. Odin sagte, daß, da sie dieses Juwel früher einmal bereits erhalten hätte, sie es niemals wieder zurückbekommen würde, „es sei denn“ fügte er hinzu, „du könntest zwei Könige, die größten in der Welt, die jeder über zehn andere herrschen, dazu bringen, daß beide kämpfen, lebend oder tot, bis ein christlicher Mann so tapfer wäre, und so viel Glück besäße, daß er sich zutraut, diese Männer anzugreifen und zu töten. Nur dann wird ihr schweres Schicksal aufhören, wenn derselbe Held sie von der Not und der Mühe ihrer gefährlichen Wege befreit.“

Freyja erklärte sich einverstanden und erhielt ihr Juwel zurück.

Fußnote

20 – Grottasöngr

(Das Mühlenlied)

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Anmerkungen der Übersetzerin

Obwohl die Mühlen Gottes langsam mahlen,
so mahlen sie doch äußerst fein.

– LONGFELLOW

Hier sind zwei Mythen aufgenommen, die auf die vierte (atlantische) Menschheit auf unserem Globus anspielen. Beide sind Gegenstand zahlreicher Sagen. Die eine ist das Lied von Grotti, der magischen Mühle, da sie auf einen irdischen Zyklus zutrifft, obwohl, wie wir gesehen haben, sie auch eine universalere Bedeutung hat. Die andere Erzählung ist die von Wölund, dem Schmied, wie in dem vierten großen Zeitalter die Seele der Menschheit – Wölund – von dem Übel – König Nidud – dem materiellsten Zeitalter der Evolution der Erde und der Menschheit, versklavt wurde.

Diese Ereignisse in der Geschichte der Menschheit fanden nach der Chronologie der Theosophie vor einigen Millionen Jahren statt, zu einer Zeit, als die menschliche Rasse die größten materiellen Fortschritte gemacht hatte, wobei sie in physikalischen Fertigkeiten und in der Technologie sogar unsere gegenwärtige Zeit übertraf. Aber es war ein einseitiges Wunder, denn der Mensch hatte die spirituellen Werte bereits vergessen, die der Rasse in früheren Perioden eingeprägt wurden, als göttliche Einflüsse sich unter der ersten Menschheit verkörperten und unsere menschliche frühe Kindheit lehrte und führte.

Unter den Mythen, die ihre Herkunft von der Weisheitsüberlieferung des Altertums beanspruchen können, sind die Erzählungen von der magischen Mühle vielleicht die universal am bekanntesten, die beständigsten und, in gewissen Punkten, die mysteriösesten. Es ist niemals befriedigend erklärt worden, warum Menschen in alten Zeiten auf jedem Kontinent einen besonderen Wert auf die magischen Eigenschaften dieses Geräts gelegt haben: Sie statteten die Mühle nicht nur mit ihrer anerkannten Fähigkeit aus, Mehl zu mahlen, sondern glaubten auch, daß sie jede mögliche Substanz für die Götter zermahlen könnte. Denn sie war kein gewöhnliches Werkzeug des Menschen. Sie war ein Instrument göttlicher Kräfte, das nicht nur Nahrung lieferte, sondern auch Gesundheit, Reichtum, Salz, Zufriedenheit, Frieden, Wohlstand – der Seele wie auch des Körpers. Diese Mühle zermahlte Kontinente auf der Erde und ließ Welten auf der kosmischen Skala untergehen, und sie warf homogene Protosubstanzen aus, aus denen neue Welten gebildet werden konnten. In der finnischen Kalevala formte der himmlische Schmied nach verschiedenen Fehlschlägen am Anfang der Zeit erfolgreich die Mühle Sampo, und ihr Werk der Zerstörung und Schöpfung dauert so lange an, wie Welten sterben und geboren werden. Die Maya-Bevölkerung von Mittelamerika vollzieht heutzutage Riten der heiligen Mühle, wobei sie eine lange verlorene Überlieferung wiedergeben. In der Edda bedeutet ihr Name, Grotti, Wachstum und ist semantisch mit Evolution verbunden.

Die mysteriöse Mühle aller heiligen Überlieferungen kommt in Märchen als ein bemerkenswertes Instrument vor, das der Erzeuger von allem, Fähigkeiten und Eigenschaften von Wesenheiten wie auch der Materie war. Die Mühle wurde unter göttlicher Vermittlung für die Offenbarung des Lebens und seiner Erhaltung geschaffen. Sie war aber auch sein Zerstörer.

In einer Geschichte der Edda werden zwei Riesenmädchen gezwungen, abwechselnd Reichtümer und Bequemlichkeiten für König Frodi (sein Name bedeutet Wohlstand) während der frühen Äonen des Friedens und der Freude, bekannt als das Goldene Zeitalter, zu mahlen. Sie arbeiteten ohne Unterlaß, um endlose Freuden für des Königs Vergnügungen zu erzeugen. Im Laufe der Zeit wurde der König immer gieriger nach mehr Gold und größeren Vergnügungen, bis er den Mädchen nur so viel Zeit zur Erholung gestattete, wie ein Hahn krähen oder ein Kuckuck rufen konnte. So bereitete er sein eigenes Verderben vor. Unerbittlich mahlten die unermüdlichen Riese ihre massive Rache. Ihr unaufhörliches Singen, begleitet von dem Krachen der Mahlsteine, mahlte eine Armee hervor, die unter dem Seekönig Mysing Frodis Länder überrannte und besiegte.

König Mysing nahm die Mühle des Wachstums mit sich, und im Laufe der Zeit wurde auch er ein Opfer seiner Gier, da die Mühle seine Wünsche erfüllte: Sein Kontinent sank unter das Meer – die klassische Geschichte von der Flut, die weltweit erzählt wird.

Wie in der biblischen Darstellung und anderen mythischen Erzählungen repräsentiert der König oder die Hauptperson eine Nation oder eine Menschenrasse über eine unbestimmte Zeitperiode. Sie liefert uns in verschlossener Form die Geschichte der Zeitalter. Die Flut, gleichzeitig so normal und so kontrovers, kommt in jeder umfassenden Überlieferung vor, denn sie ist eine der ganzen Menschheit vertraute Erfahrung. Mythen enthalten in Form einer Geschichte das periodische Heben und Sinken kontinentaler Landmassive – beide als rasche kataklysmische Ereignisse und als die verlängerte Erosion und das langsame Auftauchen, mit dem wir vertraut sind. Ob die plötzliche Flut, die sie beschreiben, ein Einzelgeschehen ist oder eines, das sich periodisch wiederholt, es macht zweifellos einen genügend tiefen Eindruck auf das menschliche Bewußtsein, um eine Rolle in dem schriftlichen Erbe jedes Volkes auf dem Globus zu rechtfertigen.

Im Lichte der gegenwärtigen Wissenschaft deutet die göttliche Mühle etwas an, das eine universalere Bedeutung hat als ein Gerät, um Seismologie auf der Erde zu beschreiben. In ihrer Vielseitigkeit, in ihrem Wesen älterer Art, alle Arten von Dingen zu produzieren – nicht nur physische Materie sondern auch andere Substanzen –, erkennen wir einen Schlüssel zu ihrem Vermögen als ein Werkzeug der Schöpfung. In dieser Hinsicht gleicht sie genau Thors Hammer Mjölnir (was „Müller“ bedeutet). Mjölnir ist der Pulverisierer der Riesenwelt, der die Materie zur Homogenität zerkleinert. Er ist auch der Agent der Schöpfung: Wir haben gesehen, daß Thor und sein Hammer bei Vermählungen ein Amt versehen, um fortgesetzt Erzeugung und Reproduktion zu sichern.

Die Möglichkeit eines astronomischen Schwarzen Loches, das als die Mühle der Götter dargestellt wird, ist sehr verführerisch, denn mit jedem Erkenntnisgewinn in der astrophysischen Wissenschaft mit Bezug auf diese faszinierenden Phänomene scheinen wir näher an eine Beschreibung der mythischen Mühle zu kommen. Wie der Strudel König Mysings Welt in das Auge des Mühlsteins einsaugt, so zieht der ein rotierendes Schwarzes Loch umgebende Wirbel alle Materie innerhalb der Reichweite seines unersättlichen Gravitationsfeldes in seinen Ereignishorizont hinein, wo sie aus dem erkennbaren Universum verschwindet. Außerdem glaubt man von den mysteriösen Quasaren, die scheinbar unmögliche Strahlungsmengen von allen wahrnehmbaren Wellenlängen von Infrarot- bis zu Röntgenstrahlen aussenden, daß sie mit den Schwarzen Löchern in den Zentren von Galaxien koexistieren. Es gibt einen interessanten Hinweis in den Mahatma Letters (S. 47), der es wert ist, zur Kenntnis genommen zu werden, daß die Substanzen toter Welten angeblich „in der Werkstatt der Natur zermahlen werden“. Man beachte, daß die Mahatma Letters ein halbes Jahrhundert bevor man die Schwarzen Löcher vermutete, veröffentlicht wurden.

Solche göttlichen Mühlen wirken auch auf der kosmischen Skala. Was die irdische Grotti betrifft, die Mühle des Wachstums oder der Evolution, deren massive Räder von den Riesinnen der irdischen Zeitalter gedreht werden, so macht sie das Ergebnis von jedwedem Mahlgut sichtbar, das von dem augenblicklichen „König“ oder der Menschenrasse geliefert wird. Sie kann nichts anderes tun. So muß jede Zivilisation oder Welle charakteristischer Eigenschaften ihre eigenen Konsequenzen herbeiführen. Man sagt, daß während König Frodis frühen Tagen des Friedens und der Fülle ein Goldring herrenlos an einer belebten Kreuzung seit Zeitaltern lag. Als er verschwand, war das goldene Zeitalter beendet. Ein neues Zeitalter folgte ihm – König Mysing – der seinerseits durch eine Überschwemmung überwältigt wurde, als seine Länder unter den Wellen versanken, ein Ereignis, das auf das Versinken des sogenannten Atlantischen Kontinents und seiner Kulturen hinweisen mag. In den theosophischen Aufzeichnungen markierten diese den Mittelpunkt der Lebenszeit unseres Planeten, dem materiellsten Zeitalter von allen – der Mitternacht der Menschheit.

Bedeutungsvoll, es war um Mitternacht, als die Riesenmädchen König Mysing fragten, ob er genug Salz hätte. Es war ein Augenblick der Entscheidung: die Schöpfung der Materie fortzusetzen, den abwärtsführenden Trend des vergangenen Zeitalters, oder den evolutionären Lauf zum spirituellen Wachstum einzuschlagen. Die Wahl des Königs brachte ihr unvermeidliches Ergebnis: die Flut versenkte seine Schiffe und beendete den Zyklus seiner Herrschaft. Das vierte Zeitalter hatte seine eigene Zerstörung durch Überschwemmung über sich gebracht – ein Ereignis, das der Menschheit die Gelegenheit bot, sich wieder einmal zur göttlichen Quelle zu erheben, aus der sie ursprünglich abstieg.

Das Gedicht zum Mühlenlied

Sköld (Schild) war Odins Sohn. Er hatte einen Sohn namens Fridleif (Friedliebender), dessen Sohn Frodi (Wohlstand) genannt wurde.

Während der Zeit, als Frodi König war, war die Welt voller Frieden und Harmonie. Niemand wollte einem anderen schaden; es gab keine Diebe oder Räuber. Eine Ewigkeit lang wurde ein goldener Ring offen an einer Kreuzung unberührt liegengelassen. König Frodi kaufte zwei Leibeigene, zwei Riesinnen mit Namen Fenja und Menja. Sie waren groß und stark und fähig, die unhandliche Mühle, die kein anderer bewegen konnte, in Bewegung zu setzen. Diese Mühle besaß die Fähigkeit, alles was von ihr verlangt wurde, zu erzeugen. Ihr Name war Grotti.

König Frodi brachte die Riesenmädchen zu der Mühle und gebot ihnen, Gold, Frieden und Glück für ihn zu mahlen. Er gönnte ihnen keine längere Ruhe, als ein Kuckucksruf dauert. Man sagt, daß die zwei mächtigen Mädchen das Lied der Mühle sangen und daß sie, bevor sie mit dem Singen aufhörten und sich dabei am Mahlstein abgewechselt hatten, eine Armee gegen Frodi gemahlen hatten. So kam ein Meerkönig bei Nacht, der Frodi schlug und viele Beute machte. Dies beendete den Frieden von Frodi.

Der Eroberer, König Mysing, nahm den Mahlstein und die Müllermädchen mit sich. Er hielt sie an, Salz zu mahlen. Zur Mitternacht fragten sie ihn, ober er jetzt genug Salz hätte, aber er gebot ihnen, weiterzumachen. Sie mahlten weiter, bis nach einiger Zeit seine Schiffe versanken. Es kam ein Strudel im Meer auf, wobei die Wasser in das Auge des Mahlsteins strömten. Der Ozean schäumte, als die Mühle sich drehte. Dadurch wurde die See salzig.

Grottasöngr

1. Nun ist gekommen zum Palast das vorhersehende Paar,
Fenja und Menja;
Sie sind bei Frodi, Fridleifs Sohn, die mächtigen Mädchen,
Gehalten als Leibeigene.

2. Zum Mahlkasten wurden sie gebracht,
Den grauen Stein in Bewegung zu setzen;
Er gab ihnen keine Ruhe noch Frieden, aufmerksam
Nur auf das Knacken der Mühle.

3. Ihr Gesang war ein Heulen,
Erschütterte die Stille;
„Still nun stehe Stein und Mühle!“
Doch er wollte, daß sie mehr mahlten.

4. Sie sangen, als sie den Stein schwangen und drehten
Während die meisten der Menschen schliefen;
Dann sang Menja ihre Runde an der Mühle,
Die hartgesinnte Maid mit donnernder Stimme:

5. „Güter mahlen wir Frodi, mahlen Reichtum aus,
Viele Nahrung für Reichtümer auf der Glücksmühle;
Er sitzt auf Gold; er schläft auf Daunen
Und erwacht mit einem Verlangen, dann ist alles wohl gemahlen.

6. „Hier soll keiner den andern kränken,
Noch Böses hegen,
Noch Verderben bringen, noch mit scharfem Schwert
Schlagen, ob gebunden er fände seines Bruders Mörder!“

7. Die Hände hielten an, ruhten; der Mahlstein war ruhig;
Dann rief der König seine alte Klage:
„Schlafe nicht länger als der Hahn ruhig ist,
Ruhe nicht länger als ich spreche!“

8. „Frodi, du warst nicht sehr weise, oh, Freund des Menschen,
Als du diese Mägde kauftest;
Du wähltest uns nach Kraft und Haltung,
Achtetest aber der Abkunft nicht.

9. „Stark war Hrungnir, stark sein Vater,
Thazi war größer als beide;
Idi und Örnir, Väter unserer Rasse, Brüder der Bergriesen,
Diese sind unsere Vorfahren.

10. „Grotti hat sich nie aus grauem Gebirge, der
Erde hartem Gestein erhoben,
Noch würde die Berg-Maid mahlen
Kannte jemand ihre Art.

11. „Neun Winter dauerte unsere Freizeit,
Unter der Erde reifte unsere Kraft,
Große Werke vollbrachten wir ständig;
Wir bewegten die Gebirge.

12. „Aus der Riesen Länder rissen wir Felsblöcke aus;
So daß die Erde bebte, sich senkte, erzitterte;
Wir rollten von da den singenden Stein,
Die schwere Platte, damit ihn Menschen fänden.

13. „Im Land der Svitjod [Schweden]
Schlossen wir beide uns weitblickend den Leuten an;
Jagten Bären, brachen Schilde,
Marschierten durch die Schar der Grauen.

14. „Wir vernichteten einen Prinzen, stützten einen anderen,
Dem guten Gothorm halfen wir bei seiner Horde;
Keinen Frieden gab es bis wir Knui besiegten,
Da wurden wir aufgehalten und gefangengenommen.

15. „So war unser Lauf in früheren Zeiten,
Wohl bekannt waren wir unter den Kriegern;
Mit scharfen Speeren schlugen wir da die Helden,
Verwundeten und röteten mit Feuer.

16. „Nun sind wir gekommen, zum Haus des Königs,
In Knechtschaft, ohne Dank;
Splitt verletzt unsere Füße, Kälte erstarrt unsere Körper, wenn wir die Friedensmühle drehen.
Es ist trostlos bei Frodi.

17. „Die Hände sollen rasten; ruhn der Stein;
Mein ganzer Lebenszweck war mahlen.
Doch die Hand soll nicht ruhn, bis Frodi spürt,
Daß alles voll und ganz gemahlen ist.

18. „Die Hände sollen halten harte Schäfte, blutige Waffen.
Wach’ auf, Frodi!
Wach’ auf Frodi, willst du hören unseren Sang
Und alte Sagen.

19. „Feuer sehe ich aufflammen im Osten der Burg,
Rufe die Eilboten zusammen, rufe nach dem Leuchtfeuer!
Eine Kriegerhorde will diesen Platz überrennen
Und des Svitjod Wohnsitz verbrennen.

20. „Du sollst nicht zurückhalten Hleidras Thron,
Deine rotgoldenen Ringe oder deinen Mahlstein der Reichtümer;
Fasse den Schaft fester, Schwester!
Nicht wärmt uns das Blut der Walstatt.

21. „Gewiß, meines Vaters Maid mahlte mächtig,
Denn sie sah viele Männer in ihren Tod gehen;
Der Mühle breite Stützen, obwohl in Eisen gefaßt,
Bersten entzwei – doch wir mahlten mehr.

22. „Doch wir mahlten noch mehr! Mag Yrsas Sohn,
Halfdans Nachkomme, sich an Frodi rächen;
Er mag ihn für ihren Sohn halten und auch ihren Bruder,
Wir beide wissen dies.“

23. Die Mädchen mahlten mit Macht und Kraft,
Jung wie sie waren im Riesenzorn;
Die Stangen zitterten, die Balken lockerten sich,
Mit ohrenbetäubendem Getöse der Stein in Stücke sprang.

24. So ging die frühere Welt zugrunde.
Sang des Bergriesen Braut:
„Wir haben für dich, Frodi, gemahlen, wie wir gezwungen wurden.
Am Mahlstein blieben die Frauen bis zum Schluß!“

21 – Wölundskvädet

(Das Wölundlied)

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Anmerkungen der Übersetzerin

Das Wölundlied ist eine Erzählung von der Erniedrigung der Seele der vierten Menschheit. Die drei Brüder und ihre Walküren-Frauen stellen anscheinend die ersten drei Zeitalter der vierten Menschheit dar. Der älteste war Egil, der Unschuldige, dessen Kinder die Diener von Thor wurden. Der zweite wurde Slagfinn [Schlagfider], der Jäger, genannt. Der dritte, der in der Erzählung den Samen für das vierte große Zeitalter legte, war Wölund, der Elfen-König – die Seele der Menschheit während jener Phase. Man kann wie üblich eine Analogie zu kürzeren Zyklen ziehen, die mit verschiedenen Typen von Kulturen zu tun haben: die erste, Egil, die Unschuldige – die primitive Phase; die nächste, die Stufe der Jäger und Sammler, und die dritte, die technologisch ausgebildete. Diese frühen Rassen standen noch unter der halbgöttlichen Führung ihrer Walküren, die direkt unter Odin als göttliche Beschützer dienen: die spirituelle Seele, der Strahl der göttlichen Bewußtseinsquelle. Sie zogen sich von der Verbindung mit ihren menschlichen Ehegatten zurück, wie diese Erzählung erklärt.

Wölund ist ein Schmied, geschickt im Umgang mit Metallen. Er wird gefangengenommen, und nachdem ihm seine Kniesehnen durchgeschnitten worden sind, wird er von König Nidud (nid: Übel, Verrat) gefangengehalten und gezwungen, Schätze für den König zu schmieden. Insgeheim schmiedet er auch das magische Schwert (der zyklischen Erneuerung), das sich selbst reproduziert – analog zu dem einen, das die Zwerge für Odin hämmerten. Während seiner erzwungenen Arbeit plante Wölund eine schreckliche Rache, und als die Zeit dafür reif war, bot sich seine Gelegenheit von selbst. Er verführt Niduds Tochter und erschlägt seine beiden Söhne, die er nach einer Version dem ahnungslosen König bei einem Fest servierte.

Dieser Kannibalismus des Königs erweist ihn als eine Zeitperiode, denn die Zeit verschlingt alle ihre Kinder: alles, was die Zeit gebiert, kommt mit der Zeit zu einem Ende. Es gibt eine Parallele in den griechischen Mythen, wo Chronos (der auch für die Zeit steht) seine Kinder verschlingt. In dieser Version verkauft Wölund dem Herrscher die versilberten Schädel seiner Söhne.

Wölund entflieht darauf in einem „Flügelwagen“, einem selbst hergestellten geflügelten Wagen. Er trägt mit sich das magische Schwert und einen Ring, die Eigenschaften der Entschlossenheit, zu wachsen und die immer wiederkehrenden Gelegenheiten für eine Erneuerung. Mit diesen unschätzbaren Schätzen unserer menschlichen Rasse „erhob sich der lächelnde Wölund in die Lüfte; Nidud, sich grämend blieb, wo er stand“ (39). Wölund wird auch „Hrungnir (Rauschen) des Federflügels“ genannt. Dies deutet auch darauf hin, daß das Fliegen bekannt war und von der Rasse, die Wölund repräsentiert, genutzt wurde. (Andere Überlieferungen berichten auch, daß auserwählte Glieder der Menschheit dem sinkenden vierten Kontinent entkamen, der, wie bekannt, allgemein Atlantis genannt wurde. Einige verließen ihn in Flugmaschinen88 und ließen sich auf den sich erhebenden Ländern nieder, wo sie die Rassen hervorbrachten, die zu unserer gegenwärtigen fünften Menschheit gehören.) Der böse König, der zurückgelassen wurde, war offensichtlich eine Periode, in der Technologie vorherrschte, während spirituelle Werte beinahe völlig fehlten.

Wölundskvädet

Nidud war der Name eines Königs in Svitjod [Schweden]. Er hatte zwei Söhne und eine Tochter, Bödwild genannt. Drei Brüder waren die Söhne des Finnenkönigs: einer hieß Slagfinn [Schlagfieder], der zweite Egil, der dritte Wölund. Sie jagten auf Schiern. Sie kamen zu den Wolfstälern und bauten sich dort Häuser. Dort ist ein Gewässer, Wolfsee.

Eines frühen Morgens fanden sie am Strande drei Frauen. Sie spannen Flachs, und neben ihnen lagen ihre Schwanengewänder, denn sie waren Walküren. Zwei von ihnen waren die Töchter des Königs Hlödwer (Njörd): Hladgud-Schwanenweiß und Herwör-Allwitter [Alwit], während die dritte, Ölrun, die Tochter Kjars von Wälschland war. Die drei Brüder nahmen sie mit sich zu ihrem Haus. Egil bekam Ölrun, Slagfinn bekam Schwanenweiß und Wölund bekam Allwitter.89

Sie lebten sieben Jahre zusammen; dann flogen die Frauen davon, Kämpfe aufzusuchen und kamen nicht wieder. Da glitt Egil auf Schiern, Ölrun zu finden. Slagfinn suchte Schwanenweiß, aber Wölund saß im Wolfstal. Er war nach der Legende der geschichtliche Mann, von dem die Menschen wissen. König Nidud hatte ihn gefangengenommen, wie das Lied erzählt.

1. Die Mädchen flogen von Süden durch die dunklen Wälder,
Allwitter, die Junge, ihr Schicksal zu erfüllen.
Zu ruhen setzten sie sich am Seeufer nieder,
Diese Geister des Südens, um kostbaren Flachs zu spinnen.

2. Eine von ihnen nahm Egil zur Frau, die liebliche Maid
Mit schneeiger Brust; die andere war Schwanenweiß,
Trug des Schwanes Schwingen; aber die
Dritte Schwester umarmte Wölunds weißen Hals.

3. Sie blieben sieben Winter, aber im achten
Immer in Sehnsucht, und im neunten schied
Sie die Not. Die Mädchen trieb es durch die düsteren Wälder,
Allwitter, die Jüngere, ihr Schicksal zu erfüllen.

4. Kamen von der Jagd die wegekundigen Jäger,
Slagfinn und Egil fanden ihre Hallen leer,
Suchten überall: Egil glitt ostwärts nach Ölrun,
Slagfinn ging südwärts nach Schwanenweiß.

5. Wölund wartete allein im Wolfstal,
Hämmerte das rotglänzende Gold an der Esse
Ließ jeden Armring mit einem göttlichen Glied schließen,
So harrte er der Rückkehr seiner strahlenden Braut.

6. Da hörte Nidud, König der Njaren,
Daß Wölund allein im Wolfstal wartete.
Bei Nacht kamen Männer in gepanzerten Kettenhemden,
Ihre Schilde blinkten hell im Schein des Halbmonds.

7. Sie stiegen aus den Sätteln am Giebel,
Traten ein und gingen durch die ganze Halle.
Sie sahen die Ringe aufgereiht auf Band und Stroh,
Siebenhundert, die alle dem Schmied gehörten.

8. Sie nahmen sie ab, sie reihten sie auf,
Außer einem nur, den sie liegen ließen.
Kam von der Jagd der Jäger argwöhnisch,
Wölund ist einen sehr langen Weg gewandert.

9. Rasch ging er, das Bärenfleisch anzubraten,
Hoch brannte das Anzündholz aus getrocknetem Feuerholz,
Das winddürre Holz
Vor Wölund auf.

10. Er saß auf dem Bärenfell und zählte die Ringe,
Der Herrscher der Elfen. Ein Ring fehlte;
Er glaubte, daß Hlödwers Tochter ihn genommen habe,
Daß Allwitter, die junge, wieder heimgekehrt sei.

11. Lange saß er da, bis ihn der Schlaf übermannte.
Doch er erwachte und sorgte sich:
Seine Hände waren schwer mit Fesseln gebunden,
Auf seine Füße war eine Fessel angelegt.

12. WÖLUND: „Was sind das für Leute,
Die den Zähmer der Winde
In Bande legten,
Die mich fesselten.

13. Da rief Nidud, der Njarenkönig:
„Wo fandest du, Wölund, weiser Elfenherrscher,
Unser edles Gold im Wolfstal?
Es gab kein Gold auf Granis Wege;
Unser Land ist fern von des Berges Ader.“

14. WÖLUND: „Ich erinnere mich, wir besaßen größere
Schätze, als wir alle gemeinsam
Zu Hause weilten.
Hladgun und Herwör, Hlödwers Kinder,
Ölrun war Kjars Tochter.

15. „Sie ging hinein und durchschritt die
ganze Halle,
Stand still und sagte ruhig:
‘Kein Übel kommt aus den Wäldern heraus!’“

König Nidud gab seiner Tochter Bödwild den Ring, der von der Kette in Wölunds Halle genommen worden war; aber er selbst trug Wölunds Schwert. Die Königin sprach:

16. „Sieh’ wie er seine Zähne bleckt, wenn er das Schwert
Und den Ring an Bödwilds Arm erblickt.
Seine Augen funkeln wie der Schlange Augen.
Durchschneidet die Sehnenkraft seiner Knie
Und setzt ihn in der Schiffe Hafen.“

Dies wurde getan. Ihm wurden die Kniesehnen durchschnitten, und er wurde in den Säwarstad (Hafen) gesetzt. Dort schmiedete er Schätze für den König. Keiner wagte, sich ihm zu nähern, außer der König.

17. WÖLUND: „Es schimmert an Niduds Seite das Schwert,
das ich getempert und mit all meinem Geschick
geschärft habe.

18. „Meine leuchtende Klinge wird weit fortgetragen,
Nimmermehr zu Wölunds Schmiede gebracht;
Nun trägt Bödwild den Ring meiner eignen Braut
Aus rötestem Gold, und ich kann nichts tun.“

19. So saß er, nicht schlief er und schwang den Hammer,
Bald heckt er eine Hinterlist gegen Nidud aus.
Zwei Knaben kamen gerannt und schauten zur Tür herein:
Zwei Söhne des Nidud in Säwarstad.

20. Sie gingen zur Truhe, begehrten den Schlüssel,
Offen war das Übel, als hinein sie sahen:
Schmuckstücke in Hülle und Fülle sahen
sie darin, aus reinstem Gold und wertvollen Steinen.

21. WÖLUND. „Kommt allein zurück, ihr zwei, kommt morgen,
Und ihr sollt das glitzernde Gold haben!
Aber erzählt es weder Mann noch Maid in der Halle,
Keinem Menschen, daß ihr mich gesehen habt.“

22. Früh rief der Bruder den Bruder: „Auf, zur Schmiede!“
Sie gingen zur Truhe, begehrten den Schlüssel,
Offen war das Unheil, als hinein sie sahen.

23. Er schlug ihnen die Köpfe ab und legte ihre
Glieder unter das Wasser.
Aber unter den Haaren die bleichen Schädel
Faßte er in Silber und sandte sie Nidud.

24. Die Edelsteine aus ihren Augenhöhlen
Sandte er Niduds kundiger Gattin;
Und aus den Zähnen der beiden Knaben
Gestaltete er eine Halskette für Bödwild.

25. Bödwild rühmte den Ring,
Brachte ihn zu Wölund
Als er entzweibrach.
Sie wagte es niemandem zu sagen.

26. WÖLUND: „Ich werde den Bruch im Gold reparieren,
So daß er [der Ring] deinem Vater feiner erscheint,
Besser als je zuvor deiner Mutter,
Derselbe für dich.“

27. Er brachte ihr einen Becher,
Das beste Bier,
Und bald sank sie auf ihrem Sitz
In Schlaf.

28. „Nun habe ich mich gerächt
Für den Schaden an mir,
Für allen außer einem,
Dem schlimmsten von allen.

29. „Es wäre gut,“ sprach Wölund,
„Ich stünde auf meinen Füßen,
Obwohl Niduds Schergen
Sie ihrer Kraft beraubten.“

30. Lächelnd erhob sich Wölund in die Höhe;
Weinend verließ Bödwild die Insel;
In Furcht vor ihrem Geliebten
Und ihres Vaters Wut.

31. Draußen ging Niduds übelgesinnte Gattin
Und trat in die endlose Halle ein,
Wo er in der Halle zur Ruhe saß:
„Wachst du, Nidud, Meister der Njaren?“

32. NIDUD: „Immer wach ich, der Freude beraubt;
Schlecht schlafe ich seit meiner Söhne Tod.
Kalt ist mein Haupt, kalt ist dein Rat;
Nun will ich mit Wölund reden,

33. „Sage mir, Wölund,
Weiser Elf,
Was wurde
Aus meinen Söhnen?“

34. WÖLUND: „Erst sollst du alle Eide schwören:
Beim Rumpf des Schiffes, beim Rand des Schildes,
Beim Herzen des Rosses, bei der Schneide des Schwertes,
Daß du Wölunds Frau keinen Schmerz zufügst.
Noch der Fluch meiner Braut bist;
Ob ein Weib ich habe, das du kennst,
Oder ein Kind hier in der Halle.

35. „Geh zur Schmiede, die du für dich erbaut,
Da wirst du finden die Rümpfe bespritzt mit Blut;
Der Knaben Köpfe habe ich dort abgeschlagen
Und legte ihre Rümpfe unter das Wasser.

36. „Die weißen Hirnschalen unter den Haaren
Faßte ich in Silber und sandte sie Nidud,
Die mit Edelsteinen besetzten Augen aus ihren Augenhöhlen
Sandte ich Niduds kundiger Königin.

37. „Doch aus der beiden Knaben Zähne
Formte ich Brustschmuck und schickte ihn Bödwild.
Nun geht Bödwild mit Kindes Bürde
Euer beider einzige Tochter.“

38. NIDUD: „Keine Worte könnten mich mehr betrüben als deine,
Noch könnte ich dir irgend etwas Schlimmeres wünschen, Wölund.
So hoch ist kein Mann, der dich [vom Roß] abwerfen könnte,
Niemand ist so geschickt, der dich niederschlagen könnte,
Da du dich in die Himmel erhobst.“

39. Lächelnd erhob sich Wölund in die Lüfte,
Nidud, sich grämend, blieb wo er stand.

40. NIDUD: „Steh auf, Tackrád, bester der Knechte,
Bitte Bödwild, die brauenlichte,
Daß sie zu ihrem Vater komme,
Um mit ihm zu sprechen.

41. „Ist es wahr, Bödwild, was er gesagt hat,
Daß du und Wölund auf der Insel zusammensaßest?“

42. BÖDWILD: „Es ist wahr, was er dir, Nidud, erzählt hat,
Daß ich mit Wölund zusammen auf der
Insel saß, für einen kurzen Moment der Schuld.
Ich konnte ihm nicht trotzen,
Ich konnte ihm nicht widerstehen.“

22 – Lokasenna

(Lokis Zankrede90)

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Anmerkungen der Übersetzerin

Die Aesir und Ásynjor (Gottheiten) waren in der heiligen geräumigen Halle, die durch glänzendes Gold beleuchtet war, versammelt, um sich an dem in Hymirs Kessel von Ägir gebrauten Bier gütlich zu tun. Thor war „auf östlichen Wegen“, und Loki ist nicht eingeladen worden. An diesem Punkt in der Evolution, als das Bier bereits gebraut wurde, war Loki, das menschliche Gemüt, stolz und selbstisch geworden, unnachgiebig gegenüber den Einflüsterungen der spirituellen Seele. Daher hatte Loki keinen Platz in der Festhalle der Götter inne. Elfen waren jedoch anwesend: die feinsten Eigenschaften der menschlichen Seelen, die ihre Essenz, ihren Ásmegir (Gottmacher), mit dem göttlichen Selbst vereinigt hatten, und die daher in die heilige Umgebung eintreten konnten.

Loki erschlug Fimafeng (Der Fingerfertige), erzwang seinen Weg in die Halle und bat, an den Feierlichkeiten teilnehmen zu dürfen. Er erinnerte Odin an ihre Verwandtschaft, nannte sich selbst Lopt (hochfliegend – aufstrebende menschliche Intelligenz). Auf Odins Geheiß trat Widar seinen Platz an Loki ab und versorgte ihn mit Bier, aber vor dem Trinken brachte Loki einen Trinkspruch auf alle Götter aus, wobei er Bragi (Intuition, bardische Inspiration) absichtlich ausließ. Er bezichtigte die edle Tugend (Bragi) der Feigheit und, als Bragi ihm Goldringe (solche, wie sie als Geld verwendet wurden) anbot und sogar noch sein Pferd und sein Schwert, um den Frieden des heiligen Platzes zu erhalten, weigerte sich Loki, noch weiterhin zu schweigen: Da erhob sich Idun, Bragi zu verteidigen, worauf auch sie zur Zielscheibe von Lokis schlagfertiger Zunge wurde, und bald, nachdem jeder Áse und jede Ásynja sich erhoben hatten, um einen anderen (niemals sich selbst) zu verteidigen, erhielten sie die Beleidigungen des Abtrünnigen. Schließlich intervenierte Frigg. Sie versuchte, die ungehaltene Gesellschaft zu besänftigen, ermahnte die Götter eindringlich, die Torheiten ihrer Jugend zu vergessen und damit aufzuhören, sich gegenseitig mit lange vergessenen Jugendsünden zu rügen, worauf sich Loki auch ihr zuwandte und sie als die Mutter der Götter der Untreue zu beschimpfen begann. Dieses brachte eine scharfe Erwiderung seitens Freyja, die Loki daran erinnerte, daß „Frigg das Schicksal jedes Wesens weiß, obwohl sie selbst nichts sagt.“ Als schließlich Thor die Szene betrat, wurde auch er in eine Auseinandersetzung mit Loki verwickelt, der, als er mit Mjölnir [Thors Hammer], dem Zermahler, bedroht wurde, schließlich aufhörte und ging.

Beim ersten Lesen scheint das Fest der Gottheiten eine sinnlose Reihe von Beleidigungen zu sein, aber bei genauerer Überprüfung veranschaulicht es, wie ein materialistischer und uninspirierter Intellekt auf die Natur schaut, und besonders, wie ein derart pragmatischer Geist die als Götter dargestellten Kräfte in mythischen Geschichten betrachtet. Lokis Schmähungen lesen sich wie die gemeine Sprache eines Fischweibes vom Billingsgate. 91

Er sieht in der Tätigkeit universaler Kräfte nur die Reflektionen seiner eigenen begrenzten und getrübten Wahrnehmungen. Auf diese Weise betrachtet wird die Metapher ganz transparent. In der Tat, Lokis Beschuldigungen der Untreue und der Unmoral werden in zahlreichen Büchern der Mythologie heutzutage exakt kopiert, wo Ehebruch und Blutschande unter den Gottheiten buchstäblich und für bare Münze genommen werden. Wenn aber die Götter und Göttinnen mehr als überlappende, sich verstärkende oder abschwächende Kraftfelder betrachtet werden, die physikalisch eine Wechselwirkung aufeinander ausüben – schwerkraftmäßig und in anderer Weise quer durch das elektromagnetische Spektrum – dann können ihre kombinierten Wirkungen sehr wohl mit dem übereinstimmen, was die mythischen Geschichten erzählen. Wenn obendrein ihre verschiedenen Einflußsphären hinzugezogen werden, um spirituelle und göttliche Wechselwirkungen einzubeziehen, dann betritt ihre Bedeutung einen Bereich der heiligen Wissenschaft.

Der Verstand (mind) ist dualer Natur. Geboren von riesigen Vorfahren ist Loki auch einer der Aesir und ihr beständiger Begleiter, ihre Hilfe und ihr Erklärer, wenn sie in den Riesenwelten wandern. Seine Streiche sind an der Oberfläche eine reiche Quelle von Belustigungen, aber wenn wir seinen Platz in der Evolution der Wesen zu verstehen suchen, erkennen wir bald die Fallen, in die uns Loki, uninspiriert durch Bragi, allein führen kann. Verbunden mit poetischer Inspiration (Bragi) wird der niedere praktische Verstand (Loki) erhoben (Lopt), die Rettung der Menschheit, und stellt den Met für den inneren Gott zur Verfügung. Wenn allein, entfremdet er sich selbst vom Herzen des Seins; gleichgültig gegenüber der Intuition, schimpft er über die Götter, über das universale Gesetz, über die Gerechtigkeit, die Liebe und das Mitgefühl. Unsere eigene Zivilisation veranschaulicht das, denn, obwohl die meisten Menschen für mitleidvolle Taten wohl bereit und geneigt sind, wird häufig Schlauheit über Tugend gestellt und physische Fähigkeiten über Weisheit. Wenn die sanfteren Eigenschaften völlig fehlten, würde unsere Welt wahrlich eine Hölle sein, denn Technologie, die nicht durch Ethik gemildert wird, führt zur Katastrophe, (was buchstäblich bedeutet, daß sie uns von den Sternen trennt). Der menschliche Fortschritt wird nicht durch den Verstand allein gefördert, sondern durch eine Allianz von Verstand und Herz.

Als die Aesir bei ihren Feierlichkeiten an dem gesammelten spirituellen Gewinn des gerade vergangenen Lebens teilnehmen, bleiben die Elfen unter ihnen. Diese sind Seelen, die ihren Verkehr mit den Gottheiten verdient haben. Sie ließen „draußen“ jenen Teil vom Verstand – Loki – der seine eigenen und getrennten Ziele sucht. Aber die schlafenden Elfen sind in der Sphäre der Götter noch nicht bewußt und können keine aktive Rolle in den Feierlichkeiten spielen. Ihr Bewußtsein reicht nicht aus, um sich jener Bereiche zu erfreuen. Sie sind der Zuwachs an Gutem der Seelen. Sie träumen ihre himmlischen Träume in den höheren Hallen der Hel, während sie den Drang, einmal mehr in die Inkarnation als Männer und Frauen einzutreten, abwarten.

Es gibt auch noch eine andere Erklärung für die schlafenden Elfen. In den heiligen Überlieferungen hat jedes Reich der Natur seinerseits seine Blütezeit in irgendeiner Welt. Die anderen Lebensströme, die jener Welt angehören, sind relativ inaktiv. Unsere Erde konzentriert, wie wir beobachten, gegenwärtig ihre Lebenskräfte in der menschlichen Sphäre. Die Vertreter des Mineral- und Pflanzenreichs, obwohl vorhanden, sind für den größten Teil ruhig und relativ inaktiv. Man sagt, daß der Vulkanismus enorm vorherrscht, wenn das Mineralreich aktiv ist, und, wenn die Vegetation am meisten gedeiht, die Pflanzen nicht zahm verwurzelt sind, sondern sich frei über die Erde bewegen. Wenn die nächste Lebenswoge, die der menschlichen nachfolgt, zu unserem Planeten hereinkommt, wird unsere Lebenswoge in dem niedrigsten Reich der Götter „schlafen“, welche dann die vorherrschenden sich entwickelnden Wesenheiten des Globus sein werden und „das Bier“ des Lebens „trinken“.

Lokasenna

Ägir, auch Gymir genannt, hat eine Zecherei für die Aesir vorbereitet, nachdem er den großen Kessel, wie bereits erzählt wurde (s. Hymirs Lied), erhalten hatte. Zu diesem Gelage kamen Odin und Frigg, seine Frau. Thor kam nicht, da er auf östlichen Wegen war, aber Sif, seine Frau, war da. Ebenso auch Bragi und seine Frau Idun. Tyr war auch anwesend. Er war einhändig, denn der Fenriswolf hatte seine Hand abgerissen, während er gefesselt war. Es waren noch Njörd und seine Frau Skadi, Freyr und Freyja, und Widar, Odins Sohn, anwesend. Loki war da wie auch Freyrs Diener Byggwir und Beyla. Die ganze Schar von Aesir und Elfen war anwesend.

Ägir hatte zwei Diener, Fimafeng92 und Elder. Glänzendes Gold ersetzte das Licht anstatt Feuer, das Bier servierte sich selbst, und der Platz war unverletzlich und geräumig. Die Anwesenden lobten die hervorragenden Eigenschaften von Ägirs Diener. Loki konnte dies nicht ertragen, so erschlug er Fimafeng, worauf die Aesir mit ihren Schilden drohten, Loki anschrieen und ihn in den Wald trieben, ehe sie zu trinken begannen. Loki kehrte zurück und traf Eldir draußen. Er sagte:

LOKI: Sag mir, Eldir, ehe du einen anderen Schritt setzt: wovon sprechen die Söhne der triumphierenden Götter auf dem Bierfest?

ELDIR: Sie bewerten ihre Waffen und ihre Kampfesehre, die Söhne der triumphierenden Götter. Von den Aesir und Elfen hier drinnen hat keiner ein gutes Wort für dich.

LOKI: Ich werde in Ägirs Halle eintreten und dieses Trinkfest sehen. Ich werde Hohn und Ärger Aesirs Söhnen bringen und so Übles in den Met mischen.

ELDIR: Wisse, wenn du in Ägirs Halle eintrittst, dieses Trinkfest zu sehen und Hohn und Beschimpfungen auf die edlen Götter häufst, so werden sie es an dir abwischen.

LOKI: Und du wisse, Eldir, wenn wir uns im Wortstreit messen sollten, so bin ich an Antworten besser gerüstet als du.

Darauf trat Loki in die Halle ein. Bei seinem Eintritt fiel alles in Schweigen.

LOKI: Durstig komme ich in diese Halle von weit her, die Aesir zu bitten, ob mir einer von ihnen einen Schluck des guten Mets gäbe. Warum seid ihr so stille, düstere Götter? Habt ihr nichts zu sagen? Zeigt mir entweder einen Sitz oder weist mich ab.

BRAGI: Einen Sitz an der festlichen Tafel wirst du nie von den Aesir erhalten, weil sie wohl wissen, mit wem sie von allen Wesen zu zechen gedenken.

LOKI: Gedenke, Odin, wie wir in alten Tagen beide das Blut mischten. Du sagtest damals, daß du nimmermehr Bier genießen wolltest, wenn es nicht uns beiden gebracht würde.

ODIN: Steh auf, Widar, und laß des Wolfs Vater sich in der Versammlung setzen, so daß Loki uns nicht mit Verachtung hier in Ägirs Halle begrüßen kann. Widar erhob sich und schenkte Loki ein. Ehe dieser trank, wandte sich Loki an die Aesir:

LOKI: Heil euch, Aesir, heil Ásynjor, heil allen heiligen Göttern, außer dem einen, der dort drinnen auf der Bank sitzt – Bragi!

BRAGI: Mein Roß und mein Schwert gebe ich dir freiwillig, auch einen Ring schenke ich dir, damit du die Aesir nicht mit Neid lohnst und die Götter zornig machst.

LOKI: Beraubt, Bragi, wirst du stets des Rosses und der Ringe sein! Von allen Aesir und Elfen bist du der feigste.

BRAGI: Wär’ ich draußen statt drinnen in Ägirs Halle, ich würde dein Haupt bald in meiner Hand halten. Das wäre deiner Lüge Lohn.

LOKI: Du bist tapfer, wenn du sitzt, Bragi, Bankzierde! Komm und kämpfe, wenn du es wünschst. Ein tapferer Mann zögert nicht.

IDUN: Ich bitte dich, Bragi, bei deinen Kindern und Wunschsöhnen, reize Loki tadelnd nicht hier in Ägirs Halle.

LOKI: Halte den Mund, Idun. Von allen Frauen scheinst du mir die mannstollste zu sein, seit deine blendenden Arme deines Bruders Töter umschlangen.

IDUN: Ich will Loki nicht mit Beschuldigungen hier in Ägirs Halle tadeln. Ich möchte vielmehr Bragi besänftigen, der aufgebracht ist. Ich möchte nicht, daß ihr beide zornentbrannt kämpft.

GEFJON:93 Warum müßt ihr, Aesir, harte Worte zwischen euch austauschen! Lopt weiß nicht, wie sehr er über die Götter Witze macht und sie in Versuchung führt.

LOKI: Schweig doch, Gefjon, laß uns nicht vergessen, wie du durch den weißen Jungen, der dir den Schmuck gab, verführt wurdest, und den du mit deinen Gliedern umschlangst.

ODIN: Wirr bist du, Loki, wahnsinnig, da du Gefjons Groll erweckst, denn sie weiß der Zeiten Schicksal wie ich.

LOKI: Schweig doch, Odin, du hast nie gewußt, wie du unter den Kriegern gerecht wählen solltest. Oft gabst du den Sieg jenen, den Schlechtesten, denen du ihn nicht geben solltest.

ODIN: Und wenn ich den Sieg den Schlechtesten gab, den ich ihnen nicht geben sollte, so verbrachtest du acht Winter in der Unterwelt, als Melkerin von Kühen, eine Frau, und da hast du Kinder geboren, Nachkommen des Bösen. Dies gibt mir Grund, dich einen Schuft zu heißen.

LOKI: Doch von dir erzählt man, daß du auf Erden Wahrsagerei getrieben hast, mit sibyllinischer Weisheit betrogen hast, und in Zauberers Gestalt durch die Welt gewandert bist.

FRIGG: Ihr solltet nicht über eure Taten in Jugendzeiten sprechen, was ihr beiden Aesir in der Vorzeit getrieben habt. Die Leute vergessen alten Groll.

LOKI: Schweig Frigg, du bis des Fjörgynns Tochter, Widrirs Gattin. Du hast stets nach Tändelei gesucht und Wili und We an deinen Busen gedrückt.

FRIGG: Hätte ich einen Sohn wie Balder hier in Ägirs Halle, so würdest du den Söhnen der Aesir nicht entkommen, ohne schlimm verprügelt zu werden.

LOKI: Willst du, Frigg, daß ich noch mehr von meinen verletzenden Runen erzähle? Mein Werk wird es sein, daß du Balder nicht mehr zu den Hallen reiten sehen wirst.

FREYJA: Von Sinnen bist du, Loki, da du deine Schandtaten selbst erzählst. Frigg, so weiß ich, kennt das Schicksal eines jeden Wesens, obwohl sie selbst nichts sagt.

LOKI: Schweig doch, Freyja, ich kenne dich gut. Auch du hast Fehler: mit den Aesir und Elfen, die hier drinnen sind, mit allen hast du gehurt.

FREYJA: Deine Zunge ist falsch und ich glaube, daß du dir in der Zukunft Böses und Unheil anschwatzen wirst. Du hast die Aesir und Ásynjor erzürnt. In Schande wirst du deinen Heimweg antreten.

LOKI: Schweig, Freyja, du bist eine Hexe voll von Bösem. Als die milden Götter dich mit deinem Bruder bei der Zauberei ertappten, übel schnaubtest du dann.

NJÖRD: Wenig machts, ob eine Frau einen Ehemann oder einen Liebhaber umarmt, aber es ist ein Wunder, daß der Hermaphrodit der Aesir hier eintreten konnte, da er Nachkommen gebar.94

LOKI: Schweig doch, Njörd. Geschickt wurdest du ostwärts als Geisel für die Götter. Hymirs Mädchen benutzten dich als Nachttopf und machten dir in den Mund.

NJÖRD: Ich habe den Trost, daß ich, als ich ostwärts als Geisel für die Götter geschickt wurde, einen Sohn zeugte, den niemand haßt, einen tapferen Verteidiger der Aesir.95

LOKI: Hör auf, Njörd, halte deinen Mund. Nicht länger soll dies verschwiegen sein: mit deiner Schwester hast du solch einen Sohn gezeugt, wie es zu erwarten war.

TYR: Freyr ist der beste aller kühnen Aesir: keines Mannes Frau oder Maid klagt bei seiner Ankunft. Er befreit alle Gefesselten.

LOKI: Schweig doch, Tyr, du hast niemals Frieden zwischen zweien gestiftet. Laßt uns von deiner rechten Hand sprechen, die Fenris dir abriß.

TYR: Ich verlor meine Hand und du deinen Sternzeugen. Der Wolf ist nicht besser daran, bleibt er doch in Fesseln bis zum Ende der Zeit.

LOKI: Schweig doch, Tyr, es geschah deinem Weib, daß sie einen Sohn mir gebar. Du erhieltest weder eine Elle noch einen Pfennig für die Schande, armer Narr.

FREYR: Ich sehe den Wolf an der Flußmündung liegen bis der Herrscher Herrschaft vergehet. Nicht anders wirst du, wenn du jetzt nicht schweigst, auch gekettet, Intrigant.

LOKI: Mit Gold hast du Gymirs Tochter gekauft und auch dein Schwert verschenkt; doch wenn Muspills Söhne über den Mirkwid [düsteren Wald] reiten, wie wirst du dann kämpfen?

BYGGWIR: Hätte ich die edle Geburt von Ingunar-Freyr und solch einen herrlichen Hof, ich würde dich feiner als Knochenmark zermahlen, du Unglücksvogel, und all deine Glieder lähmen.

LOKI: Wer ist das Kleine, das seine Nahrung sich erschlängeln ich sehe, eines, das Krumen beschnüffelt? Du tratschest in Freyrs Ohr und trittst die Mühle.

BYGGWIR: Byggwir heiß ich und werde flink unter den Göttern und Menschen genannt. Ich darf gutes Bier hier mit allen Söhnen Ropts trinken.

LOKI: Schweig doch, Byggwir, du konntest die Nahrung unter den Männern nie gut verteilen, und du verstecktest dich im Stroh unter der Bank, wenn Männer handgreiflich wurden.

HEIMDAL: Du bist trunken, Loki, und deines Verstandes beraubt. Warum hörst du nicht auf, Loki? Des Trunkes Übermaß betört jung und alt; sie verlieren die Kontrolle über ihre Zungen.

LOKI: Schweig doch, Heimdal. In der Urzeit hattest du ein häßliches Geschick, immer mit Wasser auf dem Rücken bespritzt, Wächter der Götter.

SKADI: Du bist lustig, Loki, doch nicht lange sollst du mit einem wedelnden Schweif schlagen, denn gefesselt mit den Därmen deines kalten Sohnes werden die zornigen Götter dich an einen scharfen Felsen binden.

LOKI: Wenn auf einen scharfen Felsen die zornigen Götter mich mit den Därmen meines frostkalten Sohnes binden, ich war der erste und der letzte in dem Kampf, als Thazi96 sein Leben verlor.

SKADI: Wenn du der erste und der letzte im Tumult warst, als Thazi sein Leben gab, dann wirst du von meinem Heiligtum, meinen heiligen Hainen nur kärglichen Rat erhalten.

LOKI: Lieblicher waren deine Worte zu Löfös [Laufeys] Sohn als du mich in dein Bett entbotst. Solche Dinge müssen erzählt werden, wenn wir alle unsere Fehltritte schildern sollten.

Beyla/Sif trat heran und füllte den Humpen mit Met für Loki:

SIF: Heil dir, Loki, nimm diesen Becher mit lieblichem Met gefüllt, und möge ich von Aesirs Kindern allein von Schandtaten frei sein.

Loki nahm das Horn und trank.

LOKI: Die einzige in der Tat wärest du, wenn du so treu und aufmerksam deinem Ehegemahl gegenüber wärest, aber ich kenn’ einen, der in Hlorridis Bett ruhte, und das ist der schlaue Loki.

BEYLA: Die Berge zittern, ich glaube, Hlorridi ist auf dem Wege hierher vom Hofe: er wird den Verleumder von Gott und Mensch zur Ruhe bringen.

LOKI: Schweig doch, Beyla, du bist Byggwirs Weib, voll von Übel, keine unverschämtere Nervensäge kam je unter Aesirs Kindern, du schmutzige Milchmagd.

Da trat Thor ein und sprach:

THOR: Schweig, miserabler Wicht, ich werde mit Mjölnir, meinem Feuerhammer, dich zum Schweigen bringen. Ich werde dein Haupt vom Halse abhauen, verloren ist dein Leben dann.

LOKI: Nun ist der Erdensohn gekommen. Warum tobst du so, Thor? Du wagst nicht damit zu prahlen, den Wolf zu schlagen, der den Sieg-Vater ganz verschlingt.

THOR: Schweig, arger Wicht, mein Kraft-Hammer Mjölnir soll dir die Sprache rauben. Ich werde dich hoch schleudern in den östlichen Raum, so daß niemand dich wieder sehen kann.

LOKI: Von deinen Ostfahrten sollstest du, Krieger97 , vor Menschen nicht prahlen, seit du in des Riesen Däumling seines Handschuhs hocktest. Du schienst damals Thor ganz unähnlich zu sein.

THOR: Schweig, arger Wicht, mein Kraft-Hammer Mjölnir soll dir die Sprache rauben. Mit dieser meiner rechten Hand werde ich dich mit Hrungnirs Töter erschlagen, daß all dein Gebein zerbricht.

LOKI: Zu leben denk ich noch ein langes, langes Zeitalter, auch wenn du mich mit dem Hammer bedrohst. Schrecklich fest angezogen schienen dir Skrymirs Knoten, doch kräftig und stark war dein Hunger.

THOR: Schweig, arger Wicht, mein Kraft-Hammer Mjölnir soll dir deine Sprache rauben. Hrungnirs Töter wird dich zur Hel senden, hinter des Totenreichs Tor.

LOKI: Ich sang vor den Aesir und Aesirs Söhnen, was immer ich wollte, aber nur vor dir werde ich von hier weggehen, denn ich weiß, daß Thor schließlich schlagen wird. Bier brautest du, Ägir, aber nicht noch einmal sollst du ein Fest geben. All das, was hier dein Eigen ist, möge mit dir verbrennen und Feuer verbrennen deinen Leib.

Danach ging Loki in Gestalt eines Lachses in den Frananger Strom, wo die Aesir ihn fingen. Er wurde mit den Därmen seines Sohnes Nari gebunden. Narfi sein (anderer) Sohn wurde ein Wolf. Skadi hing eine giftige Viper über Loki auf. Das Gift tropft von ihr ab. Sigyn, Lokis Weib, sitzt bei ihm und hält eine Schale unter das Gift, und wenn sie die Schale ausleeren geht, tropft das Gift auf Loki. Er krümmt sich vor Schmerzen, so daß die Erde zittert. Dieses wird Erdbeben genannt.

23 – Allvismál

(Das Alwislied)

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Anmerkungen der Übersetzerin

Alswis (allweise oder allwissend) ist ein Zwerg, der Thors Tochter ehelichen möchte. Zweifelnd, ob der Zwerg dieser Verbindung würdig ist, gibt ihm Thor trotzdem eine Gelegenheit, sich selbst zu prüfen. Er unterwirft ihn einer intensiven Prüfung hinsichtlich der Einstellung und Vision, die verschiedene Grade von Wesen charakterisieren, welche die Welt zusammensetzen. Alwis gibt befriedigende Antworten zu allen Fragen, aber Thor hält ihn durch Reden bis zum Tagesanbruch zurück, wobei ihn die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne niederstrecken und er zu Stein wird, oder, in einigen anderen Versionen, mit dem Berg verschmilzt, aus dem er herauskam.

Viele Märchen haben dieses überraschende Ende, wo ein Zwerg oder Troll sich in einen Stein verwandelt, wenn er dem Morgengrauen gegenübersteht. Verschiedene mögliche Interpretationen bieten sich selbst an. Eine davon ist, daß die zur Nachtseite der Natur gehörenden Kräfte, die nichts mit dem Tag zu tun haben, von ihrer Aktivität ablassen, wenn das Licht zurückkehrt. Alwis jedoch vermittelt mehr als das. Er ist ein kenntnisreicher Zwerg, der sich erdreistet, eine Verbindung mit der Tochter des Gottes, welcher der Erhalter des Lebens ist, zu erbitten. Als menschliche Natur ist er gut informiert aber unerleuchtet. Er sucht nach Unsterblichkeit aufgrund seines beachtlichen Wissens, aber seine „Zwerg“-Natur ist noch unreif, und bis er durch die Sonnenstrahlung inspiriert und für sie empfänglich wird, kann er nicht die gewünschte Vereinigung mit der Gottheit gewinnen. Wenn der Neophyt der Sonnenessenz gegenübersteht, „verwandelt“ sich das Zwergenelement, das für eine Verschmelzung mit ihr untauglich ist, „zu Stein“.

Viele Mythologien, einschließlich der biblischen, verwenden den Stein oder Felsen, um eine dogmatische, tote Buchstaben-Religion zu symbolisieren. Das wird durch Moses veranschaulicht, der lebendiges Wasser aus dem Fels – die Lehren innerhalb des Rituals – herausholte. Das Christentum kam später auf den „Fels“ (petra oder Peter) als die Grundlage der Kirche zurück.

Dieses Lied ist wahrscheinlich auch für andere genauso berechtigte Interpretationen gültig. Es ist sehr aufschlußreich von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus, die Bewußtheiten auf verschiedenen Stufen des Bewußtseins und des Verständnisses charakterisieren – angefangen von dem einfachen Materie-Standpunkt der Riesen durch die verschiedenen Wahrnehmungen der Zwerge und Elfen bis zu dem Überblick der Götter, welche die Natur beherrschen.

Allvismál

1. ALWIS: Die Bänke sollen geschmückt werden.
Nun wird eine Braut zu ihrem Heim hinziehen
Mit großer Eile, so scheint es.
Keine Ruhe wird zu Hause erwartet.

2. THOR: Welch eine Memme ist das? Woher so fahl im Gesicht?
Schliefst du mit dem Tod letzte Nacht?
Mich dünkt, Riesenwuchs gewahr ich an dir.
Du bist nicht für eine Braut geboren.

3. ALWIS: Alwis heiß ich. Unter der Erde wohn ich.
Und meine Stätte liegt unterm Stein.
Den Wagen-Krieger98 will ich sehen
Niemand breche sein Wort!

4. THOR: Ich breche es doch, denn ich als ihr Vater
Habe das Recht zu entscheiden.
Ich war nicht daheim als sie [dir] versprochen wurde.
Ich allein unter den Göttern bin ein Ehestifter.

5. ALWIS: Wer ist dieser Mann, der behauptet,
Herr über die blonde und gesegnete Frau zu sein?
Bei der Weite deiner Bogenschüsse gibt es nur wenige, die dich kennen.
Wer hat dich für goldene Ringe geboren?

6. THOR: Wingthor heiß ich. Ich bin weit gewandert,
Und ich bin der Sohn von Vollbart.99
Nicht gegen meinen Willen sollst du die Maid haben
Oder ihr Treuegelöbnis erhalten.

7. ALWIS: Doch bald werd ich dein Versprechen haben
Und das Treuegelöbnis erhalten.
Ich möchte die schneeweiße Maid viel lieber haben
Als auf sie verzichten.

8. THOR: Verwehrt werden soll dir, weiser Gast,
Nicht ihre Liebe, wenn du mir aus jeder
Welt Kunde geben kannst,
Was ich wissen will.

9. ALWIS: Prüfe mich, Wingthor, in allem was du mich fragst,
Sieh, wofür der Zwerg gut ist!
Ich bin in allen neun Welten gewandert
Und ich habe von allen etwas gelernt.100

10. THOR: Sage mir, Alwis, denn du mußt
Die Schicksale aller Weltreiche kennen:
Wie heißt die Erde, die für die Söhne Der Ewigkeit in jeder Welt bestimmt ist?

11. ALWIS: Die Menschen nennen sie Erde, aber die Aesir101 Humus.
Die Wanen nennen sie Wege.
Die Riesen sagen Immergrün, die Elfen nennen sie Wachstum,
Die Strebenden Ursprung.

12. THOR: Sage mir, Alwis, denn du mußt
Die Schicksale aller Weltreiche kennen:
Wie heißt der Himmel, der
Hochgewölbte bei jeder Welt?

13. ALWIS: Die Menschen nennen ihn Himmel, die Götter sagen Schutz,
Windmacher ist er für die Wanen;
Die Riesen sagen Hochheim, die Elfen offenes Dach,
Die Tropfhalle ist sie für die Zwerge.

14. THOR: Sage mir, Alwis, denn du mußt
Die Schicksale aller Weltreiche kennen:
Wie heißt der Mond, den die Menschen
Sehen in jeder Welt?

15. ALWIS: Mond bei den Menschen aber Minderer bei den Göttern,
Drehendes Rad im Hause der Hel.
Die Riesen sagen Eiler, die Zwerge Schein,
Die Elfen nennen ihn Zeitmesser.

16. THOR: Sage mir, Alwis, denn du mußt
Die Schicksale aller Weltreiche kennen:
Wie heißt die Sonne, die die
Menschen in jeder Welt sehen?

17. ALWIS: Die Menschen nennen sie die Sonne, aber die Götter sagen die Südlichste,
Die Zwerge nennen sie Dwalins Spielzeug.
Die Riesen sagen Immerglänzende, die Elfen nennen sie Lichtrad,
Alldurchsichtig ist sie den Söhnen der Aesir.

18. THOR: Sage mir, Alwis, denn du mußt
Die Schicksale aller Weltreiche kennen:
Wie nennt man die Wolken, die mit Regen durchnässen,
In jeder Welt?

19. ALWIS: Die Menschen nennen sie Wolken, die Götter Schauer-Gewohnheit,
Die Wanir sagen Windstrom;
Die Riesen sagen Wetteromen, die Elfen Sturm-Verkünder,
Hels Volk sagt die Tarnkappe.

20. THOR: Sage mir, Alwis, denn du muß
Die Schicksale aller Weltreiche kennen:
Wie heißt der Wind, der weithin reist
In jeder Welt?

21. ALWIS: Wind bei den Menschen, aber Weher bei den Göttern,
Gewieher bei den höchsten Göttern (Wanir),
Heuler bei den Riesen, Lärmmacher bei den Elfen,
Wirbelnder im Hause der Hel.

22. THOR: Sage mir, Alwis, denn du mußt
Die Schicksale aller Weltreiche kennen:
Wie heißt die Windstille, die eines
Tages kommt und sich auf jede Welt legt?

23. ALWIS: Stille bei den Menschen, das Gesetz bei den Göttern,
Die Wanir sagen Ende-des-Windes;
Die Riesen sagen Schwüle, die Elfen eine Tagesruh,
Die Zwerge nennen sie Ende-des-Seins.

24. THOR: Sage mir, Alwis, denn du mußt
Die Schicksale aller Weltreiche kennen:
Wie heißt das Meer, auf dem man
In jeder Welt rudert?

25. ALWIS: Meer bei den Menschen, Trichters Auge bei den Göttern,
Wogen bei den weisen Wanir;
Aalheim bei den Riesen, das Gesetz bei den Elfen,
Tiefsee bei den Zwergen.

26. THOR: Sage mir, Alwis, denn du mußt
Die Schicksale aller Weltreiche kennen:
Wie heißt das Feuer, das für alle
In jeder Welt brennt?

27. ALWIS: Feuer bei den Menschen, bei den Aesir der Funke, der leuchtet,
Wagen bei den Wanir;
Die Riesen sagen der Unersättliche; der Brennende die Zwerge,
Der Schnelle in Hels Haus.

28. THOR: Sage mir, Alwis, denn du mußt
Die Schicksale aller Weltreiche kennen:
Wie heißt der Wald, der beschattet und wächst
In jeder Welt?

29. ALWIS: Wald bei den Menschen, aber Erd-Mensch bei den Göttern,
Hügeltang bei Hel,
Brennmaterial bei Riesen, Blütenzweige bei den Elfen,
Die Wanir sagen Weidenholz.

30. THOR: Sage mir, Alwis, denn du mußt
Die Schicksale aller Weltreiche kennen:
Wie heißt die Nacht, die Tochter der Dunkelheit,
In jeder Welt?

31. ALWIS: Nacht bei den Menschen, die Götter sagen Dunkelheit,
Die höchsten Götter sagen Tarner;
Die Riesen sagen Unlicht, die Elfen Schlaffreude,
Die Zwerge nennen sie Träume-Binder.

32. THOR: Sage mir, Alwis, denn du mußt
Die Schicksale aller Weltreiche kennen:
Wie heißt die Ernte, die von den Söhnen der Ewigkeit
In jeder Welt gesät wurde?

33. ALWIS: Die Menschen nennen sie Getreide, die Götter noch-zu-tragen [Saat],
Die Wanir sagen Wachstum,
Die Riesen Nahrung, die Elfen das Gesetz,
In Hels Haus eine schwere Ähre.

34. THOR: Sage mir, Alwis, denn du mußt
Die Schicksale aller Weltreiche kennen:
Wie heißt man das Bier, das die Söhne der Ewigkeit
In jeder Welt trinken?

35. ALWIS: Äl bei den Menschen, aber bei den Äsier Bier,
Bei den Wanir einen Kraftzug;
Reines Gesetz bei den Riesen, Met in Hels Haus,
Aber Festgetränk bei Suttungs Söhnen.

36. THOR: Aus eines Mannes Brust habe ich noch nie so viele Verse der Weisheit erfahren.
Mit List habe ich dich irregeführt;
Bei Tagesanbruch, Zwerg, wirst du bewegungslos.
Nun scheint die Sonne in den Saal.

24 – Grogaldern und Fjölvinns Ordskifte

(Die Zauberlieder der Groa und Fjölwinns Wandlung)

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Anmerkungen der Übersetzerin

Grogaldern

Die beiden folgenden Lieder gehören zusammen, und es wäre irreführend, wenn man sie trennen würde. Das erste zählt die notwendigen Eigenschaften auf, die von einem Kandidaten für die Initiation erworben werden müssen. Das zweite enthält den Höhepunkt der Prüfung selbst. Gemeinsam erzählen sie die Geschichte von Swipdag und seinem „Erscheinen als Tag“.

Odr102 (Mensch) wird von seiner Stiefmutter Skadi mit dem angeblich unmöglichen Auftrag weggeschickt, die Halle der Menglad („sie, die sich eines Juwels erfreut“, ein Name für Freyja, der Besitzerin des Brisingamen, der Menschheit) zu finden und sich den Eintritt zu ihr zu verschaffen. Skadi ist die Schwester, die Frau und auch eine Tochter von Njörd (Zeit). Sie war es, die die giftige Schlange über Lokis Gesicht aufhing, als er in der Unterwelt gefesselt war.

Um allen diesen aber unüberwindlichen Schwierigkeiten seiner Suche begegnen zu können, rief Od die Hilfe seiner toten Mutter namens Groa (Wachstum) an.

Sie erhob sich von den Toten und sang ihm neun schützende Zauberlieder vor. Dargestellt als eine Sibylle symbolisiert sie die Vergangenheit des Helden, seine früheren Selbste, die seinen Charakter geformt haben und ihm zu der Geburt verhalfen wie er jetzt ist. Wenn die Leben der Vorbereitung ihm die für einen Erfolg notwendigen Fähigkeiten erbracht haben, wird er für die große, vor ihm liegende Prüfung gerüstet sein.

Die „schützenden Zauberlieder“ sind natürlich die Kräfte und Tugenden, die er verdient hat. Das erste betrifft die Freiheit von allen äußeren Zwängen; das zweite die Selbstbeherrschung; das dritte die Immunität gegenüber den mächtigen Strömen, die zu den Bereichen des Todes (der Seele) fließen; das vierte ist die Macht, Feinde zu Freunden zu verwandeln, negative Züge in positive, nützliche Merkmale umzuwandeln; das fünfte ist das magische Schwert, das von allen Banden, allen begrenzenden Schwächen befreien wird, welche der Held jetzt überwunden haben muß. Sie sind die persönlichen Bindungen, welche die Seele von ihrem hohen Ziel hinwegziehen. Im sechsten Zauberlied versichert sie ihm die Hilfe der Naturelemente, sogar jene von dem „Meer, das fürchterlicher ist als der Mensch weiß“ (11) – das Astrallicht mit seinen bösen Illusionen; im siebten Lied gewinnt er Immunität gegenüber der „Kälte des Hochgebirges“ (12) – die eisige Furcht, die die Seele ergreift, wenn sie den nichtvertrauten Höhen reinerer Welten gegenübersteht. Das achte ist die Fähigkeit, sich unbeschadet zwischen den Schatten des Todes zu bewegen.

Aus allem diesem zeigt die theosophische Interpretation klar, daß das Abenteuer, auf das sich Od eingelassen hat, eine Initiation in einen hohen Stand des spirituellen Bewußtseins ist. Eine solche Initiation erfordert zuerst einen Abstieg in die unterhalb unserer physischen Welt gelegenen Regionen. Jeder große Lehrer der Menschheit muß „in die Hölle absteigen“, um den Wesen niedrigeren Grades Hilfe zu leisten und ihre Daseinsumstände zu fühlen und zu verstehen, während er seine Integrität beweisen und durch die schädlichen Einflüsse dieser Welten unbeeinflußt bleiben muß.

Im neunten weist die Sibylle eindeutig darauf hin: „Wenn du mit dem speerberühmten Riesen Worte austauschen solltest, so sollen dir Rede und männlicher Verstand im Munde wie auch im Herzen reichlich gegeben werden!“ (14)

Die neun Zaubergesänge bezeichnen auch Eigenschaften, die von jedem Menschen entwickelt worden sind oder entwickelt werden müssen, der die neun Welten, die wir in diesem Zyklus erfahren haben, überquert hat. Sicher ist, daß sie ein notwendiges Rüstzeug für jede Seele sind, um wirklich erleuchtet zu werden.

Fjölswinns Wandlung

In diesem Lied sucht Od Zutritt zu der Halle von Menglad, deren Name wir als eine Kenning für Freyja kennen. Der Hüter am Tor zu Menglads Halle nennt sich selbst Fjölswinn (der Vielweise) und ist niemand anderes als Odin. Diese Bezeichnung steht hier für des Menschen inneren Gott und Hierophanten. Er weist den Wanderer zurück, nennt ihn „Riese“ und „Wolf“, aber Od besteht darauf, Zugang zu der vergoldeten Halle zu bekommen. Nach seinem Namen gefragt, antwortet er:

„Windknecht heiß ich, Lenzkalt war mein Vater. Sein Ahn war Sehrkalt“ (6). Od erkundigt sich dann, wem diese Halle gehört und erfährt, daß sie tatsächlich die von Menglad ist, „geboren von ihrer Mutter und dem Sohne des Schlaf-Zauberers“ (7).

Hier ist der Ursprung der Geschichte von der Schlafenden Schönheit. In Schweden ist sie Törnrosa (Dornröschen). Die Rose stach mit den Dornen des Schlafes: Sie ist die spirituelle Seele des Menschen, die unerwachte Schönheit, die das Lebensziel des Menschen ist. Der Schlaf-Zauberer wird in gewisser Beziehung mit Njörd, Zeit, und auch mit Lenzkalt, eine weit vergangene Zeit der Unschuld identifiziert. Der Sucher und der Gesuchte sind von derselben göttlichen Quelle abgestiegen, wie es die menschliche Seele und ihr innerer Gott sind. Es ist das Ziel und der Zweck des Individuums, die Wiedervereinigung mit dem Universalen nach der Verwirklichung seines Selbst-Bewußtseins durch die Evolution in allen Bereichen der Materie zu erlangen: mit Menglad-Freyja – dem höheren Selbst des Menschen, seiner spirituellen Intelligenz – um eins mit der Gottheit zu werden, die ihren menschlichen Meister erwartet.

In der Gestalt von Windkalt, stellt Od Fragen an den Wärter am Tor, und Odin-Vielweise antwortet: Er teilt den Namen und die Funktion des Tores mit, das wie eine Fessel jeden Pilger bindet, der den Riegel anhebt, und auch den Namen und die Funktion der Halle. Diese wurde aus den Gliedern des Schlammriesen erbaut – der Substanz, aus der die ersten Formen des Menschen gefertigt wurden. Diese Formen wurden von den Göttern als unfertige Vehikel zurückgewiesen und durch eine spätere Schöpfung abgelöst. Seine [des Wärters am Tor] Aufgabe ist es, alle Ankommenden abzuweisen. Die beiden bissigen Wachhunde, laut Vielweise, haben elf Wachen noch zu halten, ehe diese Lebensdauer endet.

Als Windkalt nach dem Namen des Baumes fragt, dessen Zweige sich über das ganze Land ausbreiten, wird ihm gesagt, daß er Mimameid, der Baum der Erkenntnis ist, „der nicht durch Feuer oder Eisen fällt“ (20) und dessen Früchte helfen, das zu enthüllen, was innen verborgen ist. Das darf nicht mit dem Lebensbaum verwechselt werden, dessen Name mit dem „weisen Riesen“ Mimir verbunden ist, dem Eigner des Brunnens der Weisheit, die durch die Existenz in der Materie gewonnen werden kann. Auch in der biblischen Genesis sind der Baum des Lebens und der Erkenntnis völlig verschieden. Es ist klar, daß der „Fall“ aus der Unschuld ein unvermeidlicher Teil des evolutionären Prozesses war. Der Mensch muß den Kindheitszustand verlassen und in das eintreten, was die Edda die „Sieg-Welten“ nennt, um bewußt, selbstbewußt seinen letztlichen Zugang zum Baum des Lebens zu verdienen. Hier muß die menschliche Seele oder die Elfe, Od, durch ihre eigenen selbstbestimmten Anstrengungen den gottgleichen Zustand erreichen, der sie befähigt, sich mit ihrer Hamingja (unsterbliche Essenz) zu vereinigen. Wir werden sehen, wie von Grund auf eine enge Vertrautheit mit dem Baum der Erkenntnis für den menschlichen Initianden nötig ist, um diese Vereinigung zu erzielen.

Windkalt erkundigt sich über den goldenen Vogel in den höchsten Zweigen von Mimameid und erhält die Antwort, daß es Weitöffner [Widofnir] sei. Der Held muß ihn besiegen, aber um dies zu tun, muß er in die Unterwelt hinabsteigen und dort den magischen Trank bekommen, der von Lopt (hochfliegend: Aspiration), der inspirierte Aspekt von Loki, die von ihrer Hamingja geführte Vernunft, gebraut wurde. Das Gebräu wurde aus der Reue in den niedrigeren Höllen hergestellt und wird in einem Gefäß aus hartem Eisen, und durch neun starke Schlösser gesichert, aufbewahrt. Der Held muß das Gefäß seiner Besitzerin, der gefürchteten Hexe Sinmara, entreißen, die, wie Ceridwen im Walisischen, den Kessel hütet. Das Gebräu, wie der mystische Somatrank, der den Initianden im Osten angeblich gereicht wird, hilft bei der Öffnung des Bewußtseins zu den furchterregenden Höllen der Seele. Diese muß der Kandidat erfolgreich durchqueren – „endloses Leid“, das durch den Weitöffner „in einem großen Leiden“ (23) angehäuft wird.

Aber es gibt ein Paradoxon: um von Sinmara den magischen Trank zu erhalten, der den Weitöffner in den höchsten Zweigen des Baumes der Erkenntnis zugänglich macht, muß der Held ihr eine glänzende Feder eben von jenem goldenen Vogel bringen!

Der Kandidat, der die Weisheit der Götter sucht, muß daher Zugang zu den spirituellen Höhen gewinnen, um in die niedrigsten Regionen abzusteigen und unbeschadet zurückzukehren. Nur nach seinem erfolgreichen Aufstieg, nach dem vorherigen Abstieg in die Hölle, kann er auf seine Braut Anspruch erheben – die Vereinigung mit der unsterblichen Essenz von ihm, dem universalen Herzen seines Wesens, und er kann die Aussicht auf unbegrenztes Wissen – für diese Welt oder diesen Zweig des Lebensbaumes erringen.

Hier gibt es eine Geschichte innerhalb einer Geschichte, wie es so häufig in Mythen geschieht. Od, der am Tor steht, das zur endlichen Erlösung führt, erhält in seinem Wortwechsel mit dem Hüter des Tores, der sein Initiator, Führer und Prüfer ist, Informationen, die eindeutig für den Hörer oder Leser beabsichtigt sind: eine Beschreibung der Erfahrungsarten und der Erleuchtung des Gemütes und der Seele, die von dem erlebt werden müssen, der danach strebt, in die Ruhe genannte Halle einzutreten. Diese Halle „balancierte lange auf der Spitze eines Speers, worüber nur Gerüchte die Alten Völker erreichten“(31) – (als es noch niemanden gab, der sie erreichen konnte?).

Schließlich steht Windkalt erlöst als Swipdag, der Strahlende – „als Tag erscheinend“ – da. Jetzt nennt er sich selbst Sohn des Sonnenglanzes, „auf windkalten Wogen vorwärts getrieben“ (46). Die ägyptischen Mysterien erwähnen den erhobenen Initiierten als einen „Sohn der Sonne“, denn es ist ein Strahlen um ihn herum sichtbar. Das ist der lange vergessene Ursprung des uṣṇīṣa oder Heiligenscheins über dem Kopf von Bodhisattwas, Christussen und Heiligen in der alten oder mittelländischen Kunst. Swipdag, der erfolgreiche Initiierte, repräsentiert einen der so selten vervollkommneten Menschen in der Geschichte der Menschheit. „Auf windkalten Wegen herumgestoßen“ sind wir alle, jede Monade, jeder Funke des göttlichen Feuers, der von IHM am Anfang der Zeit ausgegangen und in die Sphären des Lebens abgestiegen ist. Seine Bestimmung ist es, am Ende des Zyklus mit seinem göttlichen Vater wiedervereinigt zu werden, wobei jede Monade des Bewußtseins den Erfahrungszuwachs mitbringt, der während ihrer Existenz erworben worden ist.

Das Ende dieses Liedes zeigt die Edda als eine Übermittlung der einen universalen Theosophie, die durch den Buddhismus, das Christentum und andere heilige Überlieferungen quer durch die Geschichte ausgedrückt wird. Die Geschichte von Swipdag weist auf das wahre Ziel des Lebens hin – beschleunigt durch die Initiation – etwas, das von den modernen Mythologen ständig übersehen worden ist. Es ist das wahre Kreuz des Abenteuers des Helden, sein selbstloser Fortschritt, Erfolg, und die krönende Wiedervereinigung mit seiner Hamingja. Als Menglad ihn als ihren Geliebten willkommen heißt und sagt, daß sie ihn auf dem heiligen Berg lange erwartet hätte, antwortet er: „Beide haben wir uns gesehnt. Ich habe mich nach dir gesehnt, und du, mich zu treffen. Genugtuung herrscht nun, da wir zwei die Aufgaben der Jahre und der Zeitalter gemeinsam tragen“ (48).

Diese wenigen Worte sind unter den bedeutendsten in allen Mythologien vorhanden: Der mit seinem spirituellen Selbst vereinigte Held – nicht triumphierend in seiner Glorie oder zufrieden, ewig in himmlischem Frieden zu ruhen – verpflichtet sich, seinem höheren Selbst von nun an in der Erfüllung „der Aufgaben der Jahre und der Zeitalter“ zu helfen. Dieser Schlußvers stellt die altnordischen Mythen unter die edelsten Schriften der Welt, unter jene, die das göttliche Opfer zur Pflicht machen, wobei der Aspirant sich zum Ziel setzt, der Menschheit zu dienen. Er gewinnt universalen Frieden nur, um ihm zum Wohle aller Wesen zu entsagen. Dies ist das Ideal der Schulen des echten Okkultismus durch alle Zeitalter und die Motivation aller Erlöser der Welt.

Grogaldern

1. SOHN (OD): Wach auf, Groa, gute Frau. Ich weck dich an den Toren des Todes.
Hast du nicht deinen Sohn ermahnt, zum Hügelgrab zu kommen?

2. MUTTER (GROA): Welches Schicksal hat meinen einzigen Sohn getroffen, zu welchem Übel ist mein Sohn geboren,
Daß du deine Mutter aus dem Tode rufst, wohin sie aus der Menschenwelt gegangen ist?

3. SOHN: Einen üblen Streich spielte mir die schlaue Frau, die meinen Vater umarmte;
Sie hat mich dahin geschickt, wohin niemand gehen mag – zu Menglad.

4. MUTTER: Weit ist die Fahrt, weit sind die Wege: weit reichen die menschlichen Leidenschaften;
Wenn du in deinem Wunsch erfolgreich bist, wird Skuld103 auch zufrieden sein.

5. SOHN: Sing mir Zauberlieder, die gut sind, hilf deinem Sohn, Mutter. Auf weiten Wegen
werde ich mich hilflos verirren. Ich fühle mich für die Hochzeit noch zu jung.

6. MUTTER: Zuerst sing ich dir das Glückslied, das Ran der Rinda vorsang:
Wirf alle Übel von deinen Schultern und lenke deine eignen Schritte.

7. Ich sing dir ein zweites: Wenn du widerwillig auf Wegen wanderst: Urds104 Riegel halten
Dich fest, wenn dich Drangsal drückt.

8. Ich sing dir ein drittes: Wenn reißende Ströme dich zu verschlingen drohen,
So sollen sie zur Hel eilen, und vor dir an Stärke verlieren.

9. Ich sing dir ein viertes: Wenn Feinde gerüstet auf den Wegen der Menschen lauern,
So möge sich ihr Sinn dir zuwenden, ihr Zorn sich zu Freundschaft beruhigen.

10. Ich sing dir ein fünftes: Wenn man Fesseln dir um die Glieder legt, ein Schwert laß ich über dir erklingen,
Das die Schlösser von deinen Gliedern sprengt, und die Fesseln sollen von deinen Füßen fallen.

11. Ich sing dir ein sechstes: Wenn du auf See bist, fürchterlicher als Menschen wissen können,
Das Rasen des Windes und das Tosen der Wogen sollen dir auf deiner Reise helfen.

12. Ich sing dir ein siebentes: Wenn du auf dem Hochgebirge vor Frost erstarrst,
Der Schauder des Todes soll dein Fleisch verschonen und deine Glieder sollen ihr Leben behalten.

13. Ich sing dir ein achtes: Wenn dich auf Nebelpfaden die Nacht überrascht,
Daß dir kein Schaden vom Schatten eines Christenweibes widerfahren soll.

14. Ich sing dir ein neuntes: Wenn du Worte mit dem speerberühmten Riesen wechselst,
Worte und Mannesverstand der Zunge wie auch des Herzens sei dir reichlich verliehen.

15. Wandere keine Wege, wo Übel du spürst. Kein Hindernis hindere dich also.
Auf dem erdfesten Stein stand ich im Tor, da ich diese Zaubersprüche dir sang.

16. Bewahre deiner Mutter Worte, Sohn; laß sie immer in deinem Herzen leben.
Alles was gut ist, sollst du immer ernten, solang du meinen Worten Beachtung schenkst.

Fjölsinns Ordskifte

1. Außerhalb des Hofes sah er einen Riesen sich zu der Feste nach oben erheben:
„Wer ist der Wicht, der vor dem Hofe steht und um die reinigenden Flammen schweift?
„Was suchst du, wessen Spur folgst du? Was willst du wissen, ohne Freunde?
„Wandere wieder fort auf nassen Wegen. Du hast keinen Fürsprecher hier, Schutzloser.“

2. WANDERER: Wer ist der Unhold, der am Tor steht und den Wanderer nicht willkommen heißt?
Unhöfliches Gespräch führst du. Eile also du selbst heim!

3. DER WÄCHTER: Allweise ist mein Name. Ich weiß genug, doch ich vergeude nicht viel Kost.
In dieses Haus wirst du nicht kommen. Zieh deines Weges, Wolf!

4. WANDERER: Keiner wendet sich von seines Auges Freude ab, wenn manch süßen Anblick er schaut.
Die Höfe scheinen um die goldene Halle zu glänzen. Hier kann ich zufrieden verweilen.

5. ALLWEISE: Sag mir, welche Vergangenheit hat dich geboren, von welchen Vorfahren bist du der Nachkomme.

6. WANDERER: Windkalt heiß ich, Lenzkalt war mein Vater. Sein Ahn war Vielkalt.
Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wer herrscht hier und übt Macht über Länder und luxuriöse Hallen aus?

7. ALLWEISE: Menglad heißt sie, geboren von ihrer Mutter und dem Sohn des Schlafzauberers.
Sie herrscht hier und übt Macht über Länder und luxuriöse Hallen aus.

8. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wie heißt die Pforte, selbst die Götter haben keine trügerischere?

9. ALLWEISE: Lärm heißt sie, und sie wurde von drei Söhnen von Sonnenblind geschaffen.
Wie eine Fessel schnürt sie jeden Wanderer fest, der sie aufschließt und öffnet.

10. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wie heißt die Mauer, selbst die Götter haben keine gefährlichere?

11. ALLWEISE: Abwehrer von Fremden heißt sie. Ich schuf sie aus den Gliedern des Schlammriesen.
So habe ich sie gemacht, daß sie so lange stehen soll wie Menschen leben.

12. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wie heißen diese Hunde, keine schärferen hab ich jemals gesehen?

13. ALLWEISE: Gifr heißt einer, Geri der andere, wenn du’s wissen willst.
Elf Wachen müssen sie stehen, ehe die Herrschaft der Herrscher beendet ist.

14. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Kommt ein Mann hinein, wenn solche Tiere schlafen?

15. ALLWEISE: Es ist ihnen eingeschärft worden, abwechselnd zu schlafen, seit sie zu wachen trainiert wurden.
Der eine schläft nachts, der andere bei Tag. Keiner kommt hinein.

16. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Gibt’s keinen Bissen, den man ihnen geben kann während sie fressen, um hineinzukommen?

17. ALLWEISE: Zwei Steaks liegen in Weitöffners Gliedern, wenn du es wissen willst.
Das sind die einzigen Bissen, die man ihnen bringen muß, um hineinzukommen, während sie fressen.

18. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wie heißt der Baum, der seine Äste über das Land ausbreitet?

19. ALLWEISE: Mimameid heißt er, kein Mensch weiß, aus welchen Wurzeln er gewachsen ist.
Welches Übel ihn fällen kann, ahnen nur wenige. Ihn fällt Feuer nicht noch Eisen.

20. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Was wird das Dahinwelken des ruhmreichen Baumes verursachen, den Feuer nicht noch Eisen fällt?

21. ALLWEISE: Wenn seine Frucht auf dem Feuer durch senile Weiber verbrannt wird, dann wird herauskommen,
Was innen sein sollte, dann ist der Baum inmitten der Menschen verrottet.

22. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wie heißt der Hahn hoch oben im Baum, alles von ihm glänzt wie Gold?

23. ALLWEISE: Weitöffner [Widofnir] heißt er, der glänzt und hoch oben in Mimameids Krone hockt.
Er häuft in einem großen Leiden das endlose Leid aus Sinmaras Feuer an.

24. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Gibt es keine Waffe, die den Weitöffner zum Haus der Hel bringen kann?

25. ALLWEISE: Läwaten heißt sie. Sie wurde von Lopt voll Reue an des Abgrunds Tor geschaffen.
Im eisernen Schrein in Sinmaras Obhut wird sie durch neun feste Schlösser bewacht.

26. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Kommt der wieder, der den magischen Hebel wegzunehmen sucht?

27. ALLWEISE: Er kann wiederkommen, der den magischen Hebel wegzunehmen sucht,
Wenn er das, was nur wenige erlangen, zu der fruchtbaren, die Erde heilenden Frau bringt.

28. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Gibt es etwas Kostbares, das einem Mann gehören kann, um die Hexe damit zu erfreuen?

29. ALLWEISE: Die glänzende Feder aus Weitöffners Flügel sollst du als Geschenk
Sinmara bringen, ehe sie geruht, dir die Waffe zu geben.

30. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wie heißt die Halle, die klugerweise von reinigenden Feuern umgeben ist?

31. ALLWEISE: Stille heißt die Halle, und lange balanciert sie auf der Spitze eines Speers.
Über dieses herrliche Haus haben nur Gerüchte die alten Völker erreicht.

32. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wer von den Söhnen der Götter hat die Halle erbaut, die ich durch das Gatter gesehen habe?

33. ALLWEISE: Uni und Ire, Bari und Ori, War und Wägdrasil, Dori, Uri und Delling: auch der schlaue Elf Loki.

34. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wie heißt der Berg, wo die Braut in Träumen versunken zu finden ist?

35. ALLWEISE: Heiliger Berg heißt er, ein Zufluchtsort seit altersher für die Kranken und Versehrten;
Obgleich zu Tode erkrankt, wird jede Frau gesund, die ihn erklimmt.

36. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wie heißen die Mädchen, die zu Menglads Füßen in Harmonie beisammen sitzen?

37. ALLWEISE: Hafen die eine, Überlebende die andere, eine dritte Hüterin; Strahlend und Sanft,
Liebevoll und Friede, Mitgefühl und Herrscherin der Nachsicht.105

38. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Helfen sie jenen, die ihnen Opfer bringen, wenn sie es für nötig halten?

39. ALLWEISE: Sie helfen weise jenen, die an einem heiligen Ort Opfer bringen.
So hart überfällt kein Übel einen Mann, daß er nicht daraus erlöst werden könnte.

40. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Gibt es keinen Mann, der in Menglads wonnigen Armen schlafen darf?

41. ALLWEISE: Keinen Mann gibt es, der in Menglads wonnigen Armen schlafen darf,
Außer Swipdag; ihm soll die sonnige Maid zur Gattin gegeben werden.

42. WINDKALT: Öffne weit die Tore! Hier kannst du Swipdag sehen!
Es ist noch unbekannt, ob Menglad geruht, mich zu ihrer Freude zu empfangen.

43. ALLWEISE ZU MENGLAD: Höre Menglad, ein Mann ist gekommen, geh’, den Gast selbst zu sehen.
Die Hunde sind zufrieden; das Haus hat sich von selbst geöffnet. Mich dünkt, daß es Swipdag ist.

44. MENGLAD: Wenn du lügst, daß der Mann von weit her zu meinen Hallen kam,
Bösartige Raben sollen am hohen Galgen dir deine Augen aushacken.

45. MENGLAD ZU SWIPDAG: Woher bist du gekommen? Warum hast du die Reise unternommen?
Unter welchem Namen bist du in deinem eigenen Haus bekannt?
Bei deiner Sippe und deinem Namen soll ich durch Zeichen erkennen, ob ich als deine Gattin gedacht bin.

46. SWIPDAG: Nebliger Morgen heiß ich. Sonnenglanz ist mein Vater. Von dort trieb’s mich
Auf windkalten Wegen vorwärts. Niemand soll Urds Verfügung beklagen, wenn auch die Ursache schwach war.

47. MENGLAD: Sei willkommen! Was ich mir gewünscht habe, habe ich jetzt. Ein Kuß heißt den lieben Ankömmling willkommen.
Lange habe ich dich auf dem Berg des Schlafes erwartet. Nun ist meine Hoffnung erfüllt.
Du bist wieder einmal, Mensch, zu meinen Hallen zurückgekehrt.

48. SWIPDAG: Beide haben wir uns gesehnt; ich habe nach dir verlangt und du nach mir.
Genugtuung herrscht jetzt, da wir beide gemeinsam die Aufgaben der Jahre und der Zeitalter teilen.

25 – Skirnismál

(Das Skirnirlied)

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Anmerkungen der Übersetzerin

Freyr, die Gottheit, deren Verkörperung sich in der viele Wohnungen enthaltenen Erde befindet, saß auf Hlidskjalf, von wo er das Riesenmädchen Gerd in ihres Vaters Hof erspähte. Er wurde von Liebe zu ihr verzehrt und wünschte, sie als seine Braut zu gewinnen. Das göttliche Wesen kann jedoch nicht direkt in die materiellen Welten eintreten, und daher schickte Freyr seinen Diener Skirnir, der die Maid in seinem Namen gewinnen sollte. Skirnir führte sich selbst bei Gerd ein als „ich bin keiner der Elfen, noch der Ásen-Söhne, noch der weisen Wanen“ (18). Was also ist er?

Skirnir bedeutet Strahlung, ein Strahl der Gottheit, ein Avatāra, der in eine niedrigere Welt absteigt, um eine Rasse der Menschheit – ein Riesenmädchen – zu erleuchten. Ausgerüstet mit dem Roß und dem Schwert des Gottes, reitet Skirnir zu der Riesenwelt und erreicht ein Gespräch mit Gerd. Aber sie wehrt alle seine Annäherungsversuche ab. Die Äpfel der Unsterblichkeit verführten sie nicht, noch „der Ring, der mit Odins Sohn (Balder) verbrannt wurde,“ und dem acht gleiche jede neunte Nacht entträufeln – ihr Vater, sagt sie, besitzt selbst Gold in Hülle und Fülle. Nicht wird sie durch Drohungen fortdauernder Übel in der Riesenwelt und mit Schlimmerem in der Zukunft bewegt. Jedoch, als ihre Zukunft vor ihr enthüllt wurde – Vernichtung in „Machtlosigkeit, Schwachsinn und Wollust“ – willigt sie schließlich ein, dem Gott in dem unantastbaren Wäldchen Barri zu begegnen, „wo man in Frieden wandert“ (39).

Skirnirs Lied kann leicht als phantastischer Unsinn abgetan werden, gäbe es nicht eine gewisse suggestive Qualität, die anderen Erzählungen gleicht, in denen die Inkarnation einer Gottheit in unserer Welt erwähnt wird: einen avatārischen Abstieg. Dieses ist, gleich den „Geiseln“, die von den Wanir zu den Aesir geschickt werden, das Eindringen eines göttlichen Strahles aus einer höheren Sphäre in eine niedrigere Welt und seiner Einkörperung daselbst. Das dient dem Zweck, einen veredelnden Einfluß auf die Gedankenatmosphäre jener Welt auszuüben. Zu gewissen Krisenzeiten hat die Erde solche Ereignisse erfahren, als ein göttlicher Lehrer Menschengestalt annahm, um die Menschheit zu lehren und zu inspirieren. Krischna, Lao-tse, Śankarāchārya, dann der eine, den die Tradition den Christus genannt hat, und andere sind Beispiele solcher Avatāras. Sie kommen zu gewissen zyklischen Perioden; mit den Worten Krischnas: „Ich bringe mich unter den Kreaturen, oh Sohn des Bhārata, selbst hervor, wann immer es einen Rückgang der Tugend und ein Überhandnehmen der Untugend und der Ungerechtigkeit in der Welt gibt. Und so inkarniere ich mich von Zeitalter zu Zeitalter für die Bewahrung der Gerechten, die Vernichtung der Bösen und die Schaffung von Gerechtigkeit.“ Zu jeder Zeit verkörpert sich ein solcher Avatāra unter den Menschen. Er schlägt erneut die Schlüsselnote der Wahrheit an, die für eine längere oder kürzere Epoche, abhängig von dem jeweiligen Zeitalter, widerhallt. Gegebenenfalls beginnt ein neuer Zyklus, der eine erneute Ausbreitung der ewigen Botschaft bringt.

In Anbetracht dessen, erscheint Skirnirs Mission als ein solches periodisches Ereignis. Eines, das in einer prähistorischen Zeit stattfand, an die man sich nur schwach erinnert – eine göttliche Inkarnation zur Erleuchtung von Gerd, Tochterrasse einer stark materialistischen Riesenrasse, ihres Vaters.

Vor dem Abstieg jedoch müssen gewisse Hindernisse überwunden werden. Der strahlende Bote muß mit dem Roß ausgerüstet werden, das die „reinigenden Feuer“ durchqueren kann, die das Reich der Götter umgeben. Er muß mit Freyrs Schwert bewaffnet sein, das sich im Kampf gegen die Riesen selbst führt, „wenn der Träger einfallsreich ist“ (9). In den Geschichten, in denen über Freyr erzählt wird, ist sein Schwert relativ kurz: etwa einen Meter lang. Derjenige, der das Schwert führt, muß sowohl mutig als auch einfallsreich sein, um sich dem Feind zu nähern und dieses auch unverletzt überstehen: der Träger der Waffe des spirituellen Willens ist furchtlos und auch weise.

Gerd ist offensichtlich ein Zeitalter fast genauso wie unser eigenes, eines der materiellen Geschicklichkeit und des materiellen Strebens: Sie ist zufrieden mit den Reichtümern der Riesenwelt, die ihr eigen sind und kümmert sich überhaupt nicht um jene, die von dem Boten der Götter angeboten werden. Nur, als die Erkenntnis der endlosen Leiden, die am Festklammern an die Materie zu erwarten sind, ihr nahegebracht werden, entscheidet sie sich schließlich dazu, mit ihrem göttlichen Begleiter in dem heiligen Wäldchen des Friedens zusammenzukommen.

Ein interessanter Punkt, der sich bei diesem Gedicht erhebt, dreht sich um die Stiefmutter, Skadi, deren Name „Schaden“ bedeutet. Sie ist die reizende junge Frau von Njörd, dem alterlosen Saturngott der Zeit. Wir haben gesehen, daß sie diejenige war, die die giftige Schlange über Lokis Gesicht hing, um sein Leiden in den niederen Welten zu verschlimmern. Sie ist auch die Anstifterin von Skirnirs Botengang, sich bei Freyr zu erkundigen, was ihn beunruhigt. Das ist kein leicht zu lösendes Problem, aber es ist eines, das Respekt verdient. Es ist möglich, daß Skadi das altnordische Äquivalent für den hoch mysteriösen Nārada der östlichen Philosophie ist – die Macht, die unmittelbares Leiden bringt, aber deren weitreichende Wirkungen dazu bestimmt sind, den Weg für ein produktives zukünftiges Wachstum zu reinigen? Ob beabsichtigt ist, daß sie einen solchen Agenten der natürlichen Katastrophe darstellt, der die Evolution von Wesenheiten fördert, muß noch erörtert werden.

Skirnismál

Freyr, der Sohn Njörds, saß eines Tages auf dem Schelf des Mitgefühls und schaute über alle Welten. Er blickte in das Reich der Riesen und erspähte eine schöne Maid, die aus ihres Vaters Haus in das Frauenhaus ging. Da überkam ihn großes Herzeleid. Skirnir war Freyrs Diener. Njörds Frau Skadi schickte ihn zu Freyr, um ihn zum Reden zu bringen.

1. SKADI: Steh auf, Skirnir,
Geh und suche unseren Sohn zum Reden zu bringen.
Frag, was den Weisen
Unglücklich macht.

2. SKIRNIR: Mit zornigen Worten muß ich rechnen,
Wenn ich deinen Sohn frage,
Wen er zu ehelichen wünscht.

3. Sag mir, Freyr, Prinz unter den Göttern:
Warum sitzt du allein
In deiner unendlichen Halle,
Tag für Tag, mein Herr?

4. FREYR: Wie kann ich dir enthüllen,
Freund meiner Jugend,
Meines Herzens großen Gram?
Obwohl die Sonne scheint,
Segensreich jeden Tag,
Sie scheint nicht zu meinem Verlangen.

5. SKIRNIR: Sicherlich wird dein Wunsch nicht so mächtig sein,
Daß du ihn mir nicht sagen könntest;
Wir waren jung zusammen in alten Tagen;
Wir zwei sollten einander vertrauen!

6. FREYR: In Gymirs Höfen sah ich gehen
Eine Maid, die mir gefällt;
Ihre Arme glänzten, so daß sie Himmel
Und Meere widerspiegelten;

7. Die Maid ist mir lieber
Als meiner Kindheit Freund;
Von den Aesir und Elfen
Niemand will es, daß wir beisammen sind.

8. SKIRNIR: Bring mir das Roß, das mich bei Einbruch der Dunkelheit durch die
Schützenden reinigenden Feuer trägt;
Das Schwert auch, das sich von selbst
Schwingt im Kampf gegen die Riesen.

9. FREYR: Ich gebe dir das Roß, das dich bei Einbruch der Dunkelheit durch
Die schützenden reinigenden Feuer trägt;
Auch das Schwert, das sich von selbst schwingt,
wenn dessen Träger einfallsreich ist.

10. SKIRNIR ZUM ROSS: Es ist dunkel draußen; unser Ziel ist es,
Über feuchte Berge zu reisen, in der Thursen Reich;
Wir werden beide sicher sein oder wir
Werden von den gierigen Riesen gefangen.

Skirnir ritt in die Riesenwelt zu Gymirs Höfen. Da waren wütige Hunde an die Pforte des Gartens gebunden, der Gerds Halle umgab. Er ritt zu einem Viehhirten, der auf einem Hügel saß.

11. SKIRNIR: Sage mir, Hirt, der du auf dem Hügel sitzt
Und alle Wege bewachst,
Wie kann ich sprechen mit der Maid
Vor Gymirs wütigen Hunden?

12. HIRTE: Bist du zum Tode verurteilt oder tot bereits,
Du so hoch auf deinem Roß?
Es wird für dich schwer sein, mit
Gymirs Maid, der tugendhaften, zu sprechen.

13. SKIRNIR: Es gibt bessere Dinge zu tun als zu feilschen,
Wenn man voran zu kommen wünscht.
Nur einen Tag hat mein Alter jetzt zugenommen
Und all mein Los lag offen zutage.

14. GERD ZU IHRER DIENERIN: Welch tosenden Lärm hör ich?
Die Erde bebt
Und Gymirs Höfe erzittern.

15. DIENERIN: Hier ist ein Mann abgestiegen
Und läßt sein Roß im Gras weiden.

16. GERD: Bitte ihn einzutreten in unsere Halle
Und den trefflichen Met zu trinken!
Doch ich ahne, daß draußen
Meines Bruders Töter steht.

17. Bist du einer der Elfen oder der Ásen-Söhne
Oder der weisen Wanen?
Warum kamst du allein durch
Eichenfeuer, unsere Halle zu schauen?

18. SKIRNIR: Ich bin keiner der Elfen, noch der Ásen-Söhne,
Noch der weisen Wanen;
Doch kam ich allein durch Eichenfeuer,
Deine Halle zu schauen.

19. Elf goldene Äpfel habe ich , die ich
Dir, Gerd, geben will,
Deinen Frieden zu kaufen und daß du
Freyr gegenüber nicht gleichgültig bist.

20. GERD: Elf Äpfel will ich nicht nehmen,
Um einen Mann zu haben;
Freyr und ich können unsere
Leben nicht gemeinsam aufbauen.

21. SKIRNIR: Dann biete ich dir den Ring an,
Der mit Odins jungem Sohn verbrannt wurde;
Acht gleiche entträufeln ihm in
Jeder neunten Nacht.

22. GERD: Den Ring verlang ich nicht,
Obwohl er mit Odins jungem Sohn verbrannt wurde;
An Gold mangelt es mir nicht
In Gymirs Höfen.

23. SKIRNIR: Siehst du dieses Schwert,
Das geschmeidige, geschmückt mit Runen,
Das ich in meiner Hand halte?
Ich werde dein Haupt von deinem Hals abschlagen,
Wenn du dich verweigerst.

24. GERD: Zwang wird mich niemals veranlassen,
Einen Mann zu nehmen;
Aber ich weiß, daß, wenn du und Gymir miteinander kämpft,
Es ein tapferer Kampf sein wird.

25. SKIRNIR: Siehst du das Schwert,
Das geschmeidige, geschmückt mit Runen,
Es wird den alten Riesen fällen.
Dein Vater ist dem Tode geweiht.

26. Ich schlage dich mit einem Zauberstab,
Denn ich muß dich meinem Willen unterwerfen;
Du sollst dahin kommen,
Wo die Kinder der Menschen dich nicht mehr sehen sollen.

27. Du sollst auf des Adlers Hügel sitzen
Mit deinem Antlitz weg von der Welt gewandt,
Stieren nach der Hel Haus;
Speise sei dir widriger
Als den Menschen die glänzende Schlange.

28. Du sollst ein Scheusal auf der Straße sein;
Hrimnir soll dich anstarren;
Dein Anblick wird alle verwirren;
Besser sollst du bekannt werden
Als der Wächter der Götter,
Da du gierig das Gatter anglotzt.

29. Einsamkeit, Klagen, Zwang und Ungeduld,
Deine Tränen sollen in Qual hervorbrechen;
Sitze nieder, während ich über dich einen Schwall von bitteren Flüchen,
Doppelter Gier und Ekel beschwöre.

30. Du sollst dich vom Morgen bis zum Abend grämen
In den Höfen der Riesen;
Zu der Halle der Frostriesen sollst du täglich wandern
Schutzlos und lahm,
Weinen statt Freude soll dir zuteil werden,
Und du sollst Leiden mit Tränen ertragen.

31. Mit einem dreiköpfigen Thursen sollst du wandern
Oder ohne Mann und Geselle;
Begierde soll dich verbrennen, Sehnsucht dich zerreißen,
Du sollst sein wie die Distel, die unter dem Dachvorsprung wächst.

32. Ich ging zum Wald,
Zum feuchten Weidenholzdickicht,
Die Zauberrute zu finden.
Ich fand die Zauberrute.

33. Gram ist dir Odin,
Gram ist dir Bragi,
Freyr haßt dich ganz und gar;
Unwillige Maid,
Du hast den Zorn der Götter
Von großer Tragweite herausgefordert.

34. Hört ihr Titanen,
Hört ihr Frostriesen,
Söhne Suttungs,106
Und auch ihr, Aesir:
Hört, wie ich verfluche, wie ich banne
Mannesliebe der Maid.

35. Hrimgrimnir heißt der Riese, der dich
Haben soll hinter den Toren des Todes;
Wo Sklaven auf Baumwurzeln
Dir sauren Geißenharn geben sollen;
Ein edlerer Trank sei dir immer versagt, Maid,
Nach deinem Verlangen, nach
Deinem eigenen Entscheid.

36. „Riesin“, ich schneide dir drei Runen-Stäbe:
Machtlosigkeit, Schwachsinn und Wollust.
Dann schneid ich es ab, wie ich es ritzte ein,
Wenn es dessen bedarf.

37. GERD: Heil sei dir nun, Jüngling,
Empfange den festlichen Becher, gefüllt mit altem Met!
Nie hätte ich geträumt, daß ich einmal
Dem Wanen-Sohn gewogen sei.

38. SKIRNIR: Ich möchte alles wissen
Bevor ich reite:
Wann wirst du beim Ting
Dem Sohne Njörds die Ehe versprechen?

39. GERD: Barri heißt das Wäldchen, wo man in Frieden wandelt,
Wie wir beide wissen.
Nach neun Nächten wird dort Gerd ihre
Ehe dem Sohne Njörds versprechen.

Skirnir ritt heim, Freyr stand draußen, grüßte ihn und fragte nach Neuigkeiten.

40. FREYR: Sage mir, Skirnir, ehe du das Roß
Absattelst und einen Schritt tust:
Was hast du erreicht in der Riesen Welt?
Nach deinem oder meinem Wunsch?

41. SKIRNIR: Barri heißt das Wäldchen, wo man in Frieden wandelt,
Wie wir beide wissen.
Nach neun Nächten wird dort Gerd ihre
Ehe dem Sohne Njörds versprechen.

42. FREYR: Lang ist eine Nacht;
Länger zwei;
Wie soll dich dreie überdauern?
Oft scheint ein Monat weniger lang für mich.

Fußnote

26 – Vägtamskvädet

(Das Wegtamslied) [Balders Träume]

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Anmerkungen der Übersetzerin

Diese oft erzählte Geschichte ist in vielen Fassungen bekannt. Balder, der Sonnen-Gott, wurde von unheilverkündenden Träumen heimgesucht, welche die Aesir beunruhigten. Als Odin erfuhr, daß das Haus der Hel, Göttin des Todes, hergerichtet wurde, um seinen Sohn zu begrüßen, ordnete Odins Gemahlin, Mutter der Götter, an, daß von allen Kreaturen ein Eid abverlangt wurde, daß sie Balder keinen Schaden zufügen würden. Alle gaben ihr gern die erbetene Zusicherung, und es schien, daß die Gefahr abgewendet war. Eine Kreatur nur ist dabei übersehen worden: die Mistel, zu schwach und zart, um eine Gefahr darzustellen.

Loki erfuhr von diesem Versehen. Er pflückte die kleine Pflanze, formte einen Pfeil aus ihr und ging dorthin, wo die Götter sich damit amüsierten, Waffen gegen Balder zu schleudern, der lachend und unverwundbar dastand, als die Geschosse abprallten und harmlos auf den Boden fielen. Nur Balders Zwilling, der blinde Gott Hödur, stand beiseite. Loki näherte sich ihm und fragte ihn, ob er sich nicht an dem Sport beteiligen möchte und bot an, Hödurs Zielen so zu lenken, daß auch er sich des Zeitvertreibs erfreuen könnte. Aber der Pfeil, den er auf Hödurs Bogen legte, war die verhängnisvolle Mistel. Er durchbohrte das Herz des Sonnen-Gottes und Balder reiste unverzüglich zum Haus der Hel.

Als Hermod (göttlicher Mut) verkleidet ritt Odin, um die Königin des Todes anzuflehen, auf den Sonnen-Gott zu verzichten. Sie willigte ein, wenn alle Wesen ohne Ausnahme für ihn weinen würden. Frigg setzte ihre beschwerliche Rundreise fort, und alle Geschöpfe weinten um den geliebten Ásen. Als alles gut schien, begegnete sie einem alten Weib – Loki in Verkleidung –, das sich weigerte. Es war bestimmt: Balder mußte im Hause der Hel bleiben.

Der Sonnen-Gott wurde auf sein Scheiterhaufen-Schiff gelegt. Sein liebendes Weib Nanna (der Mond) starb an gebrochenem Herzen und wurde neben ihn gelegt. Ehe das brennende Schiff losgemacht wurde, wird von Odin gesagt, daß er sich vorgebeugt und etwas in das Ohr seines toten Sohnes geflüstert habe. (Vgl. Wafthrudnismál)

Es gibt viele Schlüssel, die zu dieser Geschichte passen: Der Sonnen-Gott stirbt jedes Jahr zur Wintersonnenwende und wird wiedergeboren, als sein Nachfolger, „nur eine Nacht alt“, zum Kampfe geht, um seinen Tod zu rächen, wonach ein neues Jahr mit der zurückkehrenden Sonne anbricht. Das Fest der „Unbesiegten Sonne“ wurde überall in den Ländern nördlich des Äquators zu der heiligen Jahreszeit gefeiert, das später Weihnachten wurde. Es ist die Zeit der „Jungfräulichen Geburt“, wenn die Gottheit selbst in dem erfolgreichen, in die Mysterien initiierten Aspiranten geboren wird. Dieses Datum wurde Christi Geburt zugesprochen, um ihn als einen dieser Initiierten zu identifizieren.

Eine andere Interpretation betrifft die Geschichte von dem Ende des Sonnen- oder Goldenen Zeitalters. In den Tagen der Jugend der Menschheit herrschte Unschuld in dem frisch erweckten Denkvermögen [mind] des Menschen vor. Es war ein Zeitalter des Friedens und der Gelassenheit, des instinktiven Gehorsams gegenüber den Naturgesetzen, als der Einfluß der Götter das Leben der Kreaturen beherrschte. Als die knospende menschliche Intelligenz ihre Kraft zu erproben begann, führten die Freiheit der Wahl und des Willens zu unvermeidlichen Ungerechtigkeiten, und das Gesetz der moralischen Verantwortung kam ins Spiel. Gemeinsam mit den Kräften der Unwissenheit und Finsternis, repräsentiert durch den blinden Hödur, verhalfen sie zu dem Ende dieser leichten, dahinvegetierenden Existenz. Ähnlich wurden in der biblischen Geschichte Adam und Eva aus Eden vertrieben, nachdem sie die Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gekostet hatten, weil sie dann wie die Götter (Elohim) verantwortlich für ihre Evolution geworden waren. Der menschliche Geist muß frei sein, um seinen Weg zu wählen. Das automatische Sichtreibenlassen der kindlichen Unschuld war der menschlichen Seele nicht länger mehr angemessen. Sie mußte nun entschlossen und intelligent damit beginnen, ihren eigenen Fortschritt zur Vollkommenheit zu regeln und ihre Göttlichkeit immer mehr zu offenbaren.

Der evolutionäre Drang der Intelligenz in Aktion – Loki, verkleidet als altes Weib, weigerte sich, das Verschwinden jenes Goldenen Zeitalters zu bedauern, denn das reale Wirken des inneren Wachstums des Menschen muß seine Stelle einnehmen. In der Unterwelt gebunden, muß Loki bis zum Ende des Zyklus Qualen erdulden. Die schöne Skadi, der negative Aspekt von Njörd, das Saturn-Zeitalter, hängt eine Schlange über sein Antlitz auf, und das Gift der Schlange tropft unaufhörlich auf den gebundenen Titanen und verschlimmert seine Qual, währenddessen sein ergebenes Weib Sigyn an seiner Seite verharrt und das Gift in einem Kelch auffängt. Wenn sie aber das Gefäß leeren muß, krümmt sich Loki vor Schmerz und die Erde bebt.

Es ist eine bedauernswerte Betrachtungsweise, daß in den meisten, wenn nicht in allen Schriften, die wirkende Kraft, die den Hinauswurf des Menschen aus der Unschuld der Kindheit in das Erwachsenenalter erzwingt, als böse angesehen wird. Vielleicht wurde dieses so gesehen, weil wir als Menschheit unwillig gewesen waren, erwachsen zu werden. Sogar jetzt gibt es viele, die es vorziehen würden, ihre Unzulänglichkeiten am Tor der Gottheit niederzulegen, real oder fiktiv, und es übelnehmen, irgendeine Belastung zu tragen, obwohl eine kleine Beobachtung und Überlegung uns davon überzeugen müßte, daß, um eine größere Bestimmung zu erfüllen, evolvierende Wesen ihre Kindheit hinter sich lassen und eine entschlossene Teilnahme an den Funktionen des Universums übernehmen müssen. Deshalb wird Loki gezwungen, in den Tiefen der Materie bis zum Kulminationspunkt des Zyklus auszuharren und zu leiden. Seine Pein wird durch das Gift erhöht, das durch die Schlange der Erkenntnis erzeugt wird, geradeso wie die Qual von Prometheus durch den Geier verschlimmert wurde, der an seiner Leber nagte. Beide Qualen stellen den menschlichen Mißbrauch der göttlichen Gabe des Denkvermögens [mind] dar. Das Opfer des Erleuchters wird nur dann beendet sein, wenn die menschlichen Mühen erfolgreich bewältigt worden sind, und wenn Fenris, Lokis Abkömmling, frei sein und die Sonne am Ende ihres Lebens verschlingen und Wali das Werk des Sonnen-Gottes auf einer größeren Existenzebene fortführen wird. Dann werden wir möglicherweise auch wissen, was Odin in Balders Ohr geflüstert hat.

Wegtam

1. Alle Aesir, Götter und Göttinnen
Saßen zur Besprechung beim Ting,
Die gewaltigen Mächte berieten dieses:
Warum böse Träume Balder schreckten.

2. Sehr leicht war der Schlaf des Sonnen-Gottes,
Ruhe und Erfrischung schienen von seinem Schlaf gewichen zu sein;
Die Riesen wünschten prophetische Antwort
Wie dies sich auf seine Schöpfung auswirken könnte.

3. Die darüber gezogenen Lose zeigten, daß zu
Sterben verdammt war der Liebste von Ulls Familie;107
Angst ergriff Frigg und Swafnir
Und die anderen Herrscher. Sie einigten sich auf einen Plan:

4. Eine Nachricht wurde an alle Geschöpfe gesandt, die die Zusicherung erbat, daß Balder verschont werde.
Alle leisteten einen Eid, daß er nicht verletzt werden würde: Frigg erhielt von allen Übereinstimmung und Versprechen.

5. Doch Allvater befürchtete ein ungewisses Ergebnis. Er fühlte, daß die Hamingjas wegblieben;
Er rief die Aesir herbei und erbat einen Entschluß.
Vieles wurde bei dieser Versammlung diskutiert.

6. Auf stand Odin, Vater der Äonen,
Sattelte Sleipnir, sein achtbeiniges Roß;
Dann ritt er hinab den Weg nach Niflhel,
Traf hier den Hund, der ihn aus der Höhle begrüßte.

7. Blutig war das Tier vorne auf der Brust,
Lange umheulte er den Vater der Runen.
Odin ritt weiter; laut dröhnten die Felder
Als er an Hels hohem Hause hielt.

8. Ostwärts ritt Odin vor das Tor,
Wo er wußte der Sibylle Hügel.
Todes-Runen sang er der magischen Maid,
Bis bezwungen sie aufstand und vom Tode sprach.

9. „Wer unter den Menschen, mir unbekannt,
Nötigt mich zum beschwerlichen Gang?
Ich war bedeckt mit Schnee, gepeitscht mit Regen,
Durchnäßt von Tau. Lange war ich tot.“

10. ODIN: Weggewohnt heiße ich, bin der Sohn von Todgewohnt,
Sprichst du von Hels Haus wie ich von des Lebens Haus:
Für wen sind die Bänke mit Ringen geschmückt
Und die Sitze bestreut mit Gold?

11. SIBYLLE: Der Met ist bereitet, für Balder gebraut,
Der kostbare Trank vom Schilde bedeckt;
Die Familie der Aesir wartet besorgt.
Genötigt habe ich gesprochen. Nun will ich schweigen.

12. ODIN: Schweig nicht, Sibylle. Ich will dich fragen
Bis ich alles weiß. Mehr will ich wissen:
Wer wird der Ruin für Balder sein
Und das Alter rauben Odins Sohn?

13. SIBYLLE: Hödur108 bringt hierher den reizenden Sproß.
Er wird der Mörder Balders werden
Und das Alter rauben Odins Sohn.
Genötigt habe ich gesprochen. Nun will ich schweigen.

14. ODIN: Schweig nicht, Sibylle. Ich will dich fragen
Bis ich alles weiß. Mehr will ich wissen:
Wer wird ihn an Hödur bitter rächen
Und Balders Mörder zum Scheiterhaufen bringen?

15. SIBYLLE: Rinda gebiert Wali im Westsaal.
Nur eine Nacht alt wird Odins Sohn kämpfen;
Er wäscht nicht seine Hände, er kämmt nicht sein Haar
Bis er Balders Feind auf den Scheiterhaufen bringt.
Genötigt habe ich gesprochen. Nun will ich schweigen.

16. ODIN: Schweig nicht, Sibylle. Ich will dich fragen
Bis ich alles weiß. Mehr will ich wissen:
Wer sind die Mädchen, die da weinen werden
Und ihre Kopftücher himmelan werfen?

17. SIBYLLE: Kein Pilger bist du, wie die Sibylle wähnte.
Du bist Odin, Vater der Äonen.

18. ODIN: Keine Sibylle bist du, keine weise Seherin.
Vielmehr bist du dreier Thursen Mutter.

19. SIBYLLE: Reite heim, Odin, und beruhige dich!
So nah kommt keiner wieder zu mir
Bis Loki frei von Fesseln ist und die
Kräfte, Auflöser von allem, nach Ragnarök kommen.

27 – Odins Korpgalder

(Das Lied von Odins Leichnam oder das Lied von Odins Raben)

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Anmerkungen der Übersetzerin

Dieses Lied deutet auf die Nachwirkungen hin, die dem Tod eines Planeten folgen. Es wurde aus vielen Übersetzungen weggelassen, da Gelehrte, angeführt von dem berühmten Sophus Bugge, dazu geneigt haben, es als ganz unverständlich zu ignorieren. Das Lied ist von großer Schönheit mit einem streng mystischen Aufruf, wenn der Leser die unausgesprochene, traumähnliche, unvorstellbare Lücke zwischen den Lebensperioden fühlt, wenn die planetarische Seele in die Ruhe des folgenden Todes eingetaucht ist. Jedes Naturreich wird unbewegt, unbewußt, leblos in atemlosem Schwebezustand gehalten und erwartet den elektrisierenden Drang einer neuen Morgendämmerung. Allein Allvater ist aktiv. In der ganzen Edda gibt es kein ergreifenderes Musikstück als diese Stille des Lebenspulses, die jede Gemeinschaft von Wesen in ihrem eigenen charakteristischen Bewußtseinszustand für die lange Ruhezeit festhält, bis die Götter zurückkehren.

Odins beide Raben, Hugin und Munin (Denkvermögen und Erinnerung), „fliegen täglich über das Schlachtfeld der Erde“ (s. Grimnismál 20) und berichten Allvater am Abend. Hier finden wir wieder die Sorge der Götter um Hugin erwähnt, die Furcht, er würde nicht zurückkehren. Es gibt einen zwingenden Grund dafür. Das Denken (mind) ist mit der Wahl verbunden: Wesen, die diese Fähigkeit besitzen, die die Funktion der Intelligenz und des freien Willens erlangt haben wie die Menschheit auf Erden, werden mit den Möglichkeiten, die diese bieten, konfrontiert. Sie können, wenn sie die Wahl treffen, sich selbst vollständig mit der materiellen Seite der Natur, den Riesen, verbinden und in extremen Fällen ihre Verbindung mit ihrem inneren Gott durchtrennen, so daß ihr charakteristischer Beitrag zu dem kosmischen Ziel und Zweck verloren ist, und die Seelen auf ihre Gelegenheit verzichten, unsterblich zu werden. Die kritische Wahl wird nicht auf einmal getroffen. Sie ist die Gesamtwirkung zahlloser kleinerer Wahlen, die während fortschreitender Lebensstufen getroffen werden. Im natürlichen Verlauf des Wachstums vereint die Seele jeden Zuwachs an Erfahrung mit ihrer göttlichen Quelle und verschmilzt so allmählich mit ihr.

So kommt es, daß am Ende eines „Tages“ des Lebens, Hugin zu Odin zurückkehrt, ihm Kunde von der manifestierten Welt bringt und sich der Gottheit wieder anschließt, von der er ursprünglich wegflog. Sein Begleiter Munin, ist der Behälter von allen Aufzeichnungen von Ereignissen seit dem Beginn der Zeit. Aufgrund des Berichtes von Munin werden alle Fähigkeiten wieder aufgebaut, da die Erinnerung ewig als die Grundlage zukünftigen Bewußtseins bestehenbleibt.

Man sollte anmerken, daß beide Vögel sich nicht nur auf das menschliche Bewußtsein beziehen, sondern auch auf die entsprechenden Eigenschaften, wie sie sich verschieden und in unterschiedlichen Graden quer durch die Natur offenbaren. Ein Planet, wie als Idun personifiziert, besitzt die Merkmale, die von allen seinen Bestandteilen beigesteuert werden, angefangen von elementarem Bewußtsein über die rudimentäre Kondition von Mineralien, die größere Sensibilität von Pflanzen, das knospende Bewußtsein tierischen Lebens, bis zu selbstbewußten menschlichen Seelen. Darin eingeschlossen sind auch der großartigere Status vervollkommneter Männer und Frauen wie auch die Lebensbereiche, die über den menschlichen stehen. Jedes erwachende Bewußtsein auf irgendeiner Stufe setzt seinen Weg durch das Leben fort, um einen größeren Gesichtskreis und eine größere Erkenntnis zu gewinnen. Dabei wird sein formbares wachsendes Bewußtsein und sein Verständnis gleichermaßen mit angehoben. Aber nur im Menschen sind wir zuerst fähig, den Prozeß wahrzunehmen und zu erkennen.

Am Ende ihres Lebens wird die planetarische Seele, Idun, an Urds Quelle von den besorgten Göttern belagert, die von ihr die Entwicklung des vergangenen Lebens lernen und den Met trinken möchten, den sie bereitstellen kann. Wenn wir den theosophischen Schlüssel benützen, dann scheint es wahrscheinlich, daß ihr Vater Iwaldi die frühere Welt, die Kette der lunaren Globen darstellt, von der unsere gegenwärtige Erde die Nachfolgerin ist. Idun, seine Tochter, ist die „älteste von Iwaldis jüngerer Brut“, daher gehört sie zu unserer Erde, und sie ist der Nachkomme des entsprechenden Globus der ehemaligen Mondkette. Jedoch, dies ist nicht der physischste Teil von ihr: das war Nanna, der Körper, der für uns nicht mehr sichtbar ist. Nanna starb, bevor unsere Erde geboren, bevor sie aus den Materialien gemacht wurde, die ihre abgeworfene Form zusammengesetzt hatten. Sie ist die niederen Bestandteile des Planeten, und sie sinkt beim Tode in Bewußtlosigkeit, gestochen durch den Dorn des Schlafes, den „Sohn des Schlafzauberers“. Das ist der wahre Dorn, der Vergessenheit für die Schlafende Schönheit (in einer anderen Interpretation derselben Erzählung) brachte. Ihr langer Schlaf wurde durch den Kuß des Lebens beendet. Der lähmende Dorn bezog sich auf die Eiszapfenwogen von dem Frostriesen (22), dessen Lieblinge jede Mitternacht bezeichnenderweise zu sterben beginnen, erschlagen von dem herannahenden Tagesanbruch.

Wie das Gedicht uns erzählt, hatte die sich grämende Idun nur wenig zu dem Fest der Aesir beizutragen. Jedoch, die Schlußverse dieses Gedichtes führen uns zu der Geburt eines neuen Lebens: wie die Hexen und Riesen der Nacht sich zu ihren Höhlen davonschleichen „unterhalb der entferntesten Wurzel des edlen Eschenbaumes“ (25). Die Götter erscheinen wieder, und dann springt eine neue Welt mit neuer Hoffnung in ein triumphierendes Leben, angekündigt vom „mächtigen Fanfarenbläser auf den Bergen des Himmels“ (26).

Odins Korpgalder

1. Allvater handelt, Elfen nehmen wahr,
Wanir wissen, Nornen weisen den Weg.
Trolle ernähren, Äonen gebären,
Thursen warten, Walküren sehnen sich.

2. Die Aesir litten unter schweren Vorahnungen,
Seher verkannten die Runen der Frucht-Maid.109
Urds Met hütete sie, aber sie konnte ihn nicht verteidigen
Gegen die Beharrlichkeit der großen Menge.

3. Hugin schwang sich auf, sie aufzuspüren.
Die Aesir sind besorgt, falls er Zeit verliert;
Die Träume von Verlangen nach Leben110 werden zum Leiden;
Undeutliche Träume übersättigen den Tod.

4. Zwerge werden allmählich empfindungslos, ihre Kräfte schwächer;
Welten versinken in Ginnungagap;
Der Allweise streckt die Wesen häufig nieder,
Und sammelt die Gefallenen wieder ein.

5. Nicht länger steht fest die Erde oder die Sonne.
Der Strom der Zerstörung waltet nicht mehr.
In der geheimnisvollen Tiefe in Mimirs Brunnen
Liegt alle Weisheit. Weißt du [soviel] wie jetzt oder was noch?

6. Die wissende Maid111 verweilt in den bewaldeten Tälern,
Gefallen von Yggdrasil nieder, von der Esche;
Die Elfen nannten sie Idun; sie ist die älteste
Von Iwaldis jüngerer Brut.

7. Unglücklich schien sie über dieses Mißgeschick,
Gefangen liegend unter dem hohen Baum.
Es gefiel ihr nicht bei der Tochter der Nacht,
Gewohnt, Welten für ihren Wohnsitz zu haben.

8. Die siegreichen Götter sahen das Leid von Nanna;112
Sie sandten ihr in Hels Haus eine Wolf-Verkleidung;
Sie zog sie an und änderte ihre Stimmung;
Sie war verwirrt durch Täuschung, verändertes Aussehen.

9. Odin wählt den Wächter von Bifrost;113
Die trauernde Witwe der toten Sonne zu fragen
Alles das, was sie über das Schicksal der Welt wußte.
Bragi und Lopt trugen die Aussage bei sich.

10. Sie sangen Zauberlieder, sie ritten auf Wölfen,
Die Herrscher und Mächtigen, an die Enden der Welt.
Odin, von Hlidskjalf hörend,
Ließ sie reisen weit und breit.

11. Der weise Heimdal fragte, ob die Met-Versorgerin
Etwas über den Ursprung, das Alter und das Ende
Der Rassen der Götter und ihrer Reisebegleiter,
Den Himmel, die Leere und die Erde wußte.

12. Nichts würde sie sagen, nicht ein Wort würde sie äußern
Als Antwort den Fragern, noch mit ihnen sprechen.
Ihre Tränen fielen weit von ihrem Kopf,
Ihre Kraft war taub, erschöpft und tot.

13. Angefüllt mit Leid erschien Jorun114
Vor den Göttern, unfähig zu sprechen.
Je mehr sie fragten, desto weniger sagte sie,
Alle ihre Worte flossen vergeblich.

14. Als vorderster auf der Suche war Heimdal, der
Wächter des Horns des Vaters der Scharen;
Er brachte mit sich Loki, den einen von Nál geborenen,
Während Bragi, der Barde, Wache stand.

15. Die Krieger Odins gelangten zu der Weinhalle,
Gebracht an den Platz von den Söhnen der Vergangenheit.
Da traten Yggs Helden ein, die Aesir zu grüßen
Und sich beim Festmahl am Met zu beteiligen.

16. Sie wünschten Hangatyr115 Gesundheit und Zufriedenheit
Und Wohlergehen, immer sein Bier zu brauen.
Die Trinker waren selig, sich am Humpen zu erfreuen,
Eifrig mit dem Ewig-Jungen zu feiern.

17. Jeder wurde von Odin auf eine Bank gesetzt, die Herrscher
Aßen gemeinsam und wurden mit Sährimnir
Gesättigt; mit der Schöpfkelle von Nikar
Reichte Skögul116 an den Tafeln Met in die Hörner der Erinnerung.

18. Beim Fest wurde Heimdal viel von den Göttern gefragt,
Loki von den Göttinnen.
Den ganzen Tag bis die Dunkelheit hereinbrach
Suchten sie der Seherin Weisheit und Prophezeiung.

19. Schlecht, glaubten sie, wurde diese Angelegenheit gelöst
Und wenig lobenswert.
Schlauheit war nötig, um
Eine Antwort der verschlagenen Hexe zu entlocken.

20. Dunkelheit, Odin spricht. Alle hören:
„Die Nacht soll zur Wiederaufnahme der Beratung benutzt werden;
Jeder, der kann, soll bis zum Morgen eine Lösung für
Das Wohl der Aesir finden.“

21. Am Rande des Gebirges rings um die winterliche Erde
Fielen die Nachkommen Fenris, erschöpft.
Die Götter verließen das Feld, grüßten Ropt
Und Frigg beim Verschwinden des Nachtrosses.

22. Bald kommt von Osten aus den Eiszapfen-Wogen
Der Dorn des Schlafes zum Frostriesen,
Dessen Lieblinge bei der schönen Midgárd
Jede Nacht zur Mitternachtsstunde erschlagen werden.

23. Dann schwindet die Kraft. Die Hände werden allmählich gefühllos.
Eine Ohnmacht überfällt den blassen Schwert-Ásen;117
Bewußtlosigkeit herrscht über dem mitternächtlichen Atem;
Das Denken versagt in müden Wesen.

24. Aber der Sohn der Morgendämmerung treibt sein Roß voran,
Auffällig herausgeputzt mit kostbaren Juwelen.
Über die Heimat der Menschen ergießen sich Strahlen aus des Rosses Mähne;
Er zieht im Wagen Dwalins Spielzeug.118

25. Am nördlichen Roß-Tor der nährenden Erde
Unterhalb der entferntesten Wurzel des edlen Eschenbaumes
Gingen zu ihren Höhlen Hexen und Riesen,
Gespenster und Zwerge und die schwarzen Elfen.

26. Die Götter erhoben sich. Die Sonne leuchtete weiter.
Nordwärts nach Niflheim zog die Nacht hinweg;
Heimdal sprang wieder einmal auf Bäfrast auf,
Mächtiger Fanfarenbläser auf den Bergen des Himmels.

28 – Zusammenfassung

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Der Leser, der so weit ausgeharrt hat, wird das Fehlen einer Erläuterung der Götter und Riesen bemerkt haben, die gewöhnlich die Bücher über Mythologie schmücken: Die altnordischen Mythen lassen im allgemeinen einen einäugigen Odin mit einem Schlapphut herumlaufen und einen muskulösen Thor einen primitiven Steinhammer schwingen. Jede Ausschmückung dieser Art wurde vermieden, weil derartige Vorstellungen dazu beigetragen haben, die Mythen mehr in Mißkredit zu bringen als fast alles andere. Statt dessen wurde eine besonnene Anstrengung unternommen, die Naturkräfte und Substanzen des Universums zu entpersonifizieren, mit dem Versuch, die gewohnte Tendenz aufzuheben, mythische Gottheiten in menschlicher Gestalt zu sehen und die Materie mit Qualitäten auszustatten, die sie nicht besitzt. Das erste ist eine Demütigung, der keine planetarische oder stellare Kraft unterworfen werden sollte. Das zweite schreibt träger Substanz Eigenschaften zu, die nicht ihrer Natur entsprechen.

Nachdem wir durch einen kleinen Teil der Edda von Saemundar mit kurzen Exkursionen in andere Quellen gewandert sind, sollten wir inzwischen eine angemessene Vertrautheit mit den Methoden haben, die von den Barden benutzt wurden, um das Wissen der Götter aufzuzeichnen. Durch die eigenartige Magie der Mythen können wir etwas über Ursprung, Alter und Ende von Dingen erfahren, denn wir sind, jeder von uns, der fragende Odin. Die Probleme, die uns begegnen, wenn sie auf ihre eigentliche Grundform reduziert werden, sind dieselben Fragen, die von dem Geist der Existenz, während er von höheren Welten im Lebensbaum hängt, gestellt werden. Odin unten ist Odin oben im Baum geweiht, während er in den Tiefen nach den Runen der Weisheit forscht und sie mit Gesang – Klang, Bewegung, Aktivität – aufhebt.

In der Völuspá und in Grimnismál wird uns eine Übersicht über die Kosmogonie gegeben, ein Panorama von lebendigen Welten, die nach einer kosmischen Ruhe zur Tätigkeit zurückkehren. Wir sehen die Götter zu ihren Richterstühlen ziehen und sich versammeln, um zu beraten und die Anordnung himmlischer Wesen in den Schelfen und Wohnstätten des Lebensbaumes zu bestimmen. Wir erfahren auch etwas über unseren menschlichen Ursprung und unsere Herkunft: daß wir von den kreativen kosmischen Kräften abstammen, zusammengesetzt aus den universalen Elementen, die uns mit den Eigenschaften ausstatten, die zu unserer Spezies gehören.

Andere dieser Lieder stehen in Beziehung mit unserem eigenen Globus und den Menschheiten, die auf ihm einander folgten. Wir finden eine Aufeinanderfolge von Riesen und Riese, Rassen der Menschheit, die verschiedene typische Merkmale zeigen und neue Erfahrungen machen, um das dauerhafte Bewußtsein zu nähren. Der menschliche Geist durchquert die Schelfe und Wohnstätten unseres universalen Lebensbaumes auf der Suche nach Erfahrung, geradeso wie wir für Myriaden von atomaren Welten auf den verschiedenen Ebenen unserer eigenen Natur Gastgeber spielen, während unser Elf, unser Ego, entweder auf Geheiß seiner göttlichen Hamingja handelt oder sich selbst erlaubt, von den unverschämten Bitten der Zwergennatur in uns beeinflußt zu werden. Gleichzeitig helfen unsere körperlichen Organismen gemeinsam mit den Mineralien und anderen Naturreichen die Globen unseres Universums zu bilden, ebenso wie die atomaren Leben in uns die Körper liefern, die in der Welt, die wir zur Zeit bewohnen, uns gehören.

Die Mythen sind ausgesprochen vernünftig. Es gibt keine außerordentlichen Forderungen nach Leichtgläubigkeit: die Systeme greifen ineinander, die Zweige an ihren Ästen des Lebensbaumes sind selbst wieder Lebensbäume, die sich in größeren Systemen verzweigen. Die ganze Zeit über gebieten die Götter, die wohltätigen Kräfte, über ihre eigenen Sphären. Sie mischen sich nicht in menschliche Angelegenheiten ein, noch sind sie menschlichen Überredungskünsten und Launen unterworfen. Sie sind intelligente Welten, gänzlich unnahbar für uns, doch stets da, eine realistische Aussicht unserer eigenen Zukunft. Denn wir, gleich Kleinkindern in einer Welt von Erwachsenen, stehen nur kniehoch gegenüber ihrer Majestät und erkennen nur die geringsten, elementarsten ihrer Merkmale.

Die Welten werden gezeigt, wie sie leben und sterben, und wieder leben, und wieder einmal verschwinden. Nach jedem Ende planetarischen Lebens suchen die Götter von dem „fruchtbaren Geist“ das zu lernen, was auf seiner Sphäre der Pflicht gewonnen worden war. Im menschlichen Bereich betreten auch wir unseren Globus der Tätigkeit, gewinnen etwas Met, um den inneren Gott zu erfreuen und gehen in andere Welten hinaus: Welten, die jeweils eine verschiedene Zusammensetzung, eine verschiedene Festigkeit und andere Erfahrungsbereiche für das evolvierende Bewußtsein haben, damit es aus ihnen lernt. Das Eichhörnchen des Bewußtseins hat freien Zugang zu allen verschiedenen Ebenen seines Lebensbaumes, und was zu einer Welt gehört, findet keine identische Anwendung auf eine andere, obwohl wir eine Verbundenheit mit allen haben. Wir leben und lernen in ihnen, während jeder Teil unserer Natur seine eigene Heimbasis besitzt.

Immer seit die Entwicklung des Denkvermögens und des Willens der frühen Menschheit beschleunigt wurde, um denken und frei wählen zu können, und seit ihre – unsere – ersten Schritte als menschliche Wesen von den „wohltätigen Mächten“ [vermenschlicht als Rig], geführt wurden, haben unsere Wege viele Sümpfe und viel Treibsand durchstreift. Dabei wurde das innere Licht geschwächt. Unsere Wege gingen aber auch über Höhepunkte großer Inspiration. Der menschliche Geist, der Teil vom Geiste eines intelligenten Universums ist, kann nicht von ihm getrennt werden oder etwas enthalten, das das Ganze nicht enthält, von dem er einen Teil bildet. Er muß einen integralen Teil von ihm ausmachen. Wir haben die Versicherung der Mythen, daß, wenn unsere beschwerliche Reise durch die Selbst-zu-entdeckenden Täler der Materie vollendet sein wird, wir unsere Göttlichkeit wiedergewinnen werden und eine bewußte und verantwortungsvolle Rolle in der Herrschaft und Kontrolle der Welt rechtmäßig übernehmen. Denn innerhalb von uns besteht eine starke und unbestreitbare Verbindung mit den strahlenden Intelligenzen, die die planetarischen und solaren Systeme beherrschen. Sie sind die Hierarchien, deren Essenz ihre Domäne geradeso durchflutet wie ein menschliches Wesen alle die wimmelnden Leben in seiner Seele und seines Körpers mit Bewußtsein durchdringt. Und damit wir nicht die Berührung mit der Quelle unserer Inspiration verlieren, wird die Gedankenwelt, die wir bewohnen, mit den Signalen befruchtet, durch die wir die Wahrheit finden.

Niemals hat in allen unseren Unternehmungen das Licht der Inspiration gänzlich gefehlt. Immer haben die mythischen Ideale existiert, so daß jene, die die Wahrheit ernsthaft suchen, in jedem Zeitalter eine Antwort finden können. Denn dafür bestehen die Legenden und Allegorien der Welt. Wenn die innere Notwendigkeit und die altruistische Liebe vorwärts drängen, können sie in vollem Umfang bekanntgemacht werden. Zu anderen Zeiten bleiben sie in ihrer Verkleidung als Heldengeschichte und Märchen verborgen. Wenn sie studiert werden, bestätigen sie einige Werte und Tugenden. Sie lehren uns, wie wir zu leben haben: denn wie sie klar zeigen, besteht unsere Aufgabe im Menschenreich darin, die gröbere Substanz unserer Riesen-Welt in die dauerhaften Schätze des Bewußtseins – die Nahrung, die die Götter nährt – in uns und in den Weltsystemen umzuwandeln.

Außerdem lehren uns die Mythen, die Wahrheit zu erkennen und sie hoch zu achten: nicht irgendwelche Daten, wie sie in einem Computergedächtnis gespeichert werden, sondern die wachsende Sphäre der Wahrheit, die uns eine immer freiere Vision bietet und die inneren Welten eines lebendigen Kosmos unserem Verständnis öffnet. Diese Versicherung unseres göttlichen Ursprungs und der universalen Bestimmung gibt uns die Grundlage für ein kritisches Urteilsvermögen, das immer gültig ist: nicht nur einen verschlüsselten Satz von Tugenden (die, wie jeder weiß, bei Mißbrauch zu Untugenden werden), sondern eine solide Charaktergrundlage, ein innerer Richtungsweiser, der zum Wahren in jeder Situation hinweist.

Die hier angebotenen Auslegungen sind weit davon entfernt, erschöpfend zu sein. Sie geben lediglich einen Umriß von wenigen der Hauptthemen der theosophischen Philosophie wieder, die in einigen der Lieder und Geschichten der Edda bemerkt werden. Nicht jedes Symbol konnte beachtet werden, noch jede Kenning erklärt.

Vieles wird den Leser beeindrucken ohne daß besonders darauf hingewiesen wurde. Andere Stellen sind zu dunkel, um leicht verstanden zu werden und mehr als konfus, oder sie führen möglicherweise den Leser in die Irre. Sie werden dem Intuitiven überlassen, der sie für sich selbst wahrnehmen kann. Möglich, daß mit den allgemeinen Schlüsseln für die Symbolik, die vorgeschlagen werden, ein gedankenvoller und wahrnehmender Geist weitere Schichten des Verständnisses nicht nur im Altnordischen finden kann, sondern auch in anderen Weltmythen. Was genau untersucht wurde ist auch nur unvollständig, denn es gibt nur einen kleinen Teil des in der Edda verfügbaren Teiles wieder. Wenn dieses Fragment der Runenweisheit andere dazu ermutigen kann, ein vollständigeres Studium der alten Aufzeichnungen aufzunehmen, dann hat es seinen Zweck erfüllt. Es gibt ein reales Bedürfnis in unserer gegenwärtigen Welt, eine spirituelle Ehrfurcht und eine Veranlassung dafür, die menschlichen Bemühungen wiederherzustellen, bevor wir uns weiter in ein Universum ohne Bedeutung vertiefen. Die alten Götter sind nicht tot; weit davon entfernt. Sie kümmern sich um ihre Aufgabe, die Welten in fortdauerndem, harmonischem Funktionieren zu halten. Sie stellen das Gleichgewicht der Elemente der Natur sicher und halten auf allen Ebenen die empfindliche Wirksamkeit aufrecht, die den Naturalisten in unserer physikalischen Umgebung so erstaunt. Der Einzelgänger der Natur ist der Mensch. Die Naturreiche, die hinter uns herwandern, sind im hohen Maße von uns abhängig und leiden unter unseren Fehlern, während jenen, die uns auf der Leiter der Existenz vorangehen, obwohl nicht durch unsere Torheit gebunden, nichtsdestoweniger aber unsere Zusammenarbeit vorenthalten wird, wenn wir mit weniger als dem Besten unseres Menschseins handeln.

Es ist notwendig, daß wir den nächsten Schritt auf unserer Reise bewußt aufnehmen. Odr, die menschliche Seele, muß erfolgreich ihre himmlische Braut am Ende ihrer Wanderung durch windkalte Täler der Materie gewinnen, wobei ihr durch die Talente und Qualitäten, die ihr ihre Mutter, die Vergangenheit, zuteil werden ließ, geholfen wird. Nur wenn wir vorbereitet und willens sind, können wir unsere menschliche Bestimmung erfüllen und uns, als Swipdag, vereinigt mit Menglad, unsere Hamingja, an den Aufgaben der Jahre und der Zeitalter beteiligen.

Bibliographie

Quellen der Lieder:

Codex Regius af den aeldre Edda: Handskriftet No. 2365 4to gl. kgl. Samling gedruckt von S. L. Møllers Bogtrykkeri, Copenhagen 1891.

Codex Wormianus.

Edda, Saemundar hinns Fróda: Edda Rhythmica seu Antiqvior, vulgo Saemundina dicta, Havniae 1787 aus einem Pergament aus dem vierzehnten Jahrhundert

Die Schwedischen Versionen von Gödecke und Sander wurden aus dem obigen entnommen und auch aus

Hauksbok

Sörla Tháttr, „kleiner Faden“, der Teil der Jüngeren Edda ist.

Die Jüngere Edda von Snorri Sturlusson

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Glossar

Aesir (Götter) Aktive Gottheiten. Siehe Áse

 

Ägir – (ein Titan oder Riese) Raum: Metbrauer für die Götter

Agnar – Name von zwei früheren Menschheiten; eine wurde von Grimnir (Odin) unterrichtet

 

Alf – (Kanal) Elf, Seele

Alwis – (all all + wis weise) Ein Zwerg: weltkluger Verehrer von Thors Tochter

 

Andhrimnir – (and Luft + hrimnir Berechnung, Kalender) Einer der Eber, der die Einherjer nährt: Andhrimnir, Luft; Eldhrimnir, Feuer; Sährimnir, Wasser; die Elemente der irdischen Erfahrung

Áse – (ás oberster Dachbalken eines Hauses) Ein aktiver Gott. Siehe auch Aesir (pl.), Ásynja (f.), Ásynjor (f. Pl.)

 

Ásgárd – (ás Gott + gárd Hof) Heim der Aesir

Askungen – (ask Asche und unge Kind) Aschenkind, Cinderella

 

Ásmegir – (Gottmacher) Potentieller Gott: die menschliche Seele

Ásynja – (Göttin, f. von Áse) Aktive Gottheitƒ

 

Ásynjor – (Pl. von Ásynja, f. von Aesir) Göttinnen

Audhumla – (mythische Kuh) Fruchtbarkeitssymbol

 

Balder – Ein Áse: der Sonnengott

Bärgälmir, Bergelmir – (Ein Titan) Ertrag einer universalen Lebenszeit

 

Barre – (barr Kiefernadel) Das heilige Wäldchen des Friedens. Snorri spricht von der Esche als habe er barr, habe er nie einen Baum gesehen. In Island gibt es keinen.

Belis Fluch – Freyrs Schwert

 

Bifrost, Bäfrast, Billrast – Die Regenbogenbrücke zwischen Menschen und Göttern

Bilskirnir – (leuchtend, strahlend) Walhallas Schelf

 

Bleknäbb – (Bleichschnabel) Adler, der Riese Räswälg

Bödwild – Tochter von König Nidud

 

Bragi – Ein Áse: poetische Inspiration, Weisheit

Brimir – (Meeresbrandung) Ein Aspekt von Ägir. Siehe Ymir

 

Brisingamen – (brising Feuer + men Juwel) Freyjas Juwel, menschliche Intelligenz

Brock – Ein Zwerg: das Mineralreich

 

Budlung – Ein König (dichterisch)

Bur – (Geburt?) Raum, erste Emanation von Buri

 

Buri – Gefroren, unmanifestiert, abstrakter Raum. Traditionell personifiziert König Buri oder Bori den Winter

Byleist – (Lauffeuer) Die destruktive Seite Lokis, das Gemüt

 

Draupnir – (Tropfer) Odins magischer Ring: sich fortpflanzende Zyklen

Dwalin – (tiefe Bewußtlosigkeit) Die menschliche, unerwachte Seele; Dwalins Spielzeug, die Sonnenscheibe

 

Edda – (Urgroßmutter) Mutterboden der menschlichen Weisheit

Egil – Eine frühere Menschheit, das Zeitalter der Unschuld

 

Einherjer – Odins Krieger; einer der sich selbst besiegt hat

Eldhrimnir – (eld Feuer + rhimnir Berechnung, Kalender) Einer der Eber, der die Einherjer nährt: Andhrimnir, Luft; Eldhrimnir, Feuer; Sährimnir, Wasser; die Elemente der irdischen Erfahrung

 

Elf – (Kanal) Die menschliche Seele zwischen Geist und Zwerg im Menschen

Eli-wágor – (Eiszapfen-Wogen) kalte Ströme der Materie

 

Elohim – (Götter, Hebr. pl.) Die Gottheit als eine Ansammlung von vielen unendlichen Kräften

Fenja – (fen Wasser) Eine der Riesinnen, die die magische Mühle Grotti dreht

 

Fenris, Fenrir – Lokis Sohn, Werwolf, der die Sonne verschlingen will

Fimbultyr – (fimbul mächtig, groß + tyr Gott; Gott des Geheimwissens) Die höchste Gottheit, der Gott der geheimen Weisheit

 

Fjölswinn – (fjöl sehr + swinn weise) Odin als Instrukteur und Initiator

Fohat – (Tib.) Elektromagnetische Strahlung

 

Forseti – Ein Áse: Gerechtigkeit, Karma

Freki – (Völlerei) Einer von Odins Wolfshunden

 

Freyja – Eine Ásynja: Planetengeist der Venus, Beschützerin der Menschheit

Freyr – Ein Áse: Planetengeist der Erde; Tapferkeit

 

Frigg – (AS frigu Liebe) eine Ásynja: Odins Gemahlin

Frodi – (frodr weise) Ein legendärer König

 

Frodifrid – (frodr weise + frid Friede) Zeitalter des Friedens und der Weisheit: das goldene Zeitalter

Frostriese – Zeitalter des „Nichtlebens“ zwischen den aktiven Leben eines Kosmos

 

Gagnrád – (gágn vorteilhaft + rád Rat) Odin in Wafthrudismál

Galder – Zauberspruch

 

Gángläri – (gáng wandernd + läri Lernender) König Gylfi, der Weisheit sucht

Garm – Der Hund, der das Tor von Hel, Königin des Todes, hütet

 

Geirröd – (geir Speer + röd rot) Eine frühere Menschheit

Geisel – Ein Wana-Gott unter den Aesir: ein Ávatāra von einer höheren zu einer niederen Welt

 

Gerd – Eine Riesin: Gemahlin von Freyr

Geri – (Habgier) Einer von Odins Wolfshunden

 

Gimle – (himmlische Behausung) Ein höherer Schelf der Existenz, Heim der neuen Erde und der Sonne

Ginnungagap – (ginn die Leere + unge Nachkomme + gap Abgrund; die unergründliche Leere) Das Mysterium des Nichtseins

 

Gladsheim – (frohes Heim) Lage von Walhalla

Grimnir – (verkleidet) Odin als Lehrer des jüngeren Agnar

 

Groa – (Wachstum) Eine Sibylle: die evolutionäre Vergangenheit, die zur Gegenwart führt

Grotti – (Wachstum) Magische Mühle der Veränderung, Erschaffung, Zerstörung: Evolution

 

Gudasaga – (gud Gott + saga Zauberspruch) Eine göttliche, mündlich übermittelte Erzählung, ein göttlicher Zauberspruch oder eine göttliche Lehre

Gullweig – (guld Gold + weig Getränk oder Durst) Das Streben der Seele nach Weisheit

 

Gunnlöd – Riesin, die im Gebirge Odin Met einschenkt

Gylfi – Ein legendärer König und Weisheitssucher

 

Gymir – Ein Riese: Vater von Gerd

Hamingja – (Glück) Schutzgeist

 

Hávamál – (háv hoch + mál Rede) Lied des Hohen

Heid – (heid heller Himmel) Eine Wala oder Sibylle: das Gedächtnis der Natur von der Vergangenheit

 

Heidrun – (heidr Heide oder Ehre) Die Ziege, die die Rinde vom Lebensbaum knabbert

Heimdal – (heim Heim + dal kleines bewaldetes Tal) „Der hellhäutigste Áse“. Himmlischer Wächter von Bifrost

 

Hel – (Tod) Die Tochter von Loki, Herrscherin des Totenreichs. Sie wird als halbblau, halbweiß dargestellt

Hels Straße – Der Weg von der Geburt bis zum Tod

 

Hermod – (herr ein Gastgeber + modr Zorn, Stimmung) Ein Áse: ein Sohn Odins

Hlidskjalf – (hlid ausrichten, nach, oder lid leidend + skjalf Schelf) Die Ebene der Hilfe oder des Mitgefühls

 

Hlin – (lin Flachs) Frigg oder Frigga, Odins Gemahlin

Hlorridi – Thor als elektrische Kraft auf Erden

 

Hödur – (höd Krieg, Gemetzel) Ein Áse: blinder Gott der Finsternis und Unwissenheit; Bruder von Balder

Hönir – Ein Teil der schöpferischen Trinität; das wäßrige Prinzip

 

Hrungnir – (lautes Gebrüll) Ein Riese

Hugin – (hug Gemüt) Einer von Odins zwei Raben

 

Hwergälmir – (hwerr Kessel) Quelle der Lebensflüsse. Sie entspringt in Niflheim und bewässert eine Wurzel des Lebensbaumes

Hymir – Der erste Titan eines Lebenszyklus. Siehe Rymir

 

Idun – Eine Ásynja: „der fruchtbare Geist“, der die Götter mit den Äpfeln der Unsterblichkeit nährt; die Seele der Erde. Sie ist die Frau von Bragi, der poetischen Inspiration

Ifing – (ef oder if Zweifel) Fluß, der die Menschen von den Göttern trennt

 

Iörmungandr – (jörmun immens + andr Atem) Ein Nachkomme Lokis: die Midgárd Schlange. (Vielleicht der Äquator, die Ebene der Ekliptik oder die Milchstraße)

Iwaldi – Ein Riese: die frühere Verkörperung der Erde

 

Järnsaxa – (järn Eisen + sax ein kurzes Schwert) Ein Zeitalter: Mutter von Thors Sohn Magni. Auf Erden die Eisenzeit, im Raum eine von Heimdals neun Mütter

Kenning – Ein beschreibender Beiname an Stelle eines Namens

 

Kwasir – Eine Geisel von den Wanir an die Aesir übergeben, und dessen Blut epische Dichtung ist

und Laeti – Genetische Blutlinie und auffälliger Charakter oder auffälliges Erscheinungsbild

 

Lif und Lifthrasir – (Leben und Überleben) Unsterbliche Prinzipien

Loddfáfnir – Ein Zwerg: eine lernende menschliche Seele

 

Lodur – Ein Teil der schöpferischen Trinität; das feurige Prinzip

Lofar – (lof Hand oder Lob) Höchster Angehöriger des Tierreichs

 

Logi – (log Flamme) Lauffeuer, der uninspirierte Verstand

Lokabrenna – (brenna brennend) Ein Name für Sirius

 

Lokasenna – (senna Geplänkel) Lokis Zankreden

Loki – (lokka locken, logi Licht) Ein Áse mit Riesenabstammung: der Erleuchter, das duale Denkvermögen, Gemüt

 

Lopt – (hochfliegend) Intuition und strebender Geist

Magni – (göttliche Kraft: Gravitation?) Einer von Thors Söhnen im kosmischen Raum

 

Menglad – (men Juwel + glad glücklich) Freyja, deren Juwel die Menschheit ist

Menja – (men Juwel) Eine der zwei Riesinnen, die die Mühle Grotti drehen

 

Met – Getränk der Götter: Lebenserfahrung

Midgárd – (mid mittel + gárd Hof) Unser physischer Planet

 

Mimameid – (mima von Mimir + meid Baum) Der Baum von Mimir, Eigner der Quelle der Erfahrung

Mimir – (der neunschichtige Himmel) Ein Riese: Eigner des Brunnens der Weisheit, aus der Odin täglich trinkt: die Materie

 

Mjölnir – (Müller) Thors Hammer der Schöpfung und der Zerstörung

Mjötudr – (mjöt Maß + udr erschöpfend) Der Lebensbaum in seiner Sterbephase

 

Mjötvidr – (mjöt Maß + vid wachsend) Der Lebensbaum in seiner Wachstumsphase

Modi – (göttlicher Zorn: Strahlung?) Einer von Thors Söhnen im kosmischen Raum

 

Mundilföri – (ähnlich wie möndull Griff + föri reisen, bewegen) Ein Riese, Vater der Sonne und des Mondes: der „Hebel“ oder die „Achse“, die die „Räder“ im Raum dreht

Munin – (Gemüt, Liebe, Erinnerung) Einer von Odins zwei Raben

 

Muspellsheim – (muspell Feuer + heim Heim) Ein kosmisches Prinzip. Siehe Niflheim

Mysing – Ein Seekönig, der Frodi besiegte

 

Nagelfar – (nagel Nagel + far reisen; Nägelfahrer) Das Todesschiff, gebaut aus den Nägeln toter Menschen

Nanna – Seele des Mondes, die aus Gram starb, als ihr Gemahl Balder getötet wurde. Vorgängerin von Idun

 

Nidhögg – (nid unterhalb + högg Beißer) Schlange, die Yggdrasil, den Lebensbaum, unterhöhlt

Nidud – (nid unterhalb, böse) Ein legendärer König: das materiellste Zeitalter der Erde

 

Niflheim – (nifl Wolke, Nebel + heim Heim) Ein kosmisches Prinzip. Siehe Muspellsheim

Niflhel – (nifl Wolke, Nebel + hel Tod) Auslöschung der Materie

 

Niflungar – (nifl Nebel + ungar Kinder) Eine frühere Menschenrasse, die noch formlos, nebulös war

Nikar – (Austeiler, Erschütterer) Odin als Unglücksbringer

 

Njörd – Ein Wana-Gott: der Regent des Saturns, Vater von Freyr und Freyja

Nornen – (norn unheimlich, Schicksal) Spinnerinnen des Schicksals für Götter, Welten und Menschen

 

Od, Odr – (odr Verstand, Intelligenz) Die höhere Menschenseele, spirituell inspiriert

Ods Maid – (Freyja) Die Hamingja oder das höhere Selbst des Menschen

 

Odin, Wodan, Wotan – (odr Intelligenz, Weisheit) Allvater: das göttliche Prinzip auf allen Ebenen des universalen Lebens. Bewußtsein

Odraerir – (od Weisheit + raerir Pfleger) Erwecker der göttlichen Weisheit

 

Ofnir – (Eröffner) Odin am Beginn eines Zyklus

Okolnir – (auftauend) Die „Wasser“ des Raums

 

Örgälmir – (ör ursprünglich) Erste Vibration: der Big Bang (Urknall). Siehe Ymir

Ragnarök – (ragna Herrscher + rök Boden) Wenn die herrschenden Gottheiten sich auf ihre Basis zurückziehen; das Ende der Lebenszeit einer Welt

 

Ratatosk – (rati reisen + tosk Eckzahn) Eichhörnchen im Lebensbaum: Bewußtsein

Rati – (ein Bohrer) Bohrte für Odin durch die Materie

 

Riese, Riesinnen – Materie, belebt durch die Gottheit

Rig – (Abstieg, Beteiligung) Göttliches Erwecken des menschlichen Denkvermögens

 

Rimgrimnir – (rim Reim + grimnir Maske) Ein Thurse, Riese: kalte, äußere Materie

Rinda – (schmiedet Verse und versündigt sich) Erde im Winter oder im Schlaf

 

Rödung – (röd rot + ung Kind) Vater der früheren Rassen Agnar und Geirröd in Grimnismál

Ropt, Roptatyr – (ropt unheilvoll + tyr Gott, der Verleumdete) Odin als Bringer von Prüfungen für die Seele; der Initiator, Hierophant

 

Röskwa – (Energie) Tochter von Egil und Dienerin von Thor

Runen – Weisheit durch Leben gewonnen

 

Rymir – Ein Riese: Ende eines Lebenszyklus. Siehe Hymir

Saga – Gesprochene oder rezitierte Instruktion in der Form einer Erzählung

 

Sährimnir – (sähr See + rimnir Berechnung, Kalender) Einer der Eber, der die Einherjer nährt÷ Andhrimnir, Luft; Eldhrimnir, Feuer; Sährimnir, Wasser; die Elemente der irdischen Erfahrung

Sejd – Prophezeiung

 

Sif – (sif Affinität, die Heiligkeit der Ehe) Eine Ásynja: Thors Gemahlin. Ihr goldenes Haar ist die Ernte

Sigyn – Lokis Frau

 

Sindri – (Abfall) Ein Zwerg: das Pflanzenreich

Sinmara – Hexe, die den Kessel der Materie hütet, Erfahrung in der Unterwelt

 

Skadi – Schwester-Frau von Njörd, Tochter des Riesen Thazi

Skald – Barde

 

Skaldemjöd – (skald Dichter + mjöd Met) Inspiration

Skidbladnir – (skid Latte + blad Blatt) Schiff, das von den Zwergen für Freyr geschaffen wurde. Der Planet Erde

 

Skirnir – (Strahlung) Strahl des Gottes Freyr, ein Abgesandter zur Riesenwelt

Sleipnir – (Gleitender) Odins achtbeiniges Roß

 

Surt – (Feuer) Zerstörer von Welten; eine Kenning auch für Sinmaras Getränk

Suttung – Ein Riese, Halter des göttlichen Mets der Weisheit und der Dichtkunst

 

Swadilfari – (swad rutschig + fari reisen) Ein mythisches Roß, Vater von Odins achtbeinigem Sleipnir

Swafnir – (Schließer, Beender, derjenige, welcher einschläfert) Odin am Ende eines Zyklus

 

Swipdag – (swip Aufblitzen + dag Tag) Der erfolgreiche Initiand

Svitjod – (das Kalte, das Große) Schweden

 

Tafeln – Sterne und Planeten, auf denen die Aesir Festgelage halten

Thalfi – (Geschwindigkeit) Sohn von Egil und Diener von Thor

 

Thazi – Ein Riese: eine frühere Lebensperiode

Thjodwitnir – (thjod Strick + witnir Zeuge) Fenris; Wolf, der nach den Seelen der Menschen fischt

 

Thor – (thorr, thonor, thur Donner, Weihender, arglose Kraft) Ein Áse: Gott der Kraft, der Lebenskraft, der Elektrizität und des Planeten Jupiter. Auch Thrudgälmir, Wior und Hlorridi genannt in vielen anderen Anwendungen

Thrudgälmir – Kosmischer Thor

 

Thrym – (Lärm, Kampf) Ein Riese: unser physischer Planet Erde

Thund – Ein Fluß: Zeit, ein Zeitzyklus

 

Thurs – (schwerfällig, dumm) uninspirierter Materie-Riese

Ting, Thing – (teure Gegenstände, Inventar) die Regierungsversammlung – Parlament –, an der alle teilnehmen müssen

 

Tomti – (tom Leere) Naturgeist, hilfreich

Troll – Naturgeist, schelmisch

 

Tyr – (Áse, Gott) Eine göttliche Kraft, auch der Regent von Mars. Tyr opfert seine Hand, um Fenris binden zu helfen

Ull – Ein Áse: der Gott einer hoch spirituellen, unmanifestierten Welt

 

Vác oder Vách – (Skt. Stimme, Sprache) erster Klang in der Hindumythologie. Siehe auch Audhumla

Vingnir, Vingthor – (geflügelter Thor) Beiname für Thor

 

Völsungar – (völsi Phallus + ungr Kinder) Frühere zweigeschlechtliche Menschheit

Völuspá – (wala Sibylle + spá prophezeien) Hauptlied der älteren Edda

 

Wafthrudnir – (waf Umhangtuch, Gewebe + thrudr tapfer) Der Weber starker Gewebe (der Illusion)

Wägtam oder Wegtam – (wäg Weg + tam gewohnt) Pilger

 

Wala, Wölwa – (Sibylle, Prophetin) unauslöschliche Aufzeichnung des kosmischen Lebens

Wali – Ein Sohn Odins

 

Walhalla – (wal Auswahl oder erschlagen + hall Halle) Odins Halle, in der die Einherjer feiern

Walküren – (wal Auswahl oder erschlagen + küren auswählen) Odins Vertreterinnen

 

Wan, Wanagott, Wanariese, Wanir – (Wanen) Götter, höher als die Aesir (Asen); unmanifestierte Gottheiten und entsprechende Riesen

We, Wi – (Ehrfurcht) Kosmischer Prototyp von Hönir

 

Widar – Ein Sohn Odins, Nachfolger von Balder

Widofnir – (Weitöffner) Hahn in der Krone des Lebensbaums

 

Wigridsslätten – (wiga weihen + slätt Ebene) Das Schlachtfeld des Lebens

Wili – (Wille) Kosmischer Prototyp von Lodur

 

Wior – Thor als die Lebenskraft, die Vitalität in Wesenheiten

Wölund – Name eines mythischen Schmieds und geschickten Handwerkers. Die Seele der vierten Menschheit

 

Yggdrasil – (Odins Roß, Odins Galgen) der Lebensbaum

Ymir – (Frostriese) Örgälmir

 

Zwerge – Seelen, niedriger als der Mensch in der evolutinären Stellung

Fußnoten

1. Umschreibende poetische Bezeichnung, bildhafter Ausdruck in der altgermanischen, bes. nordischen Literatur [d.Übers.] [back]

2. die dritte Wurzelrasse [d. Übers.] [back]

3. Schwedisch: vingvagn, fjäderblad; Sanskrit: vimāna [back]

4. Quasi-stellare Objekte, allgemein Quasare genannt [back]

5. Der erste sichtbare Aufgang eines Sterns in der Morgendämmerung (d. Ü.) [back]

6. Michael Zeilik, Astronomie: Das Evolvierende Universum, 1979, S. 501 engl. Ausgabe [back]

7. Lida leiden oder hlid Seite, Stand oder Ausrichtung. Durch Implikation kann dieses „Schelf“ die Götter anregen, die an unserer Seite angeordnet sind oder, wahrscheinlicher, „leiden“ oder „fühlen mit“ – wie im Lateinischen compassion (Mitgefühl) und im Griechischen Sympathie von pathein leiden, ertragen und bei Erweiterung der Bedeutung, die Last tragen von. [back]

8. Genesis 3: 22,24 [back]

9. Indaba, My Children, S. 3-12 [back]

10. Bhagavad-Gītā, Kap. XV [back]

11. Völuspá, 20 [back]

12. Diese Stanzen bilden einen Teil der alten Aufzeichnungen, auf denen Die Geheimlehre als Kommentar beruht. [back]

13. Ör (Isl) oder ur (Schw.) ist eine propositionale Vorsilbe, für die kein adäquates englisches Äquivalent existiert. Sie bedeutet „aus“ und suggeriert eine Emanation aus einer ursprünglichen Wurzel oder einem anfanglosen Ursprung. [back]

14. Einzahl: van und áss (schw. ås); r, dem ein Vokal vorangeht, ist eine Pluralendung (vanir, åsar oder aesir). Ås bedeutet auch der höchste Dachbalken eines Hauses. Der Ausdruck kann als Vans und Ases anglisiert sein. [back]

15. Aus der Ynglingasaga der Jüngeren Edda [back]

16. Die Geheimlehre, I, 27 (I, 55 dtsche. Ausgabe) [back]

17. Völuspá, 3,4 [back]

18. Plural von saga, eine mündliche Überlieferung, gleich dem Sanskrit smṛti und śruti, Lehren, an die man sich „erinnert“, bzw. die man „gehört“ hat. [back]

19. Zahlen allein beziehen sich auf die Verse in dem Lied, das in der Kapitelübersicht genannt wird. [back]

20. Arten, Generationen verwandter Wesen [back]

21. Namen in Kursivschrift sind nicht übersetzt; einige von ihnen können „unsinnige Silben“ sein, andere können sich auf eine unbekannte oder vielleicht ausgestorbene Fauna oder Flora beziehen. [back]

22. „Gier nach Gold.“ [back]

23. Diese rätselhafte, wiederkehrende Redewendung ist wörtlich übersetzt. [back]

24. Yggdrasil, der Lebensbaum [back]

25. Yggdrasil [back]

26. Aus der Jüngeren Edda. [back]

27. Der Becher war oft das Horn einer Kuh oder eines Widders und wurde um die Tafel weitergereicht. Ein solches Horn konnte nur leer wieder abgesetzt werden. [back]

28. Walroß? [back]

29. Billings Maid: die weiße schneebedeckte Erde, auch Rinda genannt [back]

30. Bölthorn ist wahrscheinlich der Trudgälmir, die erhaltende Lebenskraft eines vorherigen Lebenszyklus; Bestla ist die Schwester von Bärgälmir, die Frau von Bur und das weibliche Gegenstück der karmischen Samen des vorherigen Lebens und der Anfangsimpuls des gegenwärtigen; Odraerir ist der Brunnen von Mimir, die Quelle der Weisheit, die von den Göttern in der Manifestation aufgesucht wird. [back]

31. Tod [back]

32. Allwissender [back]

33. Wafthrudnir: Weber der Gewebe der Illusionen [back]

34. Vorteilhafter Rat [back]

35. Verschlagenen [back]

36. Der Rest des Verses fehlt im Codex Regius. [back]

37. Der Rest des Verses fehlt im Codex Regius. [back]

38. Mühle: Auflöser und Schöpfer der Materie [back]

39. Oder Familien-Suchers [back]

40. Thor [back]

41. Mjölnir, Thors Hammer [back]

42. Balder [back]

43. Eine Erzählung aus der Jüngeren Edda. [back]

44. Tyr, „belebtes Wesen“ also „Gott“, bedeutet speziell Mars, der eng mit dem Aries des Tierkreises verknüpft ist und mit Heimdal und auch mit dem Energieimpuls von Thor. Als solcher symbolisiert er Wille und Wunsch. Hier sehen wir wieder den Fortschritt vom Riesen zum Gott, wie Hymir, ein Riese, ein Vorläufer oder eine vergangene Kondition von Tyr, einen Gott darstellt. [back]

45. Aesir [back]

46. Thor [back]

47. Thor [back]

48. Thor [back]

49. Tyr [back]

50. Hymir [back]

51. Thor [back]

52. Thor [back]

53. Jörmungandr, die Midgárdschlange [back]

54. Fenris [back]

55. Thor [back]

56. Boot [back]

57. Boot [back]

58. Thor [back]

59. Wörtlich „drei Gesichter“ [back]

60. Siehe Anmerkung. Hlidskjälf kann auch andere Bedeutungen haben, aber die meisten scheinen „Schelf des Mitleids“ zu sein. [back]

61. Fulla und Bil sind Namen für die Mondphasen. [back]

62. Buchstäblich „maskiert“; getarnt [back]

63. Gott des Seins [back]

64. Winter, eine „kalte“ oder ungeformte Welt [back]

65. Die „Eber“, die die Götter ernähren: Luft, Wasser und Feuer [back]

66. „Feuerfluß“, der Wassergraben um Walhalla [back]

67. Thjodwitnir – der Werwolf, Fenris oder Fenris, Lokis Sohn, der nach Menschen fischt. Daher ist Thodwitnirs Fisch die menschliche Rasse. [back]

68. 540 × 800 = 432 000, der in den Purānen genannte Zyklus, der in einem Vergleich mit der pythagoräischen Tetraktys verwendet wird, um größere Zyklen, mehrfache von diesem einen zu bilden. Das „goldene Zeitalter“ ist das längste der vier „Yugas“ oder 1 728 000 Jahre, was 4 × 432 000 ist: „Das größte von diesen ist das meines Sohnes,“ Balders oder das Goldene Zeitalter. [back]

69. Aus Hwergälmir strömen alle Lebensflüsse, die die Naturreiche bewohnen oder beleben. [back]

70. Kursiv gedruckte Namen sind nicht übersetzt. [back]

71. Die Namen sind symbolisch und beschreibend: die Rosse der Götter übersetzt sind: Froh (Freyrs), Gold (Bragis), Glanz (Njörds), Fließender Strom (Ulls), Silberstirn (Forsetis), Gefühl (Tyrs), Geisel (Balders), Leichtfuß (Hödurs), Goldstirn (Heimdals) und Leichtfuß (Hönirs). [back]

72. „Der Kühle“, der die Planeten vor jenen Wellenlängen der solaren Strahlung schützt, die sie zerstören würden, ist ein Mythos, der auch in anderen Mythen in anderen Teilen der Welt enthalten ist. Auch die „Sonnenhunde“ in dem folgenden Vers (39), ist ein optisches Phänomen, das in nördlichen Breiten als eine Doppelreflexion am Horizont gesehen werden kann, wenn die Sonne auf- oder untergeht. [back]

73. Rot-Zeuge, roter Himmel bei Morgendämmerung und Sonnenaufgang, was Zeugnis über ein Mysterium ablegt. [back]

74. Odins Namen, die verschiedene Gestalten und Funktionen kennzeichnen: Kapuzen oder Masken, wandernder Lernender (vgl. die Apotheose von Gylfi, in der der Name von dem Postulant angenommen wurde), [Selbst-] Besieger und Helmträger, etc. [back]

75. Die Mythe, in der Odin als Kjalar einen Schlitten zog, sind verlorengegangen und nur indirekte Zeugnisse von ihr sind erhalten geblieben. [back]

76. „Grüne Insel“: die Erde [back]

77. Thor [back]

78. Rig bedeutet einen „Abstieg“ oder eine „Involvierung“. [back]

79. Urgroßvater und Urgroßmutter [back]

80. Großvater und Großmutter [back]

81. Mensch [back]

82. Vater und Mutter [back]

83. Graf [back]

84. In den Wikingerzeiten dienten um den Oberarm getragene spiralförmige Goldringe als Geld. Ein Stück eines Armrings wurde, wenn benötigt, als Zahlungsmittel abgeschlagen. [back]

85. Strebsam [back]

86. König [back]

87. Aus Sörla Tháttr, Volksmärchen. Das isländische tháttr, wie sūtra im Sanskrit, bedeutet einen Strang (in einem Seil). [back]

88. Sanskrit vimāna, „Himmelswagen“ erwähnt in Rig-Veda, Atharvaveda und dem Mahābhārata. Wurde auch „Wagen der Götter“ übersetzt. [back]

89. Allwissend, Wissenschaft [back]

90. „Disput in Versform“ (Websters Wörterbuch) [back]

91. Fischmarkt in London [d. Ü.]. [back]

92. Der Flinke, Geschickte [back]

93. Gefjon ist ein Lunaraspekt Freyjas. [back]

94. In einem vergangenen Zeitalter verkörperte sich Loki als eine Stute und verhalf mit dem Hengst Swadilfari (swadil ein rutschiger Boden + fara Reise, daher Katastrophe) Sleipnir (Rutschender), Odins achtbeinigem Roß, zur Geburt. [back]

95. Freyr [back]

96. Skadis Vater [back]

97. Vgl. Thor und Loki in Jotunheim [back]

98. Thor [back]

99. Odin [back]

100. Dieser Vers fehlt im Codex Regius. [back]

101. Im Codex Regius: Elfen [back]

102. Od wird abgeleitet von Odr, spiritueller Verstand, und steht für den evolvierten Menschen. Ähnlich wird das englische Wort man (Mensch) von dem Sanskrit-Wort manas abgeleitet, was auch die höhere Intelligenz, von man, nachdenken, denken, bedeutet. [back]

103. Zukunft [back]

104. Vergangenheit [back]

105. Lif, Lif, Thjodwarta, Bjärt, Blid. Blöd, Frid, Eir und Örboda. [back]

106. Feuer. [back]

107. Balder, der Sonnen-Gott [back]

108. Der blinde Gott der Finsternis und Unwissenheit [back]

109. Das planetarische Äquivalent von Bärgälmir, der „Frucht-Riese[back]

110. Was die Buddhisten tanhā, Durst nach Leben nennen. Er charakterisiert die niederen Elemente, die zur Materie gezogen werden. [back]

111. Idun: Die Seele des toten Planeten wird von den Göttern gefragt und veranlaßt, ihren Bewußtseinszuwachs hervorzubringen. [back]

112. Nanna: die niedrigsten Elemente des toten Planeten, welcher, wenn die Seele ihn verlassen hat, in das illusorische Material transformiert wird, das in zukünftigen Formen wiederverwendet wird. [back]

113. Heimdal: der „weiße Schwert-Áse[back]

114. Die zukünftige Erde, die wiedergeborene Idun [back]

115. Der aufgehängte Gott: Odin, das Große Opfer, vgl. Hávamál [back]

116. Skögul ist eine Walküre, die die Götter und die Einherjer bedient, die sich mit ihrem inneren Gott vereinigt haben. [back]

117. Heimdal, Wächter der Götter auf der Regenbogen-Brücke, der das Horn bei Ragnarök bläst. [back]

118. Dwalins Spielzeug ist die Sonnenscheibe. [back]