Einmal um die Sonne
Elsa-Brita Titchenell
Bau einen Schneemann, Peter!
Die Bäume waren kahl und still. Die ganze Welt schien zu schlafen. Peter fühlte sich sehr einsam, nachdem ihn Onkel Pfefferkorn verlassen hatte. Er wusste nicht, wohin er gehen sollte. Am liebsten hätte er geweint, aber dann erinnerte er sich daran, dass er sieben Jahre alt war; und Jungen weinen nicht, wenn sie sieben sind.
Er lief durch den Wald und suchte Onkel Pfefferkorn. „Onkel Pfefferkorn!“, rief er. „Onkel Pfefferkorn!“ Aber alles blieb still.
Peter stand traurig da und überlegte, was er tun könnte. Es war sonderbar, dass Onkel Pfefferkorn, der nur so groß wie Peters Finger war, so wichtig sein sollte. Peter war sehr, sehr allein.
Er hatte sich gerade auf eine Baumwurzel gesetzt, als er eine kleine Stimme neben sich hörte.
„Entschuldige“, sagte die Stimme.
Peter schaute sich überall um, aber er sah niemanden, nur ein Eichhörnchen, das versuchte, an ihm vorbeizukommen, um zu seinem Bau in der Höhlung des Baumes hinaufzuklettern.
„Entschuldige“, sagte das Eichhörnchen wieder.
„Oh!“, sagte Peter und rückte schnell beiseite. „Ich wusste nicht, dass du mit mir sprichst. Ich habe noch nie ein Eichhörnchen sprechen hören.“
„Das macht nichts“, sagte das Eichhörnchen. „Ich vermute, du hast dich noch nicht an das GROSSE JAHR gewöhnt. Onkel Pfefferkorn hat mir von dir erzählt. Du bist Peter.“
„Ja“, sagte Peter und damit endete die Unterhaltung. Das Eichhörnchen säuberte eifrig sein Nest und fegte es mit Stroh aus, während Peter zusah.
Es fegte einen großen toten Käfer aus seinem Nest und lehnte sich auf seinen Strohbesen.
„Onkel Pfefferkorn sagte mir, dass es heute schneien wird, deshalb mache ich mein Nest gemütlich, denn ich werde eine Zeitlang drinnenbleiben. Und was hast du vor?“
„Ähm – ich weiß nicht“, sagte Peter.
„Ich möchte dich gerne einladen“, sagte das Eichhörnchen, „aber du bist reichlich groß. Vielleicht versuchst du es woanders.“
Gerade in diesem Augenblick schwebte eine große Schneeflocke herunter und schmolz auf Peters Nase.
Er wendete sich dem Eichhörnchen zu und lachte.
„Hast du das gesehen?“, fragte er. „Ich mag Schnee, du nicht?“ Dann erinnerte er sich daran, sich benehmen zu wollen, und sagte höflich:
„Vielen Dank für deine Einladung, auch wenn ich nicht hinein kann.“
Eine weitere Schneeflocke landete auf seinem Ärmel, und bald war die Luft weiß von wirbelnden Schneeflöckchen. Es war eine tiefe Stille, und die Schneeflocken tanzten auf ihre anmutige Art zur Erde. Bald war jeder Ast und jeder Zweig bedeckt.
Peter fing hunderte von Schneeflocken in seiner Hand und betrachtete ihre hübschen, sechseckigen Sterne. „Ihr seid schön“, murmelte er.
„Hallo, Peter“, klang eine helle Stimme. „Meinst du, wir sehen hübsch aus?“
„Ich versuche zwei von euch zu finden, die gleich aussehen“, sagte Peter. „Helft ihr mir?“
Die Schneeflocken lachten alle.
„Oh, Peter!“, lachten sie. „Weißt du nicht, dass es von uns keine zwei Gleichen gibt? Versuche es, wenn du willst, aber du wirst nie ein Paar finden.“
Und wieder lachten alle.
Plötzlich sprach eine barsche Stimme:
„Es ist nicht sehr nett von euch, über den armen Peter zu lachen. Wie sollte er wissen, dass ihr alle verschieden seid? Er ist keine Schneeflocke.“
Es war Onkel Pfefferkorn. Er stand auf einem Zweig und schaute streng um sich.
„Hallo, Onkel Pfefferkorn!“, sangen die Schneeflocken. „Wenn er keine Schneeflocke ist, dann muss er ein Schneemann sein.“ Die übermütigen Schneeflocken lachten weiter.
Peter blickte an sich herab und lachte auch:
„Ich sehe wie einer aus, nicht wahr?“
„Gewiss doch“, lächelte Onkel Pfefferkorn. „Möchtest du nicht einen bauen?“
Die Schneeflocken riefen alle zusammen:
„Baue einen Schneemann, Peter! Baue einen Schneemann!“
„Klar“, sagte Peter. Er schaufelte mit beiden Händen Schneeflocken zusammen; sie schmiegten sich so eng wie möglich aneinander. Bald hatte er einen schönen Schneemann gebaut. Onkel Pfefferkorn versuchte auch zu helfen, aber er konnte nicht viel tun, weil er so klein war. Deshalb stand er nur auf einem Zweig und sagte Peter, was er tun sollte.
„Jetzt brauchst du zwei Eicheln“, sagte Onkel Pfefferkorn, als der Schneemann fertig war.
Peter hob zwei Eicheln auf, die unter dem Schnee gelegen hatten, und steckte sie dem Schneemann ins Gesicht.
„Wie wäre es mit einer Pfeife?“, fragte Onkel Pfefferkorn. Peter schaute sich nach einem krummen Zweig um, den er dem Schneemann in den Mund stecken konnte. Schließlich wählte er den aus, auf dem Onkel Pfefferkorn stand. Als er ihn abbrechen wollte, verschwand sein kleiner Freund plötzlich.
„Oh!“, sagte Peter, „hoffentlich hält er mich jetzt nicht für ungezogen.“
Er war ganz traurig, weil er sich daran gewöhnt hatte, dass Onkel Pfefferkorn bei ihm war und ihm sagte, was er tun solle.
Er sah sich überall um, aber er konnte ihn nicht finden.
Die Schneeflocken wollten, dass er weiter mit ihnen spielte, aber Peter war betrübt, weil er Onkel Pfefferkorn verloren hatte.
Schließlich ging er traurig durch den Schnee und überlegte, was in dem großen, weißen Schweigen wohl aus ihm werden sollte.
Die Masken Odins
Elsa-Brita Titchenell
2 – Der Lebensbaum – Yggdrasil
Hovern Sie über die Hervorgehobenen Begrife um die Glossareinträge zu lesen.
In jeder Mythologie kommt ein Lebensbaum vor. In der biblischen Darstellung fürchteten die „eifersüchtigen“ Gottheiten (elohim) – gewöhnlich mit „Gott der Herr“ übersetzt –, als die Menschen die Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen hatten, „daß er nicht seine Hand ausstrecke und auch vom Baum des Lebens breche und esse und ewig lebe.“ Sie stellten daher ein „flammendes Schwert auf, um den Weg zum Baum des Lebens zu bewachen.“1 In den Bantu-Mythen verfolgte ein eher ehrfurchtgebietender Lebensbaum die Göttin der Fruchtbarkeit und zeugte mit ihr all die Naturreiche;2 in Indien wurzelt der Aśvattha-Baum3 im höchsten Himmel und senkt sich durch die Räume herab, wobei er alle existierenden Welten auf seinen Zweigen trägt. Das Konzept eines Baumes, der sich in Welten verzweigt, ist ein universales. Es ist interessant, daß wir eine Tradition weiterführen, indem wir einen Baum mit vielfarbigen Kugeln schmücken, wobei die Vielfalt von Welten, die von den Zweigen des Weltbaumes herabhängen, repräsentiert wird, obwohl die Bedeutung schon lange verloren worden ist.
In der Edda wird der Lebensbaum, wahrscheinlich aus verschiedenen Gründen, Yggdrasil genannt. Dies ist ein weiteres der geschickten Wortspiele, die die Barden der Wikinger zur Vermittlung ihrer Botschaft zu verwenden pflegten. Ygg ist in Verbindung mit anderen Wörtern verschieden übersetzt worden, wie „ewig“, „ehrfurchtgebietend“ oder „schrecklich“ und auch „alt“ oder vielmehr „zeitlos“. Odin wird Yggjung genannt – „alt-jung“ entsprechend dem biblischen „der Hochbetagte“ –, ein Begriff, den der Verstand nur im Gefolge der Intuition begreifen kann. Yggdrasil ist Odins Roß, oder mit gleicher Logik, sein Galgen, was ein göttliches Opfer, eine Kreuzigung des Stillen Wächters bedeutet, dessen Körper eine Welt ist. Nach dieser Meinung stellt jeder Lebensbaum, ob groß oder klein, ein Kreuz dar, auf dem seine herrschende Gottheit für die Dauer seiner materiellen Gegenwart angenagelt bleibt. Während Yggdrasil sich auf ein ganzes Universum mit all seinen Welten beziehen kann, ist jeder Mensch ein Yggdrasil in seinen eigenen Grenzen, eine Miniatur der kosmischen Esche. Jeder ist in dem göttlichen Grund des All-Seins verwurzelt und trägt seinen Odin – den allgegenwärtigen Geist, der die Wurzel und der Grund aller lebenden Dinge ist.
Jeder Lebensbaum – menschlich oder kosmisch – zieht seine Nahrung aus drei Wurzeln, die in drei Regionen hineinreichen: eine wächst in Ásgárd, der Wohnung der Aesir, wo sie aus Urds Brunnen, gewöhnlich als die Vergangenheit übersetzt, gewässert wird. Die wirkliche Bedeutung des Namens ist jedoch Ursprung, erste Ursache. Die Assoziation führt zu den früheren Ursachen, aus denen alle nachfolgenden Wirkungen fließen. Urd ist eine von den drei „Jungfrauen, die viel wissen“ – den Nornen oder Parzen, deren voraussehender Blick Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überfliegt, wenn sie die Fäden der Bestimmung für die Welten und Menschen spinnen. „Eine wurde Ursprung genannt, die zweite Werden; diese zwei formten die dritte, Schuld genannt. Des Glückes Lose, Leben und Tod, die Schicksale der Helden, alles kommt von ihnen“.4 Urd, die Vergangenheit, personifiziert alles, was früher geschehen war und ist die Ursache sowohl der Gegenwart als auch der Zukunft. Verdandi ist die Gegenwart, aber sie ist kein statischer Zustand: im Gegenteil, sie bedeutet Werden – der dynamische, ewig wechselnde, mathematische Punkt zwischen Vergangenheit und Zukunft; ein Punkt von vitaler Wichtigkeit, denn es ist der ewige Augenblick der Wahl für den Menschen, wenn eine bewußte, gewollte Entscheidung getroffen wird, die durch den Wunsch entweder für den Fortschritt oder den Rückschritt auf dem evolutionären Pfad geleitet wird. Es ist bemerkenswert, daß diese zwei Nornen die dritte, Skuld, mit der Bedeutung Schuld hervorbringen: etwas, das schuldig, aus dem Gleichgewicht ist, muß in der Zukunft – dem unvermeidlichen Ergebnis der ganzen Vergangenheit und der Gegenwart – ins Gleichgewicht gebracht werden.
Während die Nornen das altnordische Äquivalent der griechischen Moirai oder Parzen sind, die den Schicksalsfaden spinnen, erkennen wir in ihnen auch das, was in den Stanzen des Dzyan5 Lipikas genannt wird – Lipikas, ein Sanskritausdruck mit der Bedeutung „Schreiber“ oder „Aufzeichner“. Wie die Nornen sind diese unpersönliche, unerbittliche Vorgänge, die automatisch jedes Ereignis bewahren und die Bühne für die ausgleichende Wirkung von Karma, dem natürlichen „Gesetz der Konsequenzen“ oder von Ursache und Wirkung aufbauen. Dieses Gesetz wirkt unfehlbar auf allen Gebieten der Handlung und bestimmt die Bedingungen, die jeder Wesenheit als ein Ergebnis ihrer vergangenen Wahlen gegenübertreten. In den nicht selbstbewußten Reichen ist das eine rein automatische Regulierung; im Menschenreich bringt jedes Motiv, ob edel oder schlecht, geeignete Gelegenheiten und Hindernisse herbei, die die Zukunft modifizieren. Darüber hinaus ist das menschliche Bewußtsein in dem Maße, wie es fähig ist, eine selbstbestimmte Wahl zu treffen, auch zunehmend seiner Verantwortlichkeit für zukünftige Ereignisse bewußt. Jedes Wesen ist das Ergebnis alles dessen, zu dem es sich selbst gemacht hat, und jedes wird das werden, zu dem es sich durch seine gegenwärtigen Gedanken und Handlungen machen wird. Die Aufzeichnung des sich stets verändernden Kräftekomplexes verbleibt in seiner innersten Identität, dem höheren Selbst im Menschen, des Individuums eigener Norne, die die Edda seine hamingja nennt. In der christlichen Tradition ist es unser Schutzengel.
Yggdrasils zweite Wurzel entspringt Mimirs Brunnen. Dieser, der Brunnen der absoluten Materie, gehört zu dem „weisen Riesen Mimir“, der Quelle aller Erfahrung. Man sagt, daß Odin an jedem Tag aus den Wassern dieses Brunnens trinkt, aber, indem er dies tat, mußte er eines seiner Augen einbüßen. In vielen volkstümlichen Geschichten, in denen Odin als ein alter Mann in einen Pelzmantel verhüllt wird, trägt er einen Schlapphut, um die Tatsache zu verbergen, daß ihm ein Auge fehlt. Dies ist jedoch nicht dasselbe, als wenn man sagen würde, er hat nur ein Auge. Können wir so sicher sein, daß er anfänglich nur zwei hatte. Die heiligen Schriften vieler Völker beziehen sich auf eine ferne Vergangenheit, als die Menschheit ein „drittes Auge“ besaß – ein Organ der Intuition –, das, nach der Theosophie, sich vor Millionen von Jahren in das Innere des Schädels zurückzog, wo es in rudimentärer Form als die Zirbeldrüse verbleibt, um die Zeit abzuwarten, in der es erneut funktionstüchtiger sein wird als heute. Eine derartige Deutung liefert uns nicht nur eine Information über die Bedeutung der Geschichte, sondern auch über das in den Mythen verwendete Sprachbild. Das Eintauchen in die Welt der Materie liefert die Erfahrung, die Weisheit bringt. Das Bewußtsein (Odin) opfert einen Teil seiner Vision, um täglich einen Schluck aus Mimirs Brunnen zu erhalten, während Mimir (die Materie) einen kleinen Anteil der göttlichen Erkenntnis erhält. Mimir ist der Vorfahr aller Riesen, die zeitlose Wurzel von Ymir-Örgälmir, dem Reifriesen, aus dem Welten gebildet werden.
Man sagt, daß vor langer Zeit Mimir von Njörd (Zeit) getötet und sein Körper in einen Sumpf (die „Wasser“ des Raumes) geworfen wurde. Odin barg seinen abgetrennten Kopf und „unterhielt sich mit ihm täglich“. Das deutet an, daß der Gott, das Bewußtsein, den „Kopf“ oder den höheren Teil seines Materie-Partners, das Vehikel oder den Körper, benutzte, um den Extrakt der Erfahrung zu erhalten. Gleichzeitig erlangt der Riese einen Anteil an Bewußtsein durch die Verbindung mit der energiegeladenen göttlichen Seite der Natur. Die Dualität scheint universal zu sein: Keine Welt ist so niedrig, kein Bewußtsein so erhaben, ohne daß es jenseits dieses fortwährenden Austausches ist. Da der göttliche Impuls die Welten der Tätigkeit täglich organisiert und in ihnen wohnt, bringt er durch Erfahrung „Runen der Weisheit“ hervor. Bewußtsein und Materie sind daher auf allen Ebenen zueinander relativ, so daß das, was auf einer Ebene des kosmischen Lebens Bewußtsein ist, auf der Stufe über ihr Materie ist. Die zwei Existenzseiten sind unzertrennbar. Beide umfassen jede Lebensstufe, da Riesen zu Göttern wachsen, und Götter Weiterentwicklungen früherer riesiger Welten sind und zu noch größerer Göttlichkeit evolvieren.
Mimirs Baum ist Mimameid, der Baum der Erkenntnis, was nicht mit dem Baum des Lebens verwechselt werden darf, obwohl diese zwei in gewisser Weise austauschbar sind, denn Erkenntnis und Weisheit sind die Früchte des Lebens und der Lebendigen; umgekehrt bringt die Anwendung der Weisheit den Lebendigen Unsterblichkeit in jedem höheren Bereich des Baumes des Lebens.
Yggdrasils dritte Wurzel reicht in Niflheim (Nebelhölle), wo die Wolken – Nebel – geboren werden. Dieses bezieht sich, wie die anderen zwei Räume, nicht auf einen Ort, sondern auf einen Zustand. Der Name ist sehr suggestiv, da Nebel Stufen in der Entwicklung kosmischer Körper sind. Die Wurzel wird durch Hwergälmir, die Quelle aller „Flüsse des Lebens“ – Klassen von Wesen (Grimnismál 26) – bewässert. Diese sind das, was wir die Naturreiche nennen, die in ihrer großen Formenvielfalt jeden Globus bilden. Niflheim, wo die Quelle all dieser Lebenstypen liegt, enthält den brodelnden Kessel der Materie – ursprüngliche, undifferenzierte Substanz, aus der die Materialen aller Stofflichkeits- und Festigkeitsbereiche abgeleitet werden. Es ist die mūlaprakṛiti (Wurzel-Natur) der Hindu-Kosmologie, deren göttliche Ergänzung parabrahman (jenseits von brahman) ist.
Das komplizierte Lebenssystem von Yggdrasil enthält beide Tatsachen der Naturgeschichte und der kosmologischen Information, die man aus den Texten entnehmen kann. Die erste Wurzel zum Beispiel, die Ásgárd, die dem Bereich von Aesir entspringt und durch den Brunnen der Vergangenheit bewässert wird, stellt die „Schicksale der Helden“ dar, von der Ursache bis zur Wirkung für alle Hierarchien der Existenz, und die Götter sind von diesem unumstößlichen Gesetz nicht mehr befreit als jede andere Lebensform. Doch jeder Augenblick verändert den Lauf des Schicksals, da jedes Wesen innerhalb der Grenzen seiner eigenen selbst geschaffenen Kondition frei handelt.
Die zweite Wurzel wird durch Mimirs Brunnen bewässert. Sie holt ihre Nahrung aus der Erfahrung der Materie, denn diese Erfahrung wurde durch das göttliche Auge des Geistes erworben, da Odin sich täglich mit Mimirs Kopf unterhält. Die dritte Wurzel wird von vielen Lebensflüssen bewässert: von all den verschiedenen Ausdruckskräften, die notwendig sind, um die Anforderungen aller Bewußtseinsarten zu erfüllen. Während der ersten Hälfte seines Lebens wird Yggdrasil, die mächtige Esche, Mjötvidr (zunehmendes Maß) genannt, während in seinem Wachstumsprozess die Energien des Baumes aus seinen spirituellen Wurzeln in die zukünftigen Welten fließen. Seine Substanzen gedeihen auf allen Ebenen. Sie werden durch die nährenden Brunnen, die seine drei Wurzeln des Geistes, der Materie und der Form ernähren, angereichert. Nach Erscheinen der vollen Reife wird der Baum Mjötudr (sich erschöpfendes Maß) genannt. Seine Säfte fließen dann in das Wurzelsystem zurück, die Lebenskräfte verlassen die materiellen Reiche, wie der Herbst seines Lebens die Früchte und Samen für die zukünftigen kommenden Leben bringt. Schließlich überwiegt die Ruhe während des nachfolgenden Reifriesen – oder Ruhezyklus.
Diese Metapher eines Baumes, die in so vielen Mythen und Schriften verwendet wird, um einen Kosmos zu beschreiben, ist bemerkenswert genau. Wir wissen, wie auf Erden mit jedem Frühjahr der Fluß der Kräfte seine wachsende Kraft in jeden Ast und jedes Blatt einflößt und dabei Schönheit und Vollkommenheit den Blüten spendet, die im Laufe der Zeit zu Früchten reifen, die die Samen zukünftiger Bäume tragen; und wie, wenn das Jahr sich seinem Ende zuneigt, der Saft in das Wurzelsystem zurückkehrt, es ernährt und einen festeren Halt für das Wachstum im nächsten Jahr liefert. Wir erkennen auch eine Analogie hierzu in jedem Menschenleben: Das Fleisch eines Babies ist zart und fein, es nimmt aber an Größe und Gewicht bis zum mittleren Leben zu; danach kehrt sich der Prozeß um und endet in der transparenten Zartheit des alten Menschen. So erfüllen bei der Verkörperung von Welten die göttlichen Kräfte die latente ungeformte Materie mit Charakter, Struktur und Gestalt, zunehmender Substanz und Festigkeit. Der in Schichten angeordnete Kosmos expandiert von innen nach außen und verzweigt sich durch alle Grade der Materie bis die Grenze für diese Phase seiner Evolution erreicht worden ist, wonach sich die Lebenskräfte in die spirituellen Bereiche zurückziehen und die göttliche Wurzel die Essenz oder das Aroma der Erfahrung in sich einzieht. So kommt es, daß Bewußtheiten sich durch vielschichtige Welten verkörpern und sich dabei den Met der Erfahrung der Götter verdienen.
Yggdrasil ernährt alle Wesen mit einem lebenspendenden Honigtau. Die von ihren Zweigen auf all ihren Schelfen der Existenz herabhängenden Welten erhalten aus den göttlichen Wurzeln, was für das Wachstum nötig ist: Veranlagungen aus Urds Brunnen, materielle Substanz aus Mimirs Brunnen und geeignete Ausdrucksmittel aus Hwergälmirs Lebensflüssen. Beim Tod, wenn sich der Geist zurückzieht wie der Nährsaft in die Wurzeln, bleiben die Samen zukünftiger Verkörperungen als eine unvergängliche Aufzeichnung, während die leere materielle Hülle für zukünftige Zwecke wiederaufbereitet wird, genauso wie die im Winter vom Baum fallenden Blätter zerkrümeln, um die Erde anzureichern.
Yggdrasil ist nicht unsterblich. Seine Lebenszeit ist von gleicher Dauer wie die Hierarchie, die der Baum repräsentiert. Zerstörerische Kräfte sind immer am Wirken und führen zu seinem schließlichen Untergang und Tod: Seine Blätter werden von vier Hirschen gefressen, seine Rinde wird von zwei Ziegen angeknabbert und seine Wurzeln werden von der Schlange Nidhögg (die von unten Nagende) untergraben. Wenn sie ihre Zeitspanne gelebt hat, wird die mächtige Esche zu Fall gebracht. Das ist die Lehre von der vorübergehenden Natur der Existenz und der Unbeständigkeit der Materie.
Während des Lebens der Esche baut sich ein Eichhörnchen sein Nest in dem Baum und läuft den Stamm auf und ab und hält die Verbindung zwischen dem Adler oder dem heiligen Hahn hoch oben in ihrer Krone und der Schlange an ihrer Basis aufrecht. Das kleine Nagetier läßt an das Leben oder das Bewußtsein denken, das die Höhe und die Tiefe der Existenz überspannt. Es wird auch als ein Bohrer beschrieben, der durch die dichteste Materie bohren kann. Im Hávamál wird erzählt, wie Odin den in den Tiefen eines Gebirges verborgenen bardischen Met suchte, die Hilfe eines Eichhörnchens (oder Bohrers) erbat, um den Felsen zu durchdringen, und mit der Hilfe einer Schlange durch das Bohrloch eintrat. Einmal im Innern überredete er die Tochter des Riesen Suttung, der den Met in seiner unterirdischen Behausung verborgen hatte, ihm davon zu trinken zu geben, und so erlangte er Weisheit. Das ist ein häufig wiederkehrendes Thema: Die Gottheit sucht den Met in der Materie, profitiert und lernt von ihm, ehe sie zu den übernatürlichen Welten zurückkehrt.