Alles kommt aus der Wurzel, weißt du?

Das Meer war traurig, als Peter weitergehen wollte, und brachte eine wunderschöne Muschel herauf, die er mitnehmen sollte. Es war eine Kaurimuschel, die Peter ans Ohr halten konnte; so konnte er das weit entfernte Meer ­rauschen hören, als wenn es in der Muschel wäre. Er wanderte eine lange Zeit und begegnete vielen seltsamen Dingen; aber oft blieb er stehen, nahm die Muschel aus der Tasche und lauschte dem Rauschen des Meeres tief drinnen.

Eines Tages lief er durch den Wald. Da gab es viele Bäume voller Blätter, leuchtend und mattgrün, hell- und dunkelgrün, und überall standen wundervoll duftende Blumen.

Peter schnupperte die Luft und lauschte, wie die Bäume über ihn flüsterten.

„Das ist Peter“, hörte er einen Baum zu einem anderen ­sagen. „Er hat das GROSSE JAHR bekommen. Meinst du, wir können mit ihm sprechen, oder sollen wir warten, bis er uns etwas fragt?“ Weil Bäume sehr gut erzogen sind, stören sie nie die Gedanken der Menschen, wenn man still sein will. Peter hatte jedoch das leise Murmeln gehört. Er wandte sich dem Walnussbaum zu und lächelte.

„Ich wollte euch nicht belauschen“, sagte er, „aber ich habe gehört, was du gesagt hast. Möchtest du gerne mit mir ­sprechen?“

„Ja, gerne“, sagte der Walnussbaum. „Gibt es irgendetwas, was du wissen möchtest?“

„Ich überlege“, sagte Peter, „woher ihr eure hübschen ­Kleider bekommt? Als ich vor einiger Zeit hier vorbeikam, habt ihr ganz traurig und kahl ausgesehen.“

„Wir lassen sie selbst wachsen“, rauschte die Birke, sie schwankte anmutig in dem leichten Wind. „Es freut mich, dass du sie magst!“

„Ich finde sie wunderschön“, sagte Peter. „Wie macht ihr das?“

„Oh, weißt du, es kommt alles aus der Wurzel“, fügte der Ahorn hinzu. „Das Leben beginnt unter der Erde und wächst von innen, bis wir groß werden und uns immer mehr Blätter und hübsche Sachen wachsen.“

„Ich wollte, ich könnte das auch“, sagte Peter traurig. ­„Ver­glichen mit euren sehen meine Kleider fast schäbig aus.“

„Oh, du machst dir deine eigenen“, brummte eine große ­Eiche. „Murre nicht, junger Mann, dir wachsen noch viel ­schönere Kleider als uns.“

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„Wie meinst du DAS?“, rief Peter und schaute auf seine ­ausgeblichenen Jeans herunter.

„Ich meine nicht deine äußeren Kleider, ich meine deinen Körper“, sagte die Eiche.

„Was ist damit?“ Peter war wirklich ganz verdutzt.

„Oh, oh, oh! Ich wusste, du würdest ohne meine Hilfe nicht weit kommen“, kam die Stimme Onkel Pfefferkorns von Peters Schulter. „Was verwirrt dich denn jetzt wieder?“

„Die Eiche sagt, ich lasse mir meinen eigenen Körper ­wachsen. Wie kann ich das?“

„Nun, schau dich an“, sagte Onkel Pfefferkorn, „dein Körper ist anders als alle anderen, oder?“

„Oh ja, bestimmt“, sagte Peter.

„Nun, es ist ein Peter-Körper, nicht wahr? Die Eiche hat ­einen Eichen-Körper, ich habe mehr oder weniger einen Onkel-­Pfefferkorn-Körper – eher weniger, denn meiner ist etwas ­Besonderes.“

„Das sehe ich“, sagte Peter. „Du verschwindest fortwährend, also ist es kein sehr fester Körper, aber wie lasse ich meinen wachsen?“

„Von innen her natürlich. Du bist du, also lässt du dir einen Körper heranwachsen, der zu dir passt; du würdest nicht in einen anderen passen!“

Peter dachte lange nach, dann sagte er: „Natürlich, das ­erklärt, warum alle unterschiedlich aussehen, weil sie verschieden SIND.“

„Hm!“, sagte Onkel Pfefferkorn, „es wird Zeit, dass du noch ein paar andere Blumen kennenlernst. Hast du der Rose schon die Grüße ausgerichtet?“

„Ich habe keine Rose gesehen“, sagte Peter.

„Gut, komm mit.“ Onkel Pfefferkorn sprang auf den Boden und ging los. Mit seinen kleinen Beinen ging er so schnell, dass Peter Mühe hatte, mitzuhalten. Bald kamen sie zu einem ­wunderschönen Garten. Da gab es weiße Rosen und rote ­Rosen, Iris, Lilien, Lupinen, purpurrote Stiefmütterchen und ­goldene Schlüsselblumen. Hier und da war ein Löwenzahn, dem es ­gelungen war, den Blicken des Gärtners lange genug zu ent­gehen, um zu blühen.

Onkel Pfefferkorn blieb bei einem Busch mit blassrosa ­Rosen stehen. Eine große, goldene Biene schwirrte suchend an Peter vorbei und kroch in eine halb offene Rose.

„Was macht sie da?“, fragte Peter.

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„Sie holt Nektar aus der Rose“, sagte Onkel Pfefferkorn.

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„Das ist nicht alles, was sie tut“, lächelte die Rose. „An ihrem wollenen Rock nimmt sie Blütenstaub mit und trägt ihn zu den anderen ­Rosen.“

„Wozu?“

„Weil der Blütenstaub auf andere ­Rosen kommen muss, damit die Samen wachsen können. Alle Bienen helfen uns, und wir helfen ihnen. Wusstest du nicht, dass alles in der Natur zusammen arbeitet?“

Peter dachte nach. „Ich glaube, ich verstehe“, murmelte er. „Der Bach hilft dem Meer, das Meer wäscht das Land, das Land nährt die Bäume, die Blumen nähren die Insekten, die Insekten tragen den Blütenstaub. Donnerwetter, es ist wunderbar, nicht?“

Dann kam ihm ein neuer Gedanke. „Was tue eigentlich ich?“, fragte er. „Ich scheine unter ihnen allen der Einzige zu sein, der nutzlos ist. Vielleicht könnte ich Blütenstaub tragen oder sonst etwas. Doch ich fürchte, dazu bin ich zu ungeschickt“, fügte er betrübt hinzu.

„Sei nicht traurig, Peter.“ Onkel Pfefferkorns Stimme war ­ungewöhnlich freundlich. „Du hast deine eigene Arbeit zu tun. Du kannst nicht die von jemand anderem tun, deshalb musst du herausfinden, was deine eigene Aufgabe ist. Aber mit der Zeit wird es dir gelingen.“

Er sprang auf Peters Schulter und schmiegte sich in seinen Kragen.

„Geh ein bisschen weiter“, flüsterte er, „ich möchte nicht, dass die Rose mich hört.“

„Einen Moment“, sagte Peter, als ihm sein Versprechen einfiel, das er dem Veilchen gegeben hatte. „Das Veilchen schickt dir die besten Grüße, Rose, auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen“, flüsterte die Rose und öffnete ein neues Blütenblatt.

Als Peter sich vom Rosenstrauch entfernte, sagte Onkel ­Pfefferkorn: „Ich möchte sie nicht kränken, weil sie nicht die wunderbaren Dinge tun kann, die du einmal tun wirst.“

„Ich? Ich bin doch zu gar nichts zu gebrauchen“, sagte Peter unglücklich.

„Du bist noch viel nützlicher als all die anderen.“ Onkel ­Pfefferkorn war wieder ernst. „Erinnerst du dich, dass ich ­sagte, du kannst denken?“

„Hmmm – ja.“

„Nun, ALL dies hier ist ein großer, riesiger Gedanke“, ­sagte Onkel Pfefferkorn und wies mit seinem ausgestreckten Arm über den Garten und die umliegenden Felder. „Es ist ein ­schöner Gedanke eines großen, wunderbaren Denkers.“

„Oh, toll, glaubst du, ich kann denken …?“

„Einen Moment mal“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Du fängst gerade erst an, aber du kannst schöne und nützliche Gedanken denken. Und wenn du im Gedächtnis behältst, nicht an dich selbst zu denken, wirst auch du eines Tages ein Denker von Welten sein, wie diese hier eine ist.“

Plötzlich war Onkel Pfefferkorn weg und Peter wieder ­allein. Aber es machte ihm nichts aus. Er musste über so vieles nachdenken.

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7 – Rig, Loki und das Denkvermögen

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Eines der am meisten inspirierenden Ereignisse, auf das in jeder Mythologie und Schrift, obgleich auf verschiedene Weise, hingewiesen wird, ist das, was die Edda das Kommen des Rig nennt. Rig ist ein Strahl oder eine Personifikation von Heimdal, der Sonnenessenz, die herabstieg, um sich mit der noch unfertigen Menschheit zu vereinigen und dabei das Denkvermögen der noch nicht denkfähigen, halbbewußten Urmenschen zu aktivieren, die zu gegebener Zeit so werden sollten, wie wir jetzt sind.

Im Riglied entstand aus dem ersten Versuch, eine Menschheit zu schaffen, eine Rasse von „Knechten“, ein brutaler, primitiver Menschentyp. Diese wurden den „Urgroßeltern“ in einer armseligen Hütte geboren, deren verschlossene Tür das Eintreten des Gottes verhinderte. Eine zweite Anstrengung versprach mehr: hier war die Tür des Häuschens nur angelehnt, und der Gott hinterließ den „Großeltern“, die dort wohnten, seine Nachkommen, die zu achtbaren, sich selbst respektierenden Menschen wurden, und aus denen eine gleichartige Rasse entstand. Bei dem dritten Versuch hießen die „Eltern“, die in einem stattlichen Haus wohnten, den Gott mit weit geöffneter Tür willkommen. Dieses Mal brachte der göttliche Samen eine edle Rasse hervor, deren Abkömmlinge selbst königlich wurden.

Es ist eine bemerkenswerte Geschichte, und die Symbolik ist außerordentlich transparent. Jede Rasse der halbgöttlichen Menschen bezieht sich, wenn wir den theosophischen Schlüssel anwenden, auf unermeßliche Zeitperioden. Diese „Rassen“ haben natürlich ganz andere Nachkommen als das, was wir heute Rassen nennen; ethnische Gruppen, die die Erde gemeinsam bewohnen. Diese variieren, wie wir wissen, nur wenig, hauptsächlich in der Farbe. Alle sind eine Menschheit. Im Gegensatz dazu legen die „Zwergen“-Reiche unter sich auffällige Unterschiede an den Tag: zum Beispiel Gold und Granit, wobei die beiden Substanzen nur wenig Ähnlichkeit miteinander haben; Zedern und Löwenzahn gehören beide der Pflanzenwelt an, während Nachtfalter und Mammuts dem Tierreich zugehören. Allein die Menschen sind einheitlich mit nahezu identischen Formen und Sinnen ausgestattet. Unsere Unterschiede sind mehr in den Bereichen der Ideen und des Fühlens, der Talente und Meinungen ausgeprägt.

Die Zeit, die seit dem ersten von den Göttern gemachten Versuch verstrich, um unsere Intelligenz zu erwecken bis der ganze menschliche Strom erreicht worden war, wird nicht angegeben, aber wir können vermuten, daß Millionen Jahre dafür eingerechnet werden müssen. Die Mythen verkürzen zwangsläufig ihre Information auf den kleinstmöglichen Umfang. Die biblische Genesis zum Beispiel, erzählt die Sage von der Erweckung des Denkvermögens des Menschen, indem sie sagt, daß „die Söhne Gottes sahen, daß die Töchter der Menschen schön waren; und sie nahmen sich zu Weibern, welche sie nur wollten. Zu jenen Zeiten – und auch nachmals noch –, als die Söhne Gottes zu den Töchtern der Menschen sich gesellten und diese ihnen Kinder gebaren, waren die Riesen auf Erden. Diese wurden mächtige Menschen, die jeher Menschen von Ansehen waren“ (Gen. 6: 2,4). Es gibt auch eine andere Version des Ereignisses, als die Schlange von Eden Eva dazu drängt, die Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu sich zu nehmen. Auch er ist ein Erwecker: Luzifer, der glänzende und schönste Engel, der Lichtbringer, der sich den elohim (Göttern) widersetzt. In den griechischen Mythen ist es Prometheus und im Altnordischen Loki. Beide sind Titanen, Riesen, die durch die Evolution zur Gottheit heranwuchsen. Als sie die menschliche Stufe überschritten hatten, brachten sie der Menschheit das göttliche Feuer aus dem Bereich der Götter. Der Name Loki bezieht sich auf liechan oder liuhan (erleuchten), auf das Lateinische luc-, lux, auf das Altenglische lēoht (Licht) und auf das Griechische leukos (weiß). Der glänzende Stern Sirius wird Lokabrenna (das Brennen des Loki) genannt.

Das Erwecken der Fähigkeit, vernünftig zu denken, der Selbsterkenntnis und des Urteilsvermögens, war das entscheidendste Ereignis in der Evolution der Menschheit. Es brachte unseren menschlichen Lebensstrom an den Punkt, wo bewußt eine Wahl getroffen werden konnte, wo vernünftiges Denken den Instinkt ablöste, und wo die Erkenntnis von Gut und Böse ein entscheidender Faktor in der weiteren Entwicklung der Arten sein wird. Die nicht denkenden Naturreiche werden durch das innere Überwachen des Instinkts geführt, das nur eine begrenzte Freiheit erlaubt. Aber wenn einmal das Denkvermögen aktiv wird und sich selbst als ein getrenntes Wesen bewußt wird, kommt hier eine entsprechende Verantwortlichkeit ins Spiel, und der Handelnde ist für alles, was er tut, denkt und fühlt, sowie für seine Reaktionen auf die Anreize des umgebenden Universums verantwortlich. Jeder Augenblick bringt eine Wahl, und jede Entscheidung erzeugt einen endlosen Strom von Konsequenzen, und jede geht auf ihren Vorläufer zurück. Loki war der Unfriedenstifter, der Anstifter von Ungerechtigkeiten in vielen Erzählungen geworden, denn er stellt zu häufig das niedere, reflektierende Gehirn ohne Beseelung – Inspiration – dar. Er ist jedoch der ständige Begleiter der Götter und dient als Vermittler für ihren Umgang mit den Riesen. Vielleicht wurde seine boshafte Natur etwas überbetont, denn seine Ungezogenheit sagt dem Wikingertemperament zu. Es ist gut, wenn wir uns auch klarmachen, daß er, während er häufig für Unruhe in Ásgárd sorgt, auch das Werkzeug für die Lösung von Problemen ist, die aus seinen eigenen Handlungen erwachsen.

Das Denkvermögen des Menschen verhält sich so: Es bringt uns kein Ende der Schwierigkeiten, wenn es sich selbstsüchtig bedient, wenn wir aber der Führung von Bragi, dem weisen Barden, der die poetische Inspiration darstellt, vertrauen, löst es sie schließlich.