Ich bringe dich jetzt zurück

Der Boden war hart, und es wurde kälter. Peter wusste, dass das GROSSE JAHR fast vorbei war.

„Um die Sonne! Um die Sonne!“, dachte er bei sich. „Ich möchte wissen, um was die Sonne selbst kreist!“

„Peter!“, ertönte Onkel Pfefferkorns Stimme.

Peter schaute sich um und sah den kleinen Mann, der sich an einen Pilz lehnte.

„Du musst jetzt nach Hause zurück“, sagte Onkel Pfefferkorn.

„Oh, Onkel Pfefferkorn!“ Peter weinte fast. „Ich habe nicht die Hälfte von dem herausgefunden, was ich wissen möchte.“ Dann fiel ihm ein, dass er ein ganzes Jahr weg gewesen war. Er überlegte, ob seine Mutter und sein Vater sich wohl große Sorgen um ihn machten. Seltsam, dass er das ganze Jahr über nicht an sie gedacht hatte!

„Mach dir keine Sorgen“, sagte Onkel Pfefferkorn, „sie ­wissen nicht, dass du fort warst.“

„Aber ein ganzes Jahr!“, rief Peter.

„Das meinst du“, sagte Onkel Pfefferkorn.

Plötzlich sprang er auf Peters Fuß und kletterte schnell auf seine Schulter.

„Halte dich fest!“, rief er. Und plötzlich waren sie fort, weit weg in dem blauen Himmel.

Sie landeten wie anfangs auf dem großen, schönen Stern, Peter erinnerte sich an ihn.

„Der Anfang und das Ende“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Weißt du, es ist immer dasselbe.“

Peter verstand nicht ganz.

„Warum müssen wir hierherkommen?“, fragte er.

„Weil du es selbst sehen musst“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Nun, wo ist jetzt die Erde?“

„Der dritte Fleck von der kleinen Sonne aus, links von der großen.“

„Ganz richtig! Kannst du erkennen, wo sie ungefähr auf ihrer Bahn ist?“

„An derselben Stelle wie voriges Mal“, sagte Peter.

„Was bedeutet das?“, fragte Onkel Pfefferkorn mit seiner strengsten Stimme.

„Nun, bedeutet es nicht, dass sie einmal um die Sonne herum gelaufen und wieder zurückgekommen ist?“, fragte Peter.

„Peter!“, sagte Onkel Pfefferkorn und tätschelte Peter am Hals. Peter dachte, es fühlt sich an wie der Kuss eines Glühwürmchens. „Peter, du machst mir Ehre. Ich werde dich jetzt nach Hause bringen. Denke nur daran: Wenn du die Erde und alles darauf immer so liebst wie jetzt, dann wirst du dein ganzes Leben lang das GROSSE JAHR haben. Du darfst dich vor gar nichts fürchten, weil du im INNEREN der richtige Peter bist und nichts DICH jemals verletzen kann.“

Onkel Pfefferkorn zog Peter freundschaftlich am Ohr. Dann rief er: „Los geht‘s!“

Sie rasten durch den von tausenden blitzenden Diamanten­sternen erfüllten Himmel. Peter war es, als sei auch er ein Stern, der auf einer großen Bahn dahinschoss, die niemand sehen konnte, aber die er doch irgendwie kannte.

Plötzlich fand er sich in seinem kleinen, weißen Bett wieder und merkte, wie er gerade aufwachte. Langsam öffnete er die Augen. Es war sein eigenes Zimmer, nichts hatte sich verändert. Seine Rollschuhe lagen in der Ecke, wo er sie vergangene Nacht hingelegt hatte. Die Feldblumen auf der Anrichte waren nicht einmal verwelkt.

„Nanu!“, rief Peter und setzte sich auf. „Vielleicht war das doch nur ein Traum!“

Aber war es nur ein Traum gewesen? Noch nach Jahren konnte Peter die Stimmen der Natur hören und manchmal, wenn er sehr achtsam lauschte, konnte er sie sogar verstehen.

ENDE

orts 57 gs

10 – Völuspá

(Die Prophezeiungen der Sibylle)

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Anmerkungen der Übersetzerin

Unter den Liedern und Geschichten der Edda gehört der Ehrenplatz fraglos der Völuspá. Sie ist wohl der verständlichste als auch der rätselhafteste Teil des altnordischen Schrifttums. In ihr sind die majestätische historische Darstellung der in Bildung begriffenen Welten, der Attribute des kosmischen Lebensbaumes, seines Verfalls, seines Todes und seiner späteren Erneuerung und Wiedergeburt umrissen. Um den Fortschritt der Ereignisse, die von der Seherin erzählt werden, zu folgen, müssen wir uns häufig an andere Lieder und Sagor1 wenden, die unverhüllter sind, denn in der Völuspá nehmen wir das Werk von Ewigkeiten in einem Augenzwinkern zusammengepreßt und die endlose Weite eines Universums in einem Sandkorn wahr.

Die Vala oder Völva, die Seherin, die das Gedicht spricht, stellt die unauslöschliche Aufzeichnung der Zeit dar. Eine Aufzeichnung von Ereignissen, die sich von einer anfanglosen Vergangenheit auf eine endlose Zukunft hinbewegt, wobei Universen in aufwallenden Lebenswogen einander folgen. Die Vala personifiziert die Aufzeichnung der Vergangenheit: Ihr Gedächtnis, das in die „Vorzeit“ zurückreicht, erinnert sich an neun frühere Weltenbäume, die seit langem ausgelöscht und jetzt wieder belebt sind.

Völuspá ist die Antwort der Seherin auf Odins Suche nach Wahrheit. Die kosmische Aufzeichnung wird von Allvater befragt – der bewußten, göttlichen Intelligenz, die sich periodisch als ein Universum, angetrieben durch den Drang, Erfahrung zu gewinnen, manifestiert. Er ist die Wurzel aller Leben, die ihn zusammensetzen, immanent in jedem Teil seiner Welten, und doch jenseitig. Wenn die Vala sich an Odin als „all Ihr heiligen Verwandten“ wendet, zeigt dies nicht nur das innige Verhältnis, das alle Wesen miteinander verbindet, sondern identifiziert sie auch mit dem fragenden Gott. Odins erwähnter Wunsch, „den Ursprung, das Leben und das Ende der Welten“ zu erfahren, ist ein Hinweis, diese Information im Interesse aller „größeren und geringeren Söhne Heimdals“ (1)2 – aller existierenden Lebensformen innerhalb dieses Sonnensystems, Heimdals Wohnstatt – und übrigen Zuhörer – zu entlocken.

Für diejenigen, die sich die Gottheit als eine vollkommene, allwissende, allgegenwärtige und unveränderliche Person vorstellen, mag es fremd klingen, einen Gott zu finden, der eine Information über etwas erbittet, besonders über Welten unterhalb seiner eigenen göttlichen Sphäre. Aber in den Mythen sind die Gottheiten nicht statisch, in göttlicher Vollkommenheit erstarrt, sondern wachsende, lernende Intelligenzen von vielerlei Graden. Die Völuspá benutzt einen poetischen Trick, um anzudeuten, daß das Bewußtsein Welten der Materie betritt, um zu lernen, zu wachsen und ein größeres Verständnis zu entwickeln, während es selbst durch die Zusammenarbeit mit der Materie, durch die es wirkt, diese inspiriert.

Die Vala „erinnert sich an in der Vorzeit geborene Riesen“ – an jetzt tote Welten, deren mit Leben erfüllten Bewußtheiten sie seit langem verlassen haben, worauf ihr uninspiriertes Material zur Entropie und zum Chaos zurückkehrt. Sie erinnert sich an „neun Lebensbäume, bevor dieser Weltenbaum aus dem Boden wuchs“ (2). Anderswo wird Heimdal erwähnt, der „von neun Jungfrauen geboren worden ist“; auch daß Odins Nachtwache, als er auf den Lebensbaum stieg, „neun ganze Nächte“ lang dauerte (Hávamál 137). Das alles zusammengefaßt deutet darauf hin, daß unser Erdsystem das zehnte in einer Reihe ist, das dem Eisriesen Ymir folgte, als da „keine Erde, kein Meer, keine Wellen“ waren (3).

Jeder Weltenbaum ist ein Ausdruck der göttlichen Bewußtheiten, die geeignete Formen schaffen, um im Met der Erfahrung zu leben und diese Erfahrung gewinnen zu können. Wenn sie zu gegebener Zeit zurückgezogen werden, so kann alles, was nicht fortschreiten oder Nutzen aus der Gemeinschaft mit den Göttern ziehen kann, das heißt, alles was unvollkommenes Material ist, zum Eisriesen werden.

Die weise Sibylle, die analog zur kosmischen Vala, Wölfe bändigt, scheint die verborgene Weisheit oder das okkulte Verständnis zu symbolisieren. (Es ist wert, anzumerken, daß das Wort „okkult“ alles Verborgene oder schwer Verständliche bedeutet, geradeso wie ein Stern okkult ist, wenn er für unsere Sicht durch den Mond oder einen anderen Körper verborgen ist. Das bloße a, b, c ist okkult, bis es verstanden wird.) Die Vala, Heid, ist das verborgene Wissen, das auf den Egoisten eine Faszination ausübt, folglich wird es „immer von üblen Leuten gesucht“, obwohl es von demjenigen in aller Harmlosigkeit erworben werden kann, der weise ist und „Wölfe zähmt“, der seine tierische Natur unter Kontrolle hält, und der durch Selbstdisziplin und Dienstleistung die Geheimnisse der Natur gewinnt. Der Unterschied zwischen den beiden Sibyllen wird in dem Gedicht klargemacht: „Sie weiß vieles; ich sehe mehr“ (45). Die eine gehört zu den menschlichen Angelegenheiten auf Erden, die andere stellt eine Übersicht über kosmische Aufzeichnungen dar.

Die Skalden unterschieden drei verschiedene Arten von Magie: Sejd oder Prophezeiung ist die Eigenschaft der Vorhersehung von kommenden Ereignissen als natürliche Folge jener der Vergangenheit. In den meisten Ländern gab es noch bis vor kurzem viele „weisen Frauen“, die diese Kunst praktizierten, jedoch meistens in trivialen Angelegenheiten. Solche Wahrsagerinnen findet man noch heute; viele von ihnen nutzen die allgemeine Leichtgläubigkeit aus und prophezeien mehr oder weniger falsche „Schicksale“ für ein Honorar. Eine zweite Art von Magie ist Galder – ein Zaubergesang, der vorgibt, die Zukunft nach Wunsch zu lenken. Derartige Zaubersprüche, wenn sie einigermaßen erfolgreich sind, sind häufig Hexerei, ob sie in gutem Glauben und in Unkenntnis ausgeführt werden oder gefährlicher, mit der Wucht des Wissens und dem Willen und der Entschlossenheit hinter ihnen. Unvermeidlich vollenden ihre Auswirkungen ihren Kreislauf und beeinflussen negativ sowohl den Urheber als auch die Teilhaber, die unschuldig oder unwissentlich darin verwickelt sind.

Eine dritte Form der Magie ist das „Lesen der Runen“ – das Lesen des Buches der Symbole der Natur und das Gewinnen fortschreitender Weisheit. Dies ist Odins Studium, als er in dem Lebensbaum hängt (Hávamál 137): „Ich erforschte die Tiefen, fand Runen der Weisheit, nahm sie mit Singen auf und fiel von da noch einmal nieder“ – vom Baum.

Die Vala erzählt vom Ende des Goldenen Zeitalters der Unschuld und vom Tod des Sonnengottes Balder durch die Handlung seines blinden Bruders Hödur – Unkenntnis und Finsternis – angestiftet von Loki, dem bösartigen Elf der menschlichen Intelligenz. Wie in vielen anderen Geschichten vom Fall der frühen Menschen aus der Unschuld, hat der Urheber, der unsere Kenntnis des Guten und Bösen und die Kraft, zwischen ihnen zu wählen, verursachte, die Schuld für alle nachfolgenden Übel in der Welt auf sich genommen. Der biblische Luzifer, der „Lichtbringer vom strahlenden Morgenstern“, ist in einen Teufel transformiert worden; der griechische Prometheus, der der Menschheit das Feuer des Denkens gab, wurde für die Dauer der Welt an einen Felsen gekettet und wird nur befreit werden, wenn Herakles, die menschliche Seele, am Ende ihrer Mühen Vollkommenheit erlangt haben wird. Ähnlich wurde Loki unterhalb der unteren Pforten der Unterwelt gebunden, um Qualen bis zur Vollendung des Zyklus zu erleiden. In jedem Fall brachte das Opfer uns Menschen das innere, notwendige Licht, um unseren Weg zur Gottheit zu erleuchten, der durch bewußte Anstrengung und selbstbewußte Regeneration in die letztliche Wiedervereinigung mit unserer göttlichen Quelle gewonnen werden wird.

Die Völuspá gibt eine anschauliche Beschreibung von Ragnarök. Diese wurde als das „Zeitalter des Feuers und des Rauches“ übersetzt, wahrscheinlich, weil Rök im Schwedischen Rauch bedeutet, und Schüler der Mythologie haben das als charakteristisch für das angeblich verdrossene Temperament der Wikinger, das dem Verhängnis und der düsteren Stimmung ergeben ist, betrachtet. Es gibt aber eine bessere Interpretation des Wortes: Ragna, Plural des isländischen Regin (Gott, Herrscher) und Rök (Grund, Ursache oder Ursprung) ist die Zeit, wenn die Götter zu ihrer Wurzel, ihrem Grund am Ende der Welt zurückkehren. Die Beschreibung der Schrecken, die den Weggang der Götter begleiten, sind in der Tat äußerst unerquicklich und werden durch das Heulen der Höllenhunde betont; jedoch, dies ist nicht das Ende. Nach dem Umfallen des Weltenbaumes fährt das Gedicht fort, die Geburt einer neuen Welt zu beschreiben und endet mit einer Note gelassener Zufriedenheit in der Morgendämmerung eines neuen und goldenen Zeitalters., Viele Menschen sind sich dessen nicht bewußt und haben trotz der Vertrautheit mit Wagners „Ring der Nibelungen“ stillschweigend die Auswirkungen auf eine kosmische Wiedergeburt unbeachtet gelassen. Doch, das Beispiel entspricht viel genauer der Tendenz anderer tiefer Gedankensysteme als der Vorstellung eines endgültigen Endes. Ein derartiges unwiderrufliches Ende wird nicht in den Mythen gefunden; statt dessen lernen wir vom ununterbrochenen Fluß der Natur in das Dasein und zurück zu der unbekannten Quelle, unvermeidlich von einer neuen Manifestation gefolgt – ein Bild, das alles, was wir von der Natur wissen, besser widerspiegelt und eine weit größere Vision von dem ewigen Lebens-Impuls hervorruft, der durch grenzenlose Unendlichkeiten und ewige Dauer schlägt.

Völuspá

1. Hört mich, all Ihr heiligen Verwandten,3
Größere und geringere Söhne Heimdals!
Ihr wünscht, daß ich die alten Geschichten erzähle,
O Vater der Seher, die ältesten, die ich weiß.

2. Ich erinnere mich an Riesen, geboren in der Vorzeit,
Sie, die mich vor langer Zeit ernährten;
An neun Welten erinnere ich mich, an neun Lebensbäume,
Ehe dieser Weltenbaum aus dem Boden wuchs.

3. Dies war das erste der Weltalter, als Ymir schuf.
Da war keine Erde, kein Meer, keine Wellen;
Erde war nicht, noch Himmel;
Gähnender Abgrund allein: kein Wachstum.

4. Bis Burs Söhne den Boden hoben;
Sie, die die Macht besaßen, Midgárd zu erschaffen.
Die Sonne schien von Süden auf die Steine des Feldes;
Dann wuchs grüner Rasen im fruchtbaren Boden.

5. Die Sonne hielt sich nach Süden gemeinsam mit dem Mond.
Auf ihrer rechten Seite war des Himmels Tor.
Die Sonne wußte nicht, welche Wohnstatt sie hatte;
Die Sterne kannten noch nicht ihre Plätze.
Der Mond kannte nicht seine Macht.

6. Die Mächtigen gingen zu ihren Richterstühlen,
Alle heiligen Götter, um Rat zu halten;
Sie benannten die Nacht und die Mondphasen, trennten den Morgen vom Mittag,
Abenddämmerung und Abend, die Jahre zu zählen.

7. Die Aesir trafen sich auf dem Idafeld,
Zimmerten hohe Gebäude und Altäre;
Sie erbauten Essen und schmiedeten Gold,
Schufen Zangen und härteten Werkzeuge.

8. An goldenen Tafeln spielten sie freudig im Hof;
Mangelten nicht des Reichtums an Gold;
Bis aus der Riesen Heim kamen
Drei sehr übermäßige Riesenmädchen.

9. Die Mächtigen gingen zu ihren Richterstühlen
Alle heiligen Götter, um Rat zu halten:
Wer sollte schaffen eine Menge von Zwergen
Aus Tafeln Blut und den Gliedern des Toten?

10. Da war Kraft-Sauger, Meister der Zwerge
Wie Durin weiß;
Da wurden viele menschenähnliche Zwerge geschaffen aus der Erde
Wie Durin sagte.

11. Wachsen und Verfall, Norden und Süden,
Ost und West, All-Dieb, Koma,
Bifur, Bafur,4
Bömbur, Nori.

12. Án, Ánar, Ai, Met-Zeuge,
Weg, Zauberer, Windelf, Thráin,
Verlangen, Sehnsucht, Weisheit, Farbe,
Leichnam und junger Rat.

13. Scheibe und Keil, Entdeckung, Nali,
Hoffnung und Wille, Hahn, Sviur,
Schnell, Geweih tragend,
Ruhm und Einsam.

14. Zeit ists, die Zwerge von Dwalins Art
zu nennen, bis Lofar hinauf, dem Überlegenen:
Sie, die sich aus der Halle Steinfundamente
hinauf zu den Schutzwällen durchgekämpft haben.

15. Erklärer, Fahrer, Gauner, Kanal,
Heiligtum-der-Jugend und Eichenschild-Träger,
Flüchtling, Frost und
Finder und Illusion.

16. Während Zeitalter fortdauern
Soll der großen, großen Reichweite
Von Lofars Ahnen
Gedacht werden.

17. Aus solch einer Schar gingen in der Halle hervor
Drei Aesir, mächtig, mit Milde.
Sie fanden auf der Erde die Esche und die Erle,
Von wenig Kraft und ohne Bestimmung.

18. Odin verlieh ihnen Geist,
Hönir Urteilsvermögen,
Lodur gab ihnen Blut
Und Göttliches Licht.

19. Eine Esche steht, weiß ich, mit Namen Yggdrasil;
Dieser hohe Baum wird bewässert durch weiße Eiszapfen täglich;
Davon kommt der Tau, der in die Täler tropft;
Immergrün steht er über Urds Quelle.

20. Davon kommen Maiden, vielwissende,
Drei aus der Halle unter dem Baum:
Eine wurde Ursprung genannt, die zweite Werden.
Diese zwei formten die dritte, Schuld genannt.

21. Sie gaben Gesetze,
Sie bestimmten das Leben
Für die Kinder von Generationen,
Und die Schicksale der Männer.

22. Sie erinnern sich an das erste Morden in der Welt,
Als Gullweig5 auf einem Speer hochgehoben wurde;
Dreimal wurde sie verbrannt und dreimal wiedergeboren,
immer wieder – doch sie lebt noch.

23. Heid war ihr Name.
In welches Haus sie kam
weissagte sie gut und war gewandt in Zaubereien.
Sie wurde von üblen Leuten viel gesucht.

24. Da gingen die Mächtigen zu ihren Richterstühlen,
Alle heiligen Götter, um Rat zu halten;
Sollten die Aesir allein das Unrecht büßen,
Oder alle Götter Wiedergutmachung leisten?

25. Odin schleuderte seinen Speer unter die Heerschar.
Dies wurde der erste Krieg in der Welt.
Die Schutzwälle wurden aufgerissen in der Festung der Aesir;
Siegreiche Wanir durchschritten das Feld.

26. Da gingen die Mächtigen zu ihren Richterstühlen,
Alle heiligen Götter, um Rat zu halten:
Wer hat die Luft mit Frevel erfüllt
Oder Ods Maid der Riesenrasse gegeben?

27. Von Zorn bezwungen, zögerte Thor nicht;
Er bleibt nicht ruhig, wenn er solches hört;
Eide wurden gebrochen, Worte und Schwüre,
Mächtige Verträge wurden da gebrochen.

28. Sie weiß, wo Heimdals Horn verborgen ist,
Unter dem heiligen sonnendurchtränkten Baum;
Sie sieht einen Strom gemischt mit einem Eiszapfenstrom
geschöpft aus Allvaters Pfand. Weißt du [soviel] wie jetzt oder was [noch]?6

29. Sie saß einsam draußen, als der Alte kam;
Der furchtbare Áse schaute ihr in das Auge:
„Was fragst du mich? Warum forderst du mich heraus?
Ich weiß alles, Odin. Ich weiß, wo du dein Auge verbargst.

30. „In des schrecklichen Mimirs Quelle.
Mimir trinkt Met jeden Morgen
Aus Allvaters Pfand.“
Weißt du [soviel] wie jetzt oder was [noch]?

31. Der Vater der Scharen gab ihr Ringe
Und Juwelen, um
Weisheit und Überlieferung von ihr zu erhalten.
Weit und breit überflog sie die Welten.

32. Sie sah Walküren, zu reiten bereit: Schuld trug Rüstung.
So also kehrten Krieg, Kampf und Speerwunde ein.
So wurden der Helden Maiden genannt,
Walküren stiegen auf, um über die Erde zu reiten.

33. Ich sah das für Balder bestimmte Schicksal,
Den sanften Gott, Odins Kind.
Hoch über dem Feld, da wuchs
Dünn und zierlich der Zweig der Mistel.

34. Der Zweig, den ich sah, sollte werden
Ein drohender Leidenspfahl, abgeschossen von Hödir.
Balders Bruder, geboren vor seiner Zeit,
Doch im Alter von einer Nacht ging Odins Sohn zum Kampf.

35. Er wusch nicht seine Hände, noch kämmte er sein Haar
Ehe er Balders Feind auf den Scheiterhaufen trug.
Frigga beweinte in ihrem wäßrigen Palast
Walhallas Weh.
Weißt du [soviel] wie jetzt oder was [noch]?

36. Sie sah den einen gebunden unter dem Hof,
Wo der Kessel aufbewahrt wird.
Der Schuft ähnelt Loki.
Die unglückliche Sigyn bleibt bei ihrem Gatten.
Weißt du [soviel] wie jetzt oder was [noch]?

37. Ein Strom von Dolchen und Schwertern
wälzt sich von Osten
Durch Täler von Bosheit.
Ihr Name ist Scabbard.

38. Auf nördlichen Feldern stand ein goldener Saal
für Sindris Geschlecht.
Ein anderer stand auf dem auftauenden Ozean,
Des Riesen Brimirs Biersaal.

39. Einen Saal sieht sie weit von der Sonne entfernt
An den Küsten des Todes, mit seiner Tür nordwärts gekehrt.
Gifttropfen fallen herein durch das Gewebe,
Denn dieser Saal ist aus Schlangen gewoben.

40. In den Strömen waten sah sie
Eidbrüchige, Mörder, Ehebrecher.
Da sog Nidhögg Leichen,
Wölfe zerreißen Menschen.
Weißt du [soviel] wie jetzt oder was [noch]?

41. Östlich im Eisenwald saß die Alte,
Fenrirs Nachkommen pflegend.
Von ihnen allen wird ein gewisses Etwas kommen,
Das in Trolls Gestalt den Mond einnehmen wird.

42. Es nährt sich vom Leben jener, die sterben,
Und blutrot färbt es den Wohnsitz der Kräfte.
Schwarz wird die Sonne, die Sommer darauf,
Alle Winde abscheulich.
Weißt du [soviel] wie jetzt oder was [noch]?

43. Dort im Felde, die Harfe spielend,
Sitzt der heitre Egter, die Schwertmädchen hütend;
Dort krähte für ihn in der Menschen Welt
Fjalar, der feuerrote Frühlingshahn.

44. Für die Aesir krähte der Goldkammgeschmückte,
Der die Krieger in Heervaters Halle weckt;
Doch ein anderer kräht unter der Erde:
Ein braunroter Hahn in den Hallen der Hel.

45. Garm heult vor der Gnipa-Höhle der Hel.
Was fest ist, wird gelöst, und Freki rennt frei.
Sie weiß viel; ich sehe mehr:
Zu Ragnarök, der Sieg-Götter schweren Todeskampf.

46. Brüder kämpfen und erschlagen einander.
Blutsbande der Geschwister Söhne werden gebrochen.
Arg ist die Welt. Unzucht ist weit verbreitet,
Verführung der Gatten anderer zur Treulosigkeit.

47. Beilzeit, Schwertzeit, Schilde bersten;
Windzeit, Wolfzeit, ehe die Welt vergeht.
Lärm auf den Feldern, Trolle in voller Flucht;
Nicht einer will den andren schonen.

48. Mimirs Söhne erheben sich. Der sterbende Weltenbaum
schwankt hin und her
Beim Klang der schrillen Schicksalstrompete.
Laut bläst Heimdal das erhobene Horn.
Odin berät sich mit Mimirs Haupt.

49. Mit einem Rauschen in dem alten Baum
Wird der Riese frei.
Die Esche, Yggdrasil,
Erzittert, wo sie steht.

50. Garm heult vor der Gnipa-Höhle der Hel.
Was fest ist, wird gelöst, und Freki rennt frei.

51. Rymir steuert westwärts; der Baum ist umgestürzt;
In titanischem Zorn
Iörmungandr windet sich
Peitscht die Wellen zu Schaum.

52. Der Aar schreit laut;
Bleknäbb zerreißt die Leichen.
Nagelfar wird losgemacht.

53. Es fährt ein Kiel von Osten, über die See,
Es kommen Muspells Leute mit Loki am Steuer.
Monster fahren mit Freki.
Solcherart ist der Zug von Byleists Bruder.

54. Was ist mit den Aesir? Was ist mit den Elfen?
Die Riesenwelt tobt; die Aesir halten Rat.
Die Zwerge stöhnen vor steinernen Türen,
Die Herren der Berge.
Weißt du [soviel] wie jetzt oder was [noch]?

55. Feuer zieht von Süden mit lodernden Flammen.
Von der kampfbereiten Götter Schwert
ist aufgespießt die Sonne.
Berge brechen auf. Hexen eilen daraus.
Menschen gehen der Hel Weg; die Himmel bersten.

56. Dann erhebt sich Hlins zweiter Lebenskummer,
Da Odin eilt zum Kampf mit dem Wolf,
Belis Nagel blitzt hervor gegen das Feuer:
Da muß Friggas Held fallen.

57. Siegvaters Sohn, Widar der Mächtige,
Kommt herbei zum Kampf mit der Todesbestie.
Er stößt sein Schwert vom Rachen zum Herzen
Des Sohnes der Erfüllung. Der Vater ist gerächt.

58. Da nähert sich der glänzende Nachfahr der Erde:
Odins Sohn stößt auf den Wolf.
In rasendem Zorn erschlägt er Midgárds Kummer.
Dann kehren alle Menschen nach Hause.

59. Neun Schritte nur vom Ungeheuer weg
Wankt der Sohn der Erde.
Die Sonne wird allmählich schwach; die Erde sinkt in die Wasser;
Die funkelnden Sterne fallen vom Firmament.
Feuer umschlingen den Lebens-Träger;7
Hitze schlägt zu den Himmeln hoch.

60. Garm heult vor der Gnipa-Höhle der Hel.
Was fest war, löst sich, und Freki rennt frei umher.

. . .

61. Sie sieht auftauchen eine andere Erde aus dem Meer,
Wieder einmal grünen.
Fluten fallen, der Adler schwingt sich hoch
Aus den Bergen, nach Fischen suchend.

62. Die Aesir treffen sich auf dem Idafelde,
Um über den mächtigen Erd-Mulcher8 zu urteilen;
Um sich da ihrer früheren Heldentaten zu erinnern
Und der Runen von Fimbultyr.

63. Da werden im Grase gefunden
Die wunderbaren goldnen Tafeln;
Die in alten Zeiten
Den Rassen gehörten.

64. Ernten werden wachsen auf unbesäten Äckern,
Alle Übel werden beseitigt, und Balder kehrt wieder.
Mit ihm wird Hödir auf Ropts heiliger Erde bauen
Als sanfte Götter der Auserwählten.
Weißt du [soviel] wie jetzt oder was [noch]?

65. Dann kann Hönir frei sein Schicksal ausfindig machen,
Die Wünschelrute bewegen, die Zeichen lesen;
Und die zwei Brüder werden ihre Wohnstatt erbauen
Im weiten Windheim.
Weißt du [soviel] wie jetzt oder was [noch]?

66. Sie sieht eine Halle heller als die Sonne,
Vergoldet, leuchtend auf Gimle.
Dort werden die tugendhaften Scharen leben
Und sich heiterer Gemütsruhe zeitalterlang erfreuen.

67. Nun kommt der Drache der Finsternis geflogen
Tief drunten,
Aus den Bergen der Nacht.
Er schwingt sich über die Felder in gefiederter Gestalt.

Fußnoten

1. Plural von saga, eine mündliche Überlieferung, gleich dem Sanskrit smṛti und śruti, Lehren, an die man sich „erinnert“, bzw. die man „gehört“ hat. [back]

2. Zahlen allein beziehen sich auf die Verse in dem Lied, das in der Kapitelübersicht genannt wird. [back]

3. Arten, Generationen verwandter Wesen [back]

4. Namen in Kursivschrift sind nicht übersetzt; einige von ihnen können „unsinnige Silben“ sein, andere können sich auf eine unbekannte oder vielleicht ausgestorbene Fauna oder Flora beziehen. [back]

5. „Gier nach Gold.“ [back]

6. Diese rätselhafte, wiederkehrende Redewendung ist wörtlich übersetzt. [back]

7. Yggdrasil, der Lebensbaum [back]

8. Yggdrasil [back]