Ich bin so müde

Peter hatte es eilig. Er wollte so viel herausfinden, wie er nur konnte, bis das GROSSE JAHR vorüber war, und er wusste nicht, wo er damit anfangen sollte. Er stürmte so schnell davon, dass er kaum bemerkte, wie sich ein Zweig seines alten Freundes Ahorn in seinem Hemd verfing und ihn zurückhielt.

„Oh“, keuchte er, „lass mich los!“

„Wohin rennst du so schnell?“, fragte der Ahorn, aber Peter war schon weg.

Er stolperte über eine Wurzel der großen Eiche und fiel flach aufs Gesicht. „Warum so in Eile?“, knurrte die Eiche. „Du könntest stehen bleiben und deinen Freunden Guten Tag sagen.“

„Wohin in aller Welt stürmst du?“, rauschte die Birke.

Peter, der schon weiterrennen wollte, blieb plötzlich stehen.

„Ich – ich weiß es nicht“, stammelte er.

„Wenn du dir Zeit lassen würdest zu überlegen, wo du hinwillst, würdest du nicht so viel übersehen“, nörgelte die Eiche, „und du würdest dir nicht die Knie aufschlagen“, fügte sie hinzu und schaute Peters Beine an.

„Oh Schreck“, sagte Peter, „ich blute ja!“

orts 48 gs

„Hier!“, sagte eine neue Stimme und Peter sah, wie ein ­großes Blatt zu Boden flatterte. „Ich heiße Ampfer. Leg mich auf deine Knie, und bald wird es aufhören zu bluten.“

„Vielen Dank!“, sagte Peter, während er das Ampferblatt um sein verletztes Knie wickelte.

„Donnerwetter“, sagte er und schaute den Ahorn an, „du BIST aber schön. Und du auch“, fügte er zur Birke hingewandt hinzu.

Die Birke schüttelte fröhlich ihre goldenen Blätter und sagte: „Hübsch sind sie, nicht wahr? Doch sie werden nicht lange so bleiben.“

„Oh, das ist aber schade“, sagte Peter.

„Macht nichts“, sagte die Birke, „ich werde mir im Frühjahr neue wachsen lassen, ich mag Grün sowieso lieber.“

„Du eitles, kleines Ding“, murmelte die Eiche, „ich wäre gern ein Immergrün.“

„Was ist der Unterschied?“, fragte Peter.

„Weißt du, die Fichten und Kiefern haben Nadeln statt ­Blätter und sie sind immer grün“, sagte die Eiche.

„Ich hörte jedoch einen Wacholderbusch sagen, dass er das satt habe“, sagte Peter. „Wahrscheinlich bist du besser dran, so wie es ist.“

„Peter hat Recht“, sagte der Ahorn und raschelte mit seinem rötlichen Kleid. „Ich möchte meine glänzenden Farben nicht gegen kleine grüne Nadeln tauschen, selbst wenn sie immer so bleiben würden, was sie im Übrigen nicht tun. Sie werden dauernd ersetzt, deshalb sieht der Baum immer grün aus.“

„Nun, MIR geht es genauso“, sagte Peter. „Ich sehe immer gleich aus; aber ich weiß, dass das nicht so ist, weil ich mich so schnell verändere, dass ich niemals derselbe bin wie vorher.“

orts 49 gs

„Ich vermute, so geht‘s uns allen“, sagte die Eiche. Sie ­gähnte laut. „Ho, hum! Es ist angenehm, schlafen zu gehen.“

Plötzlich rief sie laut: „Hallo, ihr da oben! Fliegt ihr zurück?“

Peter blickte hinauf und sah eine Schar Wildgänse am ­Himmel. Sie flogen in zwei Reihen, in der Form eines großen V.

Die Leitgans antwortete, ohne die schöne Formation auf­zugeben: „Hallo, Eiche, noch wach?“

„Gerade dabei, einzuschlafen“, sagte die Eiche. „Dürfte ich dich bitten, mich zu rufen und aufzuwecken, wenn ihr zurückkommt?“

„Gewiss, das machen wir doch immer“, sagte die Gans. „Wir kommen mit dem Sonnenschein wieder zurück. Leb wohl jetzt.“

„Leb wohl, leb wohl!“, kam das Echo, als die Gänse Abschied nahmen und immer noch tadellos in Reih und Glied flogen, während sie schnell nach Süden verschwanden.

„Ich weiß nicht, wie es mit euch ist, ihr Lieben“, sagte die Birke, „aber ich bin sehr müde, fast mein ganzer Saft ist schon in die Wurzeln hinuntergegangen, sie fangen an zu wachsen. Also sage ich lieber Gute Nacht, du entschuldigst doch, wenn ich schlafen gehe?“, fragte sie Peter.

„Selbstverständlich“, sagte Peter. „Gute Nacht.“

Die Eiche schlief schon, deshalb ging Peter schnell davon.

Er fühlte sich einsam und wünschte, Onkel Pfefferkorn käme und würde mit ihm sprechen, aber der war nirgends zu sehen.

orts 51

Er hatte langsam verstanden, dass der kleine Mann nur kam, um seine Fragen zu beantworten. Deshalb versuchte er, sich eine wirklich schwierige Frage auszudenken, damit er ­kommen würde. Aber es fiel ihm keine ein. Dann sah er um sich, ob er selbst etwas herausfinden könnte. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Die Gänse! Was taten sie, wenn sie nach Süden flogen?

„Onkel Pfefferkorn!“, rief er. „Oh, Onkel Pfefferkorn!“

„Mach nicht so einen ohrenbetäubenden Lärm!“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Ich kann nicht einmal meine eigenen Gedanken verstehen. Was möchtest du denn wissen?“ Onkel Pfefferkorn hockte auf Peters Schulter und hielt sich die Ohren zu.

„Die Gänse, Onkel Pfefferkorn, wie können sie wissen, ­wohin sie fliegen?“

„Das ist eine gute Frage“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Wie weiß dein Blut, wohin es in dir fließen muss?“

orts 52 gs

„In mir?“ Peter war überrascht. „Was hat das damit zu tun, dass …“

„Beantworte meine Frage!“, sagte Onkel Pfefferkorn streng.

„Nun, es gibt Adern und solche Dinge.“

„Genau! Ebenso wie es in dir Adern und Arterien gibt, gibt es auch Adern und Arterien in der Erde und in der Luft. Die Gänse folgen nur diesen Lebensströmen. Es ist einfach, wenn man weiß wie.“

„Oh!“ Peter dachte einen Augenblick nach. „Du meinst, sie kommen und gehen eine Straße entlang, die man nicht sehen kann?“

„Jawohl.“

„Oh!“, rief Peter. „Ist das nicht dasselbe, was die Erde tut, wenn sie um die Sonne kreist?“

„Auf Anhieb verstanden!“ Onkel Pfefferkorn strahlte Peter zufrieden an. „Peter, mein Junge, du MACHST DICH!“

Dann verschwand er und ließ Peter zurück, dem es ganz warm ums Herz war.

orts 54 gs

9 – Initiation

Hovern Sie über die Hervorgehobenen Begrife um die Glossareinträge zu lesen.

Jeder Mensch bringt bis zu einem gewissen Grad das göttliche Bewußtsein zum Ausdruck, das alle Lebensformen mit Leben erfüllt – Odin-Allvater, Quelle aller Götter – und wir fühlen unsere spirituelle Verbindung mit einem größeren Leben, unserer individuellen Hamingja. Mental sind wir an sich Teil der Intelligenz, die das Sonnensystem informiert und erfüllt, personifiziert als das Freyja-Prinzip; auch emotional werden wir zu den treibenden Energien der Idun und der umgebenden Welt hingezogen. Unsere äußere Schale, der physische Körper, wird aus dem Material geformt, das in dem Bereich verfügbar ist, in dem wir uns verkörpern, obwohl er nach Mustern modelliert wird, die wir selbst in unserer langen Vergangenheit durch zahllose Wahlen und Entscheidungen geformt haben.

Während alle Naturreiche aus denselben Bestandteilen bestehen, so hängt doch der Grad, bis zu dem sie die verschiedenen Qualitäten offenbaren, von der Stufe ab, zu der sie sich entwickelt haben. Wir, die wir den menschlichen Lebensstrom ausmachen, äußern, da wir alle Eigenschaften besitzen, die wir bei unserer Wanderung durch die Zwergenreiche ins Spiel gebracht haben, auch die besondere menschliche Charakteristik des Selbstbewußtseins und des intellektuellen Feuers. Und in unseren inspirierten Augenblicken haben wir eine dunkle Ahnung von dem spirituellen Bewußtsein, das in zukünftigen Äonen unser sein wird. So sind wir als einigermaßen intelligente Menschen in der Lage, unsere Evolution zur Gottheit mit Wissen und Absicht zu verfolgen und beschleunigen so unser Wachstum, während wir das größere Schicksal verdienen, das uns auf der nächsten Sprosse der Leiter bewußten Lebens erwartet.

In den mythischen Schriften, in Märchen, Legenden und Volksüberlieferungen sind sicherlich keine Märchen inspirierender als jene, die von Helden erzählen, die uns auf der Wanderung durch die Lebensbereiche vorangehen; edle Seelen, die eine größere Perspektive, eine größere Wahrheit, eine erleuchtetere Vision als wir erreicht haben. Zu allen Zeiten und in allen Rassen haben überragende Einzelpersonen – Buddhas, Bodhisattwas, Avatāras, „Einherjer“ (Odins Krieger) – gelebt, die das „Himmelreich mit Gewalt genommen haben“, die, anstatt mit dem Strom in einem langsam sich windenden Wachstum dahin zu treiben, das Ziel der menschlichen Evolution erreicht haben, wo „der Tautropfen in das glänzende Meer einfließt“, um Sir Edwin Arnolds inspirierte Redewendung zu gebrauchen.

Alle Mythologien enthalten manche Erzählung vom Kampf eines Helden, seinen Prüfungen, und entweder von seinem Fehlschlag oder seinem Erfolg beim Überwinden von Hindernissen – den Echos seiner eigenen Vergangenheit –, um sich mit seinem göttlichen Selbst zu vereinigen. Im Westen steht die am besten bekannte Initiationsgeschichte in den christlichen Evangelien, die viele der aufgezeichneten Symbole enthalten, die einem solchen Ereignis zugeschrieben werden. Eine andere volkstümliche Mysteriengeschichte ist die Bhagavad-Gītā, worin die menschliche Seele den Rat ihres göttlichen Selbst bei der Überwindung der gewohnten und allzuoft nachsichtigen Neigungen des menschlichen Ego, die besiegt werden müssen, erhält. Auch die Edda enthält ähnliche Erzählungen, eine der aufschlußreichsten ist die schöne Allegorie von Swipdag. (Vgl. Das Fjölswinnlied)

Derartige Legenden sind Paradebeispiele für jene, die ernsthaft wünschen, die Last des Leidens, welche die menschliche Rasse heimsucht, zu erleichtern. Diejenigen, die sich dem rigorosen Training der selbstgeleiteten, beschleunigten Evolution unterziehen, helfen notwendigerweise dem Fortschritt des Ganzen, und durch Beispiel und Ermutigung stacheln sie eine Kettenreaktion spirituellen Wachstums an. Daher nehmen diejenigen, die höchst leidenschaftlich wünschen, ihren Mitmenschen zu helfen, dem endlosen Kreis von Irrtum und Leiden, dem die Menschheit unterworfen ist, zu entrinnen, den Weg des Selbsttrainings ihrer ganzen Natur auf sich, so daß sie allen helfen und ihre Evolution unterstützen können. Jene, die erfolgreich diese Wanderung vollenden, die von allen menschlichen Unternehmungen die anspruchvollste ist, werden, wenn sie bekannt sind, als Erlöser und Heilande verehrt; denn sie sind die „Vollkommenen“, die in dem Schulzimmer Erde nichts mehr zu lernen haben, aber zurückkehren, um jenen zu helfen und die zu lehren, die hinter ihnen auf der evolutionären Leiter zurückbleiben. Die Sagen, die die Prüfungen des Initianden erzählen, sind die populärsten und bestbekannten aller Geschichten und Legenden, sogar in der exoterischen Literatur, obwohl sie selten als solche erkannt werden. In diesen Abenteuergeschichten muß der Held zuerst selbst vollständig furchtlos werden; er muß dem „Drachen“ der Weisheit die Geheimnisse des „Vogelsangs“ entreißen: das bedeutet, er muß aus erster Hand die Struktur und die Funktionen des Universums kennen; er muß willens sein, alle persönlichen Ambitionen zu opfern, sogar den Erfolg seiner eigenen Seele für eine allumfassende Sorge für die Wohlfahrt des Ganzen. Einer, der im Erreichen einer solchen selbstlosen Universalität erfolgreich ist, wird ein Mitarbeiter der Götter, eine wohltätige Kraft, die kraftvoll die Entwicklung der Welt, in der er ein Bestandteil ist, vorantreibt.

Die sagenhafte Heimat der Auserwählten der Edda, in welche die Helden gehen, nachdem sie im Kampf gefallen waren, ist Walhalla (wal Wahl oder Tod + hall Halle). Hauptsächlich durch Wagners Opern populär gemacht, ist Walhalla eine der bestbekannten aber am wenigsten verstandenen altnordischen Allegorien. Sie wurde hochnäsig als eine komische Parodie des Himmels betrachtet, wo wilde Wikinger ein Zechgelage abhalten. Von den Walküren zu diesem Bereich des Kriegsgottes Odin gebracht, werden sie jede Nacht mit Schweinefleisch und Met verwöhnt, und jeden Morgen kehren sie zum Kampf zurück, nur, um immer wieder erschlagen zu werden. Walhalla wird durch viele Hindernisse geschützt: Sie ist von einem Wassergraben, Thund, umgeben, in dem ein Werwolf, Thjodwitnir, nach Menschen fischt. Ihre Pforte wird durch Magie gesichert, und über dem Tor der Halle hängt ein Wolf angenagelt, der von einem bluttriefenden Adler gekrönt wird. Zusätzlich wird sie durch Odins zwölf Wolfshunde geschützt. Um die Bedeutung von dem allen zu verstehen, müssen wir die benutzten Ausdrücke definieren.

Jedes Hindernis zur Halle der Auserwählten steht symbolisch für einige Schwächen, die besiegt werden müssen. Der Krieger, der den Strom der Zeit (Thund) und den Strom des Zweifels (Ifing) überqueren möchte, muß eine unerschütterliche Entschlossenheit und Selbstführung wahren, wenn er nicht von den turbulenten Strömungen zeitlicher Existenz weggefegt werden will. Er muß dem bestialischen Verlangen seiner tierischen Natur (die Verlockungen von Thjodwitnir) ausweichen, wenn er das andere Ufer erreichen will. Viele Schriften verwenden die Allegorie eines Flusses. Der Buddhismus, zum Beispiel, spricht von vier Stufen des Fortschritts, beginnend mit jenen, die in den Strom eingetreten sind und endend mit jenen, die erfolgreich das andere Ufer erreicht haben. Die ganze Natur, sagt man, freut sich, wenn ein Aspirant sein Ziel erreicht hat.

Als nächstes muß der Kandidat, der nach Walhalla strebt, die Hunde Geri (Gier) und Freki (Völlerei) überwinden: Er muß das Verlangen, selbst das Verlangen nach Weisheit, die er sucht, vermeiden, wenn er sie erlangen will. Um das Geheimnis der magischen Pforte zu finden, muß er Stärke der Aspiration, Reinheit des Motivs und eine unbeugsame Entschlossenheit haben. Der Wolf und der Adler müssen besiegt und über dem Eingang zur Halle angenagelt werden, um diese gegen ihr Eindringen zu schützen. Das bedeutet Besiegen der bestialischen Natur (der Wolf) und des Stolzes (der Adler) – Selbstsucht in jeder Gestalt, die, gleich dem Proteus der Griechen, sich in jeder neuen Form erhebt, um jene herauszufordern, die sich den Bereichen der Götter nähern.

Auf alle Offensiv- und Defensivwaffen muß verzichtet werden, und sie müssen in die konstruktiven Materialien umgewandelt werden, die den heiligen Tempel bilden. Die Mauern von Walhalla sind aus den Speeren der Krieger aufgebaut, das Dach besteht aus ihren Schilden. Selbst innerhalb der Halle ist ein Panzer ausgelegt: „Auf den Bänken sind Panzerhemden ausgebreitet.“

Die Übergabe von Waffen ist ein Kennzeichen der Mysterienüberlieferung. Der Kandidat für Universalität kann der wahren Natur des Strebens zufolge sich nicht als vom Ganzen getrennt betrachten; er kann folglich keine Verwendung für teilende, trennende Mittel irgendwelcher Art haben, in Gedanken, Worten oder Taten. Zuerst müssen Angriffswaffen abgelegt werden, da Harmlosigkeit kultiviert werden muß. Danach müssen alle Verteidigungsmittel fallengelassen werden und schließlich jeglicher persönlicher Schutz. Der Einherjer ist über die Vorstellung des Getrenntseins hinausgetreten. Sein Werk liegt nicht im Unmittelbaren, sondern in der Ewigkeit. Er ist nicht länger mehr durch ein Selbst gebunden, sondern er erweitert sich unbegrenzt. Die Heldenseele hat sich aller persönlicher Angelegenheiten entledigt, indem sie sich vollständig auf das göttliche Gesetz verläßt, dem sie vorbehaltlos dient.

Wenn diese Mythen ihren Ursprung bei den Wikingern hätten, die gemäß einer ihrer Vorschriften sogar auf ihren Schilden mit dem Schwert in der Hand schliefen, so wäre dies untypisch. Ferner bestätigt das die Theorie, daß die altnordischen Mythen diesen Kriegern weit vorausgehen und aus derselben archaischen Quelle stammen wie andere frühere Überlieferungen. Denn da gibt es eindeutig viel mehr als dem Auge in dem poetischen Zauber der Edda begegnet, sogar, wenn es in ihren manchmal derben Anekdoten verborgen liegt.

Das Schlachtfeld, wo die Krieger jeden Tag kämpfen, wird Wigridsslätten genannt, was mit „das Feld der Weihe“ übersetzt werden kann. Es erinnert an den dharmakṣetra – das Feld von Dharma (Pflicht, Rechtschaffenheit) – in der Bhagavad-Gītā, wo der Kampf zwischen den Kräften des Lichtes und der Finsternis in der menschlichen Natur stattfindet. In diesem Klassiker sind viele seiner Gegner die Freunde und engen Verwandten des Helden, denen er sich entgegenstellen muß. Sie bedeuten Charakterzüge und Gewohnheiten, die ihm lieb geworden und daher schwer zu überwinden sind. In beiden Allegorien ist das Schlachtfeld der Mensch selbst, wo in feindlichen Gliedern alle menschlichen Eigenschaften aufgestellt sind, die selbst wieder die Widerspiegelung der Eigenschaften der größeren Natur sind. Der tägliche Kampf beeinflußt zutiefst den evolutionären Lauf aller Wesen. Von Zeit zu Zeit verläßt ein Einherjer die Welt der Menschen, um sich in die Reihen der Götter einzureihen; solche seltenen Vorläufer, die Zutritt zum „glänzenden Aufenthaltsort“ erlangen, vereinen ihre Kräfte mit der göttlichen Absicht der Natur. Die Walküren, unsere eigenen inspirierenden tiefsten Selbste, suchen immer auf dem Feld der Weihe nach würdigen Rekruten, die sich entscheiden, den Göttern in ihrer endlosen Arbeit zur Erfüllung des Zyklus zu helfen, wenn die Menschheit als ein Ganzes in ihr göttliches Erbe und ihre göttliche Verantwortlichkeit eintreten wird.

„Die Halle der Auserwählten schimmert golden in Gladsheim (Froheim)“, nach Grimnismál (8). Hier kürt Odin täglich die Helden nach der Schlacht. Auch hier werden die Einherjer mit Bier und Met verwöhnt und mit den drei Ebern der Luft, des Wassers und des Feuers, die die verschiedenen Aspekte der Erde symbolisieren, ernährt, denn sie sind die Essenz ihrer Erfahrung während des menschlichen Lebens auf diesem Planeten. Die Eber, die die Einherjer ernähren, stellen auch die schöpferischen Kräfte dar, den aktiven Aspekt der drei Naturelemente. Vers 18 in Grimnismál, wenn wir diese gegen die entsprechenden drei Eber austauschen, würde dann lauten: „Der Geist läßt das Gemüt von Willen und Wunsch durchdrungen sein.“ So erlaubt das höhere Selbst oder der Geist des Menschen dem menschlichen Ego, in den Feuern der Seele getestet zu werden, um seine Integrität zu beweisen. Wenn der Mensch erfolgreich ist, bringt er seinen inneren Gott zur Geburt. Der Sterbliche verdient seine Unsterblichkeit, indem er sich mit der innewohnenden Gottheit vereinigt.

Odin, Allvater, ist die Essenz des universalen, schöpferischen Bewußtseins auf allen Existenzebenen. Der Name ist eine Form von Odr, universale Intelligenz, (äquivalent zu dem griechischen Nous und dem Mahat im Sanskrit), wovon die spirituelle Seele des Menschen ein Kind ist. Odraerir, mystischer Spender von Odr, ist eines der heiligen Gefäße, die „Kwasirs Blut“ – göttliche Weisheit (Griechisch theos-sophia) enthalten. Kwasir war eine „Geisel“ oder ein avatāra, der von dem „weisen Wanir“ an die Aesir geschickt wurde. Dies ist ein aufschlußreicher Hinweis auf den Abstieg der göttlichen Inspiration von erhabenen kosmischen Mächten herab zur Götterwelt, die noch weit oberhalb unserer eigenen liegt. Wir können daraus das kontinuierliche Evolutionsmuster herleiten, worin Odin, Allvater, sich aus einem früheren niedrigeren Zustand zu unserer Welt und göttlichen Wurzel jedes Lebewesens in unserer Sphäre erhoben hat und jetzt auf höhere Stufen voranschreitet, unterstützt durch die Inspiration noch erhabenerer Gottheiten.

Während in einem allgemeinen Sinn Allvater in allen Manifestationen mit enthalten ist, hat Odin auch seine eigene Domäne als ein Planetengeist: Er ist das Schelf, genannt Froheim, wo Walhalla, die Halle der Auserwählten, liegt. Obwohl Wal Wahl bedeutet, bedeutet es auch Tod, wenn es auf Odins Krieger, die „Einherjer“ angewandt wird. Verwandt mit dem griechischen koiranos, „Befehlshaber“, ist der Einherjer einer, der einen bedrängt, einem befiehlt oder einen kontrolliert – sich selbst. Jeder hat sich darüber hinaus entschlossen, als ein persönliches Ego zu sterben, um dadurch Transzendenz des Bewußtseins in dem unpersönlichen universalen Bereich der Götter zu erlangen. Anders ausgedrückt, er hat das niedrigere menschliche Selbst überwunden und sich mit dem kosmischen Ziel des Lebens vereinigt. Das ist ein kontinuierlicher Prozeß – des Wachstums, daher des Wechsels, wobei jeder Wechsel ein „Tod“, eine Transformation von einem Zustand in einen anderen, gewöhnlich von einem niedrigeren in einen vollkommeneren Zustand ist. Die „Ehrenden der Auserwählten“ (Walküren), die die Helden zu Odins heiliger Halle bringen, sind eng mit der Hamingja oder dem Schutzengel, der spirituellen Seele, dem Beschützer und Tutor jedes Menschen verwandt.

Wenn Allvater seine Helden in Walhalla willkommen heißt, wird er Ropt, „der Verleumdete“, genannt, und im Lied von Odins Leichnam ist er Nikar, der „Schöpfer“ von Unglück. Diese geheimnisvollen Hinweise werden klar, wenn wir erkennen, daß Odin der Initiator ist, der, sowohl instruierend als auch inspirierend, das menschliche Ego den streitenden Feuern seiner eigenen komplexen Seele unterwerfen muß, aber das Ergebnis der Prüfung nicht beeinflussen kann und darf. Folglich ist es nur der erfolgreiche Initiand, der um die wahre Natur Odins, des Hierophanten, weiß, und den Bringer von Prüfungen als Ropt erkennt.

Walhalla bietet noch einen anderen Aspekt, der mit östlichen Schriften der frühesten Antike verbunden ist: Odin in Grimnismál erzählt seinem Schüler, daß es „fünfhundert Türen und weitere vierzig“ zu Walhalla gibt; und daß achthundert Krieger aus jeder Tür herauskommen, wenn Odin zum Krieg mit dem Wolf heraustritt. Ferner erzählt man uns, daß es fünfhundertvierzig Gemächer in dem sich wölbenden Bilskirnir (dem glänzenden Wohnsitz) gibt, das größte davon gehört „meinem Sohn“ – der Sonnengottheit. Wenn wir 540 mit 800 multiplizieren, erhalten wir 432 000 Krieger und dieselbe Anzahl von Gemächern. In der babylonischen und indischen Chronologie kommt diese Zahl häufig vor. Ein Mehrfaches von ihr erklärt besonders astronomische Zyklen, während durch verschiedene Zahlen dividiert, sie für irdische Ereignisse mit häufigerem Vorkommen gültig ist, sogar bis zum Pulsschlag des menschlichen Herzens, das allgemein mit 72 Schlägen pro Minute angegeben wird. Sie drückt auch in menschlichen Jahren die Länge des Eisernen Zeitalters, im Sanskrit das kali yuga, aus, wo die Kräfte der Finsternis am herausfordernsten sind. Seltsam, daß dies die Zahl sein soll, die Odins Kämpfenden zugeordnet wird. Sie weist sicher nachdrücklich auf eine gemeinsame Quelle hin, aus der diese weit voneinander getrennten Überlieferungen zu uns gekommen sind, und auf manche verborgene Bedeutung, so daß alle altnordischen Erzählungen, die Schlachten des Auserwählten, die größte Popularität erlangt haben: Selbst, wenn wir die verborgene Bedeutung nicht erkennen können, besitzt dieses Thema einen Reiz, der nicht geleugnet werden kann. Auf dem Feld des Kampfes oder der Hingabe stoßen wir täglich auf gefährliche Feinde: Charakterschwäche und Gewohnheiten, die wir angenommen haben, vertraute Schwächen, zu denen wir angezogen worden sind – was die Gitā unsere Freunde, Verwandten und Lehrer nennt.

Denn die Evolution der menschlichen Rasse kann definiert werden als sich entwickelndes Bewußtsein, ein wachsendes Verständnis des Lebens. Das ist nicht nur eine reine Kenntnis von Tatsachen und Beziehungen, noch ist es ein wachsendes Verständnis von uns selbst oder von anderen. Es erfordert vielmehr eine direkte Verwirklichung und persönliche Entdeckung der geistigen Einheit aller Wesen. Mit ihr kommt eine Selbstidentifizierung mit allen zustande, was mit den Worten: „Ich bin nicht meines Bruders Wächter; ich bin mein Bruder“ gut zum Ausdruck kommt. Das Selbst ist Nichtselbst. Im Übergang von einer begrenzten Innerlichkeit des Ego zu einer alles einschließenden Selbst-Transzendenz, gelangt die menschliche Seele auf natürliche Weise zu einer Identifizierung mit allem was ist. Der von Yggs Helden bestrittene Kampf, der ihnen Zugang zu Walhalla verschafft, ist die beständige Willensausübung, die feste Kontrolle jedes Gedankens und Impulses, die vollständige Selbstlosigkeit zu jeder Zeit, in allen Situationen. Das Gebot „zum Wohle der Menschheit zu leben, ist der erste Schritt,“ (s. Die Stimme der Stille) wird in den Heldengedichten der altnordischen Menschen stillschweigend bekräftigt, wie es im Lied von Swipdag offensichtlich ist, wo der Held, vereinigt mit seiner Hamingja – der Freyja seiner Träume – zurückkehrt, um „die Aufgabe der Jahre und der Zeitalter“ zu erfüllen. Der Verbündete der Götter sucht nicht nur Gutes zu tun, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, sondern auch überall für den Hauptzweck der Wohltätigkeit zu leben, was ständig als Merkmal der Gottheiten, „die wohltätigen Kräfte“, betont wird. Die Einherjer sind für ihre persönlichen Wünsche in der Tat gestorben und, um eine Metapher aus anderen Mythen zu übernehmen, „jungfräulich“ in eine universale Bedeutung geboren worden, die sie in die Lage versetzt, ihre natürlichen Plätze in dem einzunehmen, was das theosophische Schrifttum die Hierarchie des Mitleids nennt. Odins Helden ruhen sich nicht auf ihren Lorbeeren aus, sondern fahren fort, einen lebenswichtigen Teil in dem ewigen Lebenskampf als Verbündete der Götter zu spielen.

Alte Schriften weisen darauf hin, daß immer, seit Gottheiten zu den Menschen herabstiegen und die frühen Rassen unterrichteten, dort eine ununterbrochene Aufeinanderfolge spiritueller Lehrer, Vermittler zwischen den Göttern und den Menschen, gelebt haben. Deren Mission ist es, die menschliche Rasse in ihrer Evolution zur Vollkommenheit zu inspirieren und ihr zu helfen. Solche Adepten in der Lebenskunst sind die Einherjer. Von Zeit zu Zeit kann sich ein göttlicher Strahl bei einem dieser höheren Menschen verkörpern, die die einsame Straße gewählt haben, um ihr menschliches Selbst mit der göttlichen Essenz im Herzen des Seins zu verschmelzen. Sogar unter den höchsten Göttern steigen Boten, „Geiseln“, zu ihren jüngeren Brudergottheiten als avatárische Strahlen herab. Skirnir (vgl. Skirnismál) stellt eine solche „Geisel“ für den menschlichen Bereich dar.

Es gibt viele Erzählungen, die mit diesem Motiv verbunden sind, Erzählungen, die aussagen, wie die sich entwickelnde Seele ihr spirituelles Selbst, die Schlafende Schönheit oder die Schönheit auf dem Glasberg sucht, die nur für den tapferen, reinen und vollständig selbstlosen Helden erreichbar ist. Er allein kann aus seiner Scheide oder vom Amboß oder von dem Felsen oder dem Baum das mythische Schwert des spirituellen Willens ziehen, das von einem Gott dort hingelegt worden ist. Mit dieser magischen Waffe besiegt er den Drachen oder die Schlange (der Selbstsucht) und gewinnt inneres Wissen, woraufhin er die Sprache der Vögel und alle Stimmen der Natur versteht. Er muß alle Schwächen, alle Versuchungen überwältigen, jegliche Furcht überwinden, um, aufgesessen auf dem Roß seiner gehorsamen tierischen Natur, über den brennenden Fluß, der die Welt der Menschen von jener der Götter trennt, zu springen. Dort gewinnt er die Wiedervereinigung mit seiner göttlichen Hamingja. Der Gottmacher ist ein Gott geworden.

Übrigens sind nicht alle Erzählungen, in denen der Ritter einen feuerspeienden Drachen erschlägt, eine liebliche Jungfrau rettet und das Königreich schützt, bloße Allegorie ohne physische Realität. Sie sind zu universal verbreitet, um leicht abgetan zu werden. Während es gewiß ist, daß sie die Überwindung der niedrigeren Natur des Helden und die Gewinnung seines innersten Herzenswunsches symbolisieren, ist es auch möglich, daß diese symbolischen Erzählungen auf einen historischen Rahmen gelegt worden sind, was eine allgemeine Praxis der Mythen zu sein scheint. Wir können über die Möglichkeit spekulieren, ob die frühesten Menschenrassen unserer Lebensrunde die Erde mit wenigstens einigen der riesigen Saurier, ob mit Flügeln, im Wasser oder erdgebunden, teilten, ehe letztere ausgelöscht wurden. Wer weiß, welche einsamen Überbleibsel von einst reichlich vorhandener Spezies lange genug überlebten, um mit der frühen Menschheit in Wechselwirkung zu treten? Irgendeine Begegnung mit ihnen, die stattgefunden haben mag, kann der Ursprung für Legenden gewesen sein, die lange nachdem die Ereignisse selbst vergessen waren, überdauerten. Wenn Seeschlangen als mythische „Drachen“ bezeichnet werden, brauchen wir nicht weit zu schauen, um ihre Spuren zu finden; bis zum heutigen Tage hören wir Gerüchte von solchen „Ungeheuern“, die in Loch Ness und anderswo gesehen werden. Von den mythischen skandinavischen Drachen sagt man, daß sie einen überwältigenden, widerlichen Gestank verströmt haben, der viele Möchtegern-Drachentöter besiegt hat. Es ist tatsächlich entmutigend, zu glauben, daß einem enormen Krokodil mit Rachengestank gegenübergetreten werden kann. Aber das nur nebenbei.

Der universale Reiz der Mythen kann von einem schlummernden Verlangen herrühren, das wir alle haben, um kühne Taten der Verwegenheit zu vollbringen. Indem wir das führen, was banales Leben zu sein scheint, haben wir dennoch ein tiefverwurzeltes Verlangen, den in den Sagen angedeuteten Sieg, den inneren Sieg des All-Selbst über sich selbst, zu gewinnen. Das Ziel der menschlichen Evolution muß schließlich mit oder ohne entschlossene Anstrengung erreicht werden. Wir können uns in einer langsamen, unmotivierten Runde von endlos wiederkehrenden Fehlern entlangtreiben lassen und dauernd aus den vermeidbaren Ergebnissen unserer Torheit leiden. Wir können uns auch aktiv der wohltätigen Führung der Natur widersetzen und mit intensiver Selbst-Konzentrierung unsere Interessensphäre auf einen mathematischen Punkt mit endgültiger Auslöschung einschränken. Eine dritte, von den Helden gewählte Alternative ist die Entscheidung, die Absichten der Götter zu verfolgen. Welche Vorgehensweise auch immer verfolgt wird, sie wird unausweichlich zu einem Augenblick führen, in dem eine Wahl getroffen werden muß: entweder bewußte Existenz als Götter oder Auflösung in den Wassern des Raumes als unbewegliches Eisriesenmaterial, das in der Mühle der Auslöschung gemahlen wird. Skirnir, der im Auftrag des Gottes Freyr das Riesenmädchen Gerd umwirbt, deutet dies an, als er sie mit Rimgrimnir, dem eiskalten (Eisriesenaspekt von) Mimir als die letzte Materiegrundlage aller Universen bedroht. Das würde totale Abtrennung von der energiereichen, göttlichen Kraft der Götter bedeuten. Gerd ist anscheinend eine Rasse der Menschheit, der die Gelegenheit gegeben wird, zwischen Unsterblichkeit und Vernichtung zu wählen.

Für jeden kommt der Augenblick, in dem die gewisperten eindringlichen Aufforderungen in der Stille der Seele gefühlt werden. Jene, die dem Ruf folgen, den Göttern zu dienen und die zukünftigen Leiden der Menschheit lindern zu helfen, sind auf dem Weg, Einherjer, Helden, zu werden, die die verstreuten Kräfte der Seele unter dem einzigen Befehl des universalen Zieles aufbieten und diese Tendenz der Bemühung durch Lebenszeiten hindurch aufrechterhalten. Es ist lediglich eine Beschleunigung der natürlichen Evolution des Gottmachers, die diese heroischen Seelen unternehmen, und durch die Zerstörung der persönlichen Selbstsucht vereinigen sie ihre Kräfte mit dem weitreichenden Werk der Götter unserer Welt. Gerade diese Botschaft können wir in den Mythen finden: Die Initiierung einer neuen Lebensart. Denn Initiierung bedeutet „Beginnen“. Es ist ein Eintreten in einen neuen Pflichtenkreis, in eine erhabenere und, für uns, göttliche Lebensarena. Der „Einherjer“ wird als ein Krieger der Götter gekrönt und teilt mit ihnen „die Aufgaben der Jahre und der Zeitalter.“

Bildtafeln

Photographische Reproduktion der ersten fünf Seiten des Codex Regius, wie er von Saemund dem Weisen vor tausend Jahren niedergeschrieben wurde. Völuspá nimmt die ersten vier Seiten ein und endet auf Seite 5, wo Hávamál auf Zeile 4 beginnt. Beachte bitte das Monogramm von Bischof Brynjolv LL (Lupus Loricatus) unten auf der ersten Seite und das Datum, als er ihn erwarb, 1643.

Mit Erlaubnis reproduziert aus den Arna Magnussonar Sammlungen in Reykjavik, Island.

B1loB2loB3loB4loB5lo