Einmal um die Sonne
Elsa-Brita Titchenell
Alles muss gewaschen werden
Eine ganze Weile folgte Peter dem Bach. Dieser schlängelte sich durch Wälder, Ebenen und Felder, bis er ein großer Fluss wurde. Unterwegs traf Peter das Veilchen und richtete ihm die Grüße vom Schneeglöckchen aus.
Das Veilchen dankte ihm und sandte ihm eine Duftwolke.
„Grüß die Rose von mir, wenn du sie siehst“, sagte es.
Nach langer Zeit erreichte der Strom das Meer. Nie zuvor hatte Peter das Meer gesehen.
„Es ist schrecklich groß“, flüsterte er vor sich hin. „Wie kann es so viel Wasser geben?“
„Du siehst nur einen kleinen Teil“, brauste das Meer und klatschte große Wellen mit Schaumspritzern an das Ufer. „Weiter draußen ist noch viel mehr!“
„Wie weit reicht das Wasser?“, fragte Peter.
„Siehst du die Linie, wo anscheinend das Ende ist?“, fragte das Meer. „Das ist nur der Anfang. Es sieht nur wie ein Rand aus, weil die Erde rund ist. Ganz gleich, wo du auf meiner Oberfläche dahinziehst, immer siehst du eine solche Linie. Es ist so wie für eine Ameise auf einem Ball.“
Peter lachte. Eine Ameise auf einem Ball, die glaubt, dass an der Stelle, über die sie nicht hinaussehen kann, die Welt zu Ende sei, das konnte er sich vorstellen. Für die Ameise wäre die Welt auf dem Ball genau wie ein Teller, gerade so wie für Peter das Meer.
Peter hob einen Kiesel auf und warf ihn in eine große Welle. Dann fiel ihm ein, dass auch das Meer lebendig ist, und er entschuldigte sich schnell.
„Oh, das ist schon in Ordnung“, sagte das Meer, „die Menschen tun das immer, das macht mir gar nichts aus. Es erspart mir die Mühe, die Steine einzeln fortzutragen.“
„Musst du das tun?“
„Oh ja. Früher oder später sinkt jedes Sandkorn auf den Grund und alle, die unten sind, werden an den Strand zurückgespült. Es ist eine fortdauernde Umwälzung.“
„Warum?“, fragte Peter.
„Alles muss gewaschen werden, du würdest doch auch nicht immer dieselben Kleider tragen, ohne sie zu waschen, oder?“
„Auf dem Meeresgrund müssen dann aber schrecklich viele Steine sein.“
„Gewiss. Einige kommen von hohen Bergen und werden immer kleiner auf dem Weg hierher.“
„Aber wie kommen sie herunter?“, fragte Peter.
Plötzlich erschien Onkel Pfefferkorn, er kletterte aus Peters Tasche.
„Au!“, sagte Peter. „Das kitzelt.“
„Unsinn!“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Ich bin viel zu klein, um irgendjemanden kitzeln zu können.“
Auf einem Knopf balancierend, nahm er seine beste Schulmeisterpose an und zeigte mit seinem winzigen Finger auf Peter.
„Du wolltest wissen, wie die Kiesel herabkommen. Was glaubst du, was der Bach tut? Wie?“
„Er trägt das Wasser“, sagte Peter.
„Und was noch? Du würdest dich wundern, wie viel sonst noch mit dem Wasser heruntergeschwemmt wird“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Steine und Samen, Schutt und Unkraut, alle möglichen Dinge.“
Plötzlich lachte er. „Du bist ein komischer Junge, möchtest du nicht im Wasser spielen?“ „Oh“, rief Peter, „darf ich? Hat das Meer nichts dagegen?“
„Natürlich nicht!“ Das Meer brach in ein schallendes Gelächter aus, das sich über das ganze Ufer entlangzog, so dass auch die kleinen Wellen in ein tausendfältiges, leises Lachen ausbrachen. „Komm herein, das Wasser ist fein!“
Peter rannte zum Ufer hinab und begann im Wasser zu spielen. Große, weiße Pferde kamen auf der Oberfläche angebraust, lösten sich in galoppierendem Schaum auf, der in immer kleinere Wellen zerfiel. Sie gaben jedoch alle acht, dass sie bei Peter sanfter wurden, denn sie können manchmal recht rau sein. Peter war so klein und hilflos, wenn sie sich über ihm brachen und ihn immer wieder herumpurzeln ließen.
Schließlich setzte er sich ganz müde an den Strand, und da bemerkte er, dass Onkel Pfefferkorn sich noch immer durchnässt und unglücklich an sein Knopfloch klammerte.
„Aber Onkel Pfefferkorn“, rief er entsetzt, „du bist ja ganz nass, warum bist du nicht einfach verschwunden und trocken geblieben?“
„Ach“, knurrte Onkel Pfefferkorn und schüttelte das Wasser aus seinem Hut. „Ein bisschen Wasser tut mir nichts, aber zu viel davon könnte dir schaden. Weißt du, ich muss auf dich aufpassen!“
Und damit war er verschwunden.
Die Masken Odins
Elsa-Brita Titchenell
6 – Die Naturreiche
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Während die Götter und Riesen sich als ergänzende Pole der Gottheit und der Materie auf einer abgestuften Skala repräsentierten, die sich sowohl in Richtung zum Geist als auch zur Materie erstreckte, war die Natur für die altnordischen Aufzeichner der Mythen mit Lebewesen auf allen Evolutionsstufen reichlich ausgestattet. Jedes derartige Wesen repräsentierte seinen Gott (Bewußtsein-Energie), der sich selbst in seiner eigenen geeigneten Weise oder Seele zum Ausdruck brachte und in einer passenden Gestalt, seinem Riesen, verkörperte. Unsere sichtbare, greifbare Welt war eine von vielen, ein dürftiger Querschnitt einer gewaltigen Reihe von Gott-Riese-Nebeneinanderstellungen, durch die die Lebenswoge bei einem Spielraum für unendlich viele Arten evolutionären Wechsels und Wachstums ewig floß.
Das Bindeglied, das den Gott und seinen entsprechenden Riesen sowohl trennt als auch vereint, ist sein Alf (Elf), der, wie wir wissen, Fluß oder Kanal bedeutet. Der Elf drückt seine gottgleichen Qualitäten durch die substantielle Form in dem ihm möglichen Grad aus. Dies macht jedes Wesen zu einer Triade: erstens, das göttliche Bewußtsein oder der ewige Odin, der Allvater, die unsterbliche Wurzel jedes Wesens; dieser erfüllt den Riesen oder den Körper mit Leben, welcher stirbt und in der Mühle zermahlen und aufgelöst wird, wenn das göttliche Leben dahingeschwunden ist. Das Bindeglied der zwei ist ein Elf – die aktiv evolvierende Seele, die den göttlichen Einfluß zu der materiellen Welt kanalisiert und sich selbst zu ihrer Hamingja, ihrem Schutzengel oder ihrem individuellen Gott-Selbst evolviert. Die Elf-Seele beteiligt sich an beiden Einflußarten: Inspiriert durch ihre göttliche Natur wird sie fortschreitend harmonischer, so, wie sie sich allmählich mit dieser veredelnden Quelle ihres Seins vereinigt, während ihre materiellen Tendenzen, niedergedrückt von dem schweren Hemmklotz der Materie, ihrem Riesen, sterblich bleibt. Das wird am klarsten im Wölundlied gezeigt, wo die Elf-Seele, die Menschheit, von einem üblen Zeitalter gefangengehalten wird. Dieses wird jedoch sowohl durch die Tugend des spirituellen Willens und der Entschlossenheit als auch der Genialität überwunden.
Durch den langen, langsamen Evolutionsverlauf gewinnen die Elfen zunehmend die bewußte Vereinigung mit ihren göttlichen Mentoren und werden dadurch allmählich unsterblich. Aber bis sie diesen Zustand erreichen, verbringt jeder einzelne dieser Protégés der Götter eine glückliche Ruhe zwischen den Erdenleben unter den Gottheiten in der Festhalle (Raum) des Riesen Ägir, aber ohne ihre Umgebung wahrzunehmen. Es gibt zahlreiche Klassen von Elfen auf verschiedenen Bewußtseinsstufen: Licht-Elfen sind jene, die zwischen den Leben unter den Göttern bei ihrem himmlischen Festessen schlafen, während die Elfen der Dunkelheit zu niedrigeren Welten hinabgezogen werden.
Die Seelen, welche die menschliche selbstbewußte Stufe in ihrer Evolution noch nicht erreicht haben, werden „Zwerge“ genannt. Diese elementalen Seelen verkörpern sich in Tieren und Pflanzen, in den Mineralien im Innern des Globus und in den Kräften des Windes und des Wetters. Volkstümliche Geschichten beschreiben sie als kleines Volk. Das ist wahrscheinlich das Ergebnis der Übersetzung des isländischen midr, des schwedischen mindre als „kleiner“. Dies ist ganz legitim und hat zu der Vorstellung Anlaß gegeben, daß Zwerge kleiner seien als Menschen. Jedoch, eine gleichberechtigte Interpretation und eine, die sinnvoller ist, ist jene, daß sie geringer als Menschen sind – weniger evolviert, weniger vollkommen in ihrer Entwicklung. Nach ihren Namen zu urteilen beziehen sie sich offensichtlich auf verschiedene Tiere, Pflanzen und andere Geschöpfe der unterhalb des Menschen stehenden Reiche, so daß sich die Verkleinerungsform wahrscheinlich mehr auf ihre Evolutionsstufe bezieht als auf physische Größe.
Unter den elementalen Zwergen (jene zu den Lebensreichen gehörenden, die sogar weniger entwickelt sind als die Minerale) befinden sich die Trolle, von denen gesagt wird, daß sie feindselig gegenüber den Menschen sind, und die Tomtar, die dem Menschen auf vielerlei Weise dienen und helfen. In den volkstümlichen Geschichten wird der Troll als ein scheußliches Monster geschildert, der Tomti als ein niedlicher kleiner Geist, der ein graues Gewand und eine rote phrygische Mütze trägt. Jeder alte Bauernhof hatte seinen Tomti, der das Vieh und die Ernte schützte, die Pferde vor dem Ausrutschen auf dem Eis bewahrte und zahlreiche andere Dienste das Jahr hindurch leistete. Alles, was er dafür erbat, war ein Teller mit heißem Reisbrei neben dem Scheunentor am Heiligabend. Die Trolle andererseits waren die Verbündeten der Zauberer und nicht abgeneigt, dem Nichtsahnenden eigene Streiche zu spielen. Es ist erwähnenswert, daß es in einer derartigen Folklore keinen wirklichen Austausch zwischen Menschen und Zwergen auf einer emotionalen oder mentalen Ebene gab. Ob nützlich oder schädlich, die Zwerge sind nicht absichtlich wohlwollend oder übelwollend, sondern lediglich nicht denkende Naturkräfte, die automatisch und ohne Freundlichkeit oder Bösartigkeit handeln, so daß des Menschen Rücksicht auf sie eigenartig unpersönlich war. Sie würden einen Tomti kaum gern haben, obwohl sie für seine Taten sehr wohl dankbar sein mögen.
Die Existenz sowohl der klassischen Fee mit ihren hauchdünnen Flügeln als auch der Gnomen und Kobolde und anderer „kleinen Leute“ in passender Kleidung kann insgesamt nicht geleugnet werden, obwohl ihre äußere Erscheinung die Schöpfung menschlicher Phantasie ist. Verschiedene alte Legenden, die von diesen und anderen „unbeseelten“ Bewohnern von Wolkenkuckucksheim erzählen, geben ein sehr wirkliches Wissen wieder, das im Laufe der Zeitalter entstellt oder mißverstanden wurde: daß es unterhalb der Mineralien auf der evolutionären Skala Wesenheiten und Kräfte gibt, die sich selbst in den Eigenschaften der materiellen Elemente oder Zuständen der Materie ausdrücken. Sie sind Wesen, die zu definieren wir uns schwer tun würden, denn wir haben keine Vorstellung von dem Typ von „Seele“, der sich in Mineralien verkörpert, noch weniger in Kreaturen unterhalb von ihnen auf der Leiter des evolutionären Fortschritts. Klassische und mittelalterliche Geschichten schildern diese Bewohner der Elemente als Salamander (des Feuers), Undinen (des Wassers), Sylphen (der Luft) und Gnomen (der Erde). Die Edda klassifiziert sie unter die Zwerge und schreibt ihre Herkunft den Titanen oder Riesen der entsprechenden Elemente zu. So wie der griechische Ozeanus (die „Wasser“ des Raumes) die Undinen zeugte, so tat Ägir in den altnordischen Mythen mit seinem Weib Ran, der Göttin des Meeres, um die neun Wogen zur Geburt zu bringen. Was wir heute Naturgesetze nennen, auf deren Merkmale wir uns beständig verlassen – alle die chemischen und physischen, automatischen und halbautomatischen Funktionen der natürlichen Welt – sind Äußerungen von Elementalkräften. Ohne sie könnten wir weder mit der Materie, in der wir leben, in Berührung kommen, noch könnten wir auf ihr Verhalten vertrauen. Sie sind die Former der Wolken, die Oberflächenspannung, die einen Tautropfen abgrenzt, sie verursachen, daß die Flamme auflodert und das Wasser fällt. Jedoch, wenn diese Wesen keine bestimmten Größen und Formen besitzen, dann werden sie im allgemeinen nicht als Lebensformen erkannt, obwohl sie jedwede Form annehmen können, die sich die volkstümliche Einbildungskraft vorstellt. Wenn Feenvolk oder Kobolde gelegentlich von vollkommen rationalen Menschen gesehen worden sind, so ist dies auf mentale Bilder zurückzuführen, die von Volksmärchen und Bräuchen, besonders in gewissen Gegenden, erzeugt werden, die so stark sein können, daß eine sensitive Natur, die Gerüchte mit ihren eigenen Eindrücken verbindet, sie auf jene Weise wahrnehmen läßt. Die Bilder erzeugende Fähigkeit ist eine sehr starke Kraft.
Von den Zwergen sagt man, daß sie im Zuge Dwalins folgen, weil die niedrigeren Naturreiche den Wachstumsimpuls von Dwalin erhalten (den in Verzückung versetzten – die menschliche Seele, die noch nicht zu ihrer Möglichkeit erweckt worden ist). Dargestellt als Ask und Embla (Esche und Eiche), Miniaturen des Weltenbaumes Yggdrasil, befand sich die menschliche Rasse noch in einem vegetierenden Zustand, ohne Gedanken, ohne Vernunft und nur wie die Pflanzen wachsend ohne Selbstbewußtsein, bis „die Götter zurückschauten und ihr Elend sahen.“ Der Planet wurde damals noch von den Kindern des Iwaldi, der Riesenperiode, deren Lebenszeit unser Mond war, geformt.
Die Zwerge in Dwalins Zug, die in Völuspá (Der Seherin Weissagung) erwähnt werden, enthalten solche beschreibende Bezeichnungen wie Entdeckung, Zweifel, Wille, Leidenschaft, Fehler, Geschwindigkeit, Geweihtragend und viele mehr. Einige Namen sind obskur, andere sind klare Merkmale gewisser Pflanzen und Tiere, „bis zu Lofar, dem Überlegenen, hinaus“.
Die Menschheit, deren Elend das Mitgefühl der Götter anwachsen ließ, wurde von ihnen mit den eigenen Qualitäten der Götter ausgestattet, wodurch der Mensch zu einem ásmegir (Gottmacher), einem potentiellen Gott, in einer dreifachen Kombination gemacht wurde: ein Zwerg, ein Verwandter von Dwalin, ist seine tierische Natur; in seinem menschlichen Selbst ist er ein Elf, ein Kanal oder eine Seele, die seine Zwergennatur mit den Göttern verbindet; und die spirituelle Seele ist seine Hamingja, eine Verwandte der Nornen, sein Wächter und Mentor, der ihn nie verläßt, es sei denn, der Mensch bewirkt durch beharrliches unaufhörliches Übeltun, daß seine Verbindung mit der Gottheit abreißt und zwingt so die Hamingja, ihren Schützling zu verlassen.
Eine verständlichere Einordnung kommt ans Tageslicht, wenn wir feststellen, daß der Mensch aus drei Gaben der drei schöpferischen Aesir besteht, und somit aus ihren Naturen zusammengesetzt ist:“Aus einer solchen Schar [von evolvierenden Naturreichen des Lebens] gingen in der Halle drei Aesir, mächtig, mitfühlend, hervor. Sie schufen auf der Erde die Esche und die Erle, ohne Macht und ohne Bestimmung. Odin verlieh ihnen Geist, Hönir kritisches Urteilsvermögen, Lodur gab ihnen Blut und göttliches Licht“ (Völuspá 17,18). Damit wird der Mensch zu einem zusammengesetzten Wesen. In Viktor Rydbergs scharfsinniger Analyse waren die niedrigsten Elemente bereits gemeinsam in der Esche und in der Erle vor dem Aufkommen der schöpferischen Götter. Ihre „Gaben“ vervollständigten den Menschen als einen Ásmegir, einen Gottmacher – ein werdender Áse –, der an den göttlichen Attributen teilhat, die das Universum mit Form, Kräften und Organisation ausstatten. Auf jeder Ebene ist ein Mensch ein wesenhafter Teil der Tätigkeiten, die das Universum beleben. Dieselbe Vorstellung wird in der Genesis gefunden: die göttlichen Elemente des universalen Lebens hauchen ihren eigenen Atem in den Menschen und schaffen ein menschliches Ebenbild von sich, das latent alles besitzt, was das universale Leben enthält.
Die sterbliche Hülle kann als dreiteilig beschrieben werden: Erstens, der Körper, der aus den Elementen der Erde zusammengesetzt ist; zweitens, das formende Modell, das jeden Organismus veranlaßt, seine Gestalt durch das ganze Leben hindurch beizubehalten; drittens, die vegetative Wachstumskraft in allen Geschöpfen, die physische Energie oder das Magnetfeld. Diese drei Bestandteile waren schon in der Esche und der Erle gegenwärtig. Zu diesen physischen Teilen fügten die Götter ihre eigenen Eigenschaften hinzu: Lodur steuert lá und laeti, buchstäblich Blut und Unverwechselbarkeit bei: Blut im Sinne von Blutlinie, genetischer Erbzusammenhang, während Unverwechselbarkeit offensichtlich das ist, was in der Sanskritliteratur mit svabhāva, Selbst-werden, bezeichnet wird: die besondere Kombination und das besondere Verhältnis von Eigenschaften, die jeder Wesenheit ihre Einzigartigkeit verleihen. Diese zwei zusammenhängenden Gaben bilden das göttliche, von Lodur gelieferte Licht oder Ebenbild, das gemeinsam mit der Gabe von Hönir, odr, Verstand oder latente Intelligenz, die menschliche Elfennatur bildet. Das wird, wenn durch göttliche Kraft entfacht, ein ásmegir, ein zukünftiger Gott (s. Rig-Lied). Die höchste Gabe stammt von Odin, der den Menschen seine eigene spirituelle Essenz schenkt.
Verschiedene erfolglose Versuche waren früher gemacht worden, um die Erde mit lebensfähigen menschlichen Formen zu bevölkern. Die Edda beschreibt den Lehmriesen Mokkurkalfi, der zerstört und beseitigt werden mußte. Diese Geschichte wird in der Jüngeren Edda erzählt und bezieht sich auf Thors Kampf mit dem Riesen Hrungnir: Hrungnir ergötzte sich in Ásgárd (Asenwohnort) mit Bier, das in den Schalen geboten wurde, aus denen Thor gewöhnlich trank. Er leerte sie alle, bis er sehr betrunken war und zu prahlen begann, wie er Walhalla nach Riesenheim schaffen wollte, Ásgárd versenken und alle Gottheiten außer Freyja und Sif erschlagen, die er mit sich fortzuführen gedenke. Da er weiter irres Zeug redete, fuhr Freyja fort, ihn immer wieder zum Trinken aufzufordern. Schließlich sprachen die Götter, seines Prahlens müde, Thors Namen aus und alsbald trat der Blitzeschleuderer mit seinem hoch erhobenen Hammer in die Halle. Thor wollte wissen, auf wessen Erlaubnis Hrungnir in Ásgárd eingeladen worden war und von Freyja bedient wurde, was nur den Göttern zusteht. Der Riese behauptete, auf Odins Einladung da zu sein, und Thor schwor, daß er es bald bedauern würde, diese Einladung angenommen zu haben. Ein Wort gab das andere. Schließlich verabredeten Thor und Hrungnir, einen Kampf an der Grenze zwischen Ásgárd und Riesenheim auszutragen, und Hrungnir eilte nach Hause, um sich für den Kampf zu rüsten.
Die ganze Riesenwelt war durch den bevorstehenden Kampf aufgeschreckt, denn sie befürchteten schlimme Konsequenzen, ganz gleich wer siegreich sein sollte. So schufen sie einen Riesen aus Lehm, neun Meilen hoch, den sie Mokkurkalfi nannten. Sie konnten jedoch kein Herz finden, das groß genug war, um die Plastik zu beleben, so gaben sie ihr das Herz einer Stute. „Aber“, sagt die Erzählung in Snorris Edda, „Hrungnirs Herz ist natürlich aus Stein und es hat drei Ecken.“ Sein Kopf ist auch aus Stein und er trägt einen Schild aus Stein und eine Steinaxt.
Hrungnir, der von Mokkurkalfi (auch Leirbrimir – Schlammwasser genannt) begleitet wurde, erwartete Thors Kommen, aber als er den Ásen sich nähern sah, geriet der Lehmriese derart in Panik, daß „er sein Wasser verlor“. Thors Begleiter, Thjalfi, lief schnell zu Hrungnir und sagte ihm: „Du bist dumm, wenn du deinen Schild vor dich hältst. Thor hat dich gesehen und will dich von unten her angreifen.“ So stellte sich Hrungnir auf seinen Schild und schwang seine Axt mit beiden Händen. Mit flammenden Blitzen und Donnergetöse ging Thor auf ihn zu. Im gleichen Augenblick schleuderten Thor seinen Hammer und Hrungnir seine Axt, so daß die Axt in Stücke zerbrach. Eine Hälfte fiel zu Boden, daher stammen alle Wetzsteinfelsen; die andere Hälfte traf Thor in den Kopf, so daß er vorwärts auf den Boden fiel. Aber Thors Hammer zerschlug Hrungnirs Schädel und, als der Riese vornüber sank, fiel sein Fuß auf Thors Hals.
Thjalfi hatte inzwischen den Lehmriesen leicht zu Fall gebracht, und nun versuchte er, Hrungnirs Fuß von Thors Kehle wegzuheben, aber er konnte ihn nicht bewegen. Alle Aesir eilten herbei, um zu helfen, aber auch sie konnten den Fuß nicht anheben. In diesem Augenblick kam Thors drei Jahre alter Sohn Magni hinzu. Seine Mutter war die Riesin Järnsaxa (Eisenschere). Magni stieß den Fuß des Riesen leicht beiseite und entschuldigte sich dafür, daß er so spät zur Rettung hinzukam, aber Thor, der stolz auf seinen Sohn war, „verübelte ihm seine Verspätung nicht“. Es blieb jedoch noch ein Stück der Steinaxt in Thors Kopf stecken. Da machte die Seherin Groa (Wachstum) den Versuch, es mit Zaubergesängen zu entfernen; aber sobald Thor fühlte, daß es sich löste, wollte er sie belohnen und erzählte ihr von seiner Rettung des ehemaligen Riesen Örvandil (Orion), den er in einem Korb über die eisigen Wogen hinübergetragen habe. Eine Zehe, die aus dem Korb herauslugte, erfror; die habe Thor abgebrochen und an den Himmel geworfen, wo man sie bis heute leuchten sehen kann. Wir nennen sie Sirius. Groa war über die Geschichte so erfreut, daß sie alle ihre Zauberlieder vergaß, und so blieb die Steinaxt bis zum heutigen Tag in Thors Haupt stecken.
Wie viele Erzählungen aus der Jüngeren Edda, enthält auch diese eine Andeutung von Gedanken, die wir teilweise interpretieren können, obwohl diese Erzählung wahrscheinlich Veränderungen unterlag, die sie für den Humor und den Charakter der Wikinger geeignet machte. Der drei Jahre alte Held und das eiserne Zeitalter, das ihn gebar, hat sicherlich eine Bedeutung, genauso wie die Anspielung auf den Sirius. In groben Zügen hat der Lehmriese Parallelen in vielen Überlieferungen, wie der Adam aus Staub in der Genesis 2,7. Die Menschheit brauchte zweifellos Millionen von Jahren, um eine Form zu entwickeln, die als ein denkendes, verantwortliches Wesen überleben konnte. Auch erwachte die mentale Fähigkeit nicht über Nacht, denn auch das konnte sich nur sehr allmählich entwickeln. Die theosophische Überlieferung sieht für die Erweckung des Denkvermögens mehrere Millionen Jahre vor. Nach den Stanzen des Dzyan waren die Söhne der Vernunft (mānasaputras), welche die Denkfähigkeit in der menschlichen Rasse erweckten, nicht in der Lage, sich in den frühesten Formen der Menschheit oder sogar in der frühen dritten Menschheit zu verkörpern. Diese seien, sagten sie, „keine geeigneten Vehikel für uns“. Die seltsamen kleinen „Lehmköpfe“, die in einer mexikanischen Gegend gefunden wurden, können auch diese Phase unserer Entwicklung symbolisieren. Nur allmählich, als die Vehikel geeignet wurden, waren die Menschen der dritten „Wurzelrasse“ fähig, den Anreiz des Denkens von jenen zu empfangen, die die menschliche Phase der Evolution in einem früheren Weltzyklus absolviert hatten. Das gegenwärtige menschliche Geschlecht wird, wenn es in der Vollendung seiner Evolution als weise Seelen erfolgreich ist, dann seinerseits jene erleuchten und inspirieren müssen, die jetzt „die Zwerge in Dwalins Zug“ sind – in einem weit entfernten zukünftigen Zeitalter auf einer neuen und wiedergeborenen Erde, dem Nachfolger des Globus, zu dessen Bestehen wir heute beitragen.