Band 10: Yoga und die Yoga-Lehre
Charles J. Ryan
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YOGA bedeutet wörtlich ‘Vereinigung’, ‘Verbindung’ und so weiter. In Indien ist es der technische Ausdruck für eine der sechs Darsanas oder philosophischen Schulen. Ihre Gründung wird dem Weisen Patañjali zugeschrieben. Der Name ‘Yoga’ selbst erklärt das Ziel dieser Schule, nämlich Vereinigung oder Einswerden mit der göttlich-spirituellen Essenz im Menschen.
– G. von Purucker, Okkultes Wörterbuch
Echter Yoga leitet und erhebt das Bewusstsein. Er bewirkt dadurch die Verbindung des menschlichen mit dem spirituellen Bewusstsein, das in Beziehung zum universalen Bewusstsein steht. Das Zustandekommen dieser Verschmelzung oder das Einssein mit der eigenen göttlich-spirituellen Essenz bewirkt Erleuchtung.
– G. von Purucker, Quelle des Okkultismus, I:50
In den letzten Jahrzehnten ist Yoga in unserer westlichen Gesellschaft ein recht vertrautes Wort geworden. Es ist ein dankbares Gesprächsthema und fast jeder kennt in seiner näheren Umgebung jemanden, der Yoga ‘betreibt’. In vielen Fällen wissen wir nicht viel mehr darüber, als dass es eine aus dem Osten importierte Übungsform ist, die durch bestimmte Körperhaltungen und Atemübungen einen positiven Einfluss auf die menschliche Konstitution ausüben kann. Abgesehen vom Einfluss auf die körperliche und psychische Verfassung des Menschen, kann man sich fragen, inwiefern die im Westen üblichen Yoga-Methoden für diejenigen von Nutzen sein können, die sich nach einem besseren Verständnis des Wesens des Menschen und seiner Bestimmung sehnen und die nach geistiger Weisheit suchen. Diese Frage wird Theosophen öfters gestellt, denn es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass die Theosophische Bewegung von östlichen Lehrern gegründet wurde. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem Menschen Einsicht in sein Leben zu verschaffen und ihm den Weg zur spirituellen Weisheit zu zeigen.
Wenn wir unter ‘Yoga’ die korrekte Bedeutung von ‘Vereinigung’ oder ‘Verbindung’ mit dem Höheren Selbst verstehen, können wir das Prinzip spiritueller Entwicklung oder Übung so bezeichnen. Dieses wird von der Theosophie befürwortet und ist für alle Menschen gleichermaßen gedacht, welcher Rasse oder welchem Glauben auch immer sie angehören mögen.
Theosophische Perspektiven
Band 10: Yoga und die Yoga-Lehre
Frei überarbeitet nach Charles J. Ryan
© 1998 Theosophischer Verlag der Stiftung der Theosophischen Gesellschaft Pasadena, Eberdingen
Vorwort
Dieses Buch stellt eine freie Überarbeitung des ursprünglichen Titels Yoga and Yoga Discipline von Charles J. Ryan dar und gibt einen allgemeinen Überblick über Yoga, so wie er in vielerlei Formen und in verschiedenen Ländern des Ostens seit Jahrhunderten praktiziert wird. Der Text macht deutlich, dass im Westen im Allgemeinen die niedrigeren Yoga-Formen bekannt sind. Er warnt vor den Gefahren jener Arten von Yoga, welche die Förderung psychischer Kräfte zum Ziel haben. Das Buch unterstützt die höheren Formen von Yoga, welche die spirituelle Entwicklung des Menschen zum Ziel haben.
Ein Kapitel beschäftigt sich insbesondere mit der sogenannten Yoga-Therapie. Es ist die Zusammenfassung eines Gespräches aus dem Jahre 1960, bei dem James A. Long den Vorsitz führte, um Antwort auf die Fragen einiger Suchender zu geben. Da das Thema jedoch stark an Popularität gewonnen hat, befassen sich auch heute wieder viele Menschen damit. Das Kapitel Yoga-Therapie legt die theosophischen Vorstellungen für die Bereiche der Yoga-Therapie dar, die unseres Erachtens eine ernsthafte Erörterung verdienen. Somit hat es besonders für jene Bedeutung, die sich in irgendeiner Weise in der Praxis mit Yoga beschäftigen.
Okkultismus ist nicht Magie,
obschon die Magie eines seiner Werkzeuge ist.
Okkultismus ist nicht das Erwerben
psychischer oder spiritueller Fähigkeiten,
obschon beide seine Diener sind.
Okkultismus bedeutet auch nicht,
dem Glück nachzujagen, so wie man dieses Wort
versteht, denn der erste Schritt ist Aufopferung,
der zweite Entsagung.
Okkultismus ist die Wissenschaft des Lebens,
der Lebenskunst.
– H. P. BLAVATSKY, Lucifer I, S. 7 (engl.)
Yoga und Theosophie
YOGA bedeutet wörtlich ‘Vereinigung’, ‘Verbindung’ und so weiter. In Indien ist es der technische Ausdruck für eine der sechs Darśanas oder philosophischen Schulen. Ihre Gründung wird dem Weisen Patañjali zugeschrieben. Der Name ‘Yoga’ selbst erklärt das Ziel dieser Schule, nämlich Vereinigung oder Einswerden mit der göttlich-spirituellen Essenz im Menschen.
– G. DE PURUCKER, Okkultes Wörterbuch
Echter Yoga leitet und erhebt das Bewusstsein. Er bewirkt dadurch die Verbindung des menschlichen mit dem spirituellen Bewusstsein, das in Beziehung zum universalen Bewusstsein steht. Das Zustandekommen dieser Verschmelzung oder das Einssein mit der eigenen göttlich-spirituellen Essenz bewirkt Erleuchtung.
– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, I:50
In den letzten Jahrzehnten ist Yoga in unserer westlichen Gesellschaft ein recht vertrautes Wort geworden. Es ist ein dankbares Gesprächsthema und fast jeder kennt in seiner näheren Umgebung jemanden, der Yoga ‘betreibt’. In vielen Fällen wissen wir nicht viel mehr darüber, als dass es eine aus dem Osten importierte Übungsform ist, die durch bestimmte Körperhaltungen und Atemübungen einen positiven Einfluss auf die menschliche Konstitution ausüben kann. Abgesehen vom Einfluss auf die körperliche und psychische Verfassung des Menschen, kann man sich fragen, inwiefern die im Westen üblichen Yoga-Methoden für diejenigen von Nutzen sein können, die sich nach einem besseren Verständnis des Wesens des Menschen und seiner Bestimmung sehnen und die nach geistiger Weisheit suchen. Diese Frage wird Theosophen öfters gestellt, denn es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass die Theosophische Bewegung von östlichen Lehrern gegründet wurde. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem Menschen Einsicht in sein Leben zu verschaffen und ihm den Weg zur spirituellen Weisheit zu zeigen.
Wenn wir unter ‘Yoga’ die korrekte Bedeutung von ‘Vereinigung’ oder ‘Verbindung’ mit dem Höheren Selbst verstehen, können wir das Prinzip spiritueller Entwicklung oder Übung so bezeichnen. Dieses wird von der Theosophie befürwortet und ist für alle Menschen gleichermaßen gedacht, welcher Rasse oder welchem Glauben auch immer sie angehören mögen.
Wir müssen aber auch hinzufügen, dass dies kaum mit den niedrigeren psycho-physiologischen Yoga-Methoden übereinstimmt, die im Westen so sehr im Mittelpunkt des Interesses stehen. Die niedrigere Form von Yoga besteht prinzipiell hauptsächlich aus psycho-physischen Übungen, die im Osten entwickelt wurden. Aber der wahre Yoga, wie er von allen großen spirituellen Weisen und Sehern gelehrt wird, und den die Theosophie hervorhebt, ist eine wohl-geordnete spirituelle Ausbildung. Ihn auszuüben führt zur Entdeckung des Inneren Gottes. Das Wissen um diese Art von Yoga ist im materialistischen Westen nahezu verloren gegangen. Andeutungsweise fand es sich lediglich bei einzelnen erleuchteten christlichen Mystikern, und die äußeren Umstände verhinderten, dass es so öffentlich und ‘wissenschaftlich’ gelehrt werden konnte, wie es die Lehrer im Osten taten. Aber auch in den westlichen Ländern wurden Methoden entwickelt, die den intellektuellen und emotionalen Bedürfnissen entgegenkamen. Der Zustand der Glückseligkeit sollte durch Liebe, Zuwendung und gute Taten erreicht werden. Die Selbstdisziplin und die körperlichen Geißelungen der Mönche hingegen glichen den Methoden mancher sogenannter Hindu-Yogis, die versuchen, den Willen zu stärken und vielleicht ein paar übersinnliche Kräfte niedrigerer Ordnung zu erlangen, indem sie ihren Körper mit Feuer und Messern usw. in mancherlei Weise quälen. Ihre anstößigen Praktiken werden manchmal – ganz zu Unrecht – mit dem verwechselt, was man ‘Hatha-Yoga’ nennt.
Vor etwa hundert Jahren betrachtete man selbst den echten östlichen Yoga hier im Westen als ein Produkt der Fantasie, auf Aberglauben beruhend, als etwas, mit dem man sich nur lächerlich machen konnte. 1893 predigte ein aufrichtiger hinduistischer Sannyāsin1 in überzeugenden Worten eine hohe Form des Yoga im Westen; aber es war unvermeidlich, dass er von den meisten seiner Zuhörer falsch verstanden wurde. Die meisten waren oberflächlich oder lediglich neugierig und wurden hauptsächlich vom östlichen Glanz angezogen, welcher für sie die neueste Mode war, der aber gleichzeitig Einsichten in geheimnisvolle Enthüllungen bieten konnte. Als die Menschen entdeckten, dass der wahre Yoga nichts mit dem Praktizieren von ‘magischen Künsten’ zu tun hat, sondern dass er ein anstrengendes Bemühen um Selbstkontrolle und Selbstläuterung ist, blieb sein Publikum aus.
Wenn die gröberen Formen der Begierde überwunden sind, kommen andere, heimtückischere Formen der Selbstsucht zum Vorschein, auch wenn sie hinter wohlklingenden Namen verborgen sind. Dazu gehört beispielsweise das eigennützige Verlangen nach okkulten Fähigkeiten. Unsere Beweggründe sind nicht immer so rein, wie wir es uns selbst vormachen; und die selbstsüchtige Persönlichkeit ist besonders darauf aus, ihren Willen schlau durchzusetzen, indem sie den niedrigeren Verstand gebraucht. Der Yoga, den die Welt braucht, gründet auf der Liebe zur Wahrheit, Güte und Weisheit, ohne Nebenabsichten: Er macht das selbstlose Arbeiten für andere zu einer Gewohnheit und einer Freude. Dem Anfänger des theosophischen Yoga wird gesagt, dass „der erste Schritt darin besteht zu leben, um der Menschheit zum Segen zu sein“ und ihm wird die Frage gestellt: „Kann Seligkeit bestehen, wenn alles, was da lebt, leiden muss? Sollst du errettet sein und den Schmerzensschrei der ganzen Welt hören?“ (Die Stimme der Stille, S. 94).
Wir müssen verstehen, dass die theosophische Sichtweise der spirituellen Selbstkontrolle – des Yoga – oder welchen Namen man ihr auch immer geben mag, auf diesem Prinzip beruht, und dass sie der einzige Weg ist, der uns aus dem Gefängnis des Niederen Selbstes in das Licht des ewigen Tages führt. Es ist erschütternd zu beobachten, wie intelligente Menschen, die von den konventionellen Antworten auf tiefere Lebensfragen und Fragen über den Menschen selbst enttäuscht werden, aufgrund ihrer Unwissenheit in verschiedenen Richtungen nach Antworten suchen und dabei auf irreführende, fruchtlose und mitunter sogar gefährliche Abwege geraten, während der wahre Weg offen vor ihnen liegt, die Wegweiser da sind und die Führer bereitstehen, um die richtige Richtung anzudeuten.
Die niedrigeren Yoga-Praktiken, welchen der Westen in letzter Zeit viel Interesse entgegenbringt, haben durch unfachmännische Experimente im Bereich der Atemkontrolle oder Prāṇāyāma (wörtlich „Beherrschung des Atems“), mit besonderen Körperhaltungen und anderen psycho-physiologischen Methoden vielen Menschen ernsthaften Schaden zugefügt. Nicht nur der Körper kann dabei geschädigt werden. Vielmehr kann es auch passieren, dass uns unbekannte, elementale Kräfte erweckt werden, die dem Menschen gefährlich werden können und die eine Bedrohung für den Verstand, die moralische Integrität und sogar für das Leben selbst darstellen.
Wer der Versuchung erliegt, das Tor zu psychischen Erfahrungen zu öffnen, tut gut daran, das Sprichwort von den schlafenden Hunden, die man nicht wecken sollte, im Sinn zu behalten. Ebenso wie Bulwer-Lytton in Zanoni, zeigt H. P. Blavatsky in ihrem Buch A Bewitched Life [Ein verhextes Leben] in Erzählungen das Leiden und das Elend auf, das durch das Betreten von ‘verbotener Erde’ verursacht wird. Die Menschen in den Erzählungen hatten gute Absichten, klopften aber nicht in der richtigen Art und Weise an. Die beiden okkulten Schriftsteller hatten genaue und persönliche Kenntnisse über diese Thematik. Keine intellektuelle Schulung, auch nicht westliche wissenschaftliche Untersuchungsmethoden, können die Sicherheit eines solchen Unterfangens garantieren, und das gilt gleichermaßen sowohl für östliche als auch für westliche Menschen.
Bedauerlicherweise ist bereits vielen Menschen durch die Anwendung der Atemkontrolle erheblicher Schaden entstanden, bei der das empfindliche Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Prāṇas gestört wurde, von denen Leben und Gesundheit abhängig sind, oft von der leider zu späten und bitteren Einsicht gefolgt, dass man besser den gutgemeinten Warnungen Gehör geschenkt hätte. Solche Tragödien sind üblicherweise eine Folge der Unwissenheit über diese Gefahren. Einige Menschen mit einem übersteigerten Selbstvertrauen sind bereit, jedes Risiko einzugehen, um sich der verbotenen Kräfte zu bemächtigen. ‘Verboten’ sind diese Kräfte in dem Sinne, dass wir in dieser Evolutionsperiode – ausgenommen einige wenige weiter Fortgeschrittene unter uns – das Recht noch nicht erworben haben, sie zu besitzen und die Qualität noch nicht entwickelt haben, diese Kräfte beherrschen zu können. Diese Kräfte sind durch die weise Vorsehung der Natur nicht ohne weiteres zugänglich, und jene, die ungeschickt sind, werden zu Opfern und nicht zu Meistern. H. P. Blavatsky sagt über diese Menschen, dass sie leicht „der Zauberei und der schwarzen Magie verfallen und dadurch ein furchtbares Karma für sich selbst anhäufen können, das sich über viele Inkarnationen hin auswirken wird“. Es „bestehe sogar die Gefahr, dass die gegenwärtige Persönlichkeit vernichtet werde“.
Jenen, die die Alte Weisheit studierten, wurde von Versuchen abgeraten, aus dem materiellen Körper auszutreten und im Astralen zu reisen. Leider werden im Namen der Theosophie manchmal Methoden propagiert, die das Ziel haben, den etherischen Körper von seiner materiellen Hülle zu lösen und im Astralen umherzustreifen, mit seinen fremden und bestürzenden Täuschungen, mit seinen uns unbekannten Gefahren und uns teilweise feindlich gesinnten Bewohnern. Derartige Methoden widersprechen aber ganz und gar den Lehren H. P. Blavatskys und den gesunden Idealen vom Dienst an der Menschheit. Zahlreiche Fälle zeugen von den unheilvollen Folgen für Verstand und Körper von solchen Menschen, die es zwar gut meinten, aber dennoch zu wenig wussten und sich widernatürlich vom Schutz des physischen Körpers lösten.
Die Warnungen vor unverantwortlichen Versuchen, durch Atemkontrolle und andere Hatha-Yoga-Übungen gewisse Bewusstseinszustände zu erlangen, beziehen sich selbstverständlich nicht auf vollkommen gesunde Atem- und Körperübungen, die im Sporttraining üblich sind. Es ist bedauerlich, dass es noch immer irreführende Auffassungen über Yoga gibt und dass so viele arglistige Sirenen ihre verführerischen Melodien singen, um unvorsichtige Menschen anzulocken. Auch gibt es mancherlei Hellseher, echte oder weniger echte, die ihre Praktiken unter der Bezeichnung ‘Yogi’ ausüben; man sollte sie aber eher als Wahrsager bezeichnen. Anstelle eines seriösen und wertvollen Buches über die Philosophie des höheren Yoga aus dem Osten, werden dem Publikum Dutzende von Titeln angeboten, die eine ungesunde Neugierde nach Phänomenen schüren und die Schriftsteller kümmern sich nicht darum, ob die von ihnen empfohlenen Übungen gefährlich sind oder nicht. Vielleicht sind sie in manchen Fällen selbst unwissend, aber ihre Intention ist es, ein kommerzielles Produkt zu verkaufen. Andere, die es noch weniger genau nehmen, bieten für Geld Fernunterricht an und behaupten, dass auf diese Weise die psychischen Zentren und damit auch die pranischen Kräfte im Körper erweckt werden können. Es ist aber sehr gefährlich für die Gesundheit des Körpers und der Seele, wenn das natürliche Gleichgewicht gestört wird. Wieder andere versprechen Entspannung und ‘Einweihung’ gegen Bezahlung. Müssen wir uns da noch wundern, dass die echten Mysterienschulen vor Entweihungen solcher Art sicher abgeschirmt wurden (und werden) ?
Es gibt auch andere Formen des psychischen Yoga, die in keiner Weise von geistiger Natur sind, wenn sie auch nicht so allgemein zum Handelsobjekt gemacht werden. Sie gründen sozusagen auf einer Art wissenschaftlicher Technik, um teilweise hinter den Schleier der materiellen Natur vorzudringen. Aber diese Technik ist nicht geistiger oder ethischer als z. B. die Chemie und kann ebenso wie die Chemie für verwerfliche Zwecke verwendet werden. In den Händen von Menschen, deren Herz und Seele nicht vollkommen rein und selbstlos sind – und wie wenige sind das –, kann diese Technik genauso zerstörerisch wirken wie eine Mischung von Chemikalien in den Händen eines unwissenden und neugierigen Kindes. Alexandra David-Neel, eine buddhistische Gelehrte und maßgebliche Kapazität auf dem Gebiet des tibetischen Okkultismus, sowie Lama Yongden und andere kompetente Personen beschrieben viele Fälle, in denen Gefühle der Rache, des Ehrgeizes oder der Eitelkeit boshafte Menschen in Tibet dazu brachten, sich dieser Technik zu bemächtigen, ohne sich um die Folgen für andere und meist auch für sich selbst zu kümmern.
Aber abgesehen von jenen, die solche minderwertigen Ambitionen haben, gibt es viele intelligente Menschen, die nicht nur die ‘Eitelkeiten’ dieser Welt aufgeben, sondern gleichzeitig auch noch die gesunden Aktivitäten und Pflichten vernachlässigen, um durch niedrigere Yoga-Techniken persönlichen Fortschritt zu erlangen. Sie denken zu Unrecht, dass dies der einzige Weg zur Erkenntnis sei und konzentrieren sich auf ihre eigene Errettung und Seligkeit, ohne dabei das Wohlergehen der gesamten Menschheit vor Augen zu haben, die sich dann selbst darum kümmern muss, wie sie ihr Ziel erreichen kann. Dasselbe Prinzip der Erlösung für sich selbst ist in einer etwas anderen Form auch in den christlichen Ländern nicht unbekannt. Man muss allerdings hinzufügen, dass hier mittlerweile das Verantwortungsbewusstsein den ärmeren Ländern gegenüber zunimmt.
Eine Haltung des ganz und gar auf sich selbst gerichteten Seins ist das letzte, was ein wahrer Yogi gutheißen würde, denn hierdurch werden die Grundregeln der Bruderschaft verleugnet. Echter Yoga kann ohne Einsicht in die menschliche Natur nicht existieren, verbunden mit Mitleid und dem Verlangen zu helfen sowie dem wahrhaftigen Streben, den am wenigsten Fortgeschrittenen die schwere Last spiritueller und intellektueller Unwissenheit zu erleichtern, „selbst den Geringsten von ihnen“. Wahrer Yoga kennt keine ‘Unberührbaren’. H. P. Blavatsky schreibt in ihrem Buch Studies in Occultism:
…Wahrer Okkultismus oder Theosophie ist die ‘Große Entsagung des SELBST“, bedingungslos und absolut, in Gedanken wie in Taten’.
– S. 28 (engl.)
… Es ist nicht möglich, spirituelle Kräfte anzuwenden, solange auch nur der geringste Rest von Selbstsucht in dem Ausübenden vorhanden ist. Denn wenn das Motiv nicht absolut rein ist, wird das Spirituelle sich in das Psychische umwandeln, auf der Astralebene wirken und schreckliche Folgen können dadurch hervorgebracht werden. Die Mächte und Kräfte der tierischen Natur können gleichermaßen von selbst- oder rachsüchtigen wie auch von unselbstsüchtigen und alles verzeihenden Menschen benutzt werden; die Mächte und Kräfte des Geistes eignen sich nur für diejenigen, die ganz und gar reinen Herzens sind – und das ist GÖTTLICHE MAGIE.
– S. 3 (engl.)
Diese Erde ist unser Zuhause und wird es noch lange sein. Die Welt hat alle Hilfe nötig, die starke Seelen ihr geben können. In dem Maße, in dem wir auf diesem Weg vorwärts kommen, werden alle unsere Fähigkeiten – spirituelle, intellektuelle und sogar psychische – uns in einem natürlichen Prozess der Evolution unterstützen, weil sie durch die richtige Bestrebung hervorgerufen wurden. Die spirituelle Intuition in dieser entmutigten und materialistischen Welt für selbstloses Streben zu erwecken, ist der einzige Yoga, der der Mühe wert ist. Es ist der Yoga der Theosophie. Er stellt uns vor eine drängende Frage: „Werde ich mein Leben so gestalten, dass es nützlicher wird, dass ich mehr Bereitschaft zeige und imstande sein werde, der Menschheit so zu dienen, wie mein Gewissen es mir vorschreibt?“
Die Meister, welche die Theosophische Bewegung gründeten, sind mit dem psycho-physischen System des Yoga vollkommen vertraut, das bestimmte Körperübungen und Atemprozesse (das niedrigere Hatha-Yoga) zur Einführung oder als Grundlage für höhere Übungen zum Gegenstand hat. Aber aus der eigenen Erfahrung kennen sie die ernsthaften Schwierigkeiten und sie haben nie zugelassen, dass Yoga in der Theosophischen Bewegung praktiziert wurde, wie interessant es auch für die Wissenschaftler dieser Art von Psychologie sein mag. Von jeder Neigung, ‘Yoga zu praktizieren’, wird dringend abgeraten und zwar aus sehr guten Gründen. In diesem Zusammenhang ist es gut, wenn wir uns an die Erzählung von Buddha erinnern, der seine Suche nach der Wahrheit mit dem Ausüben des niedrigeren Yoga, der strengen Askese, begann. Schon bald merkte er, dass sie seinem Fortschritt im Wege stand, sogar in seinem besonderen Fall.
Für die ernsthaft nach Seelenweisheit Strebenden kommt die Zeit, dass ungewöhnliche psycho-spirituelle Kräfte und Fähigkeiten sich auf ganz natürliche Weise zu entwickeln beginnen. Und unter diesen günstigen Umständen wird es für sie nicht schwierig sein, einem wahren Lehrer zu begegnen, der ihre weitere Entwicklung führen kann. Eine okkulte Redensart lautet: „Wenn der Schüler bereit ist, erscheint der Lehrer“. Die Weisen suchen fortwährend nach Anwärtern für die Armee des Lichtes und der Befreiung. Zu allen Zeiten gab es Menschen, die als würdig erachtet wurden, in dieser Weise begleitet zu werden, ungeachtet ihrer Religion oder ihrer philosophischen Überzeugung.
Auch die Geschichte der Theosophischen Bewegung kennt solche Fälle. Ein markantes Beispiel ist das eines intellektuellen und spirituell entwickelten jungen Hindus, der H. P. Blavatsky nach ihrer Ankunft in Indien unterstützte, wo sie unter großen Schwierigkeiten ihre erste theosophische Zeitschrift veröffentlichte. Dieser junge Mann, Dāmodar K. Māvalankar, gab seinen stolzen brahmanischen Kastenstand und eine glänzende, vor ihm liegende weltliche Karriere auf, um sich mittels der Theosophie der selbstlosen Arbeit für die Menschheit zu widmen. Sein Ernst und seine Zuwendung erregten die Aufmerksamkeit der Meister der Weisheit und des Mitleids, die hinter der Arbeit der Theosophischen Bewegung stehen. Er entdeckte, dass in ihm allmählich und ohne besondere Anstrengung neue Kräfte, körperliche wie auch mentale und sogar psycho-spirituelle Kräfte erwachten und für die große Aufgabe des Dienens, die ihm bevorstand, zur Verfügung standen.
Dāmodar ist das leuchtende Vorbild eines wahren Schülers. Die von ihm entwickelten Fähigkeiten waren für die Bedingungen, die er ins Leben gerufen hatte, vollkommen normal. Er strebte sie nicht um persönlicher Befriedigung willen an, noch stellte er sie jemals zur Schau, um jene nicht anzuspornen, die egoistisch nach psychischen Kräften strebten. Ein weiteres, für sich selbst sprechendes Beispiel für das gleiche Verhalten verkörperte innerhalb der Theosophischen Bewegung William Quan Judge. Und die Geschichte kennt noch andere.
Diese ergebenen Menschen hatten das erhabene Ziel der menschlichen Evolution vor Augen: das Einswerden mit dem Inneren Gott, dem ‘Vater im Himmel’. Das Beschreiten dieses Pfades sowie das Entwickeln des geistigen Hellsehens, erfordern keine physischen Übungen oder körperlichen Quälereien – und sicher nicht das Aufgeben jeglichen Kontaktes zu den Mitpilgern auf dem emporführenden Lebensweg. Die für uns notwendigen Erfahrungen liegen im Straucheln und Wiederaufstehen in unserem Leben verborgen, darin, dass wir das Unvermeidliche frohen Mutes annehmen und dass wir die karmischen Schwierigkeiten anderer verständnisvoll miterleben, die oftmals der Hilfe bedürfen, um sich selbst helfen zu können. Der theosophische ‘Brahma Yogi’ ist der Mann oder die Frau, an den oder an die sich die anderen, die sich gerade in Schwierigkeiten befinden, instinktiv wenden, um Rat zu erhalten. Der Brahma Yogi ist der Friedenstifter, zu Hause und überall.
William Quan Judge fasst den theosophischen Yoga in überzeugenden Worten wie folgt zusammen:
Was also ist das wahre Heilmittel, der königliche Talisman? Es ist PFLICHT, Selbstlosigkeit. Beständige Pflichterfüllung ist der höchste Yoga. … Auch wenn Sie nichts anderes tun können als Ihre Pflicht, sie wird Sie zum Ziel führen.
– Letters That Have Helped Me, Teil II, S. 3
Es ist die grenzenlose barmherzige Liebe, die Buddha veranlasste zu sagen: „Lasst die Sünden dieses dunklen Zeitalters auf mich fallen, auf dass die Welt errettet werde“, und nicht der Wunsch zu entfliehen oder das Verlangen nach Wissen. Dies kommt in den Worten zum Ausdruck: „DER ERSTE SCHRITT IN WAHRER MAGIE IST HINGABE FÜR DAS WOHL ANDERER.“
– Ebenda, S. 19
Yoga in Tibet
Es ist noch gar nicht solange her, dass Berichte von okkulten Mysterien und über Magie in Tibet oder anderswo von seriösen Gelehrten aus dem Westen lächerlich gemacht wurden. In guten akademischen Kreisen wurden sie ganz einfach nicht zugelassen. Die Verfolgungen, denen sich H. P. Blavatsky im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts ausgesetzt sah, ergaben sich teilweise aus dem geringschätzigen Leugnen solcher Möglichkeiten seitens der westlichen, gebildeten Gesellschaftsschichten, die sich durch die materialistischen Vorstellungen und die glänzenden praktischen Erfolge der modernen Wissenschaft in einer Art Rausch befanden. Sogar die allegorische Interpretation verwirrender Legenden über Götter und Helden in den hinduistischen und buddhistischen Schriften wurden verworfen.
Oberst H. S. Olcott, der damalige Präsident der Theosophischen Gesellschaft, sprach vor einem Jahrhundert mit dem berühmten Orientalisten Professor Max Müller über diese Angelegenheit. Professor Müller riet den Anhängern der Theosophie, den Behauptungen der abergläubischen Pandits, dass die Hinduschriften solche verborgenen Bedeutungen enthielten, keine Beachtung zu schenken. Heute jedoch lassen sich engagierte Orientalisten finden, die nicht nur mit mehr Ehrfurcht und Verständnis über diese Dinge sprechen, sondern auch die Tatsache akzeptieren, dass manche Yogis sogenannte ‘übernatürliche Kräfte’ besitzen. Es gibt Menschen, wie beispielsweise Frau David-Neel, die sogar übereinstimmend behaupten, dass sie tatsächliche, wenn auch begrenzte Kenntnis von der Grundlage bestimmter, elementarer, psycho-magischer Vorgänge besitzen. Dr. Richard Wilhelm, Sinologe, Dr. Carl Jung, Psychologe, Sir Wallis Budge, ehemaliger Direktor der ägyptischen Abteilung des Britischen Museums, Dr. Alexis Carrel, Autor von Der unbekannte Mensch und andere prominente Gelehrte und Reisende haben bezeugt, dass okkultes Wissen existiert, das im Westen für groben Aberglauben gehalten wurde, bis H. P. Blavatsky damit begann, ‘die Denkstrukturen zu zerbrechen’.
Die Berichte von Frau David-Neel über ihre Erfahrungen hinter dem Schleier Tibets haben viel dazu beigetragen, dass die Augen der westlichen Menschen sich für die Tatsache öffneten, dass das Leben der Menschen in diesem geheimnisvollen Land von psycho-okkulten Aktivitäten durchdrungen ist, die nicht nur Einbildung sind.
Die wissenschaftlichen Bücher von Dr. W. Y. Evans-Wentz über die Tibetische Religion lenkten überall auf der Welt die Aufmerksamkeit auf die seltsame Vermischung von tiefen spirituellen Lehren mit niedrigeren magischen Praktiken, die in Tibet und den benachbarten Ländern blühen. Der philosophische und geistige Aspekt entspricht fast ganz den Grundsätzen der Theosophie, was nicht sehr verwunderlich ist, da beide der gleichen Quelle entspringen, nämlich der alten Weisheitsreligion, behütet von der großen Weißen Loge, deren bedeutendstes esoterisches Zentrum das geheimnisvolle ‘Śambhala’ in Tibet ist.
Allgemein nimmt man an, dass der Buddhismus im siebten oder achten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung zum erstenmal in Tibet eingeführt wurde. Padma Sambhava, ein bekannter Hindulehrer, wird als sein bedeutendster Vertreter betrachtet. Seine Wiedergabe der Lehren beinhaltet zweifelsohne eine große Verbesserung der abergläubischen einheimischen Bon-Religion, aber sie trug trotzdem das Zeichen der niedrigeren tantrischen Magie und wich deshalb wesentlich von den reinen Lehren Buddhas ab. H. P. Blavatsky bringt jedoch zum Ausdruck, dass der Buddha, der die zukünftige Gefahr für den Buddhismus in Indien vorhersah, einige seiner Arhats tausend Jahre früher zu den Hängen des Kailas Gebirges in Tibet sandte, um den Kern seiner Lehre, den wahren ‘esoterischen’ Buddhismus, dort zu verankern. Sie sagt auch, dass die tibetische Bevölkerung in jener Zeit zu tief in Zauberei versunken war, um die reinen Lehren annehmen zu können, und dass aus diesem Grund erst zu einem späteren Zeitpunkt „der Buddhismus schließlich durch seine zwei verschiedenen Schulen geprägt wurde – die esoterischen und die exoterischen Abteilungen – im Lande des Bon-pa“. Aus chinesischen Quellen ist gleichwohl bekannt, dass einzelne Adept-Lehrer längere Zeit in der ‘verschneiten Gebirgskette Tibets’ gelebt hatten.
Über Padma Sambhava, der noch heute von vielen in Tibet bewundert wird, sagt der Orientalist Colonel Yule: „Er war ein großer Meister der Zauberei“, womit er wahrscheinlich auf seine niedrigeren tantrischen Arbeitsmethoden hinweist. H. P. Blavatsky unterscheidet die niedrigeren folgendermaßen von den höheren Tantras:
„Außerhalb Bengalens ist über tantrische Riten und Zeremonien so wenig bekannt, dass man dieser bemerkenswerten Schrift [Sāva-Sādhanā] Raum schafft, trotz der widerlichen und abscheulichen Zeremonien, die sie beschreibt. Da es sowohl Magie (reine, psychische Wissenschaft) als auch Zauberei (deren unreinen Gegenpol) gibt, gibt es auch das, was als die ‘Weißen’ und ‘Schwarzen’ Tantras bekannt ist. Das eine ist eine klare und äußerst wertvolle Darstellung des Okkultismus in seiner edelsten Form, das andere ein teuflisches Volksbuch mit bösen Anweisungen für den Möchtegernhexenmeister und -zauberer. Manche von den darin beschriebenen Zeremonien sind noch viel schlimmer als das Sāva-Sādhanā … .“
– H. P. Blavatsky: Collected Writings , 4:615
Auch W. Q. Judge spricht von der „edlen Philosophie“ vieler tantrischer Schriften, aber selbstverständlich verurteilt auch er den niedrigeren Tantrismus mit all seinen Greueln. Es ist bedauerlich, dass die „äußerst wertvolle Darstellung des Okkultismus in seiner edelsten Form“, wie H. P. Blavatsky die „Weißen“ Tantras nennt, durch das Dominieren der schwar-zen Magie unter den Tantrikern dermaßen verdunkelt wurde, dass heute sogar der Name einen schändlichen Klang hat.
Das religiöse Denken in Tibet ist leider noch immer durch Aberglauben, durch magische Praktiken und übermäßige Rituale befleckt – menschliche Schwächen, die sich auch in anderen Religionen einschleichen. Die gute Seite Tibets liegt in der Tatsache, dass die am meisten bewunderten nationalen Helden keine Soldaten oder gar Staatsmänner sind, sondern große spirituelle Lehrer und Reformatoren.
Von Zeit zu Zeit wurde versucht, Reformen zustande zu bringen, mit einigem Erfolg. Aber erst im vierzehnten Jahrhundert bewirkte der große Adept und Avatāra Tsong-kha-pa eine wesentliche Umkehr und säuberte das religiöse Milieu, indem er 40 000 Mönche und Lamas, die aus Eigennutz handelten und aus dem Buddhismus eine Handelsware machten, verbannte. Tsong-kha-pa ist der edelste und weiseste Reformator des nördlichen Buddhismus, und obschon ursprünglich ein Apostel der teilweise reformierten Kargyütpa Schule, schloss er sich dem anderen Orden, den Khadampas an, ‘sie, die durch Vorschriften gebunden sind’, um das neue System aufzubauen, das sich zum Orden der Gelugpas oder Gelbkappen entwickelte, welcher zur etablierten Kirche Tibets wurde. Er reorganisierte auch die esoterische oder mystische Bruderschaft (die von H. P. Blavatsky erwähnte ‘esoterische Abteilung’, worauf schon früher verwiesen wurde). Einzelne der höchsten Lamas besaßen das Vorrecht, dieser Abteilung anzugehören. In der Außenwelt ist sehr wenig über diese Bruderschaft bekannt.
Seit der Reform durch Tsong-kha-pa ist der Zustand niemals mehr so tief gesunken, aber wie bereits angemerkt, ist er auch heute noch immer nicht ideal. Die Gelugpas stehen jedoch weit über manchen der Rotkappensekten des westlichen Tibet, die sich noch der alten schwarzen Magie der Bon-Religion widmen.
Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, die interessanten Entwicklungen des buddhistischen Yoga in Tibet zu beschreiben, aber Interessenten werden in Werken wie jenen von Dr. Evans-Wentz, der im Westen viel zum Wissen über den Lamaismus beigetragen hat, Informationen erhalten. Sein Buch Tibetan Yoga and Secret Doctrines berührt ein vorher unbekanntes Gebiet mit Informationen aus erster Hand. Er behauptet, dass die sieben wichtigsten Abhandlungen, die aus dem Tibetischen übersetzt wurden, eine umfangreiche Wiedergabe des Mahāyāna oder nördlichen Buddhismus, des ‘großen Fahrzeugs’, darstellen. Für die nach spiritueller Erleuchtung Suchenden sind sie jedoch nicht alle von gleichem Wert.
Die Abhandlungen wurden von dem früheren Lama Kami Dawa-Samdup aus dem Tibetischen übersetzt, einem Professor der tibetischen Sprache an der Universität von Kalkutta, einem eingeweihten Lama des Kargyütpa Ordens des Mahāyāna Buddhismus, dessen wichtigste Lehren rein und von hohem Gehalt sind. Er war äußerst kompetent und interpretierte die außerhalb der Lamaklöster wenig oder überhaupt nicht bekannten Lehren und Yoga-Methoden. Selbst mit Hilfe seiner sorgfältigen Übersetzungen und den wertvollen Kommentaren von Dr. Evans-Wentz werden westliche Studierende mit den Themen Schwierigkeiten haben, weil nur wenige eine leise Ahnung von den sehr unterschiedlichen Gebieten der Natur und den dazugehörigen Bewusstseinszuständen haben, mit denen der Okkultist jedoch vertraut ist.
Wir können hier noch hinzufügen, dass der Lama Dawa-Samdup zur Verteidigung von H. P. Blavatsky ein bemerkenswertes Zeugnis ablegte, da man sie zu ihren Lebzeiten beschuldigte, dass sie die alten Weisheitslehren der Theosophie erfunden habe. In einem anderen Werk, The Tibetan Book of the Dead, schreibt Dr. Evans-Wentz:
„Der damalige Lama Kazi Dawa-Samdup war der Meinung, dass trotz der feindseligen Kritik gegenüber den Werken H. P. Blavatskys genügend Beweise vorliegen, dass die Autorin gründliche Kenntnisse der höheren lamaistischen Lehren besaß, in die sie eingeweiht war, wie sie behauptete.“
– S. 7
Aber H. P. Blavatsky gehörte zu einem höheren Orden der Schulung als dem, den man gewöhnlich als den lamaistischen bezeichnet, es sei denn, dass mit den Worten ‘höhere lamaistische Lehren’ die Alte Weisheit gemeint ist, der ‘Esoterische Buddhismus’, wie sie die Lehren der ‘großen Weißen Loge’ nannte. Es wäre aber nicht gerechtfertigt, daraus abzuleiten, dass sämtliche lamaistische Institutionen in Tibet ihr spirituelles Leben verloren hätten, denn Meister KH und H. P. Blavatsky nennen bestimmte Lamaklöster in Lhasa und anderswo, in welchen wahre und eingeweihte Okkultisten leben und in welchen Chela-Schulen für wahren spirituellen Yoga arbeiten. H. P. Blavatsky merkt an, dass viele Orientalisten die echten Lamas bestimmter Lamaklöster in Lhasa usw. mit den zahlreichen Scharlatanen und Zauberern der Bon-Religion verwechseln.
Sowohl Dr. Evans-Wentz wie Frau David-Neel erwähnen, dass die am höchsten geachteten Lehrer in Tibet den Besitz von okkulten Fähigkeiten sowie das Hervorbringen okkulter Phänomene als vollkommen unwichtig ansehen und diese nur als Nebenprodukte im Prozess der spirituellen Entwicklung erachten.
In Bezug auf die oben erwähnten Abhandlungen über Yoga schreibt Dr. Evans-Wentz, dass die beiden ersten Teile „im Grunde nicht tantrischer Natur seien“. Die siebte Abhandlung sei ebenfalls rein und ist eine der verbreitetsten Schriften des Mahāyāna. Sie ist eine verkürzte Wiedergabe des in Sanskrit verfassten Prajñā Pāramitā (vollkommene Weisheit) und behandelt die übersinnliche Lehre von Śūnyatā, der ‘Leere’. Diese Abhandlung stützt die Erklärung von H. P. Blavatsky, dass Buddha die innere Gruppe seiner Anhänger in einer geheimen Lehre unterwies. Manche buddhistische Gelehrte verneinen dies und behaupten, dass die einzige wirkliche geheime Lehre, welche die tibetischen Lamas besitzen, den Unterricht in praktischer Magie betrifft, der keinen spirituellen oder philosophischen Wert besitzt. In ihrem Kommentar über die sieben Abhandlungen weist Dr. Evans-Wentz darauf hin, dass sie sich irren, denn Nāgārjuna, der dreizehnte der buddhistischen Patriarchen, veröffentlichte im zweiten Jahrhundert nach Christus einige esoterische Lehren. Dr. Evans-Wentz schreibt darüber:
Laut Nāgārjuna stellte der Buddha Śākya-Muni selbst die Lehren zusammen und übergab sie der Obhut der Nāgas (Schlangengötter), damit sie in den Tiefen eines großen Sees oder eines Meeres verborgen bleiben, bis die Zeit kommen werde, in der die Menschen bereit sind, sie zu empfangen. Dies scheint auf eine symbolische Weise zu erklären, dass Buddha die Lehren esoterisch weitergab und dass sie seit Zeitaltern auch von Buddhas auf diese Weise gelehrt wurden, die Śākya-Muni vorausgingen, wie auch vom Bodhi-Orden der großen Yoga-Adepten, den weisesten der Weisen, die lange Zeit durch die Nāgas oder Schlangen-Halbgötter symbolisiert wurden. … Auch die Lamas behaupten, dass sie sich auf mündliche Überlieferungen berufen, von welchen gesagt wird, dass sie von den vertrauten Jüngern Buddhas zunächst im Geheimen weitergegeben wurden und dass Buddha die Prajñā Pāramitā sechzehn Jahre nach seiner Erleuchtung unterrichtet, … und weiter, dass Mahākāshyapa, sein gelehrigster Schüler und apostolischer Nachfolger, die Lehren im Geheimen festhielt. Die Japaner besitzen gleichfalls eine Überlieferung, die besagt, dass Buddha seine Schüler esoterisch, die breite Masse aber exoterisch unterrichtete. …“
– Tibetan Yoga and Secret Doctrines, S. 344
In der dritten bis zur sechsten Abhandlung werden zum größten Teil die psychologischen und körperlichen Übungen für die Entwicklung der persönlichen Willenskraft und dergleichen behandelt; diese Lehre ist völlig verschieden von dem, was von Buddha dem Herrn und den Meistern der Weisheit als der gesunde, unpersönliche und heilsame Yoga gelehrt wurde. Diese Teile behandeln die verführerischen Seitenwege des Okkultismus, die vom geraden und schmalen Pfad abzweigen, der zum Leben hinführt; sie sind von den früheren, unreinen vorbuddhistischen Bon-pa Quellen abgeleitet. H. P. Blavatsky beschreibt die Bon-Religion wie folgt:
… ein degenerierter Rest der chaldäischen Mysterien aus alten Zeiten, nun eine Religion, ganz und gar gegründet auf schwarze Magie, Zauberei und Wahrsagerei. Dass der Name von Buddha darin erwähnt wird, hat nichts zu sagen.“
– H. P. Blavatsky: Collected Writings, 4:15 (Fußnote)
Die fünfte Abhandlung gibt den „Chöd“ Ritus des ‘kurzen Pfades’ wieder, eine energische und verzweifelte Methode, um durch ein mystisches Opfer der Persönlichkeit an die Elementale zur Adeptschaft zu gelangen, ein grauenhafter Vorgang, der den unbesonnenen Abenteurer leicht in den Wahnsinn oder gar Tod führen kann. Das falsche Ziel des grausamen und widerlichen Ritus ist es, den Ausübenden über eine Abkürzung von der Notwendigkeit der Wiedergeburt zu befreien! Wahrscheinlich wird dieser Ritus jedoch vor allem mit dem Ziel ausgeführt, eine niedrige Ordnung von Elementalen zu beherrschen und dadurch zu magischen Fähigkeiten zu gelangen. Frau David-Neel fand heraus, dass viele bösartige Menschen in Tibet solche verachtenswerten und zerstörerischen Methoden anwenden, um zum Beispiel ihre Begierde nach Rache zu stillen.
Die erste Abhandlung (Kargyütpa, „Der höchste Pfad der Schülerschaft“) ist bedauerlicherweise sogar mit gewissen Anweisungen über Phänomene in Zusammenhang gebracht worden, die die schwächere Seite des Lamaismus offenbaren und nicht in ein Werk gehören, dessen Grundton im Allgemeinen erhaben ist. Pseudo-okkulte Ideen solcher Art können in einer Welt keinen Einfluss haben, die nach der Ausbeutung psychischer Kräfte für rein selbstsüchtige Zwecke strebt oder deren Interesse im besten Fall auf die Befriedigung der Neugierde abzielt, die sich hinter wohlklingenden Namen verbirgt. Vielleicht vermögen sie ein paar westliche Gelehrte aufzuwecken, welche die Existenz der okkulten Seite der Natur ableugnen, und ihnen zu der Einsicht zu verhelfen, dass die östliche Ansicht nicht unbegründet ist – wie merkwürdig sie manchen auch erscheinen mag –, dass diese Seite der Natur ebenso ‘natürlichen’ Gesetzen unterworfen ist wie die physische Welt.
Die Wirkungsweise solcher Gesetze wird in Tibet auf einem niedrigeren Gebiet durch Phänomene angedeutet, wie die Beherrschung des Feuers oder des Wassers, Levitation, Telepathie oder die Fähigkeit, Körperfunktionen zu ändern. „Tummo“, die Beherrschung der Körpertemperatur, ist für manche Lamas oder Einsiedler in Tibet ein wohlbekannter halbokkulter Prozess. Wer diese Kunst beherrscht, ist imstande, sich warm und behaglich zu fühlen, auch wenn er ohne warme Kleidung eisiger Kälte ausgesetzt ist. Frau David-Neel und andere Beobachter bezeugen die Existenz des Tummo aus persönlicher Erfahrung, und in wenigstens einem Fall wandte sie es mit Erfolg an, als sie ohne Brennstoff in die bittere Kälte einer bergigen Wildnis geraten war.
Solche Dinge werden aber von den Weisen nicht als spirituelle Errungenschaften oder von wahrhaftigem Wert erachtet, obschon sie unter gewissen Umständen nützlich sein können. Im Orient ist eine merkwürdige Geschichte über dieses Thema im Umlauf. Ein Händler und ein Yogi eines niedrigeren Ordens begegneten sich am Ufer eines Flusses. Letzterer erzählte ausführlich über die große Mühe, die er hatte, um zu erlernen, wie man die Levitation ausüben könnte. Danach erhob er sich mit seinem Körper in die Luft und schwebte über den Fluss. Der eher praktisch veranlagte Händler bezahlte einen Fährmann, damit er ihn übersetze. Als sie sich am anderen Ufer wieder trafen, erwartete der triumphierende Yogi, vom Händler bewundert zu werden. Er war jedoch sprachlos, als dieser ihm ein kleines Geldstück zeigte und bemerkte: „Dies ist der Wert deines Wunders!“
Wie bereits erwähnt, enthält der höhere Lamaismus viele der wichtigsten Grundsätze der Theosophie, und die Verbreitung solcher Lehren erklärt die wohlbekannten positiven Eigenschaften der Tibeter im Allgemeinen. Lama Yongden schreibt in seiner aufschlussreichen und romantischen Geschichte Mipam folgendes über eine Donquichotterie der Freundlichkeit: „Er meinte, dass sein junger Gefährte verrückt war, aber in Tibet erweckt jede Tat, die vom Mitleid inspiriert ist, ein intuitives Gefühl der bewundernden Ehrfurcht, sogar bei den gröbsten und äußerst materialistisch denkenden Bauern und Handelsleuten. Chenrezigs2 mit den tausend Armen, das Symbol unendlichen Mitleids, wurde nicht umsonst als der Höchste Herr und Beschützer des imposanten Landes des Schnees gewählt.
Den lockeren Humor der Tibeter illustriert folgender Aphorismus, welchen Dr. Evans-Wentz in seinem Buch Tibetan Yoga and Secret Doctrines erwähnt:
„Wenn ein Mensch, der seiner Religion ergeben ist, versucht, andere anstatt sich selbst zu verbessern, ist das ein großer Fehler.“
– S. 87
„Wer eine Religion predigt und nicht ausübt, gleicht einem Papagei, der ein Gebet aufsagt, und das ist ein ernsthafter Fehler.“
– S. 77
Viele Schriftsteller und Reisende aus dem Westen urteilen positiv über den Charakter der tibetischen Bevölkerung. So studierte ein Engländer einige Jahre lang die buddhistischen Lehren der Lamas, die an der Südgrenze Tibets leben. Er sagt, dass die Lamas und andere Tibeter, denen er begegnete, einen Geist der Liebe und Freundlichkeit besitzen, der durch einen ungewöhnlich ruhigen Ton gekennzeichnet ist, was neu für ihn war. Er erkannte schnell, dass diese außergewöhnliche Eigenschaft nicht auf unspezifischen Emotionen gründete, sondern die Folge ihrer Lebensanschauung war, die Folge einer umfassenden Einsicht in die Struktur des Universums, wodurch sie den engen Zusammenhang aller Dinge und Prinzipien erkennen. Für den aufgeklärten Lama sind die Naturgesetze und die Ethik oder die Regeln für rechtes Leben nicht zwei verschiedene Dinge, sondern ein und dasselbe. Dies ist ein wesentlicher Punkt in der theosophischen Yoga-Lehre. Wir machen einen verhängnisvollen Fehler, wenn wir Religion und Wissenschaft voneinander trennen. G. de Purucker beschreibt das in wenigen Worten:
„ … Ethik ist nicht reine Konvention, so sehr die Menschen sie auch in konventionelle Worte kleiden mögen, sondern sie beruht auf der Harmonie und der Liebe im Herzen des Universums. … Ethik ist etwas sehr Wesentliches, weil sie aus der Natur selbst stammt. Ethik bedeutet, gut zu handeln; gut bedeutet Harmonie; gut heißt Gesetz; und Gesetz ist kosmische Gerechtigkeit, die universale Liebe ist.“
Yoga in Indien
Manchmal wird die Frage gestellt, ob H. P. Blavatsky 1878 nach Indien reiste, um dort Yoga zu studieren. Das war aber nicht der Fall. Nach der Gründung der Theosophischen Gesellschaft in Amerika reiste sie nach Indien, um das allgemeine Verständnis für Menschlichkeit und Bruderschaft zu fördern, das sich trotz den tausenden verschiedenen Yogis in einem jämmerlichen Zustand befand. Ein weiterer Grund war die Anweisung ihrer Meister, dass sie die großen Möglichkeiten Indiens fördern sollte, der Welt eine großartige Religions-Philosophie anzubieten, einer Welt, die logischere und befreiendere Lösungen auf die Fragen des Lebens suchte, als die von der dogmatischen Theologie oder der materialistischen Wissenschaft der damaligen Zeit angebotenen.
Sie schenkte dem Drängen vieler Hindus Gehör, die erkannten, dass die alten Lehren durch abergläubische Interpretationen und formelhafte gottesdienstliche Handlungen degeneriert waren. Viele prominente Gesellschaften einheimischer Sanskrit-Gelehrter luden sie ein, Mitglied zu werden und mehrmals ereigneten sich bemerkenswerte Phänomene.
Stolze, selbstzufriedene Brahmanen, die sich niemals um andere kümmerten, erkannten sie als ihre Lehrerin an, sie, die eine Ausländerin war, eine ‘Paria’ und … eine Frau! Bei vielen Anlässen wurde ihr in der Öffentlichkeit von ihnen und anderen indischen Organisationen gedankt, und sie empfing Ehrerweisungen für ihre aufopfernde Arbeit, dem vorwärtsstrebenden Teil Indiens zu höheren Idealen des Denkens und Handelns zu verhelfen. Eine solche Ehrung, angeboten von über dreihundert Hindustudenten einer höheren Schule in Madras, beginnt folgendermaßen:
„Nun, da wir Sie nach Ihrer Rückkehr von den intellektuellen Feldzügen, die Sie im Westen so erfolgreich vollbrachten, aufs Herzlichste willkommen heißen, erkennen wir, dass wir nur einen schwachen Ausdruck unserer großen Dankbarkeit zeigen können, die Indien Ihnen schuldet.
Sie haben Ihr Leben dem selbstlosen Dienst gewidmet, die Wahrheiten der okkulten Philosophie zu verbreiten. Auf die heiligen Mysterien unserer ergrauten Religion und Philosophie haben Sie viel Licht geworfen, indem Sie der Welt Ihr wunderbares Werk Isis entschleiert brachten.
– Incidents in the Life of Madame H. P. Blavatsky, A. P. SINNETT
Zu einer bestimmten Zeit, als viele Menschen meinten, es sei für ihre spirituelle Entwicklung notwendig, für eine okkulte Ausbildung eiligst nach Indien zu reisen, protestierte W. Q. Judge dagegen und sagte, dass dies nicht der Wunsch der Meister sei. Es entspräche auch nicht den von H. P. Blavatsky gebrachten Lehren, dass Theosophen den östlichen Methoden sklavisch folgen sollten, noch sollte der heutige Orient als Beispiel oder als Ziel gesehen werden. Der Westen muss einer Methode der spirituellen Entwicklung folgen, die seinem Charakter und dem Milieu seiner Völker entspricht. Selbstverständlich kann und muss der Westen in großem Ausmaß aus den östlichen Schriften schöpfen, deren Bedeutung für die Studierenden, seit H. P. Blavatsky den Schleier der ‘Isis’ teilweise gelüftet und viele verborgene Bedeutungen erläutert hat, sehr gewachsen ist. Aber trotz allem, was sie unternahm, um das alte spirituelle Leben in Indien wiederzuerwecken, können wir zum modernen Indien doch nicht wie zu einem Lehrer aufsehen. Die indischen Meister selbst sagen deutlich, „dass alle überzeugt sind, dass der Verfall Indiens hauptsächlich auf die Erstickung des spirituellen Lebens in früheren Tagen“ zurückzuführen sei, und Mahatma KH sagt, dass „selbst seine eigenen Landsleute den erstickenden Magnetismus nur sehr kurz ertragen können (aus The Occult World, A. P. SINNETT). Ebenfalls lesen wir in den Mahatma Letters to A. P. Sinnett:
„Wenn es zulässig wäre, subjektive Dinge durch objektive Phänomene zu symbolisieren, würde ich sagen, dass Indien für das psychische Auge mit einem erstickenden grauen Nebel bedeckt zu sein scheint – einem moralischen Meteor – der odischen3 Emanation ihres verdorbenen gesellschaftlichen Zustandes. Hier und da funkelt ein Lichtpunkt auf, der auf eine Natur hinweist, die ein wenig spirituell ist, auf einen Menschen, der nach höherem Wissen strebt und darum ringt. Wenn das Leuchtfeuer des arischen Okkultismus je wieder entzündet werden soll, müssen diese verstreuten Funken zusammengebracht werden, um die Flamme zu bilden. Und das ist die Aufgabe der TG, … .“
– S. 384 (engl. Ausgabe)
Schon immer und auch heute noch gab und gibt es einen ‘esoterischen Kreis’ von Wissenden. Unerkannt und der äußeren Welt unbekannt arbeitet er auf vielerlei Arten am spirituellen Wachstum der Menschheit. Dieser Kreis wurde vor Urzeiten von Menschen mit dem Ziel gegründet, die Menschheit vor bruchstückhaften oder irreführenden Halbwahrheiten okkulten Charakters zu bewahren, die weit gefährlicher sind als völlig falsche Erkenntnisse, weil man sie nicht so leicht als Unwahrheiten erkennen kann. Die geschichtlich bekannten Mysterienschulen in Eleusis und an anderen Orten Griechenlands, in Philae in Ägypten und in noch manchen anderen Gegenden der Welt, waren die verhältnismäßig modernen Nachfolger der alten Schulen. Sie genossen hohes Ansehen, wurden von jedermann geehrt und man brachte ihnen Vertrauen entgegen. Die Handlungen und andere mehr oder weniger exoterische Zeremonien waren den Bedürfnissen der durchschnittlichen Menschen der Zeit angepasst, aber sogar darin wurde Tieferes symbolisiert. Weiter fortgeschrittene Kandidaten verbrachten lange Perioden in der Stille, wie wir den Berichten der Schule von Pythagoras zu Krotona entnehmen. Wenn ihre Körper gereinigt und sie ihr Denken unter Kontrolle hatten, waren sie bereit, in sich selbst hohe Bewusstseinszustände zu erwecken, die für den ungeübten Intellekt ganz und gar unzugänglich sind. Paulus, ein Eingeweihter, sagt, dass ein Mensch ‘bis in den dritten Himmel entrückt wurde’ (2 Kor 12,2). Dies ist ein deutlicher Hinweis auf eines der Stadien oder einen der Schritte auf dem Weg nach dem, was im Osten Samādhi genannt wird. Der Prozess, das nach außen zu bringen, was im Inneren eingeschlossen liegt, ist die wahre Bedeutung von Erziehung, und dies ist die Vorgehensweise jeder echten Yoga- oder Mysterienschule.
Mit dem Aufkommen der Theosophischen Bewegung im 19. Jahrhundert begann H. P. Blavatsky mit Erfolg die Mysterienschulen im Westen zum Leben zu erwecken. Sie schreibt:
Aber wenn auch die Stimme der MYSTERIEN im Westen schon seit vielen Zeitaltern verstummt ist, wenn Eleusis, Memphis, Antium, Delphi und Krisa schon vor langer Zeit zu Grabstätten einer Wissenschaft wurden, die einst im Westen genau so gewaltig war, wie sie jetzt noch im Orient ist, so werden doch jetzt Nachfolger für sie vorbereitet.
– H. P. Blavatsky: Collected Writings, 8:205
Als das „Ursprüngliche Feuer des Arischen Okkultismus“, wie Meister KH es bezeichnet, hell brannte, wurde Yoga in richtiger Weise verstanden. In ihrem Theosophical Glossary (S. 381-2) spricht H. P. Blavatsky von den sechs Darśanas oder philosophischen Schulen Indiens, eine von diesen ist Yoga; und weiter beschreibt sie Yoga als „die Praxis der Meditation als ein Mittel, das zu spiritueller Befreiung führt“. Sie fügt hinzu, dass dadurch psycho-spirituelle Kräfte erlangt werden können; „und die hervorgerufenen ekstatischen Zustände führen zur klaren und richtigen Wahrnehmung der ewigen Wahrheiten, sowohl im sichtbaren als auch im unsichtbaren Universum“. Bedenken Sie hierbei, dass dies weder psycho-physische noch psycho-intellektuelle Kräfte sind, sondern Fähigkeiten, die zu einer weitaus höheren Ordnung gehören.
Den Yoga Darśana oder die Schule teilt man in fünf Hauptklassen ein, die mit den fünf wichtigsten Typen der Psychologie des Menschen übereinstimmen. G. de Purucker umschreibt sie folgendermaßen:
„Welche sind nun diese fünf Yoga-Schulen Indiens? Wir fangen mit der einfachsten und niedrigsten an; Hatha-Yoga, der Yoga der physiologisch-psychischen Übung, hauptsächlich den Körper und den Verstand betreffend. Dann Karma-Yoga, von dem Wort ‘Karma’, Handlung. Drittens Bhakti-Yoga, der Yoga der Liebe und der Hingabe. Viertens Jñāna-Yoga, der Yoga der Weisheit oder des Wissens, des Studiums. Fünftens Rāja-Yoga, der Yoga des selbständigen Bemühens, um zur Vereinigung mit dem Inneren Gott zu gelangen, der Yoga der Disziplin; so wie man die Könige der Kshatriyas oder der Kriegerkaste als Führer ihres Staates betrachtete. Und der sechste, den wir Theosophen noch hinzufügen, ist der Brahma-Yoga, der Yoga des Geistes, der die fünf anderen sozusagen enthält.“
– The Theosophical Forum, März 1940
Ein umfassendes Studium und die Ausübung der fünf hinduistischen Yoga-Systeme erfordert alle Energie, Aufmerksamkeit und die gesamte Zeit des Ausübenden. Es ist klar, dass das in der modernen westlichen Umgebung nicht durchführbar ist, wenn dieses Studium auch wünschenswert erscheint. Dazu kommt noch, dass die Anwesenheit eines Lehrers, der wenigstens den Stand eines niedrigeren Adepten erreicht hat, ganz und gar unentbehrlich ist; er muss seinen Schüler ständig beobachten und beschützen, wenn dieser durch bestimmte Entwicklungsstadien hindurchgeht. Man sagt, dass die Hatha-Yoga-Methoden (die in den höheren Schulen sehr selten angewendet werden und wenn, dann nur unter besonderen Umständen) für auserwählte Schüler ohne Gefahr sind, wenn sie unter der Leitung eines entsprechenden Gurus oder Führers angewendet werden. Aber im Falle eines voreiligen, unvorbereiteten und ungeschützten Laien sind die Umstände ganz anders und es besteht das Risiko sehr tragischer Folgen.
Betrachten wir zum Beispiel die Āsanas oder Yoga-Körperhaltungen, die im Westen durch Fotos und Beschreibungen mehr oder weniger bekannt sind. Es sind rein körperliche Übungen, die manche Yogis anwenden. Sie bereiten damit ihren Körper auf die gewaltigen Spannungen vor, die bei der Erweckung der starken und gefährlichen innerlichen Kräfte entstehen, die der westlichen Wissenschaft noch unbekannt sind.
Es sind mehr als siebzig Āsanas bekannt, von denen die meisten eine lange Vorbereitung erfordern, bevor man sie praktizieren kann. Manche sind für den einen Yogi geeignet, andere für einen anderen, und nur der verständnisvolle und erfahrene Guru ist imstande, sie vernünftig zu dosieren. Der Schüler kann unmöglich ihre Unterschiede kennen, und es ist eine sehr ernste Sache, an einem falschen Āsana zu arbeiten, was, wie man sagt, den Tod zur Folge haben kann!
Vor einiger Zeit veröffentlichte ein Student des Okkultismus die Ergebnisse einer langen Untersuchung der höheren Weisheit im ‘geheimen Indien’. Er stieß auf viele sogenannte Yogis,
die zum größten Teil Fanatiker oder Egoisten waren, die, so sagt er, selbst bei der jüngeren Hindugeneration in den fortschrittlichen Klassen die Bezeichnung Yogi in ein schlechtes Licht gerückt hätten. Es waren auch einige wahre Medien und Magier darunter, offensichtlich einem niederen Orden angehörend. Aber er fand auch ein paar ernsthafte, rechtschaffene Männer, die in keinerlei Weise ihre Fähigkeiten zur Schau trugen und die für die psychischen, sogenannten Yoga-Übungen keine Werbung machten, die vielmehr Lehren von lebenswichtiger Bedeutung für den spirituellen Fortschritt übermittelten. Ein Lehrer aus Südindien, über den der Schriftsteller mit Recht mit großer Ehrfurcht und Bewunderung spricht, antwortete auf die Frage, was getan werden müsse, um den Pfad zu betreten: „Es gibt nur eines, was man tun muss. Schaue in dich selbst hinein. Tue dies in der richtigen Weise und du wirst die Antwort auf all deine Fragen finden. Du musst dich fragen: Wer bin ich? Kenne dein wahres Selbst, dann wird das Licht der Wahrheit in deinem Herzen wie das Licht der Sonne hervorbrechen.“
– PAUL BRUNTON: Verborgene Weisheit
Der Suchende muss nicht nach Indien reisen, um das zu lernen. Er kann es als einen wesentlichen Bestandteil in theosophischen Werken über das Thema der spirituellen Schulung finden, z. B. in Die Stimme der Stille von H. P. Blavatsky. Der Pfad der Schülerschaft wird darin deutlich in einer Weise beschrieben, die sich für alle Völker eignet, östliche wie westliche. Aber welcher Pfad ist der richtige? Kann es richtig sein, sich von der aktiven Teilnahme am weltlichen Leben zurückzuziehen, indem man sich auf seinen eigenen persönlichen Fortschritt konzentriert, ohne sich um das Wohl der anderen zu kümmern? Ohne nähere Erläuterung könnte der eben gegebene Rat leicht falsch verstanden werden. Den richtigen Weg, Selbsterkenntnis zu erlangen, findet man in der Bhagavad-Gītā, dem maßgebenden Werk der Hindus über Yoga-Philosophie und Selbstbemeisterung. Sie betont die Notwendigkeit, in der Welt seine ganze Pflicht zu erfüllen, d. h. die Pflicht anderen und sich selbst gegenüber – das Dharma. Dieser Yoga, Karma-Yoga, ist äußerst wichtig für uns westliche Menschen, die wir lernen müssen, wie wir unsere sprudelnde Energie mit mehr Weisheit lenken können. Es ist „das Ausüben rechter Handlungen“. G. de Purucker behandelte das Thema des unpersönlichen Dienens ausführlich in Die Goldenen Regeln der Esoterik. Aus diesem Buch zitieren wir:
Das Hauptgesetz des Universums ist Selbstvergessen, nicht Konzentration der Aufmerksamkeit auf persönliche Freiheit, nicht einmal auf die Individualität. Das Grundgesetz des Universums will, dass wir für alle Dinge leben und nicht, dass jeder für sich lebe, um für sich die inneren spirituellen Kräfte zu entfalten. Die Weisung, die inneren spirituellen Kräfte zu entwickeln, ist zwar als allgemeine Forderung richtig, doch ist sie als solche auch irreführend, gefährlich, unweise und deshalb ungeeignet als Regel esoterischer Schulung, wenn sie nicht qualifiziert, richtiggestellt und ergänzt wird durch folgende Zusatzlehre: Gib dein Leben auf, so du es finden willst. Lebe für das Wohl der Menschheit, denn das ist der erste Schritt. …
– S. 104
Der Mensch, der zuerst an andere denkt, ist bereits groß. Der Mensch, der um anderer willen sein Leben hingibt, ist schon groß. Der Mensch, der sich in unpersönlichem Dienst für die Menschheit selbst vergisst, ist jedoch am größten. Ein solcher Mensch erntet ein gottgleiches Schicksal, da er sich einen entsprechenden Charakter geschaffen hat.
– S. 115
In der Theosophie finden wir eine hohe Art des Yoga, der uns von den Täuschungen befreien kann, die wir fälschlicherweise mit dem wirklichen Leben verwechseln. Ein Beginn einer solch hohen Art von Yoga hängt davon ab, ob wir die Chancen, die das tägliche Leben im Getöse der Welt uns bietet, richtig nutzen. Es ist nicht nötig, sich aus der Welt zurückzuziehen, sondern sich aus der Sklaverei der egoistischen Anforderungen, welche die Welt stellt, zu befreien. Wollen wir nicht alle ohne zu zweifeln zwischen einer weisen und einer dummen Handlungsweise unterscheiden können und ein so großes und vorurteilsfreies Verständnis der menschlichen Natur haben, dass wir in unserem Wunsch, unseren Mitmenschen zu helfen, keine Fehler machen können? Diese höhere Form des Hellsehens wird sich entwickeln, je weiter die Rasse voranschreitet, aber wir können deren Kommen beschleunigen, indem wir den Yoga der Pflicht und der Selbstlosigkeit ausüben. Manche würden das eine Stärkung der Moral nennen, aber der höhere Yoga enthält mehr als das, was wir im Allgemeinen mit diesen Worten meinen.
Wenn wir ihn besser verstehen, bemerken ernsthafte Aspiranten, dass intuitive Eigenschaften in uns zu erwachen beginnen. Wenn keine Gefahr besteht, dass wir diese missbrauchen, können sich daraus glänzende Fähigkeiten entwickeln und das Bewusstsein wird sich in überraschender Weise erweitern.
Wir müssen unseren eigenen Kampf führen. Ein bekannter okkulter Spruch lautet: „Der Adept wird, er wird nicht gemacht“. Wir können Leiter finden, die uns vor den Fallgruben auf dem Pfad warnen, Lehrer, die unsere verborgenen Schwächen ans Licht bringen und die uns zeigen, wie wir sie besiegen können; aber wir müssen unsere eigenen Erlöser sein. Auf dem Yoga-Pfad gibt es kein ‘stellvertretendes Leiden’, aber es gibt Hilfe und, wie bereits vorher gesagt, „wenn der Schüler bereit ist, erscheint der Lehrer“. Zwar ist es ein großer Segen, dass es diese Möglichkeit gibt, trotzdem bringt der Läuterungsprozess notwendigerweise unerwartete und unangenehme Enthüllungen mit sich, denen man aufrichtig entgegentreten soll und die überwunden werden müssen. Aber der ernsthafte Schüler erwartet dies, und er bittet seinen Lehrer nicht, seinen Egoismus zu dulden. Andererseits bringt Selbstdisziplin eine wachsende Freude, die allmählich deutlich macht, dass der auf sich selbst gerichtete tierische Mensch, wie intellektuell auch immer, nicht der wahre, unsterbliche Mensch ist, „für den die Stunde nie schlagen wird“, und dass wir nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen haben, wenn das wahre Selbst unser Meister wird.
Die edelsten Yoga-Lehren des alten Indien wie Der königliche Juwel der Weisheit von Śaṅkarācārya oder die Bhagavad-Gītā zeigen die grundlegenden Bedingungen für eine erhabene spirituelle Entwicklung auf, ohne eine Spur von Psychismus oder niedrigere Formen der Magie, die manche Teile der Hinduliteratur verunstalten, die Tantren genannt, aus denen ein Großteil des westlichen Yoga und okkulter Bücher ihre zweifelhafte und oft gefährliche Kenntnis holen. Śaṅkarācārya und der Autor der Bhagavad-Gītā lehren die Methoden der Selbstbemeisterung, die den Pfad zu spiritueller Weisheit öffnet. Einige Auszüge aus der Wiedergabe der Bhagavad-Gītā von W. Q. Judge geben einen Eindruck von dieser Art der Lehren:
Wenn der so lebende Mensch sein Herz auf das wahre SELBST konzentriert und frei ist vom Hängen an jeglichem Verlangen, dann wird von ihm gesagt, dass er Yoga erreicht hat.
– VI, 18
In diesem Yoga-System wird weder eine Anstrengung vergeudet, noch gibt es irgendwelche üblen Folgen; selbst ein klein wenig von dieser Übung schützt einen Menschen vor großer Gefahr.
– II, 40
Es gibt keinen Reiniger auf dieser Welt, der mit spiritueller Erkenntnis vergleichbar ist, und wer in Hingabe an das Göttliche vollkommen ist, findet, wie im Laufe der Zeit spirituelle Erkenntnis spontan in ihm selbst entspringt.
– IV, 38
Solche erleuchteten Weisen, deren Sünden erschöpft sind, die frei von Täuschung sind, die ihre Sinne und Organe unter Kontrolle haben und sich dem Wohle aller Geschöpfe hingeben, gehen in den Höchsten Geist ein.
– V, 25
Suche diese Weisheit durch Dienen, durch eindringliches Forschen, durch Fragen und durch Demut; die Weisen, die die Wahrheit sehen, werden sie dir bekannt geben, und sie erkennend, wirst du niemals wieder in Irrtum verfallen, o Sohn Bharatas.
– IV, 34/35
Śaṅkarācārya schreibt:
Die Vision der Seele ist jenem zu eigen, der frei von Leidenschaft ist; die ständige Inspiration gehört jenem, der mit der Seele sieht. … Die erste Freiheit bringende Ursache wird so erklärt, dass man sich vollständig von der Begierde nach nicht dauerhaften Dingen abwenden muss. Dann folgen Frieden, Selbstbeherrschung, Ausdauer, eine vollkommene Entsagung von allen Handlungen, die Anhaften bewirken oder eine Verunreinigung darstellen. … Selbst gut beherrscht, erwirbt er die Frucht und die Belohnung, und seine Belohnung ist das Wirkliche. … Für das Selbst ist alles, was es sieht, nur Sinnestäuschung; es dauert nur einen Augenblick; wir sehen und wissen, es ist nicht „ich“; wie könnte das persönliche Selbst, das sich jeden Augenblick ändert, sagen: „Ich weiß alles ?“
– Oriental Department Papers, 1895-6.
Es ist in der Tat bedeutungsvoll, dass Krishna, die Innere Gottheit, Arjuna nicht in der Einsamkeit einer Einsiedlerhütte unterrichtet, sondern inmitten des Waffenlärms auf dem Schlachtfeld, was den Eindruck vermittelt, dass es sich dabei um die Handlungen und Erprobungen des täglichen Lebens in der Welt handelt.
Die Buddhas des Mitleids
Das große, klassische Werk der hinduistischen Yoga-Schulen ist die Bhagavad-Gītā, und sie wird von den Mahatmas und H. P. Blavatsky oft mit großer Achtung erwähnt und zitiert. Die Schrift ist unentbehrlich für all jene, die ernsthaft nach Selbsterkenntnis suchen, aber sie bringt das göttliche Mitleid, das Buddha in seinem Yoga der großen Entsagung unterrichtete, nicht deutlich zum Ausdruck, so dass wir uns damit nun etwas näher beschäftigen wollen. Auch H. P. Blavatsky scheint dies so empfunden zu haben, und so schenkte sie uns gegen Ende ihres Lebens einen wundervollen Auszug aus der östlichen heiligen Literatur, und zwar das Büchlein Die Stimme der Stille,4 übertragen aus dem „Buch der Goldenen Vorschriften“; es beginnt: „Gewidmet den Wenigen“ – nämlich jenen, die sich danach sehnen, das theosophische Ideal zu leben und der Menschheit ‘bis an das endlose Ende’ zu dienen. Aus diesem kleinen Buch können wir die Grundsätze ersehen, auf welchen die Schulung der Chelas durch die Meister beruht. Würden diese Grundsätze in einem weiteren Kreise akzeptiert werden, käme das nicht nur unserer Erkenntnisfähigkeit der ewigen Dinge zugute, sondern würde auch die Welt zu einem unendlich besseren Ort machen, um darin zu leben.
In Bezug auf das Mitleid finden wir in dem Büchlein Die Stimme der Stille:
Könntest du göttliches MITLEID austilgen? Mitleid ist kein Attribut. Es ist das GESETZ der Gesetze – ist ewige Harmonie, Alayas SELBST; eine uferlose, universale Essenz, das Licht immerwährenden Rechts, die Folgerichtigkeit aller Dinge, das Gesetz ewiger Liebe.
– S. 93
Alaya ist das, was Emerson die ‘Überseele’ nannte. Sie „spiegelt sich in jedem Gegenstand des Universums wider“ (The Secret Doctrine, I:48). Dieselbe Lehre des Mitleids ist ein wesentlicher Bestandteil des wahren Christentums. „Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist Liebe“ und „Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben“ (1 Joh 4,8; 4,20).
Viele Aphorismen aus der Mahāyāna-Lehre, die von Evans-Wentz in Tibetan Yoga and Secret Doctrines angeführt werden, geben die Grundlehren der Stimme der Stille wieder, deren Leitprinzip Selbstaufopferung und Liebe für die Menschheit ist. Zum Beispiel:
Solange das Denkvermögen nicht geschult ist, uneigennützig und unendlich von Mitleid erfüllt zu sein, verfällt man leicht in den Irrtum, nur für sich selbst Befreiung zu suchen.
– S. 75
Das Geringste, das wir für andere tun, ist kostbarer als alles, was wir für unser eigenes Wohl tun.
– S. 90
Wenn man bei allem, was man tut, nur das Wohl der anderen beabsichtigt, ist es nicht nötig, nach eigenem Vorteil zu streben.
– S. 90
Wie unwichtig der wahre Yogi okkulte Phänomene findet, wird deutlich beschrieben:
Für denjenigen, der die erhabene Weisheit erworben hat, ist es gleich, ob er wunderliche Kräfte anwenden kann oder nicht.
– S. 92
Das letzte Zitat aus den Yoga-Abhandlungen bezieht sich auf eine Lehre, die das Herz und die Seele der Stimme der Stille bilden. Es ist die erhabenste Möglichkeit der spirituellen Bestrebung:
Die Tatsache, dass es Menschen gibt, die die bodhische Erleuchtung erreicht haben und die imstande sind, als göttliche Inkarnationen zur Erde zurückzukehren und bis zu der Zeit der Auflösung des physischen Universums für die Befreiung der Menschheit und aller Lebewesen zu arbeiten, zeigt die Tugend des Heiligen Dharma. …
– S. 95
Dies ist ein Hinweis auf „die Große Entsagung“, ein Ideal, das alle anderen Ideale überragt und das der heutigen Welt angeboten wird; es spricht für die Tibeter, dass sie solche heiligen Männer (Bodhisattvas oder Nirmāṇakāyas) mehr verehren als einen fortgeschrittenen Yogi oder ‘Heiligen’, wie erhaben er auch sein möge. Damit verbunden ist das Thema der Pratyeka-Buddhas, über das es immer wieder Missverständnisse gibt, obschon H. P. Blavatsky dies in der Stimme der Stille und The Theosophical Glossary ausführlich erläutert hat.
Dr. Evans-Wentz behauptet mit Recht, dass die Befreiung des Menschen von der Unwissenheit das letztendliche Ziel des Buddhismus in seiner tiefsten Bedeutung ist, die Überwindung von Māyā, was wir nur unzureichend mit dem Wort Illusion übersetzen. Er weist darauf hin, dass Buddha lehrte, dass das erstrebenswerte Ziel, nämlich in Nirvāṇa einzugehen, aufgeschoben werden kann. Das gilt für jene erhabenen Seelen, die bereit sind, dem höchsten Weg der Selbstverleugnung zu folgen und die Große Entsagung zu vollziehen. Das bedeutet, dass der nach spiritueller Meisterschaft Strebende beschließt, niemals aus dem Saṁsāra oder dem Weltbewusstsein der Phänomene zu treten und in den unsagbar gesegneten Zustand von Nirvāṇa einzugehen, bevor nicht die müden Pilger in allen Welten das Beste ihrer Möglichkeiten in diesem Manvantara erreicht haben. Dies ist zweifellos die höchste mögliche Form Universaler Bruderschaft! Die heiligen Männer, die zurückkehrten, um der Erde unter Verzicht auf ihren eigenen Fortschritt zu helfen, werden die Buddhas des Mitleids genannt, womit man sie von den Pratyeka-Buddhas unterscheidet, deren Ideal nicht so erhaben ist.
Gemäß den führenden tibetischen Anhängern des Mahāyāna und durch den Lama Samdup bestätigt, werden die Pratyeka-Buddhas allgemein so betrachtet, wie es hier von Dr. Evans-Wentz formuliert wird:
Selbsterleuchtete (Sanskrit: Pratyeka) Buddhas unterrichten die Lehre nicht in der Öffentlichkeit, sondern tun nur denjenigen Gutes, die in persönlichen Kontakt mit ihnen treten, während allwissende Buddhas, zu denen Gautama der Buddha gehörte, die Lehre im großen Kreis predigen. …
Die Gurus der Schule des Großen Symbols lehren, dass Nirvāṇa nicht für ein Endstadium gehalten werden soll, in welchem derjenige, der diesen Zustand erreicht hat, sich in vollkommenem Frieden und Glückseligkeit selbstsüchtig aufhält. Das heißt, dass Nirvāṇa nicht ein Zustand ist, der nur zum eigenen Wohlergehen erreicht werden muss, sondern um des größeren Wohles willen, das jedem bewussten Wesen zuteil wird, ausschließlich aus diesem Grund. Deshalb ist es so, dass in Tibet alle, die nach göttlicher Weisheit streben, nach vollkommener Erleuchtung, bekannt als Nirvāṇa, das Gelübde ablegen, den Zustand des Bodhisattva oder Großen Lehrers anzustreben. Dieses Gelübde enthält, dass der Gelobende erst dann in Nirvāṇa eintreten wird, wenn sämtliche Lebewesen, angefangen von den niedrigsten Bewohnern der unterhalb des Menschen stehenden Reiche, … sicher über den Ozean von Saṁsāra zum anderen Ufer geführt worden sind.
Die südlichen Buddhisten neigen dazu, Nirvāṇa, wenn es von Pratyeka (oder nicht lehrenden) Buddhas erreicht wurde, als einen Endzustand zu betrachten. Diejenigen, die zur Mahāyāna-Schule gehören sagen jedoch, dass Nirvāṇa ein Zustand des Geistes ist, der infolge einer evolutionären spirituellen Entwicklung erreicht wird, und deshalb nicht als ein Endzustand betrachtet werden kann, da Evolution kein vorstellbares Ende hat, sondern ewig fortdauert.
– Tibetan Yoga and Secret Doctrines, S. 94, 144
Hieraus können wir ersehen, dass die Pratyeka-Buddhas in ihrer spirituellen Entwicklung weit fortgeschritten sind, und trotzdem spricht H. P. Blavatsky von ihrer ‘spirituellen Selbstsucht’! Zu Beginn stiftete diese Aussage einige Verwirrung, aber sie wiederholte sie in ihrem später veröffentlichten Theosophical Glossary und G. de Purucker erläuterte diese scheinbare Schwierigkeit in seinen Goldenen Regeln der Esoterik. Da das Thema für den Studierenden des „Pfades der Rechten Hand“ von großer Bedeutung ist, zitieren wir einige Passagen aus diesem Buch:
(Die Pratyeka-Buddhas) sind sehr erhabene Menschen, sehr heilige Menschen, in jeder Hinsicht sehr reine Menschen, deren Erkenntnis weit, umfassend und tief, deren geistiger Zustand erhaben ist, die aber nach Erreichung der Buddhaschaft, anstatt den Ruf allmächtiger Liebe zu fühlen, anstatt umzukehren und jenen zu helfen, die weniger weit voran sind, weiterschreiten und hinübergehen in das höchste Licht und in die unaussprechliche Glückseligkeit Nirvāṇas eintreten und die Menschheit zurücklassen. Das sind die Pratyeka-Buddhas. Obwohl erhaben, stehen sie doch nicht auf gleicher Stufe wie die Buddhas des Mitleids in ihrer unsagbaren Erhabenheit.
Der Pratyeka-Buddha, der die Buddhaschaft für sich selbst verwirklicht, tut dies nicht selbstsüchtig, er macht es nicht um seiner selbst willen, und er fügt anderen damit keinen Schaden zu. Wenn das so wäre, könnte er ja nie seine Einzel-Buddhaschaft erlangen. Er erreicht sie aber, und er erreicht Nirvāṇa sozusagen automatisch, … .
Es besteht ein eigenartiger Widerspruch im Begriff Pratyeka-Buddha. Der Name ‘Pratyeka’ bedeutet ‘jeder für sich selbst’; und dieser ‘jeder-für-sich-selbst’-Geist ist gerade das Gegenteil von dem Geist, der in dem Orden der Buddhas des Mitleids herrscht, denn in dem Orden des Mitleids herrscht der Geist: Gib auf dein Leben für alles, was da lebt. …
Die Zeit kommt, wo der Pratyeka-Buddha, so heilig er ist, so erhaben er in Ideal und Streben auch ist, einen Entwicklungszustand erreicht, von dem aus er auf jenem Pfad nicht weiter vorwärts gehen kann. Hingegen hat der andere, der sich gleich von Anfang an mit der ganzen Natur und mit ihrem Herzen verbindet, ein ständig wachsendes Arbeitsgebiet, so wie sich sein Bewusstsein weitet und dieses Gebiet erfüllt. Und dieses wachsende Gebiet ist einfach unbegrenzt, weil es die grenzenlose Natur selbst ist. Er wird völlig eins mit dem spirituellen Universum, während der Pratyeka-Buddha nur eins wird mit einem besonderen Strang oder Strom der Entwicklung im Universum. …
So kommt auch die Zeit, wo der Buddha des Mitleids, obgleich er allem entsagt hat, weit über den Zustand hinausgelangt ist, den der Pratyeka-Buddha erreicht hat. Und wenn der Pratyeka-Buddha nach einer bestimmten Zeit aus dem nirvanischen Zustand heraustritt, um seine evolutionäre Reise erneut anzutreten, dann wird er sich weit hinter dem Buddha des Mitleids finden.
– Goldene Regeln der Esoterik, S. 172-177
Der Pratyeka-Pfad ist kein Pfad, der nach unten führt, es sei denn, man vergleicht ihn mit dem Pfad der Buddhas des Mitleids, mit dem ‘Geheimen PFAD’, wie ihn H. P. Blavatsky in der Stimme der Stille bezeichnet. Zu Beginn gibt es nur einen Pfad, aber schließlich muss die große Entscheidung getroffen werden; und der Pratyeka-Buddha wählt die Richtung, die von der Welt der Menschen wegführt, während der andere den Weg wählt, auf dem „er in dem glorreichen Körper, den er für sich selbst webte, verbleibt, unsichtbar für die nicht eingeweihte Menschheit, um über sie zu wachen und sie zu schützen“, wie ein Stein in dem mystischen ‘Schutzwall’.
Gautama der Buddha ermutigte auch die einfachen Menschen, indem er ihnen zeigte, wie er die furchterregenden und scheinbar endlosen Zyklen von Tod und Wiedergeburt durchbrechen konnte, um das ewige Drehen des karmischen Rades zu überwinden, während er gleichzeitig die Fesseln schmiedete, die ihn am Ende zurückhielten. Indem er das Gute Gesetz treu befolgte, konnte er einst die unsagbare Glückseligkeit der Befreiung erreichen. Aber für diejenigen, die durch ihre übergroße Liebe für die Menschheit dieses Recht erworben haben, erklärte der Buddha den erhabenen Pfad der Selbstaufopferung, den Pfad der Großen Entsagung.
Gautama der Buddha gehörte zu der Hierarchie des Mitleids, aus der von Zeit zu Zeit große Lehrer und Boten ausgesandt werden, um die Menschheit bei ihrer Evolution zu unterstützen. Die Spitze dieser Hierarchie ist der Stille Wächter, „der Namenlose Eine“, wie H. P. Blavatsky ihn nennt. Und sie sagt:
Er ist der „Initiator“, genannt das „GROSSE OPFER“. Denn an der Schwelle des LICHTES sitzend, blickt er in das LICHT aus dem Kreise der Dunkelheit, den er nicht überschreiten will; noch wird er seinen Posten verlassen vor dem letzten Tage dieses Lebenszyklus. Warum bleibt der einsame Wächter auf seinem selbsterwählten Posten? Warum sitzt er an der Quelle der ursprünglichen Weisheit, von der er nicht länger mehr trinkt, weil er nichts zu lernen hat, das er nicht wüsste – führwahr, weder auf dieser Erde noch in ihrem Himmel? Weil die einsamen Pilger mit wunden Füßen, auf ihrer Rückreise in ihre Heimat, bis zum letzten Augenblick niemals sicher sind, ihren Weg in dieser grenzenlosen Wüste von Illusion und Materie, Erdenleben genannt, nicht zu verlieren. Weil er gern einem jeden Gefangenen, dem es gelungen ist, sich von den Banden des Fleisches und der Illusion zu befreien, den Weg zeigen möchte zu jener Region der Freiheit und des Lichtes, aus der er sich selbst freiwillig verbannt hat.
– The Secret Doctrine, I:208
Wir mögen uns fragen, warum die Kenntnis der Lehren von den Pratyeka-Buddhas und den Buddhas des Mitleids für unsere eigene Existenz von Bedeutung ist. Das Erreichen dieses hohen Evolutionsstadiums liegt in so ferner Zukunft, dass uns die Bedeutung für unser heutiges, praktisches Leben nicht klar ist.
Es ist aber keine Angelegenheit der fernen Zukunft, die uns nur in dem Maße interessieren sollte, wie eine schöne, idealistische Theorie. Wir müssen in unserem Leben stets erneut wählen, und wenn wir die ‘Große Entsagung’ auch noch nicht erreicht haben, so spielt sie im Prinzip dennoch bei jeder von uns getroffenen Entscheidung eine Rolle. Oft ist unser Motiv Eigeninteresse, aber andererseits gibt es in jedem Menschenleben zahllose Beispiele manchmal ganz unscheinbarer Taten, die von dem Verlangen getragen werden, anderen zu helfen oder zu dienen.
Der Entschluss, dem einen oder dem anderen Pfad zu folgen, wird jeden Tag von uns gefasst, und wir werden ständig zwischen dem einen und dem anderen Pfad hin und her pendeln, bis wir stark genug sind, um den entscheidenden Schritt zu tun.
Yoga-Therapie5
Heutzutage besteht ein wachsendes Interesse für Yoga als Methode zur Gesundheitsförderung. Verschiedene Organisationen, darunter auch Sportvereine, empfehlen bestimmte Yoga-Übungen, um den Körper zu stärken oder fit zu halten. Es gibt auch Ärzte, die zur Heilung von Krankheiten Yoga-Therapien anwenden, manchmal auch zur Vorbeugung, indem sie die Körperfunktionen ins Gleichgewicht bringen, wodurch die großen Spannungen dieser Zeit besser verkraftet werden können.
Es wäre alles wunderbar, wenn diese Therapien sich auf normale Körperübungen beschränken würden und die Atemübungen sich lediglich damit beschäftigten, was jeder Mensch mit gesundem Menschenverstand tut, nämlich seine Lungen mit reinem Sauerstoff zu füllen. Auch wenn die Übungen anfangs ganz harmlos zu sein scheinen, wage ich dennoch zu behaupten, dass viele Menschen schon recht bald darin unterrichtet werden, wie sie ihren Atem „beherrschen“ können, und zwar durch das, was die Yogis Prāṇāyāma oder die Regulierung der Prāṇas oder des „Lebensatems“ nennen, der dem Körper Leben schenkt und ihn gesund erhält, wenn er in normaler Weise funktionieren kann. Und dies kann gefährlich werden, weil die ersten Stadien dieser Übungen oft eine größere körperliche Energie zur Folge haben. Abgesehen von den spirituellen und moralischen Risiken, die man trägt, wenn man seine Energien aus der richtigen Bahn bringt, ist auch eine körperliche Gefahr damit verbunden. Wenn das natürliche Fließen der Lebensströme durch eine unvernünftige und gewöhnlich falsch geführte Beherrschung des Atemprozesses gestört wird, könnte die Auswirkung auf unsere Gesundheit äußerst schädlich sein. Und was noch viel schlimmer ist: Wenn die Prāṇas, die lediglich die äußerlichen Manifestationen der Lebenskräfte darstellen, welche sich in und durch die feinen Zentren unserer Konstitution bewegen, im physischen Bereich aus dem Gleichgewicht geraten, neigen sie dazu, das Gleichgewicht unserer inneren Natur zu stören. Das ist der Grund dafür, dass wir derartig häufig psychischer und mentaler Labilität begegnen, besonders im Westen, wo wir unsagbar naiv sind, was diese Dinge anbelangt. Dies ist eine direkte Folge der falschen Anwendung von Yoga oder sogenannten „okkulten“ Heilmethoden.
Das klingt vielleicht unfreundlich, aber ich habe die bedauernswerten Menschen gesehen, deren Zustand durch unbesonnenen und unwissenden Gebrauch von Yoga-Techniken verursacht wurde, durch die Beherrschung des Atems und andere Formen der Spielerei mit den vitalen Körperzentren. Der gesamte Bereich der Heilmethoden, die sich von den jahrhundertelang als erfolgreich etablierten Vorgehensweisen unter-scheiden, muss einer sorgfältigen Untersuchung unterzogen werden, bevor sie zur Anwendung kommen.
Zunächst einmal stellt sich die Frage, was wir eigentlich vom Körper wissen? Was wissen die Ärzte? Sehr viel, gewiss, was seine Physiologie anbelangt, seine Funktionen, und die Behandlung von Krankheitsfolgen. Aber die besten unter ihnen geben sofort zu, dass sie nicht wissen, weshalb uns eine Krankheit trifft; warum der eine Krebs bekommt, der andere einen Herzfehler und wieder ein anderer die Zuckerkrankheit und all die anderen fremden, sogar rätselhaften Leiden, welche die menschliche Rasse heimsuchen. Und was soll man von den Tausenden von Männern und Frauen halten, die heutzutage unter mentalen und nervösen Erkrankungen leiden? Sind die Ursachen psychischer Natur oder liegen sie tiefer, vielleicht in unserer inneren Konstitution?
Paulus sagte über den Menschen, dass er einen „natürlichen oder physischen Körper“ habe und einen „spirituellen Körper“, Worte, die wir einfach mit „Leib und Seele“ übersetzt haben. Es sollte schlicht bedeuten, dass die Wurzeln des Menschen spirituell sind und sein Körper der Spielplatz der Seele ist. Aber in alten Zeiten – wie man der Literatur Griechenlands und Persiens, Ägyptens und Indiens entnehmen kann – glaubte man, dass der Mensch fünf, sieben oder sogar zehn Essenzen oder Energien besitzt, die alle aus dem göttlichen Zentrum oder dem Gott im Inneren emanieren. Man gab ihnen verschiedene Namen, mit denen man versuchte zu zeigen, dass der wahre Mensch unsichtbar ist und dass das, was wir sehen – das Physische – nur ein kleiner Aspekt von der flammenden Intelligenz ist, die den Menschen bildet.
Wir sind wie ein Eisberg, von dem nur ein Siebtel oder Zehntel sichtbar ist und dessen größter Teil unter der Oberfläche verborgen ist. Welch ausgezeichnete Analogie! Der maßgebliche Teil des Menschen unsichtbar, und deshalb ist es verwegen und gefährlich, uns in ein Gebiet hineinzuwagen, das für uns noch nicht kartiert ist.
Ab und zu hört man Berichte über Kranke, die auf eine normale medizinische Behandlung nicht reagieren, die aber durch die Anwendung von Yoga geheilt wurden. Dies löst natürlich das Interesse vieler Menschen aus, denn fast jeder hat die eine oder andere körperliche Schwäche.
Es ist vollkommen richtig, dass in der Anfangsperiode einer Behandlung mit Yoga das körperliche Leiden zurückgeht und die Vitalität wächst. Aber gerade darin lauert die Gefahr, die in der Potenz eine weitaus vernichtendere Auswirkung hat als die Folgen einer Atomexplosion. Als Rasse wurden wir nicht unterwiesen, den Unterschied zwischen dem Spirituellen und dem Psychischen oder zwischen dem Astralen und dem Physischen zu erkennen. Wenn wir durch Unwissenheit andere als die physischen Heilmethoden anwenden, ist die Chance groß, dass wir eine Tür öffnen und Kräfte der unsichtbaren Seite der Natur freisetzen; und wir sind ganz sicher völlig unvorbereitet, um mit diesen Kräften umzugehen.
In den letzten Jahrzehnten sind wir uns in zunehmendem Maße der vielen ungreifbaren Energien bewusster geworden, die durch die Materie wirken, und zwar so, dass unsere Gelehrten zögernd über ‘Anti-Gravitation’, ‘Anti-Protonen’ und von einer möglichen ‘Art der Materie der linken Hand’ sprechen, die das Gegenteil oder die Matrix sein könnten, auf welcher die materielle Welt aufgebaut ist. Wer durch eine forcierte und vorzeitige Entwicklung von psychischen und astralen Kräften versucht, den schützenden physischen Schleier zu zerreißen, vergisst, dass die Natur sowohl eine helle als auch eine dunkle Seite hat. Anstatt seine Aufmerksamkeit der Förderung des moralischen und spirituellen Wachstums zu widmen, wird er von der Faszination der niedrigeren Astralebene in Bann gezogen. Wer diesen natürlichen Schleier durch die Anwendung von Yoga vorzeitig transparenter zu machen versucht, ohne den Schutz einer intelligenten und moralischen Kontrolle, ruft das Unheil herbei, denn genau wie der Zauberlehrling werden wir nicht imstande sein, die Tür wieder zu schließen, die wir so unbesonnen öffneten.
Unlängst hörte ich von einem Patienten, der schon länger ein Leiden hatte, das es ihm unmöglich machte, seine Arbeit zu verrichten. Er hatte bereits viele Ärzte und Spezialisten konsultiert, die ihm allesamt nicht helfen konnten. Schließlich begegnete er jemandem, der Yoga-Therapie praktizierte und ihn behandelte. Sein Zustand besserte sich ziemlich schnell und allmählich konnte er wieder den ganzen Tag arbeiten. Dieser Mann, der Frau und Kinder hatte, für die er sich an erster Stelle verantwortlich fühlte, machte die Yoga-Übungen, weil er einfach keine andere Lösung sah und nahm die eventuellen Risiken mit in Kauf.
Man könnte sich fragen, ob er so falsch gehandelt hat. Die Natur ist streng in ihrer Gerechtigkeit, aber auch barmherzig; und wenn die Motive dieses Mannes wirklich selbstlos sind, wird das Übel, das er möglicherweise durch die Übungen hervorruft, durch den Einfluss der selbstlosen Seite seiner Natur gemildert. Man kann nur hoffen, dass die Übungen, die ihm vorgeschrieben werden, einfach bleiben und dass in seinem fundamentalen pranischen Gleichgewicht keine ernsthaften Beeinträchtigungen auftreten. Ich habe großes Mitgefühl für alle, die sich scheinbar zu bestimmten Schritten gezwungen sehen, weil sie die Dinge lediglich kurzfristig betrachten, die sie aber aus einer größeren Perspektive als unvernünftig einschätzen würden. Außerdem gibt es im Leben eines jeden Menschens Momente, in denen er handeln muss, auch dann, wenn er sich über die wahre Natur seines Problems nicht im Klaren ist oder wenn es bedeutet, dass er etwas opfern muss, auf das er großen Wert legt. Letztlich bestimmt das Motiv alles und wird die Waagschale entweder zu seinem Vor- oder Nachteil neigen.
Nein, ich verurteile die Anwendung von Yoga im Westen nicht nur, weil er importiert wurde und fremd für uns ist, auch nicht, weil er mit so wenig Sachverstand in unseren westlichen psychologischen Boden verpflanzt wurde. Aber gerade weil unsere Entwicklung sich in einer ganz anderen Richtung vollzieht als im Osten, können wir gar nicht sicher sein, dass die hinduistischen Methoden der Seelenkultur für uns geeignet sind. Es kommt noch dazu, dass die Yogis und Swamis, die hierher kommen, um zu unterrichten, wie aufrichtig sie auch sein mögen, in den meisten Fällen nicht viel mehr mitbringen als das Beiwerk einiger entarteter Kenntnisse – die Reste einer einst wahrhaft spirituellen Wissenschaft. Die Yogis des alten Indien besaßen große Kenntnisse bezüglich der feineren Energien, die im Menschen ihre Brennpunkte haben und die durch ihn wirken. Sie lehrten, dass das Ausüben von Yoga mit dem ausschließlichen Ziel, einen starken Körper zu bekommen, gleichbedeutend damit ist, das Pferd vom Schwanz her aufzuzäumen. Für sie war Yoga an erster Stelle ein Prinzip der Reinigung und der Übung. Das einzige Ziel dieses Prinzips war es, die „Vereinigung“ zu erreichen (das ist die Bedeutung des Wortes Yoga) oder das Eins-Sein mit dem Göttlichen Selbst oder Ātman in uns. Wenn als Nebenprodukt der Körper gesund wurde, war das wunderbar, aber es war nie das Ziel.
Ich richte meine Worte gegen die falsche Anwendung dieser Praktiken durch östliche Yogis in unserer Zeit und auch durch westliche Anwender, die keine vollständige Kenntnis über die innere Konstitution des Menschen haben. Das Problem wird zusätzlich dadurch erschwert, dass die Lehren der Yogis im Kern nicht falsch sind, sondern dass sie auf Halbwahrheiten basieren, die nur teilweise verstanden und im Allgemeinen daher falsch angewendet werden. Der reine Yoga, so wie er in der Bhagavad-Gītā gelehrt wird, ist eine spirituelle Übung, die das Äußerste an Selbstaufopferung und Selbstbeherrschung verlangt und überhaupt nichts mit körperlichen oder psychischen Übungen zu tun hat.
Nun, wohin führt all das?
Es hat vielleicht den Anschein, als ob ich mich um die Schwierigkeit herumwinde, und das ist in gewissem Sinne auch der Fall, aber nicht ohne Grund. Was ich versuche, ist, das Bewusstsein zu erheben, damit wir den Menschen aus einer höheren Perspektive betrachten und nicht von einem Maulwurfshügel im Tal aus. Wie Sie bemerken, ist dies kein einfaches Thema, da wir es nicht nur mit dem physischen Körper zu tun haben – einem komplizierten, wunderbaren Instrument –, sondern mit einer ganzen Reihe unsichtbarer Energien, die durch den Menschen fließen. Energien und Kräfte, die sich nicht auf unser eigenes Wesen beschränken, sondern die in und durch die uns umgebende Natur fließen, andere menschliche Wesen einbegriffen.
Krankheiten spielen im Leben des Menschen eine wichtige Rolle, denn fast jeder hat oder bekommt damit in seinem Leben zu tun. Lange Zeit ging man davon aus, dass Krankheiten lediglich physisch verursacht werden, aber allmählich entdeckte man, dass auch psychische und andere Faktoren Krankheiten hervorrufen können.
Vom theosophischen Standpunkt aus gesehen haben alle Krankheiten, unabhängig davon, in welcher Form sie sich zum Ausdruck bringen, ihren Ursprung und ihr Ende im Denken. Ich spreche jetzt von Ursachen, denn die Folgen wirken sich natürlich im physischen Körper aus. Wir brauchen nicht die Einzelheiten zu kennen, wann und wie die Krankheit beginnt und auch nicht, welcher bestimmte Gedanke oder welche Tat sie entstehen ließ; aber wenn wir innerlich geduldig sind und ausreichend Ruhe haben, können wir meistens herausfinden, welche Eigenschaft der inneren Disharmonie der verursachende Samen gewesen sein könnte, der die äußere Störung schließlich verursacht hat. Wenn in unserer Lebensgeschichte die Folgen von Verfehlungen in der Vergangenheit schließlich die physische Ebene erreichen, entsteht automatisch eine Störung im Gleichgewicht, und diese Störung wiederum verursacht das Un-wohlsein. Es kann sich um eine lediglich zeitlich begrenzte Störung handeln, deren Ursache leicht auf einen emotionalen oder mentalen Zustand zurückzuführen ist. Aber wenn wir von einem ernsthaften Leiden oder von einer nicht heilbaren Krankheit getroffen werden, die scheinbar vom Himmel fällt, ist es wahrscheinlich, dass die Ursachen in einer fernen Vergangenheit liegen.
Alle heiligen Schriften lehren, dass das, was wir mit Gedanken oder Taten säen, einmal von uns geerntet werden muss; dass jeder Aktion eine damit übereinstimmende Reaktion folgt und dass es für jede Folge einmal eine Ursache gegeben hat. Daraus folgt, dass alles, was wir in diesem Leben erfahren, das Resultat der Qualität der Samen ist, die wir einst in das Feld unseres Denkens säten. Diese Samen werden zu ihrer Zeit in der Form von Freude oder Leid erblühen. Wenn wir nun Schmerzen empfinden oder uns unwohl fühlen, können wir erstens sicher sein, dass dies der wirksamste Weg der Natur ist, uns dabei zu unterstützen, dass wir unsere innere Gesundheit wieder ins Gleichgewicht bringen, und zweitens uns zu befähigen, auf der Leiter des Wachstums einen kleinen Schritt höher zu steigen.
Was geschieht nun aber, wenn wir in der Gesundbeterei Zuflucht suchen oder versuchen, das Leiden durch mentale Heilung oder Yoga-Therapie zu beheben, die, unter welchem Deckmantel auch immer, den Geist und den Willen des Patienten in falscher Weise beeinflussen? Vielleicht gelingt es, den Schmerz zu vertreiben. Aber ist damit das störende Element, das den Schmerz verursachte, recht behandelt worden und bekam es eine Gelegenheit, unseren Organismus zu verlassen? Oder wurde die Krankheit weiter nach innen zurückgedrängt, in eine subtilere Ebene unserer Konstitution, um später noch machtvoller wiederzukehren? Das sind Fragen, die wir uns äußerst ernsthaft stellen sollten.
Wenn ich krank wäre und die üblichen Mittel wie Ruhe und viel zu trinken keine Linderung brächten, würde ich einen zuverlässigen Arzt aufsuchen, zu dem ich Vertrauen hätte; und ich würde versuchen, mit seiner Hilfe meinen Organismus von Unreinheiten zu befreien. Unsere Ärzte behaupten nicht, dass sie alles wissen, und sie selbst sind die ersten, die das eingestehen; die Ärzteschaft besteht zum größten Teil aus aufrichtigen und ergebenen Männern und Frauen, die einen heiligen Eid ablegten, um mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu versuchen, Kranke zu heilen und das Leben zu bewahren. Selbstverständlich ist eine zu unachtsame und häufige Anwendung von Medikamenten gefährlich und sollte vermieden werden, vor allen Dingen in den Fällen, wo gesunde Methoden der Hygiene und Ruhe der Natur Gelegenheit geben können, den Heilungsprozess zu leiten und die gestörten Prāṇas zu ordnen.
Vergessen wir aber nicht, dass Karma uns in diesem besonderen Zyklus inkarnieren ließ, einem Zyklus in dem jeder Aspekt des menschlichen Könnens eine Umwälzung erlebt, auch die Heilmethoden. Alte Maßstäbe werden durch neue ersetzt, und obgleich die neuen nicht immer besser sind als die alten, hat die medizinische Wissenschaft enorme Fortschritte gemacht und hat durch ihre erstaunlichen Entdeckungen hunderttausenden von Männern und Frauen unsagbar viel Gutes gebracht. Das heißt nicht, dass wir, sobald wir krank werden, jedes neue Medikament ausprobieren müssen; sowohl auf diesem wie auch auf anderen Gebieten muss man sein Unterscheidungsvermögen gebrauchen.
Wenn wir gründlich darüber nachdenken, liegt die eigentliche Schwierigkeit vielleicht bei uns selbst. Die meisten von uns müssen unter Druck arbeiten, wir haben das Gefühl, dass wir es uns nicht leisten können, krank zu werden. Wenn dann doch etwas schief geht, muss eine Injektion mit der einen oder anderen kräftigen Medizin uns wieder rasch auf die Beine bringen. Wir haben kein sonderliches Interesse daran, uns selbst einmal gründlich zu beobachten, um herauszufinden zu versuchen, was die Ursache unserer Schwierigkeiten gewesen sein mag. Was wir brauchen sind nicht mehr Arzneimittel, sondern eine Tinktur von echtem, altmodischem, gesundem Menschenverstand, kombiniert mit der Wiederherstellung der spirituellen Werte. Wir müssen allmählich verstehen lernen, warum der Mensch hier auf Erden ist, was sein wahres Ziel ist und woher es kommt, dass das, was er denkt und fühlt, sein körperliches Wohlbefinden unmittelbar beeinflusst.
Es wäre natürlich ideal, sowohl für die Patienten wie für die Ärzte, wenn wir Meta-Ärzte würden, das heißt Ärzte für den ganzen Menschen und nicht nur für den Körper. Alles was der Arzt machen kann, ist die Diagnose der in Erscheinung getretenen Störung zu stellen, ein Gegengift zu verordnen und zu hoffen, dass der Körper stark genug ist, das Gift aus dem Körper zu schaffen.
Dies mag so sein und die heutige medizinische Wissenschaft (und auch wir) haben noch einen langen Weg vor uns. Ich würde dennoch lieber eine zeitlich begrenzte körperliche Störung infolge einer Überdosierung von Arzneimitteln erleiden, als mich dem so viel schädlicheren und langwierigen psychologischen Einfluss eines anderen zu unterwerfen – ob es sich dabei um einen Yoga-Therapeuten, einen Gesundbeter oder einen Geistheiler handelt, wenn sie auch alle mit den besten Absichten handeln. Wenn ein Arzt einen Fehler macht, kommt nur der physische Körper zu Schaden. Das ist der einzige Teil unserer ganzen Konstitution, der darunter leiden würde. Das wirkliche Selbst, das Element, das Geburt und Tod überlebt, bleibt unberührt und könnte sogar durch die Härte der Erfahrung gestärkt werden.
Ich muss gestehen, dass diese Argumente für diejenigen nicht sehr hilfreich sind, die von der Reinkarnation nicht überzeugt sind. Es ist nicht unser Ziel zu versuchen, die Reinkarnation zu beweisen. Wie jemand darüber denkt, ist seine eigene Sache. Aber es ist schwierig, über das Thema der Krankheiten zu sprechen, ohne es vom Standpunkt des reinkarnierenden Egos zu betrachten.
Nehmen wir zum Beispiel einmal an, dass ich an einer ernsthaften Krankheit leide und dass mein Arzt mir überhaupt nicht helfen kann. Ich fasse den Entschluss, einen Heiler aufzusuchen, um dort Erleichterung zu finden. Er erkennt, was mir fehlt und sagt, er könne mir helfen, wenn ich dies oder jenes tun würde. Es fängt alles ganz harmlos an, aber es kann ganz anders enden, möglicherweise werde ich die Folgen erst in der nächsten Inkarnation begreifen. Wenn ich es zulasse, dass irgendein Aspekt der psychischen Natur des Heilers oder des Yoga-Therapeuten sich mit meiner eigenen psychischen Natur verbindet, ist die Möglichkeit umso größer, dass ein negativer Einfluss zur Auswirkung kommt; wie unbewusst diese Beeinflussung auch sein mag, es befindet sich darin ein Element, das die Alten Zauberei oder schwarze Magie nannten. Das sind scharfe Worte, aber es ist höchste Zeit, dass wir uns die Warnungen zu Herzen nehmen, die durch Jahrhunderte überliefert wurden und die so überzeugend von dem Apostel Jakobus formuliert wurden, wenn er sagt, dass es eine „Weisheit gibt, die von oben ist“, die „rein … voller Gnaden und guten Früchten“ ist und eine andere „Weisheit, die nicht von oben kommt, sondern irdisch, sinnlich und teuflisch“ ist.
Was heißt das? Wir haben gesagt, dass alle Krankheiten im Denken ihren Ursprung haben; aber wo enden sie? Wir dürfen nicht vergessen, dass der Verstand in seiner Funktion eigentlich dual ist; das heißt nicht, dass er geteilt ist, sondern dass seine höheren Bereiche mit dem spirituellen und intuitiven Teil des Menschen verschmelzen, mit Buddhi oder dem ‘erleuchteten’ Aspekt, während seine niedrigeren Aspekte sich mit unserer Begierde und unserer leidenschaftlichen Natur verbinden. Daher können wir sagen, dass das Denkvermögen zwei unterschiedliche Charaktere in sich trägt: Der eine ist mit der „Weisheit, die von oben ist“, verwandt und der andere wird von dem, was „irdisch und sinnlich“ ist, angezogen. Das höhere Denkvermögen gehört zum unsterblichen Teil unserer Konstitution oder zum höheren, reinkarnierenden Element, das in zahllosen Leben seine Erfahrungen gemacht hat, und zwar während Millionen von Jahren, von dem Augenblick an, da die Menschheit sich zum ersten Mal ihrer selbst bewusst wurde und beschloss, sich den Weg zum Spirituellen zurück zu erkämpfen.
Wo haben nun Krankheiten ihren Ursprung? In uns selbst, in jenem Bereich des Denkvermögens, der andauernd „zum Irdischen“ hinabgezogen wird anstatt „empor“. Beim Fortschreiten der Zyklen und dem Immer-wieder-auf-Erden-geboren-Werden, sinken die Folgen unseres falschen Denkens allmählich bis in den äußersten Teil unserer Konstitution hinab, um am Ende mittels körperlicher Krankheiten einen Ausweg aus unserem Organismus zu suchen. Aus Disharmonie geboren, werden die Folgen der Fehltritte, wenn sie den Körper erreichen, automatisch Schmerz verursachen. Und weshalb? Um uns auf die einzige Art, zu der die Natur imstande ist – nämlich durch Leiden – mitzuteilen, dass irgendetwas irgendwo geändert werden muss.
Die Gefahr einer nicht natürlichen Genesung liegt an erster Stelle auf der inneren Ebene, und zwar aus dem einfachen Grund, dass die unmittelbaren Wirkungen der Heilung dem Menschen oftmals viel schneller Erleichterung von den Folgen der Schmerzen bringen als die übliche Medizin. Aber genau das ist der springende Punkt: Wenn wir – anstatt einer Krankheit die Gelegenheit zu geben, sich durch unseren physischen Körper auf natürliche Weise auszuwirken – zu schnell geheilt werden, indem wir uns diesen sogenannten okkulten Heilmethoden unterwerfen, durchkreuzen wir möglicherweise den mitleidsvollen Plan der Natur. Eigentlich müssten wir sehr dankbar sein, dass die Krankheit, deren Kern in einer mentalen oder emotionalen Instabilität verborgen liegt, am Ende die physische Ebene erreicht, auf der wir die Ursache ein für alle Mal endgültig beseitigen können.
Lassen Sie körperliche Folgen mit der richtigen medizinischen Fürsorge auf der Ebene der Folgen behandeln, aber schauen Sie nach innen, um die Ursachen zu erkennen. Was wir auch tun, wir sollen die Umstände, die für uns eine Erfahrung bedeuten, nicht so hastig aus dem Weg räumen, dass der Wert des Schmerzes für uns nicht verloren geht. Letztendlich sind Schmerzen und Unbequemlichkeiten Wegweiser der Natur auf der Straße des Lebens, die uns immer wieder dazu zwingen, uns selbst zu prüfen und herauszufinden, wo wir in unserem Denken und in unserer inneren Haltung in die Irre gegangen sind. Indem wir den Schmerz durch die Anwendung von unnatürlichen und nicht-physischen Methoden unmittelbar beseitigen, bevor wir die Gelegenheit hatten, seine segensreichen Nebenwirkungen zu erfahren, berauben wir uns einer kostbaren Gelegenheit, gerade die Lektion zu lernen, die wir brauchen.
Manchmal scheint es, als müssten die besten Charaktere am meisten leiden. Wir alle haben Menschen gekannt, deren Leidensbecher, mental und körperlich, überzulaufen scheint und die sich trotzdem nicht schlecht fühlten. Sie weigern sich, dem Selbstmitleid zu erliegen und lassen sich deshalb nicht durch Umstände behindern, die weniger starke Seelen übermannen könnten. Ihre Schwierigkeiten sind für sie zweitrangig in Vergleich zu dem Wissen, dass sie – sobald sie die Laufzeit ihres Leidens zu Ende bringen, selbst wenn der Tod dazwischen kommt – in der Zukunft für einen größeren Dienst befreit und gestärkt sein werden. Vom inneren Standpunkt aus gesehen wird Schmerz für einen ernsthaften Schüler zum Schönsten, was es auf der Welt gibt. Nichts, auch nicht der Samen in der Erde, kann ohne Schmerzen wachsen. Intellektuell können wir das wohl einsehen, aber wenn es uns persönlich überfällt, vergessen wir es gerne. Dennoch ist es die einfache Arithmetik des reinen Okkultismus, die wir verstehen und festhalten müssen, wenn wir je das ABC unseres Daseins hier auf Erden begreifen wollen.
Es gibt noch eine andere Art von Leiden, das nur jene seltenen Wesen kennen, die freiwillig Leiden auf sich nehmen, damit anderen geholfen wird. Sie aber gehören einer Klasse an, die weit über dem Gewöhnlichen steht; und ihr Opfer wird mit Glorie gekrönt.
Fußnoten
1. Sannyāsin (Sanskrit): Jemand, der die Bande und die Anziehung der Welt aufgibt, um der spirituellen Natur zu dienen. [back]
2. Aussprache Tsjen-re-zi. Im Sanskrit Avalokiteśvara, der ‘Herr, der wahrgenommen wird’, das Höhere Selbst, der Dritte Logos, sowohl himmlisch als auch menschlich, immer darauf bedacht, Schmerz zu entdecken und jenen, die in Not sind, beizustehen. [back]
3. Od – ein von Reichenbach zur Benennung der Lebensflüssigkeit gebrauchter Ausdruck – ist auch ein tibetisches Wort mit der Bedeutung Licht, Helligkeit, Strahlen (HPB, The Secret Doctrine, I:76, Fußnote). [back]
4. H. P. BLAVATSKY, Die Stimme der Stille, Theosophischer Verlag GmbH, Paperback | Geschenkausgabe, Leinen mit Goldschnitt. [back]
5. Zusammenfassung eines „Gespräches am runden Tisch“, wiedergegeben in Sunrise, Heft 5/1960, Vorsitzender: James A. Long. [back]
Band 9: Theosophie und Christentum
H. T. Edge
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Theosophie ist die essenzielle Wahrheit, die hinter allen Religionen steht, und sie erkennt keine der Religionen als über den anderen stehend oder als die letzte Wahrheit an. Theosophie steht dem Christentum nicht feindselig gegenüber; aber sie sieht ihre Aufgabe darin, solche Dinge anzufechten, von denen sie überzeugt ist, dass sie zu dem echten christlichen Evangelium nicht dazugehören, die sich jedoch seit seiner Entstehung allmählich darin eingeschlichen haben. Dazu gehört der Gedanke, dass das Christentum weit über allen anderen Religionen steht, oder dass es die alles andere übertreffende, endgültige Offenbarung der göttlichen Wahrheit sei. Heute wird es immer schwieriger, diese Auffassung aufrecht zu erhalten. Dafür gibt es zwei Gründe: erstens, weil alte Religionen heute intensiver und umfassender studiert werden, insbesondere die indischen, die durch die Kenntnis des Sanskrit zugänglich wurden; zweitens, weil die Beziehungen zwischen den Völkern einfacher geworden sind und Möglichkeiten entwickelt wurden, sich auf verschiedenen Gebieten besser kennen zu lernen.
Dadurch wird eine Geisteshaltung der Exklusivität verhindert, die in früheren Zeiten möglich war. Es ist jedoch nicht einfach, von lange gehegten Gewohnheiten Abstand zu gewinnen; außerdem sind viele Menschen der Ansicht, dass die Aufgabe der Vorherrschaft des Christentums gleichzeitig die Aufgabe dieser Religion bedeuten würde. Aus diesem Grund nehmen sie manchmal zu wundersamen Mitteln Zuflucht, um in den vielen älteren Religionen die Existenz von Lehren und Ritualen zu erklären, die – so wurde unterstellt – christliche Privilegien wären. Abbé Huc, der französische Missionar und Entdeckungsreisende, schreibt in seinem berühmten Buch Souvenirs d'un voyage dans la Tartarie, le Thibet et la Chine, dass er bei den tibetanischen Priestern sowohl viele charakteristische Lehren der katholischen Kirche als auch viele ihrer Rituale, ihrer Gewänder und ihrer heiligen Gegenstände fand. Seine Erklärung war, dass der Teufel dem Christentum vorangegangen sei, um die Menschheit in die Irre zu führen. Er fügte dieser Theorie hinzu, dass möglicherweise die ersten christlichen Missionare bis nach Tibet vorgedrungen seien.
Aber es kann natürlich nur eine Wahrheit geben. Religion an sich – abgesehen von Lehrsätzen und Kirchen – bedeutet die Anerkennung und Befolgung der grundlegenden Gesetze des Universums. Diese sind auch dem Menschen selbst inhärent, so dass die ewige und universale Religion sich auf Tatsachen in der menschlichen Natur gründet; daher muss sie dieselbe bleiben, solange der Mensch ein Mensch ist. Die essenzielle Wahrheit besagt, dass der Mensch ein göttliches Wesen ist, das in einem tierischen Körper lebt; dass seine Rettung darin besteht, seine niedere Natur mittels der höheren anzuheben; und dass die erhabenste Tugend des Menschen in der Befolgung der ‘Goldenen Regel’ liegt, die man in den vielen Religionen und Philosophien findet und die im Christentum folgendermaßen zum Ausdruck gebracht wird: „Alles, was du willst, dass dir die Menschen tun, sollst du ihnen auch tun, denn das ist das Gesetz und die Propheten.“
Theosophische Perspektiven
Band 9: Theosophie und Christentum
Frei überarbeitet nach H. T. Edge
und
Die Geschichte von Jesus
von G. de Purucker
© 2000 Theosophischer Verlag der Stiftung der Theosophischen Gesellschaft Pasadena, Eberdingen
Einleitung
Theosophie ist die essenzielle Wahrheit, die hinter allen Religionen steht, und sie erkennt keine der Religionen als über den anderen stehende oder als die letzte Wahrheit an. Theosophie steht dem Christentum nicht feindselig gegenüber; aber sie sieht ihre Aufgabe darin, solche Dinge anzufechten, von denen sie überzeugt ist, dass sie zu dem echten christlichen Evangelium nicht dazugehören, die sich jedoch seit seiner Entstehung allmählich darin eingeschlichen haben. Dazu gehört der Gedanke, dass das Christentum weit über allen anderen Religionen steht, oder dass es die alles andere übertreffende, endgültige Offenbarung der göttlichen Wahrheit sei. Heute wird es immer schwieriger, diese Auffassung aufrecht zu erhalten. Dafür gibt es zwei Gründe: erstens, weil alte Religionen heute intensiver und umfassender studiert werden, insbesondere die indischen, die durch die Kenntnis des Sanskrit zugänglich wurden; zweitens, weil die Beziehungen zwischen den Völkern einfacher geworden sind und Möglichkeiten entwickelt wurden, sich auf verschiedenen Gebieten besser kennen zu lernen. Dadurch wird eine Geisteshaltung der Exklusivität verhindert, die in früheren Zeiten möglich war. Es ist jedoch nicht einfach, von lange gehegten Gewohnheiten Abstand zu gewinnen; außerdem sind viele Menschen der Ansicht, dass die Aufgabe der Vorherrschaft des Christentums gleichzeitig die Aufgabe dieser Religion bedeuten würde. Aus diesem Grund nehmen sie manchmal zu wundersamen Mitteln Zuflucht, um in den vielen älteren Religionen die Existenz von Lehren und Ritualen zu erklären, die – so wurde unterstellt – christliche Privilegien wären. Abbé Huc, der französische Missionar und Entdeckungsreisende, schreibt in seinem berühmten Buch Souvenirs d’un voyage dans la Tartarie, le Thibet et la Chine, dass er bei den tibetanischen Priestern sowohl viele charakteristische Lehren der katholischen Kirche als auch viele ihrer Rituale, ihrer Gewänder und ihrer heiligen Gegenstände fand. Seine Erklärung war, dass der Teufel dem Christentum vorangegangen sei, um die Menschheit in die Irre zu führen. Er fügte dieser Theorie hinzu, dass möglicherweise die ersten christlichen Missionare bis nach Tibet vorgedrungen seien.
Einer anderen Auffassung nach, die ebenfalls verkündet wurde, waren die erhabenen Lehren, die in den heiligen Büchern Indiens gefunden wurden, das Werk des Heiligen Geistes, der die Menschheit auf diese Weise auf die ‘größeren Dinge als diese’, die später kommen sollten, vorbereitete. Dabei ging man davon aus, dass das aufkommende Christentum damit gemeint sei.
Diese mehr oder weniger starre Haltung in Bezug auf den einzigartigen Charakter des Christentums und der Bibel als der absoluten, von Gott diktierten Wahrheit kommt langsam etwas in Bewegung.
All das ist die Folge von Wachstum und der Evolution der Menschheit, dem die Religionen sich anschließen müssen, damit sie nicht als Bremse wirken. Das bedeutet nicht, dass wir religiöse Wahrheiten verwerfen und in Unglauben, Atheismus oder Materialismus zurückfallen müssen. Wir sollten den Inhalt nicht mit den veralteten Formen zusammen verwerfen. Ein religiöses System – mit seiner Glaubenslehre, seinem vorgeschriebenen Ritual, seiner kirchlichen Organisation – ist eine Verkörperung von geistigen Werten; und genauso wie es für jeden Organismus zutrifft, sind es die Formen, die sich dauernd Veränderungen unterziehen müssen, obschon der innere Geist stets derselbe bleiben kann. Das sind Tatsachen, welche die Geschichte oder die allgemeinen Gesetze von Wachstum und Evolution uns lehren können.
Aber es kann natürlich nur eine Wahrheit geben. Religion an sich – abgesehen von Lehrsätzen und Kirchen – bedeutet die Anerkennung und Befolgung der grundlegenden Gesetze des Universums. Diese sind auch dem Menschen selbst inhärent, so dass die ewige und universale Religion sich auf Tatsachen in der menschlichen Natur gründet; daher muss sie dieselbe bleiben, solange der Mensch ein Mensch ist. Die essenzielle Wahrheit besagt, dass der Mensch ein göttliches Wesen ist, das in einem tierischen Körper lebt; dass seine Rettung darin besteht, seine niedere Natur mittels der höheren anzuheben; und dass die erhabenste Tugend des Menschen in der Befolgung der ‘Goldenen Regel’ liegt, die man in den vielen Religionen und Philosophien findet und die im Christentum folgendermaßen zum Ausdruck gebracht wird: „Alles, was du willst, dass dir die Menschen tun, sollst du ihnen auch tun, denn das ist das Gesetz und die Propheten.“
Es ist notwendig, kurz auf bestimmte theosophische Lehren hinzuweisen, die an anderer Stelle ausführlicher behandelt werden. Eine davon ist die Lehre von der Existenz der Weisheitsreligion oder Geheimlehre, das heißt die Kenntnis von den tiefsten Mysterien der Natur und des Menschen, die aber im heutigen Zyklus der menschlichen Evolution im Allgemeinen unbekannt ist. Sie wird von den Meistern der Weisheit oder der großen Loge der Initiierten gehütet, deren Aufgabe es ist, die heilige Kenntnis zu bewahren und sie – wenn die Zeit dafür reif ist – der Welt weiterzugeben. Sie erfüllen diese Aufgabe auf verschiedene Weise. Eine Möglichkeit ist, einen Boten aus ihrer Mitte auszusenden, der in der Welt erscheint, einen Kreis von Jüngern um sich versammelt, eine esoterische Schule gründet, wo er vertraulich unterrichtet und exoterische Lehren an die Massen weitergibt.
Da sagte er: Euch ist es gegeben, die Geheimnisse des Reiches Gottes zu erkennen. Zu den anderen Menschen aber wird nur in Gleichnissen geredet; denn sie sollen sehen und doch nicht sehen, hören und doch nicht verstehen.
– Lukas 8,10
Durch viele solche Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort, so wie sie es aufnehmen konnten. Er redete nur in Gleichnissen zu ihnen; seinen Jüngern aber erklärte er alles, wenn er mit ihnen allein war.
– Markus 4,33-34
Sobald sich der Lehrer aber zurückgezogen hat, kommen die Veränderungen und die von ihm gegründete Bewegung zerfällt. Sie gerät in den Einfluss weltlicher Motive und Kräfte, nimmt feste Formen an, zerfällt in Schulen und Sekten und organisiert sich in Kirchen mit einem Priestertum und Glaubensbekenntnissen. Im Allgemeinen können wir diesen Prozess in der Geschichte der Religionen zurückverfolgen, auch im Christentum, so dass das heutige Christentum nicht das ursprüngliche Evangelium ist, das sein Stifter überbrachte.
Es ist hilfreich, einige Worte zur Einstellung gegenüber den Christen zu sagen, die wir hier einnehmen. Diese Einstellung ist freundlich, und zwar nicht nur als Empfindung, sondern vielmehr durch Wissen.
Der Autor wurde selbst in der Kirche von England erzogen, in einer freundlicheren Atmosphäre, als sie in den engeren Sekten vorherrscht. Da er in seinen jüngeren Tagen ein ernsthafter Christ war, kann er mit mehr Verständnis und Symphatie darüber sprechen als manche, die das Christentum nur von außen kennen. Darüber hinaus wird er vermutlich nicht in den üblichen Fehler verfallen, die Überzeugungen des anderen in ein schiefes Licht zu rücken und auf diese Weise die Theosophie mit dem Schlechtesten aus dem Christentum zu vergleichen, Strohmänner anzugreifen oder alte Dinge auszugraben.
Es ist überhaupt nicht die Absicht, den Frieden derer zu stören, die im Christentum – so wie sie es kennen – alles finden, was sie brauchen, vor allem nicht jener, die in ihrem Glauben die Inspiration zu einem edlen Leben finden. Aber es gibt eine große und wachsende Anzahl von Suchern, welche die Botschaft der Theosophie willkommen heißen. Die Kirchen gestehen, dass sie ihren Einfluss verlieren. Es gibt heute mehr Menschen als je zuvor, die das, was ihnen gelehrt wurde, in keiner Weise akzeptieren und dennoch die Religion nicht über Bord werfen können. Diese Menschen bitten in gewissem Sinne um Hilfe; vielleicht finden sie eine eigene Lösung oder bilden die eine oder andere Organisation; aber meistens fehlt ihnen eine wirkliche Basis, die ihnen die Möglichkeiten bietet, ihre Probleme zu lösen. Die Theosophie kann für eine solche Basis einen wichtigen Anteil liefern, weil sie über Mittel verfügt, den ursprünglichen und wahrhaftigen Kern der christlichen Religion von dem zu unterscheiden, was im Laufe der Jahrhunderte hinzugefügt oder verändert wurde und so die Wahrheit verdunkelte.
Wir werden aufzeigen, was die essenziellen Wahrheiten der Religion sind, die sich nicht mit den Zeiten verändern, keinen Konflikt zwischen Lehrsätzen und Sekten verursachen und im Herzen der Menschen verwurzelt sind; wir werden diese Wahrheiten im Christentum ausfindig machen – in den Lehren, Formen und Schriften des Christentums. Wir werden beweisen, dass das Christentum mit den anderen großen Religionen und mit den größten philosophischen Systemen verwandt ist und dass genügend Beweismaterial vorliegt um zu zeigen, dass es eine aus der großen Quelle der Weisheitsreligion hervorgehende Strömung ist. Wir werden versuchen, das Christentum von seinem Anfang an durch die verschiedenen Veränderungen bis zu seinen heutigen Formen – so weit das mit unvollkommener Kenntnis und in gedrängter Form möglich ist – zu verfolgen. Die wichtigsten Dogmen, Glaubensbekenntnisse und Riten müssen betrachtet werden, und deren wirkliche Bedeutung muss anhand von Vergleichen mit übereinstimmenden Elementen in anderen Religionen, Philosophien und Mythologien aufgezeigt werden. Man wird erkennen, dass die Lehren in den Evangelien, die Jesus zugeschrieben werden, und auch einzelne in den Briefen der Apostel enthaltene Lehren in einem neuen Licht erscheinen, sobald wir den zu ihrer Interpretation notwendigen Schlüssel besitzen. Wieviel von diesen Lehren ist im Dunklen geblieben, weil wir nicht über diesen Schlüssel verfügten!
Alle Religionen haben hinter ihrer exoterischen Form eine esoterische Basis; und diese Basis ist zum größten Teil verloren gegangen. Die Religionen, wie sie heute existieren, entsprechen nicht den Bedürfnissen menschlicher Bestrebungen, denn sie lassen einen wichtigen Teil aus, der für den Menschen lebenswichtig ist. Sie beschränken sich hauptsächlich auf ethische Prinzipien, sagen uns aber nichts über die Natur des Kosmos oder des Menschen. Auf diese Weise gerieten sie mit der Zeit ins Hintertreffen und ließen konkurrierende Einflüsse entstehen, wie zum Beispiel die Naturwissenschaften und abstrakte Philosphien. Die Folge dieser Entwicklung ist, dass der Bereich der Erkenntnis, der eine Einheit bilden sollte, durch verschiedene, voneinander unabhängige und in Widerstreit stehende Sparten vertreten wird.
Die falsche Gegenüberstellung von Sittenlehre und Wissen, Religion und Wissenschaft, Tugend und Kultur hat das Denken der Menschheit sehr nachteilig beeinflusst. Eine Synthese dieser verschiedenen Sparten ist dringend nötig; ein einheitliches Gesetz, nach dem gelebt wird; eine solide Basis für Ethik, Sittenlehre und Verhalten anstelle von Dogmen, Kulten und Ideologien, die wir nicht glauben können. Die wahre Religion des Menschen ist diejenige, nach er lebt, nicht diejenige, zu der er sich bekennt.
Deshalb wird eine wirkliche Vereinigung der Religionen nicht durch das Forcieren einer äußerlichen Vereinigung oder durch das Eliminieren von Unterschieden entstehen – wobei nur ein kläglicher Rest übrig bleibt –, sondern durch eine Rückkehr zu ihrer esoterischen Grundlage und durch ein Aufzeigen ihrer gemeinsamen Herkunft – kurz durch die Wiederbelebung des Wissens der alten Weisheitsreligion.
Historischer Überblick
- Der ‘heidnische’ Ursprung des Christentums
- Frühe Formen des Christentums
- Die Entfaltung des Christentums
Der ‘heidnische’ Ursprung des Christentums
In diesem Kapitel wollen wir zeigen, dass das Christentum nicht eine ganz neue Religion war, sondern aus etwas hervorging, was bereits vorher existierte. Seine Hauptlehren sind auch Bestandteil älterer Religionen, und viele Riten und Dogmen wurden vom sogenannten heidnischen Glauben übernommen. Zu Beginn dieses Jahrhunderts entstand in den Vereinigten Staaten eine Bewegung, die sich Fundamentalismus nannte, welcher die Unfehlbarkeit der Bibel lehrte, sich gegen den Liberalismus zur Wehr setzte und zum wahrhaftigen alten Evangelium zurückkehren wollte. Aber wie weit sollte man da zurückgehen und welchen Moment in der Geschichte könnte man als den Anfang betrachten? Einige Aussagen frühchristlicher Autoren sind hier angebracht. Augustinus, der von 354-430 n. Chr. lebte, schrieb:
Das, was jetzt als die christliche Religion bezeichnet wird, war tatsächlich den Alten bekannt, von Anfang an fehlte sie nie in der menschlichen Rasse – bis zu der Zeit, da Christus im Fleisch erschien; danach begann man, die wahre Religion, die voher existierte, christlich zu nennen. Das ist in unseren Tagen die christliche Religion – nicht weil sie in vergangenen Zeiten fehlte, sondern weil sie in späteren Zeiten diesen Namen bekam.
– Augustini Opera, I, 12
Eusebius von Caesarea, christlicher Theologe und Historiker, der kurz vor Augustinus lebte und ein feuriger Verteidiger der neuen Religion war, fühlte sich dennoch gezwungen zuzugestehen, dass die christliche Religion weder neu, noch fremd und den Alten bekannt war (Kirchengeschichte, Buch I, Kapitel iv).
Justin der Märtyrer (100-163? n. Chr.), Kirchenhistoriker und Philosoph, der Kaiser Hadrian gegenüber das Christentum verteidigte, gab sich viel Mühe, um dessen Identität mit dem Heidentum zu zeigen:
Indem wir erklären, dass das Wort (Logos), der erstgeborene Sohn Gottes, unser Herr Jesus Christus, von einer Jungfrau geboren wurde, ohne eine einzige menschliche Vermischung, gekreuzigt wurde und starb und später auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist, sagen wir nicht mehr als Sie über jene sagen, die Sie die Söhne Jupiters nennen. …Was den Einwand anbelangt, dass unser Herr Jesus gekreuzigt wurde, sage ich, dass Leiden in den Leben aller erwähnten Söhne Jupiters vorkam, nur dass sie einen anderen Tod starben. … Was das Heilen der Lahmen, Gebrechlichen und Kranken anbelangt – das ist kaum mehr, als was Sie von Ihrem Äskulap erzählen.
– Apologia, I, Kapitel xxi, xxii
Ammonius Saccas, der große alexandrinische Lehrer und Sohn christlicher Eltern, der ungefähr 150 Jahre vor Augustinus lebte, sagte:
Das Christentum und das Heidentum – vorausgesetzt sie werden gut verstanden – unterscheiden sich nicht in wesentlichen Punkten, denn sie haben einen gemeinsamen Ursprung und sind tatsächliche ein und dieselbe Sache.
Das folgende Zitat betrifft die Kontroverse zwischen H. P. Blavatsky und dem Abbé Roca, die im April 1888 in der französischen Zeitschrift Le Lotus veröffentlicht wurde:
Jesus Christus – das heißt der Mensch-Gott der Christen, eine Kopie der Avatāras aller Länder, sowohl des hinduistischen Krishna wie des ägyptischen Horus – war für mich nie eine historische Person. Er ist die vergöttlichte Personifikation des verherrlichten Vorbilds der großen Hierophanten der Tempel, und seine Geschichte, so wie sie im Neuen Testament erzählt wird, ist eine Allegorie, die gewiss tiefe esoterische Wahrheiten enthält – aber eine Allegorie. … Die Legende, von der ich spreche, gründet sich … auf die Existenz einer Person Jehoshu genannt (woraus der Name ‘Jesus’ hervorging), der ungefähr 120 Jahre vor der modernen Zeitrechnung in Lud oder Lydda geboren wurde. … Wenn wir das Zeugnis der ‘Evangelisten’ – also unbekannter Männer, deren Identität nie festgestellt wurde –, der Kirchenväter und interessierter Fanatiker beiseite lassen, können wir sagen, dass trotz jahrhundertelanger, verzweifelter Untersuchungen weder die Geschichte, noch die allgemeine Überlieferung, noch offizielle Dokumente, noch die Zeitgenossen des sogenannten Dramas einen einzigen seriösen Beweis in den Jahren 1 bis 33 für die historische und tatsächliche Existenz liefern konnten – keinen für den Mensch-Gott und auch nicht für den Jesus von Nazareth genannten Menschen. Alles ist dunkel und still.
Philo Judaeus, der vor der christlichen Zeitrechnung geboren wurde, … machte mehrere Reisen nach Jerusalem. Er ging dorthin, um über die Geschichte der religiösen Sekten seiner Zeit in Palästina zu schreiben. Kein Geschichtsschreiber ist in seinen Beschreibungen gewissenhafter und mehr auf der Hut, nichts zu vergessen, keine Gemeinde, keine Bruderschaft, nicht einmal das Unbedeutendste entging ihm. Weshalb spricht er nicht von den Nazarenern? Weshalb macht er nicht die geringste Anspielung auf die Apostel, auf den göttlichen Galiläer, auf die Kreuzigung? Die Antwort ist einfach. Weil die Biografie von Jesus nach dem ersten Jahrhundert aufgeschrieben wurde und niemand in Jerusalem mehr wusste als Philo selbst.
Diese Passagen, die nur wenige Beispiele für das darstellen, was angeführt werden könnte, zeigen, dass das Christentum als eine Fortsetzung einer jahrhundertealten Lehre gesehen wurde. In Bezug auf die äußere Form wurden Änderungen vorgenommen, welche durch die sich ändernden Zeiten notwendig geworden waren.
Die Geschichte des Christentums beweist, dass es von einer gewaltigen Kraft inspiriert wurde – einer alles besiegenden Vitalität, die es ihm ermöglichte, sich über Jahrhunderte zu behaupten und so einen großen Teil der Welt zu beherrschen. Und trotzdem können wir, wenn wir nach dem Ursprung suchen, bis auf äußerst magere Nachweise nichts weiter finden.
Die Geschichte Jesu ist sehr zweifelhaft; seine Mission, so wie sie in den Evangelien wiedergegeben ist, beschränkt sich auf einige wenige Monate und wird von den heidnischen Historikern ignoriert. Das Christentum ist eine Wiederbelebung der Weisheitsreligion und verdankt seine Entstehung einem großen Boten der Loge, über den keine Aufzeichnungen vorliegen. Die Figur aus den Evangelien ist fiktiv; die Evangelien wurden lange nach der Zeit geschrieben, auf die sie sich angeblich beziehen. Und nach den Briefen des Paulus zu urteilen, scheinen sie ihm völlig unbekannt gewesen zu sein.
Es gibt eine jüdische Erzählung über einen gewissen Syrier mit Namen Jeshua oder Jehoshua ben Panthera, der ungefähr 100 Jahre vor Christus unter der Regierung des jüdischen Königs Alexander Jannaeus lebte; manche meinen, dass der Name Jesus daher kommt. Von diesem Mann stammen die Lehren zweier Sekten jüdischer Christen, die vor der christlichen Zeitrechnung lebten, die Ebioniten und die Nazarener. Sie vertreten die reinste Form des Christentums und lehrten, dass Christus in allen Menschen ist. Sie vertraten auch die Lehre von den Äonen oder göttlichen Emanationen, die zeigen, dass der Mensch selbst von den höchsten Gottheiten abstammt. Die Lehre der christlichen Gnostiker und Neuplatoniker war gleichlautend.
Ursprünglich war das Christentum offenbar eine Form der Weisheitsreligion. Es lehrte, dass der Mensch in seiner Essenz ein göttliches Wesen und Christus einfach der göttliche Geist im Menschen ist; dass der Mensch seine Erlösung selbst erarbeiten muss, indem er sich seiner eigenen göttlichen Natur bewusst wird und an sie appelliert. Später wurde diese erhabene und alte Wahrheit zu einem Glauben an einen persönlichen Gott – getrennt von Mensch und Natur – und zu der Lehre des stellvertretenden Sühneopfers umgewandelt. Dieser Prozess der Umwandlung ging jedoch allmählich vor sich.
Frühe Formen des Christentums
Das Gebiet um das Mittelmeer war zu Beginn der christlichen Ära das Zentrum der Zivilisation, die Bühne für eine erstaunliche Mischung miteinander wetteifernder Glaubensformen unter der allgemeinen Herrschaft des römischen Kaiserreichs. Es gab verschiedene Zentren, in welchen die alten Mysterien aufbewahrt, gelehrt und praktiziert wurden: Alexandria, Antiochia und in weiteren Städten Kleinasiens. Diese standen in Verbindung mit Indien und Persien. Das frühe Christentum nahm die Lehren dieser Schulen an, und es wurde üblich, diese Formen des Christentums als Ketzerei zu betrachten, weil sie angeblich von heidnischen Quellen beschmutzt waren, womit man die Angelegenheit ins genaue Gegenteil verkehrte. Das war das Urchristentum, während die späteren Formen das Christentum nur in sehr beschränktem Maß wiedergeben. Unsere Aufmerksamkeit beschränkte sich so stark auf die schließlich überlebende Art der Darstellung unserer Religion, dass wir viele andere Formen, die jahrhundertelang miteinander wetteiferten, ignorierten; das hatte zur Folge, dass wir dem fortschreitenden Materialismus jener Zeit verfielen.
Marcion, der ungefähr von 86 bis 165 nach Christus lebte, gründete die Kirche der Marcioniten, die bis zum fünften Jahrhundert existierte. Er versuchte, das Christentum von verderblichen Einflüssen zu reinigen. Er stimmte mit den Erzählungen über Christus in den Evangelien nicht überein und sagte, dass diese Geschichten ‘verweltlichte’ Darstellungen metaphysischer Allegorien und Entartungen der wahrhaft spirituellen Idee seien. Er beschuldigte die Kirchenväter, dass sie ihre Lehre dem Auffassungsvermögen ihrer Zuhörer anpassten – ‘blinde Dinge für die Blinden, ihrer Blindheit entsprechend, für die Dummen ihrer Dummheit entsprechend.’
Der Manichäismus war ein gefürchteter Konkurrent der Kirche. Fast alle römischen Kaiser versuchten ihn zu unterdrücken, während Päpste ihn mit dem Bann belegten. Trotzdem übte der Manichäismus ungefähr tausend Jahre lang seinen Einfluss aus, der bei den Albigensern in Südfrankreich, welche einigen seiner Lehren anhingen, sogar bis in das dreizehnte Jahrhundert spürbar war. Der Gründer des Manichäismus, Mani, war iranischer Herkunft und wurde in Babylonien geboren. Im Jahre 242 n. Chr. ernannte er sich selbst zum Boten einer neuen Religion, sandte Apostel aus und gründete Gemeinden in ganz Kleinasien.
Über ihn schreibt Dr. G. de Purucker in The Esoteric Tradition, Seite 1101:
Die Manichäer, eine Vereinigung von tief mystischen und in einigen Punkten sogar esoterischen Denkern, waren nicht nur weit über das Römische Reich, sondern auch im Nahen Osten verbreitet. Sie hielten an gewissen Glaubenssätzen fest, die sie mit den mehr mystischen Ideen des frühen Christentums verbanden. So sagten sie, dass die göttliche Sonne die Quelle des individuellen Christos-Geistes im Menschen und dieser letztere ein Strahl jenes kosmischen Christos sei. Die Kirchenväter Theodoret und Cyril von Jerusalem bezeugen diese Tatsache manichäischen Glaubens; und im 5. Jahrhundert sagt Papst Leo, der Große, in seinem Sermon Nr. IV über die Epiphania, dass die Manichäer den Christos der Menschen in die leuchtende Substanz der unsichtbaren Sonne versetzten – mit anderen Worten in ihre göttliche, beseelende Energie. Solche bezeichnenden Ideen waren … zur Zeit der ersten Entstehung des christlichen Glaubens und des kirchlichen Systems in der Welt weit verbreitet.
Clemens von Alexandrien, kirchlicher Autor, wurde ungefähr in der Mitte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. geboren – vermutlich in Athen. Er unternahm ausgedehnte Reisen durch Italien, Palästina, Ägypten und Syrien und übernahm später in Alexandrien die Leitung der sogenannten Katechetenschule von Pantanaeus. Er strebte danach, das Christentum ‘durch die tiefe Spiritualität des Platonismus’ zu bereichern und ‘befürwortete ein Christentum, das auf freiem Forschen basiert’ – und nicht allein auf Glauben.
In seiner ‘Ermahnung an die Heiden’ sagt er:
… der Mensch ist ein zusammengesetztes Wesen aus Körper und Seele, ein Kosmos im Kleinen.
Das ist eine typisch theosophische Lehre, hier von jemandem geäußert, der von der christlichen Kirche heilig gesprochen wurde.
Der Nachfolger von Clemens war Origines, der im Jahre 185 n. Chr. geboren wurde und den man den größten christlichen Fürsprecher der frühen theologischen Schule nennen kann. Er hatte einen Schüler mit Namen Celsus, dem er den Rat gab, sich als ein vorbereitendes Studium zur christlichen Philosophie der griechischen Philosophie zu widmen. Celsus schrieb sein Buch Das wahre Wort in den Jahren 177 bis 200. Was wir über dieses Buch und den Autor wissen, verdanken wir einem Werk von Origines, Contra Celsum, das sich dagegen wendet. Nach Celsus ist das Christentum orientalischen Ursprungs, seine ethischen Lehren nicht neu und viele seiner Zeremonien den heidnischen Religionen ähnlich. Er fragte sich, warum der eine Gott, den sowohl die Christen als auch die Heiden anerkennen, nicht unter verschiedenen Namen verehrt werden könne – wie Zeus, Serapis und so weiter. Warum sollte Jehova der einzige Name sein, an dem man die Gottheit erkennen kann? Warum kam Jesus so spät, um die Menschheit zu retten?
Im oben erwähnten Buch Contra Celsum schreibt Origines:
In Ägypten haben die Philosophen eine sehr edle und geheime Weisheit über die Art des Göttlichen. Und diese Weisheit wird dem Volk nur in der Form von Allegorien und Fabeln enthüllt. …
Alle orientalischen Völker – die Perser, die Indier, die Syrier – verbergen geheime Mysterien im Gewand religiöser Erzählungen und Allegorien; die wahren Weisen (Initiierten) aller Völker verstehen deren Bedeutung; aber die nicht unterrichteten Massen sehen nur die Symbole und das verhüllende Gewand.
Origines war Neuplatoniker und sowohl er als auch Plotin wurden in der Schule von Ammonius Saccas ausgebildet. Sein Erscheinen bedeutet einen weiteren Schritt in der Entwicklung des Christentums – von seinem liberalen und erhabenen Ursprung zu seiner beschränkten und dogmatisch kirchlichen Form. Trotzdem hing er vielen Lehren an, die seitdem als Ketzerei verurteilt wurden, wie zum Beispiel der Gedanke, dass alle Seelen eine wirkliche Einheit mit Gott bilden und nicht nur die Seele Jesu. Weiter, dass das sichtbare Universum die Manifestation einer höher spirituellen ursächlichen Welt ist. Wie Paulus kannte er die Lehre von den Hierarchien göttlicher Wesen zwischen Gott und Mensch (‘Throne, Herrschaften, Obrigkeiten, Mächte’ und so weiter). Das Universum hat einen Anfang und muss also auch ein Ende haben; ihm aber werden andere Universen – seine Kinder – folgen, was eine rein theosophische Lehre ist.
Die Gnostiker der ersten drei Jahrhunderte lehrten die Gnosis oder Erkenntnis des Göttlichen. Zu ihnen gehörten unter anderem Valentinus, Basilides, Marcion und Simon Magus. Sie vertraten ihre Ansichten zu einer Zeit, als das Christentum noch Lehren über die Natur von Universum und Mensch enthielt; als jedoch die Religion zum Gemeingut wurde, wurden diese Lehren als Ketzerei verurteilt.
Obschon anerkannt wird, dass bereits vor Anfang unserer Zeitrechnung gnostische Gemeinden existierten, bezeichnete man den Gnostizismus manchmal dennoch als eine christliche Ketzerei. Der Gnostizismus war nicht ausschließlich mit einer bestimmten Religion verbunden, denn seine Gnosis beruhte auf esoterischer Weisheit, die das Herz aller Religionen war, so wie sie von den ursprünglichen Gründern und manchmal von ihren unmittelbaren Nachfolgern verkündigt wurde.
Ein wichtiger Fund wurde im Jahre 1945 in Nag-Hammadi in Ägypten gemacht: eine große Anzahl christlich-gnostischer Schriften. Diese Schriften enthüllen, dass von den Gnostikern ein bedeutender Beitrag zu jener Strömung geleistet worden war, die schließlich zum Christentum wurde.
Die wichtigsten Lehren der Gnostiker können wie folgt zusammengefasst werden:
1. Der Gegensatz zwischen Geist und Stoff.
2. Die allegorische Interpretation der Erzählungen des Alten Testaments.
3. Der erhabenste Gott war nicht jener Gott, der die Welt erschuf; die Welt wurde von einem niedrigeren Äon namens Demiurgos erschaffen.
4. Jesus war nicht der Sohn von Josef und Maria; aber er war herabgestiegen aus der Höhe; er war eigentlich der höchste der Äonen, der unmittelbar aus dem Göttlichen hervorging; er war der Erlöser – nicht nur der Menschen, sondern auch der Welt; und er erschien, um der ursprünglichen alten Gnosis wieder den ihr gebührenden Platz zu verleihen.
5. Der Glaube an Karma und Reinkarnation.
Dass im Allgemeinen so wenig über diese Dinge bekannt ist, ist einfach eine Folge der Tatsache, dass die Verurteilung durch die Kirchen den Menschen daran hinderte, diese Dinge zu studieren. Wenn wir einmal wissen, dass solche Informationen zur Verfügung stehen, können wir uns leicht selbst ein Bild davon machen. Es ist unser Ziel zu zeigen, dass das Christentum edleren Ursprungs war und uns in einer sehr geänderten und verarmten Form überliefert wurde.
Die Entfaltung des Christentums
Die Geschichte der ersten Christen, wie sie uns von den Chronisten der römischen Welt jener Tage überliefert wurde, ist dem Leser im Allgemeinen besser vertraut. Zu Anfang sehen wir eine Art kommunaler Sekte, deren Verhalten hohe Ideale aufweist. Da die Sekte wächst, wird sie umorganisiert und in Orden unterteilt, was wir als den Anfang einer kirchlichen Hierarchie betrachten können. Die kaiserlichen Behörden waren in Bezug auf den religiösen Glauben tolerant, aber äußerst eifersüchtig auf jede Organisation, die zu einer Bedrohung der kaiserlichen Macht werden könnte. Kaiser Trajan (53?-117 n. Chr.) erlaubte aus diesem Grund nicht einmal die Bildung einer bürgerlichen Feuerwehr, obschon er an sich ein verständnisvoller Mann war.
Dass die Christen mit der etablierten Macht in Konflikt gerieten, hatte folgende Gründe. Sie lehnten es ab, sich am alltäglichen Leben der Gemeinschaft zu beteiligen, an Opfern und den üblichen Zeremonien teilzunehmen oder als Soldaten zu dienen. Damit sonderten sie sich als eine mehr oder weniger gefährliche Sekte ab und setzten sich Verfolgungen aus. Wie wir wissen, wurden sie gerade durch diese Verfolgungen gestärkt, bis sich die weltlichen Autoritäten schließlich gezwungen sahen, mit den kirchlichen Autoritäten zu einem Kompromiss zu gelangen – Clovis im Westen, die römischen Kaiser weiter östlich. Zwei große Gruppen – die Anhänger des Athanasius und die Arianer – beherrschten jahrhundertelang die Arena, während verschiedene Kaiser der einen oder anderen Richtung anhingen, bis schließlich die Lehre des Athanasius im Westen und die arianische im Osten dominierte. Das Christentum wurde von den nördlichen Eroberern Roms angenommen und mit einigen Modifikationen zur Religion des nördlichen Europa.
Der Kirchenlehrer Athanasius, den man den ‘Vater der Orthodoxie’ nennt, hat seine Lehre in De Incarnatione verbi festgelegt. Kurz zusammengefasst besagt seine Lehre, dass der Logos (Sohn) im Wesen mit seinem Vater eins ist. Sein Gegner, Arius, lehrte, dass nur Gott unerschaffen und die Ursache von allem sei. Der Sohn wird nach Arius von Gott erschaffen; und obschon er ihm gleicht, ist er dem Wesen nach nicht eins mit ihm. Die jahrhundertelange Geschichte zu verfolgen ist überflüssig: Der lange und erbitterte Kampf der Reformation, als beide Parteien ihren Glauben sehr ernst nahmen und die weltliche Macht der damaligen Zeit sich von der geistigen nicht unterschied, ist hinreichend bekannt. Die eine Seite beruft sich auf die in gerader Linie von den Aposteln überlieferte Autorität, die andere auf die Bibel. Der Geist des römischen despotischen Kaiserreichs lebte noch und rang mit der Freiheit des Denkens um die Macht. Mittlerweile hat jedoch die Uneinigkeit abgenommen, denn die Menschheit sucht ihre Inspiration in der ewigen Quelle – dem göttlichen Funken im menschlichen Herzen.
Valentin war der berühmteste christliche Lehrer des zweiten Jahrhunderts. Er war der Lehrmeister der Kirchenväter Origines und Clemens. Nach den christlichen Apologeten hat er versucht, griechische, neugriechische, jüdische und christliche Elemente zusammenzuschmieden, wobei er eine bewundernswerte Tüchtigkeit und Originalität an den Tag legte. Aber ein Vergleich seiner Lehren mit denen aus anderen Systemen zeigt unmittelbar, dass es die Lehren der Alten Weisheit waren, die er den damals existerierenden esoterischen Schulen in Ägypten und anderen Teilen der Welt rund um das Mittelmeer entlehnt haben muss. Seine Schule, der Valentinianismus, war lange Zeit sehr einflussreich und weit verbreitet, mit wichtigen Zweigen in Italien, Kleinasien und verschiedenen kleineren Städten. Sein Einfluss auf das spätere Denken war sehr groß. Er behauptete, dass die Apostel nicht alles, was sie wussten, öffentlich bekannt gemacht hätten, sondern dass sie im Besitz esoterischer Lehren gewesen seien. Er lehrte, dass die Erste Ursache, die er Bythos (die Tiefe) nannte, sich als Pleroma (Fülle) manifestierte – als Gesamtheit des geoffenbarten Universums. Weiter lehrte er die Lehre der göttlichen Hierarchien. Dieser Lehre gemäß emanierte die erhabene Gottheit aus sich selbst heraus aufeinanderfolgende Ordnungen göttlicher Wesen, die teilweise als Erzengel, Engel, Obrigkeiten, Mächte und so weiter bezeichnet werden, bis wir beim Menschen selbst ankommen, der also unmittelbar von der höchsten Gottheit abstammt und deshalb alle göttlichen Fähigkeiten in sich trägt, die zum größten Teil latent sind, deren man sich jedoch bewusst werden kann. Die Welt, in der wir leben, war nicht von der höchsten Gottheit erschaffen, sondern von einzelnen der niedrigeren Emanationen, und dies erklärt ihre Unvollkommenheiten, die oft so schwierig mit unserem Glauben an göttliche Weisheit zu versöhnen sind. Valentin lehrte die wahre Bedeutung von Christus als der göttlichen Inkarnation in jedem Menschen und der Erlösung, sobald sich der Mensch seines Wissens über die eigene essenzielle Göttlichkeit wieder bewusst wird.
Das gibt ein ungefähres Bild darüber, was das Christentum in Wirklichkeit ist und dass die Menschen einmal wussten, wer sie in Wirklichkeit sind. Aber als das Christentum hauptsächlich zu einem politischen Faktor wurde und man es für nötig hielt, es den Bedürfnissen so vieler verschiedener Völker anzupassen – Römer, Griechen, Asiaten und Teutonen – hatte die Notwendigkeit der Uniformität und einer etablierten Kirche mit festen Lehrsätzen zur Folge, dass die erhabeneren Lehren abgeschafft wurden.
Die Bibel – I
- Das Neue Testament
- Die Schöpfung
- Die Sintflut
- Erlösung und Rettung
- Die Sakramente: Das Abendmahl
- Die Sakramente: die Taufe
Wo liegt die Wahrheit zwischen der extremen Auffassung, die Bibel buchstäblich als das Wort Gottes zu betrachten, und der Meinung, sie sei eine Sammlung ziemlich merkwürdiger folkloristischer Erzählungen? Die Bibel ist eine esoterische Schrift, und wenn sie in der richtigen Weise interpretiert und neben anderen, der Welt bekannten heiligen Schriften studiert wird, wird der tiefe Sinn deutlich, der sich hinter vielen Erzählungen verbirgt, die jedoch nur wenig sagen, wenn man sie buchstäblich auffasst.
Das Alte Testament ist eine Sammlung alter jüdischer Schriften, die – nachdem die Juden aus der babylonischen Gefangenschaft zurückgekehrt waren – von dem Schriftgelehrten Ezra gesammelt wurden. Er sammelte so viele alte Bücher wie möglich und erstellte damit den jüdischen Kanon. Nach Änderungen und Auslassungen wurde schließlich aus dieser Quelle das christlische Alte Testament zusammengestellt. Die Juden haben ihre eigenen Interpretationen in ihren kabbalistischen Büchern, wie dem Zohar, dem Sepher Jezirah und in einem großen Schatz von Kommentaren; aber die Christen halten sich im Allgemeinen buchstabengetreu an den Text. Das hat dem Charakter des Christentums nicht gut getan, denn einige dieser Bücher enthalten, wenn sie buchstäblich interpretiert werden, viel Grausamkeit, Betrug, Grobheit und Kriegsgewalt.
Der Pentateuch oder die ersten fünf Bücher des Alten Testaments nehmen eine sehr wichtige Position ein. Obschon man lange Zeit annahm, dass sie das Werk von Moses wären, hat eine kritische Untersuchung gezeigt, dass er nicht der Autor gewesen sein kann. Manche sind der Meinung, sie seien größtenteils das Werk von Ezra. Scheinbar enthalten diese Bücher die Geschichte über die Schöpfung und die Sintflut, die Abstammung des hebräischen Volkes, seine Wanderungen, seine schließliche Niederlassung und das Gesetz des Moses. Der Versuch, mit anderen historischen Informationen einen gewissen Zusammenhang herzustellen und dort die Geschichten einzufügen, ist für Bibelkritiker ein Problem. Das ist kein Wunder, denn das Alte Testament ist eine Sammlung allegorischer Legenden, die mit dem Hauptziel zusammengetragen wurden, die esoterische Bedeutung weiterzureichen. Wenn man sie aber esoterisch im Licht des Zohar und anderer heiliger Bücher liest, dann enthüllen sie einen Schatz okkulter Wahrheiten.
Das Alte Testament enthält auch die Bücher der Propheten, und bei Ezechiel und Daniel finden wir leicht erkennbare okkulte Symbolik. Von denjenigen, die darin Prophezeiungen über die Wiederkunft Christi und das Ende der Welt sehen wollten, wurde in dieser okkulten Symbolik ziemlich viel entstellt. Wir finden dort auch die poetischen und fantasievollen Teile – wie die Bücher der Lehrweisheit und die Psalmen, darunter das Buch Hiob – eine sehr alte Allegorie über die Prüfungen eines Initianden.
Das Neue Testament
Zum heutigen Kanon ist man infolge einer Reihe von Entscheidungen gekommen, er ist eine Auswahl aus einer größeren Anzahl von Büchern, von denen manche unter dem Namen das ‘Apokryphe Neue Testament’ veröffentlicht wurden. Es gab mehr als die vier bekannten Evangelien, und Kritiker konnten nachweisen, dass die heutigen Evangelien offenbar älteren Evangelien entnommen wurden. Wir geben hier einzelne Zitate aus The Esoteric Character of the Gospels von H. P. Blavatsky wieder, die in ihrer Zeitschrift Lucifer im November 1887 veröffentlicht wurden:
… Daher ist die Bibel nicht das ‘Wort Gottes’, sondern sie enthält bestenfalls die Worte fehlbarer Menschen und unvollkommener Lehrer. Wenn sie aber esoterisch gelesen wird, dann enthält sie – wenn auch nicht die ganze Wahrheit – so doch ‘nichts als die Wahrheit’, einerlei unter welchem allegorischen Gewande. …
… Die Bibel kann so wenig wie irgendeine andere Schrift der großen Weltreligionen von jener Klasse allegorischer und symbolischer Schriften ausgenommen werden, die seit vorgeschichtlichen Zeiten in mehr oder weniger verhüllter Form Behälter für die geheimen Lehren der Einweihungsmysterien gewesen sind. Die ersten Schreiber der ‘Logia’ (jetzt die Evangelien) kannten bestimmt die Wahrheit, und zwar die ganze Wahrheit; aber ihre Nachfolger hatten – ebenso bestimmt – nur Dogma und Form, welche im innersten Kern eher zu hierarchischer Macht führte, als in den Geist der Lehren des sogenannten Christus. Daher auch die allmähliche Verdrehung. …
… Er weiß auch, dass der christliche Kanon, besonders die ‘Evangelien’, die ‘Apostelgeschichte’ und die ‘Briefe’ aus Fragmenten gnostischen Wissens zusammengestellt worden sind, deren Fundament vorchristlich ist und auf den MYSTERIEN der Initiation basiert. …
… Denn je mehr man alte religiöse Texte studiert, desto klarer erkennt man, dass die Quelle des ‘Neuen Testaments’ dieselbe ist, wie das Fundament der ‘Veden’, der ägyptischen Theogonie und der mazedonischen Allegorien. …
Man kann sagen, dass die Evangelien symbolische Erzählungen sind, heilige Schriften, die von unbekannten Autoren aus dem Gedächtnis oder anhand von Notizen niedergeschrieben wurden. Später wurden sie zu einer kanonischen Sammlung zusammengetragen und als buchstäbliche anstatt als symbolische Wahrheit angenommen. Aber über dieses Thema können wir mehr sagen, wenn wir auf die einzelnen Lehren eingehen.
Was die Briefe des Paulus anbelangt, ist klar, dass er das lehrte, was jetzt als das Christentum angesehen wird. Für ihn ist Christus der allen Menschen innewohnende Geist. Er spricht wie ein Initiierter, der die Menschen mahnt, das alte, körperbetonte Leben abzulegen und das neue Leben zu wählen, durch das sie sich des innewohnenden Christus bewusst werden und zum Leben erwachen. Was Paulus beschäftigt ist die Vollendung und die Errettung in diesem Leben, nicht in einem zukünftigen. Als initiierter Lehrmeister, der er offensichtlich ist, kann er nicht sein gesamtes Wissen weitergeben, schon gar nicht in öffentlichen Briefen. Er bemüht sich jedoch, seine Botschaft den Möglichkeiten der verschiedenen Gemeinden anzupassen, an die er sich wendet.
Die Schöpfung
Die Schöpfung des Universums und des Menschen nimmt in allen Kosmogonien einen sehr wichtigen Platz ein und stellt eigentlich das erste Kapitel in den Lehren der alten Weisheitsreligion dar. Es wäre von Vorteil, wenn im Christentum anstatt von ‘Schöpfung’ von ‘Evolution’ gesprochen würde, da das Wort ‘Schöpfung’ mit der Auffassung von einem persönlichen Gott verbunden ist, der das Universum aus dem Nichts erschaffen hat. Wir werden uns hier im Rahmen der christlichen Schriften ausschließlich mit dem Thema Evolution beschäftigen.
In den ersten Kapiteln der Genesis (in der Bedeutung von ‘entstehen’ oder ‘werden’) finden wir eine ziemlich verwirrende und verkürzte Version dessen, was in älteren Schriften in einer vollständigeren und genaueren Form gefunden werden kann. Sie ist direkt den chaldäischen Schriften früheren Datums entnommen. Einige dieser Schriften wurden von Archäologen entdeckt. Es gibt jedoch noch ältere Spuren in den heiligen Schriften des alten Persien und Indien. Gleichartige Abhandlungen finden wir ebenso in China, in der Mythologie des alten Skandinavien und sogar im Alten Amerika. Wir nennen hier zwar nur einige Quellen, aber ohne Übertreibung kann man sagen, dass überall auf der ganzen Erde dieselben Überlieferungen vom Beginn der Welten und von der Evolution des Menschen gefunden werden können.
Das Wort ‘Gott’ ist im Hebräischen Elohim. Dies ist ein Plural und bedeutet ‘Götter’ oder ‘Geister’; es bezieht sich auf die schöpferischen Kräfte. Zuerst existierte nichts als Chaos, Leere, oft angedeutet durch die Wasser oder die Große Tiefe. Die schöpferischen Geister schwebten über den Wassern, und als erstes wurde das Licht geschaffen. Aus diesem Licht kommen die Welten und alle lebendigen Geschöpfe hervor. Bezüglich der Schöpfung des Menschen lesen wir:
Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.
– Genesis 2,7
Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn; männlich und weiblich schuf er ihn.
– Genesis 1, 26-27
Im Allgemeinen gibt es zwei Bedeutungen der Schöpfung des Menschen. Er wurde erstens als eine lebendige Seele (oder besser als eine animalische Seele) erschaffen, und zweitens wurde er göttlich. Diese beiden Bedeutungen hat man in der Bibel umgestellt. Aus theosophischer Sicht allerdings ist die Schöpfung des irdischen Menschen eher dreifältig: zuerst der Träger aus dem Staub der Erde; dann wird dieser mit dem Atem des Lebens beseelt; schließlich wird diese animalische Seele mit göttlichen Fähigkeiten begabt – erschaffen nach dem Bild der Götter (Elohim). Die Pluralform Elohim wurde aus einem unerfindlichen Grund mit Gott oder Gott der Herr übersetzt; es bedeutet schöpfende Geister, göttliche Wesen. Die Lehre über die zweifältige Schöpfung des Menschen hat ihre Berechtigung, denn sie verweist auf die duale Natur des Menschen und wodurch er sich von der animalischen Schöpfung unterscheidet. Die ersten Menschen waren ‘vernunftlos’, nicht selbstbewusst; und in einem gewissen Stadium der Evolution des Menschen wurde sein innerer Gott von den Manasaputras oder Söhnen des Denkens, welche in die werdende menschliche Rasse inkarnierten und ein selbstbewusstes, verantwortliches Wesen aus dem Menschen machten, zum Leben erweckt.
Die Geschichte wird in der Legende vom Garten Eden fortgesetzt. Dieser Garten stellt den Zustand des Menschen dar, bevor er selbstbewusst wurde; er war ohne Sünde, aber auch ohne die Fähigkeit sich weiterzuentwickeln, denn er konnte nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden. Dann begegnet dem Menschen das, was man die Verführung nennt. Eine Schlange, die als sehr weise beschrieben wird, erscheint ihm und überredet ihn, seinen freien Willen anzuwenden und sich gegen Gott aufzulehnen. Um diesen freien Willen zu erwerben, muss er vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse essen. Er tut das und verliert damit den Zustand des unschuldigen Glückes, wird selbstbewusst und kann zwischen Gut und Böse unterscheiden. Er wird aus dem Garten Eden vertrieben und beginnt in der äußeren Welt ein mühevolles Leben.
Diese Lehre ist von der Theologie zu einem Fluch und Sündenfall verstümmelt worden. Adam wurde als Sünder dargestellt und übertrug seine Sünde auf all seine Nachkommen. Alle Menschen sind somit in Sünde geboren und bedürfen eines besonderen göttlichen Opfers, um gerettet zu werden. Aber in der ursprünglichen Lehre sind dieser sogenannte Sündenfall und das Auf-die-Probe-Stellen ein notwendiges Stadium in der Evolution des Menschen. Die Schlange (die von der Theologie zu einem Teufel gemacht wurde) ist nichts anderes als Gott, wenn auch in anderer Form; denn dieser Gott, der Herr, ist nicht die allerhöchste Gottheit, sondern die schöpfenden Geister (Elohim,) welche die ersten, nicht erleuchteten Menschen schufen. Die Schlange ist nicht der Teufel, sondern stellt die Söhne des Denkens dar, die – wie gesagt wurde – die Menschheit erleuchteten und sie lehrten, wie sie an der Frucht der Erkenntnis Teil haben und ‘wie die Götter werden’ könnten. Wir finden dieses Mysterium in der griechischen Mythologie, in der Geschichte des Prometheus, der sich gegen Zeus auflehnt und das Feuer aus dem Himmel zur Erleuchtung der Menschen bringt. Prometheus und die Schlange aus dem Garten Eden sind eins mit Luzifer, dem Lichtbringer. Auch er wurde von der Theologie in einen Teufel verwandelt.
Satan oder der Rote Feurige Drache, der ‘Herr des Phosphors’, und Luzifer oder der ‘Lichtträger’ sind in uns: Er ist unser Denkvermögen – unser Versucher und Erlöser, unser intelligenter Befreier und Retter aus dem rein Animalischen. Ohne dieses Prinzip – der Emanation aus der eigentlichen Essenz des rein göttlichen Prinzips Mahat (Intelligenz), welches unmittelbar aus dem Göttlichen Denkvermögen ausstrahlt – würden wir sicherlich nicht besser sein als die Tiere. Der erste Mensch Adam war nur zu einer lebendigen Seele (Nephesch) gemacht, der letzte Adam war zu einem beseelten Geist gemacht – sagt Paulus, dessen Worte sich auf die Bildung oder Schöpfung des Menschen beziehen.
– The Secret Doctrine, II:513
Weil diese wunderschöne Wahrheit nicht mehr verstanden und falsch ausgelegt wurde, fing man an, die menschliche Natur herabzusetzen. So begann der Mensch, sich selbst als verdorben zu betrachten. Er glaubte, dass zwischen ihm und seiner eigenen Natur Feindschaft bestünde. Er misstraute seiner eigenen Intelligenz und Freiheit des Denkens, und er verfluchte sich selbst für die Ausübung der einfachen und natürlichen Handlung des Denkens, was jedoch nur im Falle des Missbrauchs als Sünde angesehen werden kann oder wenn der menschliche Geist selbst es mit Schuld und Unreinheit verbindet.
Diese Erzählung von der Schöpfung des Menschen und seinem sogenannten Sündenfall steht in natürlichem Zusammenhang mit der Geschichte von der Erlösung, welche ebenfalls eine großartige Lehre darstellt, jedoch im Laufe von jahrhundertelanger Verdunklung verloren ging und zu einer ganz anderen Geschichte wurde.
Die Sintflut
Auch dies ist eine heilige Allegorie, die alle Völker gemeinsam haben. Die Geschichte von der universalen Sintflut ist wohlbekannt, und man begegnet ihr überall. Sie wird als eine Überlieferung der Überschwemmungen betrachtet, die auf Teilen der nördlichen Halbkugel der letzten Eiszeit folgten. Und wenn es auch völlig richtig ist, dass eine wirkliche Sintflut stattfand – eine von den vielen, wie Geologen einräumen –, verbirgt sich dennoch in der Legende viel mehr als nur ein materieller Aspekt. In seinem Buch Myths of the New World hat Daniel Brinton bei verschiedenen Stämmen Nord-, Mittel- und Südamerikas verschiedene Erzählungen von Überschwemmungen zusammengetragen. Bemerkenswert ist die große Ähnlichkeit von Besonderheiten wie der Arche, das Stranden auf einem Berg und dass Vögel ausgesendet werden.
Im sumerischen Schöpfungsepos, das tausend Jahre älter ist als die Genesis, geht die Sintflut dem Sündenfall voraus. Erzählungen über Sintfluten mit Archen und anderem findet man im alten Indien, der nordischen Edda, der finnischen Kalevala, dem mexikanischen Popul Vuh, bei afrikanischen Stämmen und bei den Polynesiern. Auch die griechische Geschichte über Deukalion und Pyrrha, die der Sintflut entkamen und die Erde aufs Neue bevölkerten, indem sie Steine hinter sich warfen, ist den Lesern der Klassiker wohlbekannt. Solche Überlieferungen sind immer mit einer Reinigung der Erde durch die Vernichtung der verdorbenen Menschen verbunden; und immer gibt es da eine Arche oder ein heiliges Fahrzeug, in dem sich einige Menschen für die Gründung einer neuen Rasse retten können.
Ist das ausschließlich materiell und historisch oder ist es allegorisch? Beides, denn dem allgemeinen Muster entsprechend reflektieren physische Geschehnisse die spirituellen. Tatsächlich haben periodisch Veränderungen der Erdkruste stattgefunden, die mit dem Versinken von altem und dem Auftauchen von neuem Land zusammentrafen, was die Geologie bestätigt hat. Aber diese Ereignisse waren nur die äußeren Begleiterscheinungen von großen moralischen Veränderungen. Sie traten auf, als große Rassen sich ihrem Ende näherten und neue Menschenrassen mit ihrer Entwicklung begannen. Mit Rasse meinen wir hier eine der großen Wurzelrassen, von denen jede mehrere Millionen Jahre besteht. Das ist die allgemeine Bedeutung der Flut, aber die zahlreichen, von uns angesprochenen Erzählungen beziehen sich gewöhnlich vor allem auf die letzte große Sintflut, die zum Untergang von Antlantis oder dem zuletzt davon übrig gebliebenen Festland führte. Atlantis war die Heimat der vierten Wurzelrasse, welcher die gegenwärtige fünfte folgte. Als die atlantische Rasse das Ende ihres Zyklus erreicht hatte, waren viele dem groben Materialismus verfallen und zu Schwarzmagiern geworden; sie hatten die Gestalt von Riesen, die Bibelgeschichte erzählt davon; und sie bildeten den Ursprung für die universale Überlieferung der schlechten Riesen. Der Untergang dieser verdorbenen Menschen war eine Notwendigkeit, und die Guten sollten überleben, um den Samen für die kommende Rasse zu bilden. Die griechische Mythologie kennt viele Erzählungen über halbgöttliche Gründer von Städten und Zivilisationszentren; hier wird berichtet, dass diese Gründer aus dem fernen Westen von „hinter den Säulen des Herkules“ einwanderten; und oft wird davon berichtet, dass Länder, in denen sich die Einwanderer niederließen, in den Ozean versinken und andere auftauchen.
Dass solche Erzählungen über Sintfluten überall zu finden sind und weitgehend mit denen der Bibel in Übereinstimmung stehen, wurde lange Zeit kaum in Erwägung gezogen, weil damit die Bibelgeschichte als etwas Einzigartiges und besonders Wichtiges dargestellt werden sollte. Wie jedoch bereits weiter oben erwähnt, ist das Alte Testament nichts weiter als eine Sammlung alter heiliger Schriften, die von den Juden aus den noch älteren Quellen entnommen und aufbewahrt wurden.
Erlösung und Rettung
Die Evolution von Welten oder Menschen beinhaltet den Abstieg des Spirituellen in die Materie und den Aufstieg der Materie zum Spirituellen. Ursprünglich war der Mensch ein spirituelles, aber vernunftloses und unentwickeltes Wesen, das in einem ‘Goldenen Zeitalter’ lebte, dargestellt als Garten Eden. Dann wurde in ihm von bereits selbstbewussten Wesen das Selbstbewusstsein erweckt. Der Sündenfall des Menschen ist in gewissem Sinn ein Fall, in einem anderen Sinn jedoch ist er ein wichtiger Schritt in seiner Evolution. Er verliert während einiger Zeit den Kontakt mit dem Spirituellen, um mittels der Inkarnation in dieser Welt die nötigen Erfahrungen zu sammeln. Die neue Fähigkeit des freien Willens wird nicht immer richtig angewendet. Der Missbrauch desselben ist die Ursache von Leiden und Schwierigkeiten, die ihm begegnen und manchmal ‘schlechtes Karma’ genannt werden. In Wirklichkeit jedoch sind das die Mittel, um seine Unzulänglichkeiten zu überwinden und seinen freien Willen in den Dienst des höheren Menschen zu stellen. Schließlich wird, durch die Kenntnis und Weisheit, die er aufgrund seiner Erfahrungen erworben hat, das Göttliche in ihm siegen, und er wird dann als ein größeres und vollkommeneres Wesen erscheinen. Dieser Vorgang bedeutet die wirkliche Rettung und Erlösung der gesamten Menschheit – jeder einzelnen Rasse und jedes individuellen Menschen. Im letzten Fall müssen wir natürlich berücksichtigen, dass der Mensch viele Male auf der Erde inkarniert.
Die großen Weltenlehrer sind oft auf Erden erschienen, um erneut die frohe Botschaft zu bringen oder besser gesagt, um den Menschen an sein in die Vergessenheit versunkenes Geburtsrecht zu erinnern. Denn der Mensch ist wie ein Märchenprinz, der unter dem einfachen Volk aufgewachsen ist und sich seiner königlichen Herkunft nicht bewusst ist. Selbst in den dunkelsten Jahrhunderten gab es immer einzelne Mystiker und intuitive Menschen, welche die Wahrheit erkannten. Der Große Weise (wer er auch gewesen sein mag), der das Christentum ins Dasein rief, war einer dieser Lehrer. Sogar aus den verstümmelten Fragmenten seiner uns überlieferten Lehren können wir schließen, dass er diese alte Wahrheit verkündigte. Und wir sehen, was Jahrhunderte spiritueller Verdunklung daraus gemacht haben! Während der Lehrer die Göttlichkeit des Menschen lehrte und seine Hörer auf den uralten Weg der Erlösung hinwies, erzählt uns die Bibel, dass wir im Grunde verdorben sind und es sinnlos ist, sich auf die eigene Kraft zu verlassen – wir, die nach Gottes Ebenbild erschaffen sind! Es ist die Aufgabe der Theosophie, den Christos wieder aus seinem Grab auferstehen zu lassen, in das ihn seine Jünger gelegt hatten. Denn sie ist – zweitausend Jahre nach der Entstehung des Christentums – eine neue Offenbarung derselben Weisheitsreligion. Das, was Jesus über die Pharisäer seiner Tage sagte, ist auf vieles anwendbar, was jetzt unter dem Namen von Religion angeboten wird.
Die Versöhnung oder ‘Wie Eines’ machen – theologisch als eine Versöhnung zwischen Gott und Menschen durch das Sühneopfer seines Sohnes angesehen – bekommt im Licht des vorher Gesagten einen tieferen Sinn. Es bedeutet die Vereinigung des menschlichen mit dem spirituellen Ego – mit dem eingeborenen Christos, wobei der Mensch sich bewusst wird, dass nicht sein persöhnliches Ego, sondern sein spirituelles Ego sein wahres Selbst ist.
Die Sakramente: Das Abendmahl
Und er nahm Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und reichte es ihnen mit den Worten: Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis. Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sagte: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.
– Lukas 22, 19-20
Jesus sagte zu ihnen: Amen, amen, das sage ich euch: Wenn ihr das Fleich des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben, und ich werde ihn aufwecken am letzten Tag. Denn mein Fleisch ist wirklich eine Speise, und mein Blut ist wirklich ein Trank. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir, und ich bleibe in ihm.
– Johannes 6, 53-56
Das Sakrament des Heiligen Abendmahls bedeutet für diejenigen, welche sich hingebungsvoll daran beteiligen, sehr viel; aber es könnte wesentlich mehr bedeuten. Es verdankt seine Heiligkeit und Kraft dem erhabenen Ursprung in einem der schönsten Riten in den Mysterienschulen der Vergangenheit. Dass sein Einfluss zum Guten in der Welt nicht größer ist und dass es allmählich zu einer Quelle der Uneinigkeit wurde, ist eine Folge der Tatsache, dass es uns in einer entstellten und falsch verstandenen Form überliefert wurde. Das Studium der alten Mysterien macht deutlich, dass Brot und Wein eine wichtige Rolle im Initiationsritual und ebenso in den kleineren Mysterien spielen, die für das Publikum dargestellt wurden. In den größeren Mysterien werden die Kandidaten in das eingeweiht, was Jesus das Königreich Gottes oder das Himmelreich nannte. Oft wird von Wein oder Blut gesprochen und beide Worte stehen für das spirituelle Leben. In diesem Sinne werden sie auch im Neuen Testament gebraucht. Ebenso finden wir im Neuen Testament auch die Begriffe Brot und Getreide oder Fleisch. Diese beziehen sich auf das irdische, sterbliche Leben. Gemeinsam deuten sie auf die höhere und niedere Natur des Menschen hin.
Es handelt sich hier um Symbole, die in den alten Mysterien gebraucht wurden, wobei eine zweifache Einweihung stattfand – symbolisiert durch Brot und Wein oder durch Fleisch und Blut. Der Körper und die niedrigeren Prinzipien des Kandidaten mussten rein sein, bevor er die Taufe mit dem Blut oder dem Wein des Geistes empfangen konnte. Diese Tatsachen aus den griechischen und anderen Mysterien können anhand jeder Enzyklopädie oder jedes Buches über dieses Thema verifiziert werden. In der Bibel finden wir häufig Hinweise. Wir wollen hier noch ein Zitat anführen, diesmal aus dem Gespräch mit Nikodemus (Johannes 3, 3-5):
… Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus entgegnete: Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, geboren werden? Er kann doch nicht in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und ein zweites Mal geboren werden. Jesus antwortete: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen.
Hier haben wir die zwei Geburten, die erste aus Fleich und die zweite aus Wasser und Geist. Diese Lehre über die zweite Geburt ist das Hauptthema bei Paulus. Es ist überraschend, dass man ihr nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat. Man hat höchstens an eine Geistes- oder Gemütsverfassung gedacht, die von reiner Selbstzufriedenheit bis zu wahrhaftiger Heiligkeit des Charakters schwankt. Aber durch den Glauben an die Erbsünde und das stellvertretende Sühneopfer und das Nichtwissen über Reinkarnation wurde die wirkliche Bedeutung verdunkelt und ging verloren.
Diese alten Lehren sind dennoch unsterblich. Deshalb überdauern sie die Jahrhunderte, wenngleich nur als Ritual. Die Zeit wird kommen, in der sie wieder zu Ehren gelangen. Das Abendmahl wird immer noch gefeiert, um göttliche Gnade zu bitten und auch als eine Erinnerung. Manche legen großen Wert auf den Glauben an die wunderbare Wandlung von Brot und Wein in das wirkliche Fleisch und Blut Christi.
Die Sakramente: die Taufe
Auch die Taufe ist ein Ritus, der den alten Mysterien entnommen ist. Es war die äußere und sichtbare Form eines Reinigungsprozesses, dem sich der Kandidat vor seiner Einweihung unterziehen musste. Jeder Kult kannte diese Einweihungswaschungen. Im Christentum bedeutet es die Zulassung zur Kirche und wird als eine Reinigung von Sünden, eine Verbindung mit Gott und als eine Gabe des Geistes betrachtet.
Die Sakramente werden im Katechismus als die äußeren und sichtbaren Zeichen einer inneren und spirituellen Gnade umschrieben; sie wiederholen körperlich, was spirituell bereits stattgefunden hat, sonst wäre die Zeremonie nicht mehr als eine leere Form. Die Taufe kann auf zwei Arten stattfinden: durch Wasser oder durch Feuer – in Übereinstimmung mit den beiden Formen des Abendmahls, die bereits erwähnt wurden. Der Kandidat für die Taufe sollte eigentlich in einem Alter sein, in dem er die Bedeutung der Zeremonie völlig verstehen kann. In der heutigen Zeit, in der sich unser Wissen über die Natur so sehr auf Äußerlichkeiten beschränkt, haben wir das innere Wissen über die Natur, über den Menschen und seine Verbindung zu ihr verloren, Wissen, das der Mensch in alten Zeiten besaß. Die Riten und Gebräuche, über die wir in der griechischen und römischen Geschichte lesen oder die bei alten und orientalischen Rassen üblich waren, kommen uns wie Aberglauben vor, weil wir die wahre Bedeutung nicht verstehen. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass die Griechen und Römer selbst in späteren Zeiten die Bedeutung aus den Augen verloren hatten und die Zeremonien einfach fortsetzten, weil es der Brauch war. Aber ein tiefergehendes Studium zeigt, dass sie ihren Ursprung in den Lehren der Alten Weisheit haben. Es ist merkwürdig, dass wir diese alten Rituale noch immer pflegen. Die Ursache liegt in dem unsterblichen Leben, das hinter Zeremonien verborgen liegt und so über die Zeitalter hindurch erhalten blieb – gleich einem Samen, der vom Schnee verdeckt ist –, bis für sie die Zeit anbricht, zu neuem Leben erweckt zu werden.
Die Bibel – II
- Reinkarnation
- Die Lehre von der Dreieinigkeit
- Das Kreuz
- Die Mysterien
- Die Wiederkehr Christi
- Die Goldene Regel
- Der innewohnende Christus
Reinkarnation
Weil die Lehren von Reinkarnation und Karma einen so wichtigen Teil der alten Weisheit ausmachen, aus der alle Religionen hervorgegangen sind, ist es wichtig, der Frage nachzugehen, weshalb so wenig davon im Christentum zu finden ist – aus dem einfachen Grund, weil sie gestrichen wurden. Der verstorbene Professor F. S. Darrow schrieb:
Eine kritische Geschichte der Lehren über Präexistenz und Reinkarnation wurde noch nie geschrieben. Das verfügbare Material für solch eine Geschichtsschreibung ist jedoch sehr umfangreich. Ich habe in meiner Bibliothek – ohne die geringste Übertreibung – buchstäblich hunderte von Büchern, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Viele davon behandeln ausschließlich diese Themen.
… Die theosophischen Lehren in Bezug auf die Präexistenz und die Wiedergeburt der menschlichen Seele wurden deutlich und immer wieder in der Christlichen Welt verkündet – von den Anfängen des Christentums an bis heute. Aber die Anerkennung dieser Wahrheiten unter bekennenden Christen war von Zeit zu Zeit sehr unterschiedlich, dem Ausmaß an Veröffentlichungen entsprechend, die in wechselnden Perioden möglich erschienen.
Derselbe Autor teilt das Thema chronologisch in drei Teile ein. Erstens die Periode des frühen Christentums bis zur Synode von Konstantinopel im Jahr 553, als die Lehren des Kirchenvaters Origenes offiziell als ‘ketzerisch’ verurteilt wurden.1 Dann die Periode von 553 bis 1438, als Gregorius Gemistus Florenz besuchte und die Philosophie von Plato neu belebte. Und schließlich die Periode von 1438 bis zu unserer Zeit.
Die Ursache, weshalb von diesem Wissen über Präexistenz und Reinkarnation nichts mehr zu hören ist, liegt darin, dass auf dieses Thema nicht mehr eingegangen wurde. Es gibt einen Überfluss an Literatur, aber da sie als ketzerisch verbannt wurde, geriet sie in Vergessenheit. Der Grund für diese Verbannung ist leicht zu erkennen. Diese Lehren zuzulassen, würde die Türe zu vielen Dingen öffnen, die mit dem kirchlichen Christentum unvereinbar sind. Und so ist uns die absurde Lehre geblieben, dass eine Seele in einem bestimmten Augenblick geschaffen wird und danach für ewig weiterexistiert. Sie überdauert zwar den Körper, kennt aber keine Präexistenz. Und die Lehre räumt uns eine Lebensdauer von circa 70 Jahren ein, die im Vergleich zum Meer der Ewigkeit, in dem wir uns befinden, zu einem Nichts wird.
Die christliche Lehre, so wie sie im Allgemeinen verkündet wird, gibt keine andere Erklärung für die Ungleichheiten und Unvollkommenheiten des menschlichen Lebens, als sie dem unerforschlichen Willen eines persönlichen Gottes zuzuschreiben. Das steht im Widerspruch zu dem Forschungsdrang und Durst nach Erkenntnis, den jeder freie Mensch besitzt. Sein angeborenes Gefühl für Gerechtigkeit lehnt sich dagegen auf, was er zu glauben gezwungen wird; sein Studium von der Natur verschafft ihm Einsicht in die Existenz von Gesetz und Ordnung, aber sein Religionsunterricht läuft dieser Auffassung zuwider anstatt sie zu bestätigen – was dem Gedanken Nahrung gibt, dass ihm seine Religion in verstümmelter Form überliefert wurde. Anstatt aus diesem Grund die Religion abzulehnen wäre es jedoch besser zu versuchen, den Schaden wieder gut zu machen und das Wahre vom Falschen zu unterscheiden.
Oft wird die Frage gestellt, ob Jesus selbst jemals die Reinkarnation lehrte. In seinem Buch Studies in Occult Philosophy schreibt Dr. G. de Purucker Folgendes darüber:
Ich wüsste nicht, dass es außerhalb der Evangelien eine Aufzeichnung gibt. Dort sind nur unbestimmte Anspielungen von rein mystischem Charakter zu finden, so wie die Frage des Nikodemus oder wie die Erklärung: „Dies ist der wiedergekommene Elias.“ Wir müssen immer an die allgemeine Tatsache der Geschichte denken, dass die Lehre der Reinkarnation in der einen oder anderen Form als Lehre bekannt war und von den Pharisäern in Judäa in der Zeit, in der Jesus vermutlich erschienen war, akzeptiert wurde. Sie war allgemein bekannt und wurde allgemein akzeptiert, tatsächlich in einem viel größeren Maße als heute in der Welt. …
Es gibt vier oder fünf solcher Anspielungen, aber keine direkten und spezifischen Erklärungen. Doch lautet die Frage: Lehrte Jesus die Reinkarnation?, dann ist die richtige Antwort: Ich bin vollkommen überzeugt, dass er es tat, denn die Reinkarnation war eine so allgemeine Lehre, und sie wurde zu seiner Zeit von den größten Denkern so vollständig akzeptiert, dass ein Mensch, der sie nicht akzeptiert hätte, als ein Mensch mit wenig Einsicht und Erziehung betrachtet worden wäre. Doch es gibt absolut keine authentische Aufzeichnung darüber, dass Jesus sie lehrte. Die Evangelien selbst wurden von Männern geschrieben, die irgendwann zwischen fünfzig und zweihundertfünfzig Jahre nach Jesu Tod lebten.
Reinkarnation war also eine der allgemeinen Glaubensüberzeugungen im Römischen Reich, das praktisch die ganze damalige zivilisierte europäische Welt außerhalb des Parthischen Reiches und des Orients einschloss. Das Römische Reich umfasste praktisch ganz Kleinasien und Ägypten, Italien, Griechenland, Gallien, Spanien, Teile Germaniens, den größten Teil Britanniens und kleine Teile Irlands. Alle germanischen Völker glaubten an Reinkarnation, alle keltischen Völker nahmen sie als eine Selbstverständlichkeit an. Sie war eine der druidischen Lehren, sie war eine der intellektuellen Grundüberzeugungen jener Zeit.
– S. 547, 548
Heute wird die Lehre über Reinkarnation von sehr vielen – auch im Westen – akzeptiert und sogar in kirchlichen Kreisen ist sie ein Gesprächsthema. Viele von ihnen bekennen sich öffentlich zu Reinkarnation und sehen darin keinen Widerspruch zu den Lehren Jesu. Diese Entwicklung gibt Anlass zu der Hoffnung, dass sich die Idee verbreiten wird und dass Probleme unserer Zeit, mit denen die Menschen zu kämpfen haben und worüber die Meinungen auseinander gehen, in einem anderen Licht betrachtet werden können. Wenn man erkennt, dass der Mensch sowohl eine Prä- als auch ein Postexistenz hat und immer wieder inkarniert, wird man versuchen, Probleme wie Abtreibung, Euthanasie und ähnliche mehr von einem ganz anderen Standpunkt aus zu betrachten. Diese Möglichkeit besteht nicht, wenn der Mensch als ein bei der Geburt neu erschaffenes Wesen angesehen wird, das nur eine kurze Existenz auf Erden hat, um danach entweder gänzlich zu verschwinden oder für ewig in einem himmlichen Zustand zu verweilen.
Die Lehre von der Dreieinigkeit
Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist – drei Personen und doch nur ein Gott. Das ist die christliche Dreieinigkeit. Es hat einen erbitterten Kampf über das wahre Wesen dieses dreieinigen Gottes und das wahre Wesen der Beziehung der drei Personen zueinander gegeben. Während der römischen Zeit war die gesamte christliche Welt uneinig hinsichtlich der Frage, ob der Sohn im Wesen mit dem Vater eins oder ihm ähnlich ist. Ist der Sohn ebenso ewig wie der Vater, oder ging er aus ihm hervor? Die streitenden Parteien werden oft beschuldigt, um Nichtigkeiten ein großes Aufheben zu machen. Aber das ist nicht gerecht, weil sehr kleine Details in der Symbolik oft von großer Bedeutung sein können. Dieser Glaubensunterschied war das Unterscheidungsmerkmal zweier Gruppen von Christen, die sich im Allgemeinen feindselig gegenüber standen.
Warum wurde die Gottheit als dreieinig dargestellt? Die Lehre ist im Neuen Testament nicht in formeller Form niedergelegt. Sie wurde von kirchlichen Konzilien erstellt, die der Lehre eine Form gaben. Die gewählten Worte sind nicht biblisch. Sobald die Lehre formuliert war, konnte sie verteidigt werden, indem man auf das Neue Testament verwies.
Es ist eine Tatsache, dass eine dreieinige Gottheit an der Spitze aller Theogonien und Kosmogonien gefunden werden kann; und im Allgemeinen beginnen philosophische Systeme mit etwas Ähnlichem. Gleich zu Beginn der Bibel wird sie als der Geist Gottes dargestellt, der über den Wassern des Raumes oder Chaos schwebt und das Universum hervorbringt. Das ist die große schöpferische Dreieinigkeit an der Spitze der Kosmogonien: ein universaler Geist, der Vater von allem; dann kommt das Chaos oder die Große Tiefe oder die Wasser des Raumes, welche oft die Große Mutter genannt werden. Aus diesen beiden geht der Sohn hervor, der das Universum darstellt. Diese philosophische Dreieinigkeit, die tatsächlich eine logische Notwendigkeit ist, wurde natürlich von der Kirche übernommen; dies brachte sie in Harmonie mit allen anderen Religionen und Philosophien, ganz besonders mit dem griechischen Denken und den verschiedenen orientalischen Systemen, die es in Kleinasien gab. Die Personen dieser Dreieinigkeit konnten dann leicht im Neuen Testament gefunden werden, denn Jesus spricht oft über den Vater und den Sohn und über den Heiligen Geist, den er senden wird. Aber diese Dreieinigkeit ist unvollkommen, denn es gibt zwar einen Vater und einen Sohn, aber keine Mutter. In der Kirche wird dies durch die Jungfrau ergänzt, auch wenn sie kein Teil der Dreieinigkeit ist. Die Jungfrau ist der Magna Mater oder Großen Mutter entlehnt, die in vielen asiatischen Religionen, die in Teilen des römischen Reiches vorherrschten, so sehr verehrt wurde. Tatsächlich gibt es immer eine Große Mutter, die als die Gemahlin des Vaters gesehen wird, sei es Hera, die Gemahlin des Zeus, Juno, die Gemahlin des Jupiter, Isis, die Gemahlin des Osiris und Mutter des Horus oder wer auch immer.
Im gewöhnlichen christlichen Glauben sind der Vater und der Sohn personifiziert, und der Heilige Geist ist ein ziemlich vager Begriff. Was man Inspiration nennt, ist in vielen Fällen nur rein emotionale Verzückung, mit ziemlich katastrophalen Auswirkungen. Es hat jedoch immer christliche Mystiker gegeben, die eine höhere Form der Inspiration verwirklicht haben. Wir sind uns bewusst, dass manche Leser hier auf den edlen Charakter und erhabenen Lebensstil von vielen hingebungsvollen und ernsthaften Christen hinweisen wollen, aber wir würden das gerne dem inneren Adel der menschlichen Natur zuschreiben, der diese Menschen befähigt, den wahren Geist ihrer Religion trotz deren Mängel in sich aufzunehmen. Mit einem besseren Verständnis des Christentums gäbe es mehr solche Menschen.
Das Kreuz
Er trug sein Kreuz und ging hinaus zur sogenannten Schädelhöhe, die auf Hebräisch Golgota heißt. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere, auf jeder Seite einen, in der Mitte Jesus.
– Johannes 19, 17-18
Denn das Wort des Kreuzes ist denen, die verloren gehen, Torheit; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft.
– 1 Korinther 1, 18
Darauf sagte Jesus zu seinen Jüngern: Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.
– Matthäus 16, 24
Das sind typische Beispiele für die Anwendung des Wortes ‘Kreuz’ im Neuen Testament; es stellt den Balken dar, der bei der Kreuzigung verwendet wurde, oder die christliche Lehre oder eine Last oder ein Opfer. Dieses heilige Symbol des Christentums ist eine bleibende Erinnerung an die wichtigste Lehre, dass Christus für unsere Sünden starb, wodurch wir gerettet wurden. Wir verwenden es auch für die Mühen, die wir auf uns nehmen, wenn wir unseren persönlichen Willen unserem Glauben opfern.
Das Kreuz ist jedoch ein universales religiöses und philosophisches Symbol. Wir begegnen ihm zum Beispiel in Mexiko, Indien und Tibet. In der ägyptischen und hinduistischen Symbolik ist es ebenfalls allgemein bekannt. Das Kreuz ist ein Symbol, das in den heiligen Mysterien des alten Griechenland Verwendung fand. Dr. Lundy erklärt in seinem Buch Monumental Christianity, dass ‘selbst die Juden dieses Zeichen der Rettung anerkannten, bis sie Christus verwarfen’. Und er spricht von einer antiken hinduistischen Statue, einer menschlichen Figur an einem Kreuz, mit Nagelnarben an Händen und Füßen – tatsächlich ein prächristliches Kruzifix.
Die Theosophie zeigt, dass die Lehren der Alten Weisheit in einer universalen symbolischen Sprache bewahrt wurden, welche die wichtigsten Lehren überlieferte. Und das Kreuz ist eines dieser Symbole. Das ist der Grund, weshalb man ihm überall begegnet. Die Sonne, der Mond und das Kreuz bilden eine Dreieinigkeit von Symbolen, die jeweils den Vater, die Mutter und den Sohn andeuten; kosmischer Geist, kosmischer Stoff und das Universum, welches durch die Wechselwirkung von Vater-Mutter geboren wird. Im Falle des Menschen, der eine Kopie des Universums im Kleinen ist, deutet das Kreuz auf das hin, was Johannes das Fleisch gewordene Wort nennt – den Sohn, den Christus, der in jedem Menschen ist und den spirituellen Teil seiner Natur bildet.
Um die Idee, weshalb dieses Symbol gewählt wurde, vollständig zu erklären, müssten wir tiefer darauf eingehen, als es hier möglich ist. Wir können jedoch sehr wohl sagen, dass die zwei Linien des Kreuzes (ganz besonders denken wir hier an das griechische Kreuz, mit vier Armen gleicher Länge) Geist und Stoff darstellen und dass die Kreuzung dieser beiden Linien die Vereinigung oder Wechselwirkung beider Elemente bedeutet, um das geoffenbarte Universum zu bilden. Die spirituelle Monade des Menschen wurde gekreuzigt – hervorgerufen durch den Aufenthalt in einem animalischen Körper, mit dem er ein Kreuz formt – dieser Kreuzigung folgt mit Sicherheit eine Wiederauferstehung.
Dazu ist noch zu bemerken, dass eine wirkliche Kreuzigungszeremonie für Einweihungskandidaten in die heiligen Mysterien stattfand. In manchen Teilen des römischen Reiches bestanden diese noch in der christlichen Ära. Die Kandidaten wurden in einem bestimmten Stadium ihrer Einweihung an ein Kreuz oder an eine kreuzförmige Bank gebunden, wo sie zwei Tage in Trance liegen blieben, während ihre befreite Seele unerlässliche Erfahrungen durchlebte und am dritten Tag wieder zum Leben erwachte. Es ist möglich, dass die Überlieferung in den Evangelien darauf basiert. Wie dem auch sei, die Christen haben das Kreuz übernommen und es später als ihr Symbol gewählt. Die beiden anderen – Sonne und Mond – findet man in den Symbolen Japans und im Islam.
Aber diese Bedeutung des Kreuzes hat man mit jenem Kreuz verwechselt, das im alten Rom zur Vollstreckung der Todesstrafe verwendet wurde – einem Marterpfahl, meistens mit einem Querbalken an der Spitze, an dem der Verbrecher festgemacht wurde. Ob es tatsächlich einen Lehrer gegeben hat, der nach einem sehr kurzen Auftritt gefangen genommen, verurteilt und in dieser Weise hingerichtet wurde, ist zu bezweifeln. Es gibt kein einziges historisches Zeugnis, das dies bestätigen würde.
Die Kreuzigung Christi ist der symbolische Name für eine der wichtigsten Lehren der Alten Weisheit, wurde jedoch in eine Erzählung über die tatsächliche Kreuzigung Jesu durch Pontius Pilatus unter der Regierung von Tiberius materialisiert. Kritiker, die an der Authentizität dieser Überlieferung zweifeln oder – wenn die Geschichte authentisch ist – an deren Bedeutung, sind mit ihren Bedenken zu weit gegangen, indem sie das Christentum selbst oder manchmal sogar alle Religionen verwarfen. Das beweist, wie wichtig es ist, das Wahre vom Falschen zu trennen und Vorsorge zu treffen, dass spirituelle Wahrheiten, die in symbolische Sprache gekleidet sind, nicht buchstäblich und auf materialistische Weise interpretiert werden.
Das Zeichen des Kreuzes ist ein heiliges Symbol geworden, ein Zeichen, das seinen Wert in einer Kombination von Ideen findet. Fromme und mystische Menschen verwenden es als ein wirksames Mittel zur Anrufung geistiger Hilfe, obschon es manchmal auch als Kriegsbanner diente. All dem kann noch hinzugefügt werden, dass das Kreuz ein besseres Symbol ist, wenn es innerhalb eines Kreises gezeichnet wird oder an den oberen Balken ein Kreis angefügt wird. Der Kreis steht für den Geist, das Kreuz allein hingegen bedeutet das Materielle. Das kann als charakteristisch für die durch das Christentum dominierten Zeiten betrachtet werden. Diese sind – wie bereits weiter oben dargestellt – von einer buchstäblichen Interpretation mystischer Symbole gekennzeichnet.
Die Mysterien
Im alten Griechenland gab es die Mysterien von Eleusis und andere, weniger bekannte Mysterienschulen, in denen Kandidaten zur Initiation aufgenommen wurden. Solche Schulen gab es auch in Ägypten, Indien und verschiedenen anderen Ländern. Man hat festgestellt, dass zwischen den Schulen in verschiedenen Städten Beziehungen unterhalten wurden und dass sie eine einheitliche Lehre vermittelten. Das war die Geheimlehre oder die Weisheitsreligion, deren moderner Vertreter die Theosophie ist. Da der Mensch essenziell göttlich und durch die Evolution ein direkter Nachkomme göttlicher Wesen ist, hat er die Fähigkeit, die latenten spirituellen Kräfte in sich zu erwecken. Dies nennt man den Pfad der Weisheit und er ist eigentlich im wahren Sinne des Wortes die Erlösung. Die Evangelien enthalten ausreichende Hinweise, dass der Lehrer, dessen Worte dort zum Ausdruck gebracht werden, sich der Existenz dieses Pfades bewusst war. Er wollte, dass seine Jünger diesem folgen und nennt ihn das Königreich Gottes. Es wird auch berichtet, dass er neben dem, was er die Menge lehrte, im Verborgenen zu seinen Jüngern sprach.
In Ägypten und Teilen Asiens existierten in der christlichen Ära noch einzelne dieser Mysterienschulen, und ihr Einfluss zeigt sich deutlich in den Lehren der Gnostiker, der Neuplatoniker und anderer, mit denen zusammen sich das Christentum entwickelte. Der Prozess der Auswahl und des Sammelns, der in den kanonischen Evangelien resultierte, führte dazu, dass einige Auszüge aus diesen Lehren dem Lehrer – genannt Jesus – in den Mund gelegt wurden.
Paulus, der seine Briefe anscheinend vor der Geschichte der Evangelien abgefasst hatte, interpretiert die christlichen Lehren wesentlich esoterischer. Der Art seiner Sprache nach zu urteilen war er selbst initiiert, wenigstens in einem gewissen Grad; aber es ist deutlich, dass er seine Lehren dem beschränkten Fassungsvermögen seiner verschiedenen Zuhörer anpassen musste und sich oft der Bildersprache bediente, deren wahre Bedeutung nur von wenigen verstanden werden konnte.
Die Wiederkehr Christi
Aus den Erzählungen der Evangelien und aus dem, was die Geschichte uns berichtet, können wir schließen, dass sehr viele der ersten Christen sehr zuversichtlich glaubten, Christus würde wirklich physisch wiederkehren – und zwar recht bald, um das Böse zu vernichten und ein Reich der Gerechten auf Erden zu gründen. Dieser Gedanke war mit dem Verfall des römischen Reiches verbunden, welches als die böse Gesellschaft galt, die Christus umstürzen sollte, und es ist kein Wunder, dass diese Christen die Missgunst der römischen Herrscher erregten.
Auch die Juden, aus denen so viele Christen hervorgingen und deren Einfluss auf die christlichen Ideen groß war, hatten ihre eigenen Prophezeiungen über die Wiederkehr des einen oder anderen ihrer eigenen Propheten als der ‘Messias’; und dieser Gedanke hat offenbar viel zu dem Glauben an die Wiederkehr Christi beigetragen. Einige Bibelkritiker sind davon überzeugt, dass Jesus selbst, jedenfalls zu einer bestimmten Zeit, daran glaubte. Wir müssen aber im Auge behalten, dass die uns überlieferten Evangelien zum größten Teil angepasst sind.
Ein ziemlich unbestrittenes Beispiel dafür kann im Evangelium nach Matthäus 24, 3 gefunden werden, das in der Authorisierten Fassung ziemlich falsch aus dem Griechischen übersetzt wurde. In der von einer Gruppe von Theologen und Schülern im Jahre 1881 angefertigten Überarbeiteten Fassung wurde es jedoch richtig übersetzt. Ein Vergleich der beiden Auslegungen zeigt, dass die früheren Übersetzer das griechische Original in eine Bestätigung ihrer Ansichten über die Rückkehr verdrehten. Die Abschnitte lesen sich wie folgt:
Authorisierte Fassung: Als er auf dem Ölberg saß, wandten sich die Jünger, die mit ihm allein waren, an ihn und fragten: Sag uns, wann wird das geschehen, und was ist das Zeichen für deine Ankunft und das Ende der Welt?
Überarbeitete Fassung: … das Zeichen Deiner Gegenwart und für die Vollendung der Zeitalter?
Wir haben hier eine Anspielung auf die Lehre von den Zyklen, von der Aufeinanderfolge der großen Wurzelrassen. Die ‘Vollendung der Welt’ findet statt, wenn die heutige Wurzelrasse ihren Zyklus vollendet hat. Die Menschheit wird sich teilen: in diejenigen, die weit genug fortgeschritten sind, um den Kern der folgenden großen Rasse zu bilden, und diejenigen, die zurückbleiben. Symbolisch wird das in der Allegorie von der Sintflut und der Arche dargestellt. Die Zivilisation einer Rasse geht unter, die Samen bleiben erhalten. Jesus sagt in seiner Antwort, dass das Ende noch nicht da ist, dass Kriege kommen werden und dass es viele falsche Propheten geben werde. Die Wiederkunft Christi bedeutet, dass der Christosgeist aufs Neue in der Menschheit oder in all denjenigen, die ihn empfangen können, erweckt wird.
Unter den Christen von heute, die noch immer eine tatsächliche physische Wiederkunft Christi erwarten, sind die Adventisten; es gibt auch Christen, welche die Bücher von Daniel, Ezechiel und die Offenbarung in diesem Sinne erklären. Doch obwohl diese Prophezeiungen mit großen zyklischen Veränderungen verbunden sind und obwohl die Adventisten sich solcher bevorstehender Veränderungen intuitiv bewusst sind, sind ihre Interpretationen zu buchstäblich und zu materialistisch.
Die Goldene Regel
Diese Regel wird oft als typisch für das Christentum bezeichnet, aber es ist bekannt, dass sie in allen anderen Religionen vorkommt. Um hier einige Beispiel anzuführen, wo wir überall auf diese Regel stoßen, möchten wir einige Zitatstellen aus James Alan Longs Buch Bewusstsein ohne Grenzen anführen:
Indianer Amerikas – Großer Geist, gewähre, dass ich meinen Nächsten nicht kritisiere, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins zurückgelegt habe.
Buddhismus – Auf fünffache Weise sollte ein Sippenangehöriger seinen Freunden und Verwandten dienen – durch Großzügigkeit, Höflichkeit, Wohlwollen, indem er sie so behandelt, wie sich selbst und indem er treu zu seinem Wort steht.
Christentum – Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das sollt ihr ihnen tun, denn das ist das Gesetz und die Propheten.
Konfuzianismus – „Gibt es ein einzelnes Wort“, fragte Tsu kung, „das für das ganze Leben als eine gültige Regel angenommen werden kann?“ Der Meister antwortete: „Heißt dieses Wort nicht Sympathie? Füge anderen nicht zu, was du selbst nicht lieben würdest.“
Griechische Philosophie – Füge anderen nicht zu, was du selbst nicht erleiden möchtest.
– ISOCRATES
Behandle deine Freunde so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest.
– ARISTOTELES
Hinduismus – Benimm dich gegen andere nicht in der Weise, die dir selbst widerwärtig ist. Das ist die Essenz der Pflicht (Dharma). Alles andere entstammt egoistischem Verlangen.
Islam – Keiner von euch ist gläubig, ehe er nicht für seinen Bruder schätzt, was er für sich selbst schätzt.
Judentum – Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Zoroastrismus – Nur jenes Wesen ist gut, das einem anderen nichts zufügt, was ihm selbst schaden würde.
Für einen Theosophen ist die Goldene Regel mehr als ein rein moralisches Gebot. Sie ist ein notwendiges Gesetz der menschlichen Natur. Denn der Mensch, der essenziell göttlich ist, hat sich von seiner eigenen inneren Natur entfernt und muss sie wieder zurückgewinnen. Sein größtes Hindernis ist Selbstliebe; deshalb kann er sein verlorenes Königreich nur zurückgewinnen, indem er diese Eigenliebe überwindet. Er muss lernen, unpersönlich zu handeln. Damit wird deutlich, dass Gedanken an den eigenen Fortschritt, an das Erwerben okkulter Kräfte für sich selbst oder sogar der Wunsch nach Spiritualität niemals ausreichen. Denn wenn wir solchen Wünschen nachgeben, stärken wir nur den Feind, den wir besiegen wollen. Eine schwache Persönlichkeit durch eine stärkere zu ersetzen, kann nicht die Antwort sein. Ein großer Teil unseres täglichen Lebens wird von Handlungen in Anspruch genommen, bei denen von Eigenliebe nicht die Rede ist – selbstlose Verrichtungen, die von einem aufrichtigen Wunsch geleitet werden, jemand anderen zu dienen.
Vielleicht haben wir erlebt, wie wir einem anderen durch die eine oder andere egoistische Tat Leid zugefügt haben. Wir haben uns in einem Gefühl der Reue vorgenommen, so etwas in Zukunft nicht wieder zu tun. Diese Entscheidung entsprang keinem eigennützigen Gedanken, sondern ausschließlich dem Wunsch, anderen kein Unrecht mehr anzutun.
Das Motiv, das in diesen Fällen wirkt, ist Liebe – keine Liebe, die mit Leidenschaft verbunden ist, sondern reine, unpersönliche Liebe. Sie ist eine kosmische Kraft. Sie wirkt auch in der Tierwelt, denn das, was wir so herabsetzend ‘Instinkt’ nennen, ist tatsächlich die reine und einfache Manifestation einer großen kosmischen Kraft, die das Tier dazu bringt, sich für seine Jungen aufzuopfern und den Hund dazu, ohne Zögern für seinen Herrn zu sterben. Der Lehrer aus den Evangelien achtet das Einfache – die Vögel, die anderen Tiere, die Lilien auf dem Felde und die Kinder. Auch wir fühlen uns oft dazu geneigt, wenn wir Erfahrungen mit menschlichem Egoismus gemacht haben.
Wenn also der Lehrer die Goldene Regel verkündet, weist er für diejenigen, die danach streben, die wahre Bestimmung des Menschen zu erfüllen, auf das Gesetz des spirituellen Lebens hin, auf das himmlische Königreich, das Harmonie ist und nicht Streit. Es ist ein Pfad, den der Mensch immer betreten kann und dem die gesamte Menschheit einmal folgen muss, selbst wenn es immer Menschen geben wird, die dieses Ideal nicht erreichen, in einem Zyklus ihre Gelegenheit versäumen und auf die nächste Chance zu Fortschritt warten müssen. Es wird behauptet, die Bergpredigt wäre nicht anwendbar und hätte die Auflösung der Gesellschaft zur Folge. Sie hält uns jedoch ein Ideal vor Augen, und es ist gerade der Besitz eines solchen Ideals, der verhindert, dass der Mensch unter der Last seiner Probleme zusammenbricht. Wenn wir damit anfangen, unsere eigenen Angelegenheiten zu ordnen, erwerben wir vielleicht für uns die Vision und die Kraft, die für eine Umgestaltung der Gesellschaft nötig sind.
Die Goldene Regel zeigt uns den Weg zur Verwirklichung der Einheit aller Lebewesen. Und das wird hauptsächlich in dem Gebot zum Ausdruck gebracht, dass wir unseren Nächsten verzeihen müssen. Wenn dies allerdings nur bedeutet, dass wir unseren Ärger ihm gegenüber unterdrücken und uns auch weiterhin als sein Opfer betrachten, haben wir die wahre Gesinnung der Vergebung noch nicht erreicht. In einem größeren Lebensbild – das wir erstreben und auf dessen Weg uns der Lehrer hinweist – werden wir entdecken, dass unser Nächster tatsächlich ein Teil unseres eigenen Selbst ist. Dann werden alle Gefühle von Ablehnung oder Kampf absurd. In der Finsternis, in der wir uns jetzt befinden, haben wir zu Unrecht die Einheit in zwei Teile gespalten, wobei sich immer einer davon benachteiligt fühlt. Die eigentliche Gesinnung des Vergebens besteht in der Aufhebung dieser Illusion.
Diese Regel ist die wichtigste Vorschrift für den Schüler in jeder Religion oder Philosophie, welche die Selbstverwirklichung als Ziel hat und den Aspiranten auf den Pfad von Weisheit und Wachstum hinweist. Es kann auch nicht anders sein, denn es ist Selbstsucht, die den Menschen an die Illusionen und Frustrationen des irdischen Lebens bindet. Um dem zu entkommen, ist es nötig, zugunsten eines höheren Gesetzes von der Selbstsucht Abstand zu nehmen. Es ist vielleicht angebracht hinzuzufügen, dass die strikte Befolgung eines Gesetzes – wie zum Beispiel die Bergpredigt – von einem Durchschnittsmenschen zu viel fordert. Aber auch wenn wir vielleicht die hohen Gipfel den wenigen überlassen müssen, die stark genug sind, um sie zu erklimmen, steht jeder Mensch jeden Augenblick vor der Wahl zwischen selbstsüchtigem und selbstlosem Verhalten. Er muss sich entscheiden. Wenn er das Ideal vor Augen hat und den Sinn dahinter erkennt, wird er imstande sein, die richtige Wahl zu treffen. Damit bereitet er sich auf die Zukunft vor. Denn für jeden muss einmal der Tag kommen, an dem ein Ausweichen nicht länger möglich ist und er sich endgültig entschließen muss, welchen Weg er einschlagen wird. Niemals war die Ausübung von Selbstlosigkeit notwendiger als heute; und die Menschen würden Selbstlosigkeit leichter erreichen, wären sie nicht von materialistischen Formen von Religion und Wissenschaft behindert, die den niederen Aspekt der menschlichen Natur betonen. Religion und Wissenschaft sind sich noch kaum der Tatsache bewusst, dass jeder Mensch in seinem eigenen tiefsten Wesen alle Möglichkeiten besitzt, um über das kleine Menschliche zum wahrhaftig Menschlichen hinauszuwachsen und – wenn er den Weg beschreiten will – zum Göttlichen.
Der innewohnende Christus
Damit ist jener Christus gemeint, der in jedem menschlichen Herzen wohnt, nicht der Mann Christus, der angeblich gekreuzigt wurde. Die Lehre des immanenten Christus wird in den Evangelien und in den Briefen des Paulus gelehrt. Sie kann also von allen Suchenden in der Bibel gefunden werden. Diejenigen, welche die vermenschlichte kirchliche Lehre der Kreuzigung eines bestimmten Menschen vorziehen, können die biblischen Lehren nur in einem bildlichen Sinne auffassen. Trotzdem wäre es falsch, das Christentum nach seinen gröbsten Formen zu beurteilen. Viele aufgeklärte und freidenkende Geistliche akzeptieren diese Lehre des innewohnenden Christus. Viele hingebungsvolle Christen nähern sich diesem Gedankenbild mehr oder weniger. Für viele bedeutet das Leben Christi, wie es in den Evangelien beschrieben wird, ein Ideal und ein Muster, nach dem sie ihr Leben zu gestalten versuchen. Heilige und Mystiker haben sich diesem Gedankenbild durch Nachsinnen über dieses Ideal bis zu einem gewissen Grad angenähert. Aber das ist nicht genug. Noch zu oft herrscht der Gedanke vor, dass der Mensch schwach ist, in Sünde geboren, und dass er auf die Erlösung nach dem Tod wartet. Für sie wäre der Versuch, Christus nachzufolgen, eine Anmaßung ihm gegenüber. Ursprünglich jedoch ist Christus der Göttlichen Geist, der im Herzen unseres Wesens wohnt – der Christus, der geopfert und begraben ist und in uns wieder auferstehen soll. Bestimmte große Lehrer können in gewissem Sinne Christusse genannt werden, weil sie einen Zustand der Selbstverwirklichung erreicht haben, von dem bei der Mehrheit überhaupt noch keine Rede ist. Aber sie stellen sich nicht als der einzige Sohn Gottes dar, sondern führen uns durch ihr Leben ein Beispiel vor Augen, dem wir nachfolgen können. Wir alle sind Söhne Gottes, so wie Jesus das war; und wir können tatsächlich erreichen, was er erreichte, so wie er es verspricht:
Amen, amen, ich sage euch: Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich vollbringe, auch vollbringen, und er wird noch größere vollbringen, denn ich gehe zum Vater.
– Johannes 14, 12
Dieser immanente Christus wird der ‘Sohn’ genannt und der göttliche Geist oder ‘Vater’.
… niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will.
– Matthäus 11, 27
An dieser Stelle wollen wir ein Zitat aus The Esoteric Character of the Gospels [Collected Writings, Band viii, S. 172-217] von H. P. Blavatsky anführen:
Der erste Schlüssel, den man braucht, um die dunklen Geheimnisse zu entwirren, welche in dem mystischen Namen Christus stecken, ist der Schlüssel, der die Tür zu den alten Mysterien der frühen Āryaner, Sabäer und Ägypter erschloss. Die Gnosis, die durch das christliche Schema verdrängt wurde, war universal. Sie war das Echo der ursprünglichen Weisheitsreligion, die einst das Erbe der ganzen Menschheit gewesen war; und darum kann man mit Recht sagen, dass der Christus-Geist (der göttliche Logos) in seinem rein metaphysischen Aspekt von ihren Anfängen an in der Menschheit gegenwärtig war. Der Verfasser der Homilien des Clemens hat recht. Das Christus-Mysterium, von dem man jetzt annimmt, dass Jesus von Nazareth es gelehrt habe, „war identisch“ mit dem, was von Anfang an „denjenigen, die würdig waren, mitgeteilt wurde“, … .
… und die Worte wenden sich an diejenigen, welche, ohne Eingeweihte zu sein, danach streben und es durch persönliche Anstrengungen erreichen, das Leben zu leben und die sich daraus naturgemäß ergebende spirituelle Erleuchtung erhalten, indem sie ihre Persönlichkeit – den ‘Sohn’ – mit dem ‘Vater’ vereinigen, ihrem individuellen göttlichen Geist, dem Gott in ihnen.
Dazu ein Vergleich mit der Bibel selbst:
Wisst ihr denn nicht, dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben. Wenn wir nämlich ihm gleich geworden sind in seinem Tod, dann werden wir mit ihm auch in seiner Auferstehung vereinigt sein. Wir wissen doch: Unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt, damit der von der Sünde beherrschte Leib vernichtet werde und wir nicht Sklaven der Sünde bleiben. Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde. Sind wir nun mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden.
– Römer 6, 3-8
Der Erste Mensch stammt von der Erde und ist Erde; der Zweite Mensch stammt vom Himmel.
– Korinther 15, 47
Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden.
– Korinther 15, 22
Adam bedeutet im Hebräischen ‘irdisch’ und stellt die irdische Natur des Menschen dar; aber man hat die Allegorie buchstäblich aufgefasst und einen Menschen daraus gemacht. Paulus wendet das Wort aber hier in der richtigen symbolischen Bedeutung an. Demgegenüber steht der himmliche Mensch – Christus –, der spirituelle Teil der menschlichen Natur. Der eine ist sterblich, der andere unsterblich. Aber bezieht sich das auf einen Zustand der Vollendung nach dem Tod? Keineswegs, denn gemäß dieser Lehre können wir ihn erreichen, während wir auf Erden sind. Die Erde ist der Ort, wo der Mensch arbeitet; hier lernt er seine Lektionen und muss die irdischen Kräfte besiegen. Den Zustand, in welchem wir das erreicht haben und aufhören, in unserer irdischen Natur tot zu sein und mit Christus lebendig werden, nennt man die zweite Geburt.
Im Evangelium nach Matthäus (3, 11) sagt Johannes der Täufer:
Ich taufe euch nur mit Wasser (zum Zeichen) der Umkehr. Der aber, der nach mir kommt, ist stärker als ich, und ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe auszuziehen. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen.
Wenden wir uns jetzt zu Johannes, wo ein Rabbiner insgeheim zu Jesus kommt und fragt, was mit der Redensart gemeint ist, dass ein Mensch aufs Neue geboren werden muss, und folgende Antwort bekommt:
Jesus antwortet ihm: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.
– Johannes 3, 3
Kann jemand dann zum zweiten Male in den Mutterschoß eingehen, fragt Nicodemus; und er bekommt zur Antwort:
Jesus antwortet: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist.
– Johannes 3, 5-6
Es hat keinen Sinn, dieses kleine Buch mit Zitaten zu überfrachten, denn die vielen Hinweise auf das Königreich Gottes (oder des Himmels) sind genügend bekannt. Es ist klar, dass dieser Ausdruck auf einen Zustand zielt, der für den Menschen während seines Aufenthalts auf Erden erreichbar ist, und dass die Redensarten in den Evangelien, wo sie ursprünglich herkommen, Aussagen eines Lehrers der Alten Weisheit sind. Sie wurden so zurechtgebogen, als würden sie sich auf einen segensreichen Zustand nach dem Tod beziehen, was viele Menschen nicht sehr anspricht und nicht in das allgemeine Schema passt, welches wir aus unserer Kenntnis über die Natur und das Leben ableiten.
Christentum und Moral
Wenn das Christentum (so wie es üblicherweise aufgefasst wird) abgelehnt wird, könnte man sich fragen, ob damit die Grundlage für sittliches Benehmen verloren geht und allgemein ein Niedergang in Zügellosigkeiten jeglicher Art einsetzen würde. Das ist eine ernste Frage, die man nicht einfach mit kühnen Behauptungen abtun kann. Manche Menschen behaupten, dass die Quelle für gutes Benehmen in der menschlichen Intelligenz und in menschlichen Instinkten zu finden sei, sie meinen, dass die Religion eher ein Hindernis als eine Hilfe sei und dass diese Quelle ausreichen würde. Das Gegenargument könnte sein, dass diese Menschen vom Kapital der guten Gewohnheiten, das über Jahrhunderte durch den religiösen Einfluss angesammelt wurde, profitieren, dass dieses Kapital sich schnell erschöpfen könnte, und dass die menschliche Intelligenz und menschlichen Instinkte zu dessen Erneuerung nicht ausreichen würde.
Hier liegt tatsächlich der Schwachpunkt in der Argumentation. Was dieser Philosophie fehlt, ist eine Grundlage. Wenn die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird, versteckt man sich leicht hinter Agnostizismus – der Auffassung, dass diese fundamentalen Fragen außerhalb des Bereiches der Untersuchung liegen und der Versuch sinnlos wäre, sie zu durchschauen. Vielleicht müssen wir hier die Frage stellen, ob Sittlichkeit eine Ursache ist oder eine Folge. Wenn wir sagen, dass Moral aus Intelligenz und Instinkt hervorgeht, weichen wir der Schwierigkeit eigentlich nur aus.
Wir müssen etwas über die geheimnisvollen Kräfte im Menschen wissen. Aus welcher Quelle stammen sie? Sollen wir sie als eine Art erleuchtetes Selbst-Interesse bezeichnen? In diesem Falle unterstützen wir die Meinung, dass Sittlichkeit auf Selbst-Interesse beruht und Selbst-Interesse die Grundlage menschlichen Verhaltens ist. Die das Materielle beherrschenden Kräfte müssen selbst immateriell sein, denn sonst drehen wir uns im Kreis und behaupten, dass die Dampfmaschine ihren eigenen Dampf erzeugt oder ein Motor und ein Dynamo sich gegenseitig in Bewegung halten. Das trifft auch auf unser Problem zu. Das menschliche Sozialverhalten kann man sich nicht als einen Mechanismus vorstellen, der unentwegt aus eigener Kraft in Bewegung bleibt; ein solcher Mechanismus könnte sich niemals selbst veredeln und würde höchstwahrscheinlich mit der Zeit verfallen. Seine wahre Quelle ist das ‘Unerkennbare’, dessen Existenz man zwar anerkennt, aber meist nicht einer Untersuchung wert erachtet.
Hier kommt die Religion ins Spiel. Man hat das Kind mit dem Bad ausgeschüttet. Es ist der Geist der Religion, die Religion selbst, welche die ewige Vitalität der menschlichen Rasse am Leben erhält, Gehorsam gegenüber den essenziellen Gesetzen sittlicher Gesundheit erzwingt und den aus reiner Selbstsucht resultierenden totalen Zusammenbruch verhindert.
Und diese wahre Religion hat ihren Altar im menschlichen Herzen. Eine fromme, hingebungsvolle, emotionale Haltung genügt aber nicht, um das Feuer in einer Zeit lebendig zu halten, in welcher der Intellekt so in den Vordergrund gestellt wird. Dieser Intellekt hat sich zur Selbstsucht gesellt – mit allen von uns befürchteten Folgen. Wir werden moralisch bankrott gehen, wenn die Reichweite des Intellekts nicht so erweitert werden kann, dass wir auch jene Anteile der menschlichen Natur, die unter der Oberfläche liegen, erforschen und kennen lernen können. Um im körperlichen Sinne gesund zu leben, müssen wir die Gesetze der Hygiene und Gesundheit kennen; wir können uns nicht auf blinden Glauben und Vermutungen verlassen. Und es ist die Religion, die eine tiefere Erkenntnis des Lebens geben kann und muss.
Dass das Christentum in dieser Hinsicht oft ziemlich versagt hat, ist auf eine Vermischung des ‘Weizens mit der Spreu’ zurückzuführen. In früheren Abschnitten haben wir versucht, die essenziellen Wahrheiten des Christentums hervorzubringen und so zu erklären, dass sie auf das menschliche Leben eine größere Kraft und Wirkung ausstrahlen. Wir haben den Menschen nichts weggenommen, was sie zu ihrer Unterstützung brauchen. Alles, was man zu Gunsten des christlichen Einflusses sagen könnte, könnte mit mehr Überzeugung durch eine theosophische Interpretation des Christentums vorgebracht werden. Wir haben ausdrücklich erklärt, dass wir denjenigen, die in ihrer Religion das finden, was sie brauchen und nichts weiter suchen, nichts wegnehmen wollen. Unser Ziel ist es, denjenigen zu helfen, denen das nicht genügt, und die ernsthaft nach der wahren Grundlage für menschliches Wohlergehen suchen.
Eine Religion, die lehrt, dass der Mensch im Grunde seines Wesens göttlich ist, kann in ihrem Einfluss nicht unmoralischer sein als eine Religion, die lehrt, dass er ein armer Sünder ist. Gemäß der theosophischen Interpretation des Christentums ist das Sittengesetz das essenzielle Gesetz des menschlichen Verhaltens. Nur dadurch kann der Mensch Glück, Selbstverwirklichung und ein Leben in Harmonie mit seinen Mitmenschen finden. Es ist allein diese Interpretation, die das Leben vereint und Intellekt und Herz in Harmonie bringt, damit all unsere Fähigkeiten zusammenarbeiten können, um Vollkommenheit zu erlangen.
Gott
Gott ist nicht eine Person, die außerhalb des Universums existiert. Er ist auch nicht getrennt vom Menschen. Gott ist überall; es gibt nichts, das nicht Gott ist. Gott ist das Essenzielle, die Wurzel aller Existenz, die spirituelle Grundlage von allem, was ist. Viele Philosophen sind zu dieser Vorstellung von Gott gekommen und sich bewusst, dass der theologische Gott ein vermenschlichtes Ideal ist. Gott, Universum und Mensch sind untrennbar und bilden eine Einheit. Wir können uns Gott nur nähern, indem wir die Tiefen unseres eigenen Wesens ergründen, denn der Mensch selbst ist eine Offenbarung der Gottheit. Was er durch Selbsterkenntnis erreichen kann, ist grenzenlos.
Die vielen Vorbehalte gegen den Gedanken eines persönlichen und außerkosmischen Gottes sind hinreichend bekannt und müssen hier nicht erwähnt werden. Ein solcher Gott scheint wenig Interesse an menschlichen Angelegenheiten zu haben und von der Natur getrennt zu sein, die eine Art sekundäre Gottheit geworden ist. Diese Entwicklung hat zur Folge, dass viele Menschen sich nicht mehr mit dem Gedanken an Gott beschäftigen, obwohl der Sinn aller Dinge unverständlich bleibt. Dieses Bild von Gott aufzugeben bedeutet nicht, sich das Universum als eine auf gut Glück arbeitende Maschine vorzustellen.
Die Lehre des extremen Materialismus hat keine Grundlage. Agnostizismus ist ein Bekenntnis der Unwissenheit und Hilflosigkeit. Wir könnten uns Humanisten nennen und den Menschen zum Mittelpunkt aller Dinge machen. Aber was ist denn dieser Mensch? Jeder, der die Wunder seines eigenen bewussten Seins studiert, weiß, dass hinter den Grenzen des Denkens ein tiefes Mysterium liegt. Wenn wir annehmen, dass das Mysterium völlig unerklärlich ist, machen wir aus dem ganzen Universum und dem menschlichen Leben eine grausame Komödie.
Es hat immer christliche Mystiker gegeben, die lehrten, dass eine Offenbarung die Folge von Selbstreflexion ist. Das ist der einzige Weg, um Gott zu erfahren. Wie bereits erwähnt, hat Jesus den Weg aufgezeigt, wie diese Erkenntnis gewonnen werden kann. Im Menschen liegen latente Fähigkeiten, die den Intellekt, so wie wir ihn jetzt kennen, übersteigen – die ihn nicht beiseite schieben oder auflösen, sondern ergänzen. Der Mensch kennt die Erhabenheit seiner eigenen Natur wenig, auch wenn einige von uns in seltenen Augenblicken einen Schimmer davon erhaschen. Wir wollen nach dem Höchsten streben, das wir erreichen können, und wir wollen unsere Vision durch die Vorstellung eines persönlichen Gottes – das wahrlich ein Götzenbild wäre – nicht länger einengen.
Das Gebet
Wenn wir zu einem persönlichen Gott beten, suchen wir an der falschen Stelle nach Hilfe. Das würde bedeuten, dass göttliche Güte und Weisheit unsere Gebete als Stütze benötigen. Ein extremes Beispiel davon ist, wenn feindliche Armeen den eigenen Sieg erbitten. Das beinhaltet, dass ein persönlicher Gott eigentlich Partei ergreift und mit einer bestimmten Gegend und mit einem bestimmten Volk verbunden ist. Wenn jedes Volk seine eigene spezielle Gottheit hätte – wie manche Völker meinen –, hätten derartige Anrufe ein wenig Sinn. Es ist aber eine ganz andere Sache, wenn solche gegensätzlichen Gebete an ein und denselben Gott gerichtet sind.
Wahres Gebet bedeutet Kontemplation, begleitet von hohen Aspirationen, und es sollte im Geist von ‘Nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe’ stattfinden. Für bestimmte Zwecke zu beten, ist nicht gut, weil wir nicht wissen, was für uns das Beste ist. Wahres Gebet bedeutet Gemeinschaft mit dem Vater im Himmel durch den Sohn, das Streben nach dem Höchsten und Besten in uns selbst. Persönliche Wünsche müssen beiseite gestellt werden und sollten zu einem möglichst umfassenden Bild der Einheit gelangen.
Das Problem von Gut und Böse
Im Laufe der Geschichte wurde schon oft die Frage gestellt, wie ein guter Gott das Böse zulassen kann. Das Böse ist Unvollkommenheit, und diese Welt ist nur eine unvollkommene Offenbarung der Gottheit – des Unfehlbaren. Wir finden überall Kontraste und Gegensätze. Es sind notwendige Bedingungen für Wachstum und Erfahrung. Das Böse wurde auch als der Schatten Gottes beschrieben. Der Versuch, das Gute und Böse philosophisch zu definieren, hat nur wenig mit menschlichem Verhalten und mit Pflichterfüllung zu tun, und oft werden die Menschen nur verwirrt. Im täglichen Leben ist der Unterschied zwischen Gut und Böse, so wie zwischen einem guten und einem faulen Ei. Jeder Mensch besitzt Unterscheidungsvermögen.
Die Worte Gut und Böse sind sehr vage, und da sie in unterschiedlichem Sinne angewendet werden, stiften sie Verwirrung. Man kann sagen, dass sie angenehm und unangenehm bedeuten, aber das ist offensichtlich eine Geschmackssache und als Kriterium unzuverlässig. Was unangenehm ist, kann sehr wohl gut für uns sein; und was angenehm ist, ist vielleicht schlecht für uns. Man kann sagen, dass sie Gut und Schlecht bedeuten, aber auch hier können sie sich auf moralische, gesellschaftliche oder bürgerliche Gesetze beziehen.
Ein wahrer Philosoph kann einen Zustand erreichen, in dem er sich bewusst ist, dass ihm nichts Schlechtes widerfahren kann, weil er akzeptiert, dass jedes Ereignis Teil seines Schicksals ist – die stoische Philosophie. Wir können also erkennen, dass die Worte Gut und Böse in diesem Fall einen Kontrast bedeuten, den wir in unserem eigenen Denken hervorbringen, indem wir Erfahrungen als angenehm oder unangenehm klassifizieren und von einem guten oder bösen Schicksal sprechen.
Solange ein Mensch persönliches Vergnügen als Ziel hat, wird er sich ohne Zweifel Leid zufügen – Leid, das nach demselben Gesetz wie übermäßiges Essen und Alkoholmissbrauch zu Krankheit führt. Der Versuch, das eigene Ich zu befriedigen, zerstört das moralische Gleichgewicht; und die Natur stellt durch eine entsprechende entgegengesetzte Erfahrung das Gleichgewicht wieder her. Aber wie ist es mit unserem Benehmen anderen gegenüber? Menschen mit Herz und Gewissen sollten sich vor allem um das Wohl anderer kümmern. Und es wäre besser, sich über das Glück oder Unglück, das gute oder schlechte Schicksal anderer Gedanken zu machen. Dadurch wird die eigene Person unwichtiger.
Alles, was einem Menschen passiert, ist gewiss sein Karma. Wenn jemand allerdings auf Grund dieser Regel der Meinung ist, sein Benehmen habe auf seine Mitmenschen keinen Einfluss und dieses Argument als Entschuldigung für sein Fehlverhalten anwendet, ist das eine bedauernswerte Haltung, die auf einer falschen Auffassung beruht. Es ist eine rein verstandesmäßige Argumentation, die vollkommen in Widerspruch zu jedem menschlichen, ethischen Bewusstsein steht – getrennt von jeder Religion oder Philosophie, zu der er sich bekennt.
Wenn wir die Gottheit zu einem persönlichen Gott machen, bringt das die Notwendigkeit mit sich, einen persönlichen Satan als Gegenpol zu schaffen. Aber wie bereits vorher erwähnt, war die Schlange aus dem Garten Eden der Lehrmeister des Menschen, sie erweckte in ihm die Intelligenz. Sie ist deshalb kein Teufel, sondern eher eine Mitarbeiterin, die bei der Evolution des Menschen eine wichtige Rolle spielt. Es gibt keinen Teufel mit Hörnern und Hufen, der uns im Leben bedroht und dessen Absicht es ist, uns nach dem Tode zu quälen. Es ist leider wahr, dass die menschlichen Leidenschaften in Verbindung mit dem Intellekt eine Art bösartiges Selbst hervorbringen können, das zu unserem Feind wird – diesen müssen wir besiegen.
Schluss
Die ausführliche Behandlung unserer sehr umfangreichen Thematik mussten wir notwendigerweise etwas einschränken. Sie enthält jedoch genügend Stoff, um den interessierten Leser zu einem weiteren Studium dieses Themas zu ermutigen. Theosophie und Christentum stehen einander nicht wie zwei unterschiedliche Mächte gegenüber. Das Christentum war anfänglich eine Offenbarung oder Wiedergabe der alten Weisheit, die universal ist und in unserer Zeit unter dem Namen Theosophie der Welt aufs Neue gebracht wurde.
Es ist zu hoffen und zu erwarten, dass man in dem Maße, in dem großzügigeres Denken die Oberhand gewinnt, auch in der Religion lernen wird, die alten universalen Ideen des Christentums davon zu unterscheiden, was fast zwei Jahrtausende kirchlicher Autorität und Theologie diesen zugefügt, daran verändert und verschleiert haben.
Alle Religionen lehrten ursprünglich die göttliche Natur des Menschen. Später verlor man diese Lehre aus den Augen, und wir bekamen ein Glaubenssystem unter der Leitung einer Hierarchie, die für die Erlösung die Bedingung aufstellte, dass bestimmte Lehren so angenommen werden müssen, wie die Kirche sie lehrt. Eine gewisse Organisation ist unvermeidlich und notwendig, auch das Geistige benötigt eine Verkörperung in der einen oder anderen Form. Aber so wie der physische Körper einer Pflanze ihr Wachstum oder ihre Veränderung nicht aufhalten kann, so sollte sich die äußere Form einer Religion von Jahrhundert zu Jahrhundert ändern, um sich den wachsenden Bedürfnissen der Menschheit anzupassen.
Fußnoten
1. Origenes lehrte unter anderem, dass das ganze Universum lebt, dass sogar die Sterne Lebewesen sind und eine Seele besitzen. Weiter sagte er, dass verkörperte Seelen sowohl eine Prä- als auch eine Postexistenz haben müssen. Die Seelen haben vor der Geburt gelebt, werden aufs Neue leben und sich in verschiedenen Völkern verkörpern. So wie er sich ausdrückte, werden sie das eine Mal ein Ägypter, ein anderes Mal ein Jude sein. Diese Auffassungen von Origenes, nebst einer Anzahl anderer, wurden bei der Synode von Konstantinopel für ketzerisch erklärt. [back]
Band 8: Runden und Rassen
Gertrude W. van Pelt
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Der Ursprung des Menschen war bislang in diesem Zeitalter ein Mysterium, aber nun bricht die Theosophie das jahrhundertelange Schweigen und erklärt, dass der Mensch in seinem Inneren göttlich ist und dass er, seit der Zeit, da er mit Verstand begabt ist, sich selbst erschafft. Diese neue und gleichzeitig alte Lehre beruht auf der tatsächlichen Einheit allen Lebens und auf den Lehren von den Hierarchien.
An sich ist der Glaube an die göttliche Abstammung des Menschen nichts Neues, im Gegenteil, dieser Gedanke wird von vielen akzeptiert. Jede Religion stellt ihn in der einen oder anderen Weise vor. Der Mensch empfindet die Notwendigkeit, seine Existenz zu erklären.
Das von der Theosophie im neunzehnten Jahrhundert aufs Neue überbrachte Wissen betrifft die Art und Weise, wie die sogenannte Schöpfung zustande kam. Ausgehend vom Universalen zum Besonderen, entfaltet die Philosophie der alten Weisheitsreligion klar die Umrisse der Evolution. Sie ergänzt die modernen Theorien, wo diese Lücken aufweisen – und zwar in einer Weise, welche die Seele und den Verstand befriedigt, so dass Zweifel oder blinder Glaube innerer Gewissheit Platz machen. Die verwirrenden Fragen über den Sinn und Zweck des Lebens, den Ursprung und die Natur der ‘Sünde’ müssen wahrheitsgemäß beantwortet werden, wenn unsere Rasse vorankommen möchte.
Die Theosophie behauptet – und das könnte durch entsprechende Untersuchungen in der richtigen Richtung überprüft werden –, dass – sobald der Mensch auf diesem Planeten mit Verstand begabt wurde – hochentwickelte Wesen aus anderen, älteren Evolutionszyklen, die unseren Erdzyklus bei weitem übertreffen, erschienen und ihn unterwiesen. Diese Wesen schlugen den Grundton für die kommenden menschlichen Rassen an. Sie waren es, die das Wissen – wenig im Vergleich zu dem, was die heutige Menschheit zu empfangen fähig ist – den Auserwählten überbrachten, die dazu bestimmt waren, die Kinder der Erde zu führen. Tatsächlich existieren unvergängliche Aufzeichnungen dieser Wahrheiten, gehütet von jenen, die des Vertrauens würdig sind. In jedem Zeitalter gab es Individuen, die man Boten nannte. Sie wurden von diesen Hütern auserwählt, zu gewissen zyklischen Zeiten in die Welt zu gehen und so viel von dieser Weisheitsreligion zu überbringen, wie die Menschen erfassen konnten – in einer Form und Sprache, die zum Denken dieser Zeit passte.
Theosophische Perspektiven
Band 08: Runden und Rassen – unsere göttliche Abstammung und Bestimmung
Frei überarbeitet nach Gertrude W. van Pelt
© 2000 Theosophischer Verlag der Stiftung der Theosophischen Gesellschaft Pasadena, Eberdingen
Der kosmische Pfad der Evolution
Der Ursprung des Menschen war bislang in diesem Zeitalter ein Mysterium, aber nun bricht die Theosophie das jahrhundertelange Schweigen und erklärt, dass der Mensch in seinem Inneren göttlich ist und dass er, seit der Zeit, da er mit Verstand begabt ist, sich selbst erschafft. Diese neue und gleichzeitig alte Lehre beruht auf der tatsächlichen Einheit allen Lebens und auf den Lehren von den Hierarchien.
An sich ist der Glaube an die göttliche Abstammung des Menschen nichts Neues, im Gegenteil, dieser Gedanke wird von vielen akzeptiert. Jede Religion stellt ihn in der einen oder anderen Weise vor. Der Mensch empfindet die Notwendigkeit, seine Existenz zu erklären. Wie sehr die Religionen auch durch Streitereien über falsch verstandene oder von Menschen erdachte Lehrsätze an Reinheit eingebüßt oder sich in zahlreiche Sekten zersplittert haben – geblieben ist der Glaube an ein göttliches Wesen, einen ‘Schöpfer’ des Universums, ob das gelehrt wurde oder nicht.
Das von der Theosophie im neunzehnten Jahrhundert aufs Neue überbrachte Wissen betrifft die Art und Weise, wie die sogenannte Schöpfung zustande kam. Ausgehend vom Universalen zum Besonderen, entfaltet die Philosophie der alten Weisheitsreligion klar die Umrisse der Evolution. Sie ergänzt die modernen Theorien, wo diese Lücken aufweisen – und zwar in einer Weise, welche die Seele und den Verstand befriedigt, so dass Zweifel oder blinder Glaube innerer Gewissheit Platz machen. Die verwirrenden Fragen über den Sinn und Zweck des Lebens, den Ursprung und die Natur der ‘Sünde’ müssen wahrheitsgemäß beantwortet werden, wenn unsere Rasse vorankommen möchte. Der Schmerz des Zweifels, die Angst vor der Zukunft, mangelndes Selbstvertrauen, leichtsinnige Gleichgültigkeit, Verwirrung durch Unwissenheit – all das findet jeder von uns auf seinem eigenen Pfad. Bevor der Mensch seine innere Würde wiederfinden und seiner glorreichen Bestimmung folgen kann, muss er lernen, all das zu verstehen und zu überwinden.
Dieses großartige, überragende und umfassende Wissen, das im neunzehnten Jahrhundert durch den Kanal der Theosophischen Gesellschaft erneut hervorgebracht wurde, ist nicht eine Ansammlung essenzieller Gedanken aus den verschiedenen philosophischen Schulen, welche die Geschichte hervorgebracht hat. Vielmehr sind diese philosophischen Schulen mehr oder weniger klare Echos der Lehren der archaischen Weisheit. Die Theosophie behauptet – und das könnte durch entsprechende Untersuchungen in der richtigen Richtung überprüft werden –, dass – sobald der Mensch auf diesem Planeten mit Verstand begabt wurde – hochentwickelte Wesen aus anderen, älteren Evolutionszyklen, die unseren Erdzyklus bei weitem übertreffen, erschienen und ihn unterwiesen. Diese Wesen schlugen den Grundton für die kommenden menschlichen Rassen an. Sie waren es, die das Wissen – wenig im Vergleich zu dem, was die heutige Menschheit zu empfangen fähig ist – den Auserwählten überbrachten, die dazu bestimmt waren, die Kinder der Erde zu führen. Tatsächlich existieren unvergängliche Aufzeichnungen dieser Wahrheiten, gehütet von jenen, die des Vertrauens würdig sind. In jedem Zeitalter gab es Individuen, die man Boten nannte. Sie wurden von diesen Hütern auserwählt, zu gewissen zyklischen Zeiten in die Welt zu gehen und soviel von dieser Weisheitsreligion zu überbringen, wie die Menschen erfassen konnten – in einer Form und Sprache, die zum Denken dieser Zeit passte. Sie sind die ‘Boten der Loge’. H. P. Blavatsky, die eine von ihnen war, erschien im letzten Teil des neunzehnten Jahrhunderts. Es war ihre Aufgabe, ihr Vorrecht und ihre große Verantwortung, der Welt jener Zeit mehr zu geben als je zuvor. Die Mysterienschulen des alten Ägypten und Griechenland vermittelten tiefgehende Lehren, jedoch nur an Neophyten, die durch ein Gelübde gebunden waren; und die Jahrhunderte hindurch hat es immer fortgeschrittene Mystiker gegeben, die gleichfalls ihre zur Geheimhaltung verpflichteten Schüler hatten. Aber in gedruckter Form und öffentlich gelehrt kennt die Geschichte nichts, das mit H. P. Blavatskys Werk Die Geheimlehre zu vergleichen wäre. Diese Tatsache, die mit der zunehmenden Vereinheitlichung aller Teile der Welt in äußerer Hinsicht zusammenfällt, bietet Stoff zu tiefem Nachdenken. Madame Blavatsky sagt über ihr Buch:
Die Geheimlehre erklärt lediglich, dass ein System – bekannt als WEISHEITSRELIGION, als Werk von Generationen von Adepten und Sehern, das heilige Erbteil aus prähistorischen Zeiten – tatsächlich existiert, auch wenn es bis heute von den Initiierten unter größter Geheimhaltung bewahrt wurde. Und sie weist auf die verschiedenen Bestätigungen der Existenz dieses Systems bis zum heutigen Tag hin, die man in alten und modernen Werken finden kann. … In der Geheimlehre wird keine neue Philosophie entwickelt, sondern nur die verborgene Bedeutung einzelner religiöser Allegorien des Altertums gegeben. Ihre esoterischen Wissenschaften werfen Licht auf diese Allegorien und zeigen die gemeinsame Quelle, aus der alle Weltreligionen und Philosophien hervorgegangen sind. … Es wird ebenso behauptet, dass ihre Lehren und Wissenschaften, die einen integralen Zyklus universaler kosmischer Tatsachen und metaphysischer Axiome bilden, ein vollständiges und lückenloses System darstellen. Derjenige, der ausreichend Mut und Beharrlichkeit besitzt und dazu bereit ist, das Animalische in sich zu vernichten, das menschliche Selbst zu vergessen und es seinem höheren Ego zu opfern, wird immer seinen Weg finden, um in diese Mysterien eingeweiht zu werden.
– The Babel of Modern Thought Lucifer, S. 442-3, 1891
Es gibt noch eine Tatsache, die als Einführung für das Studium des göttlichen Ursprungs und der Bestimmung des Menschen erwähnenswert ist. Im Westen, der natürlich unter dem Einfluss der heutigen exoterischen Religionen steht, herrscht allgemein der Glaube, dass die sogenannte Schöpfung oder der Anfang des jetzigen Menschen auf diesem Planeten Erde stattgefunden hat. Aber wie wichtig uns das Leben hier auch vorkommen mag, es ist doch nicht mehr als ein vorübergehendes Ereignis in der ewigen Pilgerfahrt des Menschen durch den Raum. Ein Studium der theosophischen Lehren über die Lebensatome und die universale Evolution1 wird deutlich machen, dass jedes Atom als Teil des Universums ein Lebewesen ist, das im Universalsystem der Evolution seine eigene Rolle spielt. Es ist die letztendliche Bestimmung eines jeden Lebensatoms, ein Mensch zu werden. Jedes Atom als Teil der universalen allgegenwärtigen Realität – das heißt des Kosmos – trägt die Möglichkeiten des Ganzen in sich. Nie wurde es ‘erschaffen’, denn es war immer und wird immer sein.
Es liegt in der Natur des Atoms, sich langsam zu entfalten und all diese Möglichkeiten hervorzubringen. Diesen Prozess nennen wir Evolution. Versuchen wir einmal, uns die unzähligen Welten vorzustellen, die ein Atom durchlaufen muss, bevor es das menschliche Stadium erreicht. Sonnensysteme in unendlich vielen Entwicklungsabstufungen müssen es beherbergt und ihm Gelegenheit zu Wachstum geboten haben, während es im Laufe der Ewigkeiten von der einen in die andere Welt überging und in jeder einen vollständigeren Ausdruck seiner selbst erlangte. So steigen bewusste Wesen in zahllosen Entwicklungsabstufungen die immer höher emporragende Lebensspirale entlang auf; gehüllt in Myriaden von Formen bewegen sie sich zum menschlichen Stadium hinauf, schreiten weiter und werden schließlich zu Göttern. Höher und höher steigend nähern sie sich dem Licht, ohne je die Flamme, die unerkennbare Quelle von allem zu berühren.
Der Mensch – wahrhaftig ein Teil des Ganzen und mit den Möglichkeiten dieses Ganzen in sich – wurde nie ‘erschaffen’. Seine Evolution besteht darin, immer vollkommenere und komplexere Vehikel oder Körper zu bilden, die es ihm ermöglichen, sich selbst in zunehmendem Maße zu verstehen und zum Ausdruck zu bringen. In diesem Bestreben wurde jede auch noch so geringe Steigerung der Komplexität – und so wird es auch immer bleiben – mit der Unterstützung von Wesen oder anderen Teilen des Ganzen zustande gebracht, deren Ausdrucksmittel weiter entwickelt sind als sein Organismus auf seiner Reise entlang der ewig aufsteigenden Spirale. Das ist trotz der Tatsache gültig, dass – sobald der Verstand erwacht ist – der Mensch sich selbst erschafft.
Dieses kleine Buch möchte in kurzer Form die Veränderungen darstellen, die seit der Ankunft des jetzigen Menschen auf unserem Planeten Erde stattgefunden haben. Die alte Weisheitsreligion, so wie sie in unserer Zeit aufs Neue formuliert wurde, lehrt nur die Tatsachen und Einzelheiten, die sich auf uns, als Bewohner dieses Globus, beziehen. Unser Bewusstsein ist vermutlich nicht darauf abgestimmt, viel mehr als das zu verstehen.
Die Schwierigkeit, die man immer hat, wenn man einen einzelnen Aspekt dieser Philosophie in Worte fassen will, liegt darin, womit man zuerst beginnen soll. Denn sie bietet ein Bild von Tatsachen in der Natur, in der jeder Teil in seiner Wirkung mit jedem anderen Teil verbunden und verwoben ist. Wo immer man beginnt – es gibt immer etwas anderes, das man wissen muss, um das Gesamte zu verdeutlichen. Mit anderen Worten, alle Aspekte eines Themas müssen gleichzeitig betrachtet werden, bevor man ein klares Bild bekommen kann. Andererseits sind die Analogien in diesem lebendigen Kosmos so vielsagend, dass – wenn man von einem einzelnen Teil etwas versteht – auch Licht auf andere Teile geworfen wird. Deshalb liefert das Studium über den Ursprung und die Bestimmung des Menschen bestimmte allgemeine Schlüssel, die auch auf andere Aspekte der Natur angewendet werden können.
Die Erdkette und ihre Bewohner
Um den wahren Ursprung des Menschen verstehen zu können, müssen wir etwas über die Erde wissen; denn das Leben und die Entwicklung des Menschen sind eng mit der Erde verknüpft. Der Mensch lebt nicht nur auf der Erde; sein Leben bildet einen Teil vom Leben des Planeten und sogar noch mehr – einen Teil seines Bewusstseins. Dass die Erde ein Lebewesen ist, ist eine alte Wahrheit, die meistens als Aberglauben betrachtet wird. Sie wird geboren, lebt und stirbt, um nach einer Ruheperiode des die Erde beseelenden Geistes – oder ihrer Seele, wenn Sie so wollen – wiedergeboren zu werden.
Darüber hinaus ist diese Erde mehr als die sichtbare, uns vertraute felsige Kugel. Den alten Lehren gemäß besteht sie aus einer Gruppe von sieben Globen, die man – technisch gesprochen – eine Planetenkette nennt. Wir sehen nur den Globus, auf dem wir leben, weil die anderen sechs aus immer feinstofflicherer Materie bestehen – zu fein, um mit unseren Sinnen wahrgenommen werden zu können. Diese unterschiedlichen Feinheitsgrade der Materie stehen mit der Existenz verschiedener Bewusstseinszustände in Zusammenhang, die das bilden, was in der Theosophie als Ebenen bezeichnet wird.
Der Kosmos ist auf natürliche Weise in eine Anzahl von solchen Zuständen oder Ebenen des Bewusstseins unterteilt; und jedes Wesen im Kosmos, auch eine Planetenkette, folgt demselben Muster. Die sieben Globen unserer Erdkette gruppieren sich in natürlicher Weise auf vier dieser kosmischen Ebenen. Folgendes Diagramm ist ein nützliches Hilfsmittel beim Studium der Beziehung zwischen diesen sieben Globen.
Es sollte unbedingt beachtet werden, dass die Darstellung nicht die tatsächliche Art und Weise zeigt, wie die Globen der Erdkette angeordnet sind, vielmehr handelt es sich dabei um eine symbolische Darstellung bestimmter grundlegender Tatsachen der Planetenkette.
Auf der mit I bezeichneten Ebene befinden sich die Globen A und G (die Buchstaben wurden nur aus praktischen Gründen gewählt). Das bedeutet, dass zwischen diesen beiden Globen eine gewisse Übereinstimmung besteht, die wir zum besseren Verständnis auch als eine Ähnlichkeit in der Schwingungszahl bezeichnen können. Dasselbe gilt für die Paare B und F, C und E. Globus D steht alleine auf der niedersten oder vierten kosmischen Ebene.
Die ganze Globenkette stellt die Bühne für die majestätische Pilgerfahrt von sieben großen Klassen von Wesen dar, die man gewöhnlich Lebenswogen nennt. Das ist ein passender Name, denn er vermittelt uns die wellenartige Bewegung dieser Lebensströme auf ihrem planetarischen Umlauf, wobei Perioden der Aktivität und Passivität einander abwechseln.
Diese Lebenswogen bestehen aus Lebewesen, aus Funken der göttlichen Flamme im Herzen des Universums; und jede Gruppe befindet sich in einem anderen Stadium ihrer evolutionären Entwicklung. Auf jedem Globus bekommen diese Wesen Gelegenheit, bestimmte Eigenschaften aus der Schatzkammer ihres eigenen, inneren Seins zu entfalten. Diese sieben Klassen werden folgendermaßen bezeichnet:
- Drei Elementalreiche
- Das Mineralreich
- Das Pflanzenreich
- Das Tierreich
- Das Menschenreich
Diese Bezeichnungen werden lediglich verwendet, um diese Naturreiche in einfacher Weise beschreiben zu können. Denn die verschiedenen Klassen haben während der langen, langen Dauer ihrer irdischen Reise (deren Ende noch Millionen Jahre entfernt ist) eine unendliche Vielfalt von Veränderungen erfahren, und sie haben schon viele Millionen Jahre gebraucht, um so zu werden, wie wir sie jetzt kennen.
Wir können diese Reiche darüber hinaus als Häuser betrachten, welche von den unterschiedlichen spirituellen Wesen bewohnt werden. Ein sehr wenig entwickeltes Wesen, das seine evolutionäre Reise erst vor kurzem begonnen hat, würde in einem Haus elementalen Lebens wohnen. Ein anderes Wesen, das weiter fortgeschritten ist, würde seinem Wachstum entsprechend in einem Haus mineralischen Lebens wohnen und so weiter. Diese alten Häuser werden für besser geeignete aufgegeben, sobald sie nicht länger als angemessen empfunden werden. Es ist mit den sieben oder mehr Klassen einer Schule vergleichbar: Die Schüler selbst schreiten von Klasse zu Klasse weiter, wenn sie alles gelernt haben, was in einer Klasse vermittelt werden kann.
Wir werden uns der Einfachheit halber auf den Umlauf der menschlichen Lebenswoge um unsere Planetenkette beschränken. Damit meinen wir jene Gruppe von spirituellen Wesen, die nach vielen wunderbaren Verwandlungen, welche nur in den geheimen Berichten der initiierten Weisen aufgezeichnet wurden, heute die Bewohner von menschlichen Körpern sind, ausgestattet mit menschlichen Gehirnen, begabt mit menschlichen Empfindungen, menschlichen spirituellen und intellektuellen Fähigkeiten – kurz, die Mitglieder der gegenwärtigen großen Menschenfamilie.
Wenn wir zu dem Diagramm zurückkehren, sehen wir, dass die Globen mehr oder weniger in einem Kreis stehen. Das ist eine symbolische Darstellung der Art und Weise, wie die Lebenswoge die sieben Globen durchläuft. Beginnend mit Globus A auf der linken Seite durchläuft die Lebenswoge den Bogen nach unten durch die Globen B und C bis D. Das nennt man den schattenhaften oder absteigenden Bogen, was aber nicht einen Fall durch den leeren Raum bedeutet – denn das wäre absurd –, vielmehr bedeutet es, dass die Lebenswoge immer weiter in die Materie hinabsteigt. Auf jedem Globus hat sie eine sehr lange Entwicklungsphase und baut sich Körper aus zunehmend grobstofflicherer physischer Substanz auf. Das Materielle zieht die Lebenswoge magnetisch an, und die Reinheit ihres ersten Zustandes auf Globus A löst sich in eine immer schwächer werdende Erinnerung auf.
Mit Globus D ist der niederste Punkt erreicht, der Wendepunkt, an dem sich Materie und Geist im Gleichgewicht befinden und eine entscheidende Anstrengung verlangt wird, um die zur Fortsetzung der evolutionären Reise notwendige spirituelle Kraft wachzurufen – diesmal aufwärts durch die Globen E, F und G.
Mit Globus G hat die Lebenswoge aufs Neue die kosmische Ebene I (auf unserem Diagramm) erreicht, dieselbe Ebene, die ihr Ausgangspunkt war – aber mit einem Unterschied. Die hohe Spiritualität der Wesen auf Globus A kann man mit der Reinheit und Unschuld eines Kindes vergleichen. Auf Globus G begründet sich ihre Reinheit darauf, dass der Bodensatz der Materie sozusagen durch die reine Flamme der Spiritualität weggebrannt wurde. Es handelt sich also um eine mit Weisheit und Kraft angereicherte Reinheit.
Unsere menschliche Lebenswoge muss diese Erdkette sieben Mal durchlaufen, und jeden solchen Umlauf nennen wir eine Runde. Wenn die sieben Runden vollendet sind, werden wir mit unserer Erde unseren ‘Sabbath’ oder Ruhetag verbringen. Danach werden wir uns mit der Erde wiederverkörpern – auf der Suche nach noch großartigeren und edleren Abenteuern in unserem Universum der unerschöpflichen Möglichkeiten.
Wenn der ‘Ruhetag’ anbricht, zerfällt die Erdkette zu kosmischem Staub, aber ihre Lebenskräfte übertragen sich auf neue Zentren im Raum, um sich zur rechten Zeit wieder als neue Globenkette zu verkörpern, die auch den weniger entwickelten Lebenswogen die Gelegenheit geben wird, ihre unendlichen Möglichkeiten zu einer vollkommenen Menschheit hin zu entfalten.
Unsere menschliche Familie hat bis heute drei Runden vollendet. Wir befinden uns gegenwärtig in der vierten Runde, und zwar auf Globus D; aber wir haben den kritischen Wendepunkt dieses niedersten Globus überschritten. Diese Tatsache ist für die Rasse von enormer Bedeutung. Diese Lehre zu verstehen kommt einem Wegweiser gleich, der uns zeigt, in welche Richtung wir uns bewegen sollten. Wir beginnen dann, den wirklichen Wert der Dinge zu erkennen. Indem wir diese abstrakte Lehre in unserem täglichen Leben anwenden, lernen wir, worauf wir verzichten können und was wir als unvergängliche und praktische Werte für die Zukunft festhalten müssen. Wir beginnen einzusehen, dass unser Anhaften an materielle Dinge eine Gewohnheit geworden ist, die nicht länger notwendig ist, und dass wir – wenn wir gerne bei den Empfindungen, Aufregungen und Reizen dieses gewöhnlichen irdischen Lebens verweilen – wertvolle Gelegenheiten versäumen, die jetzt vor uns liegen. Wir übersehen dann, dass die Schwierigkeiten, die wir auf unserem Weg finden, tatsächlich die Hilfsmittel bilden – wenn wir sie überwunden haben –, durch die wir auf dem Weg zu unserer göttlichen Bestimmung vorwärts schreiten können.
Vom Mond zur Erde
Genauso wie die Erdkette am Ende der siebten Runde sterben und nach einer Ruheperiode wiedergeboren werden wird, ist sie selbst die Wiederverkörperung einer früheren Planetenkette von einer niedrigeren Evolutionsstufe. Der Mond stellt den Rest von Globus D dieser früheren Kette dar, und daher nennen wir diese frühere Gruppe von Globen die Mondkette. Heute ist sie nicht mehr als ein Schatten oder Phantom, aber einst war der Mond ebenso lebendig wie die Erde heute. Als vitale Globenkette war er einst die Bühne für die Entwicklung von sieben Lebenswogen.
Als die Lebenswogen sieben Mal die sieben Globen der Mondkette durchlaufen und alle Erfahrungen assimiliert hatten, die dort möglich waren, begann der Sterbeprozess dieser Kette, ein Prozess völliger Auflösung der kohäsiven Kräfte aller sieben Globen. Nach einer langen Periode der Inaktivität begannen diese Energien, neue Zentren im kosmischen Raum zu vitalisieren. Diese sieben Zentren könnten wir die sieben Lebenssamen nennen, die dazu bestimmt waren, die sieben Globen der Erdkette zu werden, als sie Äonen später während der ersten Runde der neuen Kette von den zyklisch wiederkehrenden Lebenswogen erweckt wurden.
H. P. Blavatsky gibt in ihrem tiefgründigen Werk Die Geheimlehre (GL) eine schematische Darstellung, welche diesen Übergang der Lebenskräfte von einer Kette zur anderen darstellt (GL I). Wir übernehmen diese Darstellung, die natürlich nicht buchstäblich zu betrachten ist, obwohl aus ihr viele Anregungen gewonnen werden können.
Abbildung 1 stellt die sterbende Mondkette dar, während Abbildung 2 für eine noch nicht manifestierte Reihe von Globen steht – die künftige Erdkette.
Von A nach D werden die Globen immer dunkler, was auf die stufenweise Vergröberung von Substanz und Bewusstsein von Ebene I bis IV hinweist. Jeder Globus der Erdkette ist heller als der entsprechende Globus der Mondkette dargestellt, was darauf hinweist, dass die Erde etwas etherischer ist als der Mond. Die neue Erdkette ist also eine etwas feinstofflichere Offenbarung als die alte Mondkette. Dies beweist das Naturgesetz der Wiederholung in Verbindung mit einer gleichzeitigen Vorwärtsbewegung –das Prinzip der Spirale. Dies ist kein willkürliches Gesetz, sondern wird von dem inneren Drang jeder Wesenheit verursacht, das zum Ausdruck zu bringen, was sie im Inneren ist.
Der Mond ist jetzt ein toter Astralkörper und trotzdem sendet er noch immer etwas zur Erde, was man als die Überreste von Lebenskräften bezeichnen könnte, die das Leben auf diesem Planeten stark beeinflussen. Diese Tatsache trägt zur Erklärung vieler Phänomene bei, die uns rätselhaft erscheinen. Die Wirkung der Gezeiten ist allgemein bekannt, genauso wie die Rolle, die der Mond bei der Empfängnis und bei der Schwangerschaft spielt. Der Zyklus vieler Krankheiten stimmt mit den Mondphasen überein, und der Einfluss des Mondes auf das Pflanzenwachstum kann beobachtet werden. Heute wird immer mehr über diese Beziehung gesprochen und geschrieben.
Seit Äonen ist es dem Mond bestimmt, seinen ‘Sprösslingen’ zu folgen. Aber bevor die siebte Runde dieser Erdkette beginnt, wird er sich völlig aufgelöst haben, weil die letzten Reste seiner Energie von der Erde aufgenommen und zu erneuernden Kräften umgewandelt sein werden, die beim allmählichen Aufstieg der ganzen Kette jetzt eine Rolle spielen und den Lebenswogen helfen, die auf dem Weg zu ihrem spirituellen Ziel sind. Da Merkur und Venus in ihren Runden weiter fortgeschritten sind als die Erde, haben sie keine Monde mehr.
Die Geschichte der sieben Lebenswogen während der dreieinhalb Runden, die sie bereits zurückgelegt haben, gehört zu den schwierigsten Lehren der Alten Weisheit. Wir umreißen hier einige allgemeine Ideen, die denjenigen als Einführung dienen können, die das Thema in weiterführenden theosophischen Werken studieren wollen.
An erster Stelle müssen wir bedenken, dass alle Wesenheiten, die nach dem Ende der Mondkette und einer entsprechenden Pause für ihr Wachstum und ihre Evolution eine passende neue Umgebung suchten, zwei Dinge vollbringen mussten. Sie mussten Körper gestalten – innere und äußere –, mit denen sie arbeiten konnten, und sie mussten die Globen der Kette selbst aufbauen. Sie fingen sozusagen hüllen- und obdachlos an. Alle Klassen von Wesenheiten halfen beim Aufbau, jede lieferte ihren Beitrag in Form von Fähigkeiten, die sie während des langen Aufenthalts auf der Mondkette erworben hatte. Auf diese Weise wurde in der Ersten Runde die Strecke markiert, und die Bahnen für den siebenfältigen Planetenumlauf wurden festgelegt.
Was jedoch den Prozess komplizierter macht und ihn gleichzeitig von einem rein mechanischen Vorgang unterscheidet, ist die Tatsache, dass am Anfang jede Klasse von Wesenheiten – wie zum Beispiel die Klasse, die dazu bestimmt war, die Menschheit dieser Erdkette zu werden – ihre früheren Erfahrungen in Kürze wiederholen musste, indem sie erst alle niedrigeren Formen zu durchlaufen hatte. Das ist eine in der Natur immer wiederkehrende Regel, und zwar eine sehr weise: nämlich dass zu Beginn einer neuen Lebensperiode die Wesen, die den Lebensfaden da wieder aufnehmen, wo sie ihn in der vorhergehenden Periode zurückließen, erst kurz auf die früher erreichten Zustände zurückblicken müssen. So weben die Wesen alle in der Vergangenheit erworbenen Kenntnisse in das Gewebe ihres gegenwärtigen Bewusstseins ein und helfen damit gleichfalls den weniger fortgeschrittenen Klassen von Wesenheiten.
Das bedeutet, dass diejenigen, denen es bestimmt war, zum Menschenreich zu gehören, in ihrem Wachstum nicht ohne Unterstützung blieben. Woher kamen diese höheren Wesen, die uns geholfen haben?
Als das Leben des Mondes zu Ende ging, waren nicht alle seine Bewohner in gleichem Maße evolviert – was jetzt auch auf die Erde zutrifft. Und so muss es notwendigerweise sein, wenn unser Planet seine Lebensspanne beendet. Immer schon gab es einige Wesen, die in ihrer Entwicklung die Gesamtheit an Möglichkeiten in einem bestimmten Manvantara oder in einer bestimmten Entwicklungsperiode repräsentierten. Sie waren die Führer, sie trugen die schwerste Verantwortung und am Ende waren sie die für jenes Stadium der Evolution vollkommen gewordenen Wesen.
Solche vollkommenen Wesen – die entwickelte Menschheit der Mondkette – waren die ersten, die auf Globus A der Erdkette ankamen und die in den dreieinhalb Evolutionsrunden die Führung übernahmen, in denen sich die neue Menschheit entwickelte. Sie beaufsichtigten die Erbauer von Formen. Diese letztere Gruppe waren Wesen, die nach der Vollendung ihrer Reise im Tierreich der Mondkette nun versuchten, das Menschenreich zu betreten. Sie waren es, welche die Elementalreiche, das Mineralreich, das Pflanzen- und Tierreich durchwanderten, so dass sie ein instinkthaftes Wissen über diese niederen Formen besaßen. Als sie jedoch in der vierten Runde (und besonders zu der Zeit, als sie Globus D erreichten) bereit waren, den Bau des menschlichen Vehikels zu vollenden, erwiesen sich ihre Fähigkeiten als zu eingeschränkt. Sie waren nicht imstande, etwas Besseres oder Höheres hervorzubringen, als den astralen, leidenschaftlichen Menschen; das entsprach ihrem Erbe von der Mondkette.
Das Wachstum der menschlichen Rasse wäre vollständig zum Stillstand gekommen ohne die Vermittlung und die Hilfe jener spirituellen Wesen, die das Höchste der Mondkette repräsentierten und die in der unvollkommenen Menschheit das Feuer des Denkens entzündeten. Sie ermöglichten es der Menschheit, die Lücke zwischen dem niederen Vehikel und dem inneren göttlichen Funken zu überbrücken, wodurch sie sich aus den Mühsalen der Materie zu den strahlenden Reichen des Geistes emporheben kann.2
Bisher haben wir jedoch den wahren Wert dieses göttlichen Geschenks noch nicht erkannt. Zu oft haben wir es für niedere Zwecke preisgegeben. Nur zu oft beschränken wir uns in unserem Bewusstsein auf den Menschen, der isst, persönlich liebt und hasst, der leidet und sündigt, der sich abmüht, um für die Bedürfnisse seines Körpers zu sorgen, und für den alles, was seine kurze Lebensspanne übersteigt, ein Mysterium ist.
Diese niedere Natur ist in sich unfassbar komplex, mit trügerischen Kräftezentren, die jene Menschen, deren Bewusstsein hauptsächlich im Gehirnverstand zentriert ist, in ein Labyrinth der Verwirrung führen, wenn sie versuchen, sie zu erforschen. Trügerische Kräfte, die beim Schlafwandeln, in der Hypnose, bei einer gewissen Art von Hellsehen zutage treten; geheimnisvolle, ans Licht kommende Aspekte des Bewusstseins, wie die doppelte Persönlichkeit und andere abnormale Phänomene – sie alle gehören zu dem unentwickelten, wachsenden, niederen Teil des Menschen, zu seiner Mondnatur.
Es ist diese Natur, die mit Hilfe höherer Wesen innerhalb und oberhalb von uns im heutigen Erdzyklus geschult wird und dazu bestimmt ist, verfeinert, gestärkt und gereinigt zu werden, um sich schließlich mit der spirituellen Sonne innerhalb der menschlichen Konstitution zu vereinen und damit die vollkommene Menschheit der siebten Runde dieser Erdkette hervorzubringen.
Der Beginn des Lebens auf Erden
Es wurde bereits erwähnt, dass alle Lebenswogen vom Mond sieben Mal um die sieben Globen der Erdkette wandern müssen, aber diese Reisen dauern so unvorstellbar lange, dass sie uns wie viele Ewigkeiten erscheinen würden. Bei der Betrachtung dieser Philosophie beeindruckt die Gründlichkeit und die Präzision der Arbeitsweise der Natur zutiefst. Alles wiederholt sich, bis es für Fehler keine Möglichkeit mehr gibt; und dennoch bringt jede Wiederholung eine geringfügige Variation zum Vorangegangenen mit sich, einige neue Bedingungen und Gelegenheiten. Die Lebensperiode auf jedem Globus ist enorm lang, und beim Übergang vom einen auf den nächsten Globus gibt es auch noch eine Ruheperiode. Es ist also klar, dass wir in der Vergangenheit auf all diesen Globen gelebt haben, dass wir das aufs Neue tun werden und dass auf jedem Globus die Arbeit der Schöpfung des Menschen langsam voranschreitet.
Die Lebenswoge durchläuft in jeder Runde auf jedem Globus sieben große Wurzelrassen, deren Lebensdauer im Durchschnitt jeweils etwa neun Millionen Jahre beträgt. Jede Wurzelrasse hat sieben Unterrassen, jede Unterrasse sieben Familienrassen, die sich ihrerseits wieder in Nationen, Stämme und so weiter verzweigen. Gegenwärtig befinden wir uns in der vierten Runde auf Globus D, in der vierten Unterrasse der fünften Wurzelrasse und haben infolgedessen in dieser Runde den aufsteigenden Bogen zur Spiritualität begonnen. Am Mittelpunkt des Lebens auf diesem Planeten, nämlich in der Mitte der vierten Wurzelrasse dieser Runde, wurde die Tür geschlossen, die den Zutritt zum menschlichen Stadium ermöglichte – mit einer Ausnahme, auf die wir später zurückkommen werden. Deshalb ist die menschliche Familie für das gegenwärtige Manvantara oder den jetzigen Evolutionszyklus annähernd vollständig.
Wir müssen uns stets vor Augen halten, dass es der dem göttlichen Ursprung entstammende Gottesfunke ist, der sich in all den Veränderungen in Hüllen mineralischer, pflanzlicher oder anderer Art kleidet. Durch diese enge Beziehung lernt er immer kompliziertere Körper zu benutzen. Diese fortwährende Anpassung hört niemals auf. Im Universum bleibt nichts auch nur für eine Sekunde im Status quo. Diesem vorwärtsdrängenden Impuls zu widerstehen, bedeutet sich rückwärts zu bewegen. In diesem Prozess fortwährender Veränderung wirken sich immer zwei Faktoren aus, was ewig gültig ist, vom niedersten bis zum höchsten. Es gibt immer einen inneren Impuls und eine äußere intelligente Kraft, welche die Entfaltung führt und begleitet.
Die niederste Daseinsform ist ein Leben in Materie, die selbst nichts anderes ist als der Gegenpol des Geistes und die weniger entwickelten Leben umfasst. Wir leben in einem spirituellen Universum, das in all seinen unendlichen Reichen durch eine endlose Reihe niederer und höherer Intelligenzen arbeitet. Auf der höchsten Sprosse der Leiter dieses Globus befindet sich ein wunderbares Wesen. Es befindet sich an der Schwelle zum LICHT, die es nicht verlassen wird, solange es noch Erdenkinder gibt, die ihren Pfad verlieren könnten. Dieses Wesen wird als der Stille Wächter bezeichnet, obwohl er in Wirklichkeit namenlos ist. Die Erde kann ihn nichts mehr lehren, aber von seinem selbst erwählten Posten aus führt er die unterhalb von ihm stehenden Großen, die in einer ununterbrochenen Reihe geringerer Gottheiten, Herrscher, Lehrer und göttlicher Dynastien zu unserer halberwachten Menschheit herabsteigen. In den unzähligen Hierarchien der Natur muss absolute Harmonie herrschen. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, seinen Platz in diesem Universum zu finden, von dem er ein wesentlicher Teil ist, und diesen Platz in vollkommener Weise einzunehmen.
Jede Runde hat ihr besonderes Oberhaupt, und darunter stehen jene Wesen, welche den einzelnen Globen dieser Runde vorstehen. Jede Rasse und jede Nation hat ihren eigenen Wächter, so auch jeder Mensch, der seinen eigenen inneren Gott hat. Der Mensch selbst ist das Resultat von Scharen von Schöpfern, von denen einige für seinen Körper, andere für seine psychische, seine mentale und seine spirituelle Natur sorgen. Seine Vervollkommnung vollzieht sich, solange dieser Planet besteht – ein Prozess der viele, viele Millionen Jahre dauert. So sehen wir, wie unvollständig der Mensch noch ist – eigentlich noch ein Kind, das praktisch nichts über seine eigene essenzielle Natur weiß und sich seiner wahren Beziehung zu anderen so wenig bewusst ist, dass es seine Mitmenschen bekämpft und vernichtet, obwohl sie einen Teil seines eigenen Wesens bilden.
In der ersten Runde waren die Globen der Erdkette und alles, was sie enthielten, noch sehr etherisch. Sie bestanden aus einer kalt leuchtenden, äußerst etherischen Substanz. Gegen Ende der ersten Runde entwickelte diese Substanz die Basis für das, was wir in unserer gegenwärtigen Runde als Feuer kennen. Als Runde zwei und drei Fortschritte machten, fand eine allmähliche Verfestigung statt. Das Element Luft wurde in der zweiten und das Element Wasser in der dritten Runde entwickelt. Aber erst in der gegenwärtigen Runde nahm unsere Globus D eine feste Gestalt an, und es entwickelte sich das Element, das wir Erde nennen.
Die ersten Runden der Lebenswoge können nur sehr allgemein dargestellt werden. Erst wenn wir bei Globus D unserer heutigen Runde ankommen, können wir uns einigermaßen ein Bild davon machen, was tatsächlich stattfand. Das bedeutet nicht, dass die langen Äonen der Vorbereitung für den Aufbau des Menschen an sich durch eine vage Passivität gekennzeichnet waren, wobei nichts Wesentliches geschah. Es bedeutet nur, dass Beschreibungen nutzlos sind, weil wir nichts kennen, womit wir die Prozesse vergleichen könnten.
Wenn wir in unserem Studium bei Globus D unserer heutigen Runde anlangen, nimmt unsere Vorstellung deutlichere Umrisse an, und die Einzelheiten werden zahlreicher. Gerade in dieser Periode wurde die Arbeit an der Gestaltung des menschlichen Körpers, so wie wir ihn jetzt kennen, in Angriff genommen. Dies war an sich keine leichte Aufgabe. Wir werden uns dessen bewusst, wenn wir die außerordentliche Präzision untersuchen, mit welcher der Körper aufgebaut ist und mit der er die unzähligen Hierarchien geringerer Lebensformen, aus welchen er zusammengesetzt ist, in vollkommener Harmonie koordiniert.
Dieses Zeitalter der ‘Vorbereitung des Vehikels’ wird in den Stanzen des Dzyan poetisch beschrieben, einem archaischen Manuskript, das von H. P. Blavatsky in ihrem Werk Die Geheimlehre zitiert wird. Die Erde wird dort als ungeduldig bezeichnet. Sie unternimmt selbst die Anstrengung, ihren Globus zu bevölkern. Dabei erschafft sie den ‘Wasser-Menschen, furchterregend und schlecht’, der von den höheren Dhyānis oder Planetengeistern, welche die Evolution der Erde leiteten, vernichtet werden musste. Wie fantastisch diese Erzählung manchen Menschen auch erscheinen mag – sie beruht auf einer wahren Begebenheit in einer frühen Übergangsperiode, als schwer zu beschreibende Ungeheuer aus der überreichlichen Energie von Mutter Erde entstanden.
Als die Erde allmählich gereinigt war, wurde die Gestalt des zukünftigen menschlichen Körpers ausgearbeitet und dabei das Muster der affenähnlichen, etherischen Formen korrigiert, welche die ‘Menschen’ der dritten Runde evolviert hatten. Das war die erste Wurzelrasse auf Globus D dieser Runde, bekannt als die ‘Selbst-Geborenen’, weil sie ihre Nachkommen durch einen Prozess hervorbrachten, den wir als ‘Teilung’ bezeichnen könnten, weil sich ein Stück vom Elternteil abtrennte – ungefähr dem Teilungsprozess heutiger Zellen entsprechend.
Ihre Heimat war in der Gegend des Nordpols, dem unvergänglichen Heiligen Land, das vom Beginn bis an das Ende dieses Erdzyklus oder Manvantaras besteht und auch die Heimat der letzten vollkommenen Rasse sein wird. Es ist schwierig, sich irgendeine Vorstellung von diesen Wesen der ersten Rasse zu machen, die kein Skelett, keine Haare und keine echte Haut hatten und die fast formlos waren. Sie sind als die Chhāyā-Rasse bekannt, was ‘Astralbild’ bedeutet. Im Laufe der Evolution verdichtete sich der Astralstoff allmählich und wurde halb-astral, als die zweite Rasse auf der Bühne erschien, die bereits deutliche, wenn auch noch unvollkommene Umrisse davon zu zeigen begann, was in späteren Zeitaltern, gegen Ende der dritten Wurzelrasse, zu Körpern menschlicher Gestalt werden sollte, auch wenn diese im Vergleich zur heutigen menschlichen Gestalt noch unvollkommen waren.
Die zweite Wurzelrasse pflanzte sich durch einen Prozess der ‘Knospung’ fort. Es trennte sich nur ein kleiner Teil ab, sozusagen eine ‘Knospe’, und diese fing an zu wachsen und sich zu einem Wesen zu entwickeln, das in allen wichtigen Hinsichten dem Elternteil glich.
Die Heimat der zweiten Rasse lag weiter südlich und umfasste Teile von Grönland. Im Laufe ihrer Evolution entwickelte sich ihre Fortpflanzungsweise zu dem, was jetzt die ‘Schweiß-Geborenen’ genannt wird. Große Tropfen traten aus dem Körper aus und entwickelten sich allmählich zu menschlichen Embryonen. Alle diese Veränderungen nahmen unzählige Zeitalter in Anspruch, aber Zeit bedeutete diesen träumenden Geschöpfen nichts; ‘für sie waren tausend Jahre wie ein Tag’. Sie schufen die dritte Wurzelrasse und verschwanden, ohne äußere Beweise ihrer Existenz zu hinterlassen.
Die dritte Wurzelrasse
Die dritte Wurzelrasse wurde Zeuge großer Veränderungen. An erster Stelle entwickelten sich diese ‘Schweißtropfen’ der zweiten Wurzelrasse zu großen Eiern, die von der Sonne erwärmt und zur Entwicklung gebracht wurden – ein Vorgang, der mit dem unserer heutigen Vögel verglichen werden kann. In diesen Eiern wuchsen die Föten mehrere Jahre heran. Auch die menschliche Form durchlief eine Reihe von Veränderungen ihrer Gestalt. So gab es in dieser hermaphroditischen Periode eine Zeit, in welcher der Mensch vier Arme und drei Augen hatte. Aber diese Varianten entstanden natürlich sehr allmählich, in einer Zeit von mehreren Millionen von Jahren. Schließlich fand im letzten Teil dieser Rasse die Trennung in die beiden Geschlechter statt.
Das wunderbare Ereignis, der Wendepunkt, der den gesamten Verlauf der Geschichte verändern sollte, die großartige Epoche im Leben der Menschheit, auf die zahllose Hierarchien zeitalterlang hingearbeitet hatten, stand nun unmittelbar bevor. Drei Runden und beinahe die Hälfte der vierten hatten die Vorbereitungen zu diesem glorreichen Erwachen in Anspruch genommen. Im Verhältnis betrachtet, trat es plötzlich ein. Wer die Theorie unterstützt, dass sich der Verstand im Tierreich entwickelte, übersieht dabei, dass Ewigkeiten erforderlich sind, um auch nur den menschlichen Körper und die niederen Prinzipien zu entwickeln.
Bis zu dieser Zeit hatten sich nur zwei der evolutionären Ströme manifestiert, die durch die Natur tätig sind – und zwar der physische und der spirituelle, der durch die monadische Essenz, den Gottesfunken, zum Ausdruck kommt. Dieser steht zu hoch über dem physischen Strom, um ohne das Verbindungsglied des Verstandes einen Austausch zustande bringen zu können. In der Geheimlehre wird behauptet, dass – wenn die spirituelle Monade eines Newton mit der spirituellen Monade des größten Heiligen auf Erden verbunden und die beiden in einem vollkommenen Körper inkarnieren würden, jedoch ohne das dazwischen stehende Prinzip des Verstandes zur Vereinigung der spirituellen Monade mit dem physischen Körper – das Resultat auf dieser Ebene ein Idiot wäre. Alles ist latent vorhanden, sogar im Atom, und so war es auch der Verstand in der dritten Wurzelrasse im menschlichen Tier.3 Um ihn zu erwecken, bedurfte es der höheren Götter und der Zeit.
Dieses Ereignis der Erweckung des Verstandes im Menschen war engstens verknüpft mit dem Schicksal anderer Wesenheiten aus dem vorhergehenden großen Manvantara – Wesen, die im Vergleich zu den niederen Menschen Götter waren. Die niederen Wesen der Mondkette hatten erreicht, was sie konnten. Sie und ihre Scharen von Helfern hatten alles gegeben, was ihnen möglich war. Verstand hatten sie jedoch nie besessen. Aber es gab andere, bekannt als die Mānasaputras oder Söhne des Denkens, die dazu bereit waren, in die für sie vorbereiteten Tempel einzutreten. Und diese Tatsache bedeutet, dass sie zu ihnen gehörten, dass sie karmisch mit ihnen verbunden waren. So traten jene Wesen, die zuvor auf der Mondkette das Prinzip des Verstandes vollständig entwickelt hatten, in den niederen Menschen ein, um seinen latenten Funken zur Tätigkeit zu erwecken. Nach dieser Inkarnation fanden scheinbar wunderbare Veränderungen statt.
Dieses Geschehen wird in dem Mythos von Prometheus symbolisch dargestellt. Er brachte den Sterblichen das spirituelle Feuer und wurde an den Felsen der Materie, unseren menschlichen Körper, gekettet, wo er die Äonen hindurch verweilen wird, bis der Mensch selbst zu seiner Höhe emporsteigen und ihn erlösen wird. Die Geschichte von Adam und Eva im Garten Eden hat dieselbe Grundlage, wo Luzifer, der Lichtbringer, als Satan getarnt ist, eine böse Macht.
Diese Inkarnation der Söhne des Denkens brachte dem niederen Ego Schmerz und Leiden, aber auch die Möglichkeit, das Göttliche zu erlangen. H. P. Blavatsky behauptet, dass wir ohne die Hilfe dieser höheren Wesen noch immer nicht weit über dem Animalischen stehen würden. Seit jener Zeit hat es immer zwei Stimmen im Menschen gegeben, die sich Gehör verschaffen wollen – bis zu dem Tag, an dem die eine die andere absolut beherrscht. Und doch ist der niedere Mensch nie ohne Hilfe. Er ist mit freiem Willen und einem Gewissen begabt – die Stimme des Gottes im Inneren kann von jenen immer vernommen werden, die Ohren haben zu hören.
Es ist unmöglich, diese Philosophie ohne die Erkenntnis zu verstehen, dass das Universum aus unzähligen Abstufungen von Bewusstseinsarten zusammengesetzt ist, dass jedes Wachstum ein Wachstum des Bewusstseins bedeutet und dass überall im Universum in der Verschiedenheit die Einheit existiert. Etwas, das von irgendeinem anderen Teil unabhängig ist, existiert nicht. Alle Wesen tragen Verantwortung für die unterhalb von ihnen stehenden, und sobald das Stadium des Selbstbewusstseins erreicht ist, tragen sie auch für die über ihnen stehenden Wesenheiten Verantwortung. Historiker haben oft bemerkt, dass keiner seine Rasse über ein gewisses Maß hinaus übersteigen kann. So wie es auf Erden ist, ist es auch im Himmel. Wie oben, so unten. Die Großen verspüren die Last jener, die ihre Chancen vergeben und sich weigern zu wachsen.
Nicht alle menschlichen Rassen waren gleich weit entwickelt; einige blieben hinter anderen zurück. Strophe VII der Geheimlehre verweist folgendermaßen auf diesen Teil der Geschichte:
24. DIE SÖHNE DER NACHT, DIE SÖHNE DER WEISHEIT (hervorgegangen aus dem Körper Brahmas, als es Nacht wurde), BEREIT ZUR WIEDERGEBURT, KAMEN HERAB. SIE SAHEN DIE (intellektuell) SCHLECHTEN FORMEN DER ERSTEN DRITTEN (noch unvernünftigen Rasse). „WIR KÖNNEN WÄHLEN“, SAGTEN DIE HERREN, „WIR HABEN WEISHEIT.“ EINIGE TRATEN IN DIE CHHĀYĀS EIN. EINIGE SANDTEN EINEN FUNKEN AUS. EINIGE WARTETEN BIS ZUR VIERTEN (Rasse). AUS IHRER EIGENEN ESSENZ FÜLLTEN (verstärkten) SIE KĀMA (das Vehikel der Begierden). JENE, WELCHE NUR EINEN FUNKEN ERHIELTEN, BLIEBEN OHNE (höhere) ERKENNTNIS. DER FUNKE LEUCHTETE SCHWACH. DIE DRITTEN BLIEBEN GEMÜTLOS. IHRE JĪVAS (Monaden) WAREN NICHT BEREIT. DIESE WURDEN BEISEITE GESETZT UNTER DEN SIEBEN (ursprünglichen Menschenrassen). SIE WURDEN ZU DEN SCHWACHKÖPFIGEN. DIE DRITTEN WAREN BEREIT. „IN DIESEN WERDEN WIR WOHNEN“, SPRACHEN DIE HERREN DER FLAMME UND DER DUNKLEN WEISHEIT.
– The Secret Doctrine, II:161
Diese Ereignisse erklären die Ungleichheiten in unserer menschlichen Art, die relativ hohen und niederen Möglichkeiten verschiedener Menschen. H. P. Blavatsky deutet auch darauf hin, dass diese Ereignisse den gesamten Schlüssel zum Geheimnis des Bösen darstellen.
Mit dem Erscheinen der Mānasaputras in diesem Drama unseres menschlichen Lebens wird der Mensch in Bezug auf seine Konstitution vollkommener. Er ist jetzt dazu bereit, seiner Bestimmung zu folgen und vereint in seiner Natur, bereit zur Entwicklung, alle Prinzipien des Kosmos. Das ist die wahre Bedeutung der Worte in der christlichen Bibel: „Und Gott schuf den Menschen nach seinem Ebenbild.“ Diese Inkarnation initiiert in der Menschheit den dritten evolutionären Strom – den intellektuellen. Genau an diesem Punkt begegnen sich im Menschen die Ströme von oben und von unten.
In den großen Kreisläufen des Kosmos steigt der Geist ewig in die Materie hinab, und die Materie steigt ewig zum Geist empor. Sie unterstützen sich gegenseitig. Keiner von beiden könnte sein Ziel ohne den anderen erreichen. Die niederen Leben können ihr Bewusstsein nur erweitern, indem sie Schale um Schale ihrer Umhüllung zerbrechen und in immer weiter reichende Räume des Denkens und des Geistes emporstreben. Die Großen Geister und Götter können das Mitleid, das tatsächlich ihre Essenz ist, nur zum Ausdruck bringen, indem sie ihren jüngeren Brüdern helfen. Sie können an Macht und Kraft nur gewinnen, indem sie den Widerstand der Materie und der Gedankenformen überwinden und immer größere Verantwortung auf sich nehmen. Diese Lebensströme befinden sich in einer universalen Bewegung. Sie sind nicht nur in den großen Kanälen wahrnehmbar, sondern sie sind überall vorhanden – in jeder Ebbe und Flut. Es gibt keinen Tropfen im Ozean des Seins, der nicht den Einfluss beider in sich verspürt. Von da an treten in der menschlichen Natur die relativen, als Gut und Böse bekannten Neigungen, zu Tage. Aus der komplizierten Wechselbeziehung zwischen diesen evolutionären Strömen erwuchsen der jungen Menschheit falsche Vorstellungen von sich selbst. In den letzten Jahrhunderten, als die alten Lehren immer mehr in den Schatten traten, entstand das irreführende Bild des ‘in Sünde geborenen’ Menschen, was eine lange Spur entwürdigender Einflüsse hinterließ. Verloren in den Nebeln der Unwissheit sind wir teilweise vom Weg abgekommen und das Bewusstsein unserer göttlichen Abstammung trat in den Hintergrund.
Das Mysterium von Gut und Böse
Der sogenannte Sündenfall des Menschen – in der Bedeutung, die man ihm meistens beimisst – bezieht sich auf das Ereignis im Garten Eden, als die Schlange Adam und Eva dazu verführte, die verbotenen Früchte vom Baum des Lebens zu essen. So erlangten die Menschen Kenntnis von Gut und Böse. Sie fielen in Ungnade, mussten das Paradies verlassen und waren von nun an gemeinsam mit ihren Nachkommen mit der Erbsünde belastet. Nach der Alten Weisheit steht der Garten Eden für jene Periode in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, die mit dem Kindheitsstadium verglichen werden kann. Die Menschheit war noch nicht im Besitz des Selbstbewusstseins, das in der Genesis durch die Schlange geweckt wird, die in ihrer Rolle als Lichtbringer (was die Bedeutung des Wortes Luzifer ist) auftritt. Der Sündenfall ist also in Wirklichkeit ein wichtiger Schritt in der Evolution der Menschheit, durch den sie befähigt wurde, zielbewusst zu wählen und ihre eigene Evolution selbstständig zu beginnen.
Das ist das Licht, das die Weisheitsreligion auf das Mysterium von Gut und Böse wirft, das überall, wo das Wissen über die alten Lehren verloren geht, die Menschen verwirrt. Die meisten von den Menschen verfassten Theorien zur Erklärung dieses Mysteriums beachten die göttliche Seele im Menschen nicht. Der Mensch, ein potenzieller Gott im Äußeren, ein wirklicher Gott im Inneren, hat sich selbst die Überzeugung aufgedrängt, ein Wurm im Staube zu sein. Anstatt das Augenmerk nach innen zu lenken, haben wir den Blick nach außen gewendet und sehen allein die tanzenden Schatten der Illusion. Wir haben unseren Weg im Labyrinth der Materie verloren und den Faden fallen gelassen, der uns zu unserer Heimat zurückführen könnte.
Hat Gott die Menschen tatsächlich ‘böse’ erschaffen? Sind sie unwiderruflich und hilflos zur Bestrafung verdammt? Zum Glück beginnen wir in zunehmendem Maße, den erniedrigenden Charakter dieser Vorstellung einzusehen. Manche Menschen vertrauen auf ihre Intuition und suchen erst gar nicht nach einer Lösung; sie wenden sich unbewusst an ihren inneren Gott. Andere kümmern sich nicht um Konsequenzen und folgen im Leben nur ihren Wünschen. Die Theosophie gibt eine Antwort, die ernsthafte Erwägung verdient.
Das, was mit der großen Linie der Evolution übereinstimmt, was die Entfaltung göttlicher Möglichkeiten fördert, was nach stets größerer Vollkommenheit strebt – das ist gut. Das ganze Universum unterstützt diese Richtung. Aber das, was sich dieser Richtung widersetzt, was das Muster der Natur zu behindern trachtet, ist falsch und wird früher oder später untergehen. Diese Widerstände sind zwar notwendig, um Kraft und Wissen zu entwickeln, aber die Gegenkräfte gehören im Plan der Natur normalerweise zum Bereich der Unwissenheit. Wenn wir also über Hindernisse stolpern, die wir infolge unserer dualen Natur in uns selbst finden müssen, lernen und wachsen wir. Wenn sich jedoch das persönliche Ego bewusst mit der niederen, materiellen Seite der Natur verbindet, werden die Folgen mit dem Wachstum immer ernsthafter und müssen – wenn darauf beharrt wird – zur Vernichtung dieser Persönlichkeit führen.
Bevor die Mānasaputras in die Menschheit inkarnierten, konnte es keine Sünde oder moralischen Fehler geben, aber in dem Moment, als der Verstand erwachte, entstand das Bewusstsein von Gut und Böse, es gab einen freien Willen, aber auch Unerfahrenheit und Unwissenheit. Wie gesagt besteht der richtige und einfache Weg darin, in Harmonie mit den großen Strömen der Evolution zu arbeiten. Wer das tut, hinter dem steht das Universum, und er findet keine Hindernisse in sich. Falsch ist es, in die andere Richtung zu rudern.
Jedoch muss die Frage beantwortet werden, warum ein Mensch gegen das moralische Gesetz verstoßen möchte. Dr. G. de Purucker sagt in Studies in Occult Philosophy, Seite 72:
„Was ist es im Menschen, das ihn sündigen lässt?“ Welcher Teil des Menschen sündigt? Ist es sein Körper? Offensichtlich nicht, denn sein Körper ist nicht mehr als ein Sklave, ein Werkzeug für den innewohnenden Geist. … Ist es sein Geist? Offensichtlich nicht, denn er ist ex hypothesis makellos, ohne Sünde und aus der Essenz des Göttlichen. Es ist auch weder der Astralkörper, noch sind es die bloßen Lebenskräfte, denn letztere sind nur vitale Ströme, die durch den Willen getrieben und vom Denkvermögen geleitet werden. Nun könnte angenommen werden, es sei das Kāma im Menschen, das ihn sündigen lässt – seine Wünsche und Leidenschaften. … Nein. Was im Menschen sündigt, ist seine Intelligenz. Die Sünde liegt in der Wahl, in der Handlung. Es ist der Pfad zur rechten oder zur linken Hand. In dieser Wahl liegt Sünde oder Übeltun.
Nehmen wir zum Beispiel ein Kind; ein Kind, das noch nicht gelernt hat, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, sündigt nicht, was es auch immer tut. Es ist intellektuell unbewusst, unwissend. Ein Tier sündigt nicht, es besitzt nicht die Kraft der menschlichen Wahl. Diese Kraft entwickelt sich langsam, weil die mānasischen Kräfte ihrerseits allmählich in Tätigkeit treten, aber die Fähigkeit zur Wahl, die einem Tier innewohnt, ist im Vergleich mit der menschlichen nur unbedeutend. Deshalb sagen wir, dass ein Tier nicht sündigen kann. Der Mensch sündigt, weil er die Wahl trifft, die inneren Kräfte zu missbrauchen.
… Und genau aus diesem Grund fiel die vierte Wurzelrasse. Weder das Kāma, das in der vierten Wurzelrasse am stärksten entwickelt oder evolviert war, noch die ungeheuren Kräfte, die durch die üble Wahl hervorgerufen wurden, brachten die schrecklichen Folgen zuwege. Das Übel lag in der falschen Anwendung des Verstandes. Der Mensch sündigte in seinem Intellekt, in seinen Imaginationen, seinem Denken und Wählen. Es gibt ein altes lateinisches Sprichwort, das seit frühen Zeiten von den Christen angenommen wurde: Ubi voluntas est, peccatum est; ubi voluntas non est, peccatum abest. Wo der Wille ist (das heißt die Wahl), ist Sünde; wo kein Wille ist (das heißt keine Wahl), ist keine Sünde. Ein völlig geisteskranker Mensch sündigt nicht, was auch immer er tut, denn für ihn gibt es keine Wahl. …
Sobald die Söhne des Denkens auf dem absteigenden Bogen in den unbewussten ‘Menschen’ jener Zeit das Feuer entfacht hatten, konnten diese sündigen und sie taten es. Da sie aber noch verhältnismäßig etherisch und wenig evolviert waren, war ihre Wahl schwach und schwankend, ohne viel Kraft hinter ihrem Kāma. Die treibende Kraft war noch nicht voll zur Geltung gebracht. Erst in der vierten Wurzelrasse stand sie in voller Blüte, und der Intellekt konnte kraftvoll wählen und handeln. Darum wird in der fünften Wurzelrasse die große Zeit der Entscheidung kommen, sobald der Intellekt voll entwickelt sein wird.
Für jene Wesen, die sich ober- oder unterhalb der Ebene befinden, auf der das menschliche Bewusstsein sich gegenwärtig bewegt, gibt es keine Empfindung des Getrenntseins. Die über das menschliche Stadium hinaus gestiegenen vollkommenen Wesen erkennen in ihrer Individualität ihre Einheit mit allem Leben. Der Durchschnittsmensch lebt jedoch zum größten Teil in seiner Persönlichkeit; und gerade diese beschränkte und unentwickelte Persönlichkeit unterliegt einer Täuschung, wenn sie meint, sie könne etwas nur für sich allein erlangen oder festhalten. Selbstsucht ist Sünde und Torheit und wahrlich die Wurzel des sogenannten Bösen. Wenn das weit genug geht, verengen sich die Kanäle, durch welche dem Menschen die Lebenskräfte zufließen, und am Ende welkt er wie ein Blatt im Herbst, wenn der Saft es nicht länger erreicht. Und dennoch könnte es keinen moralischen Fortschritt ohne die Kraft geben, die aus der Überwindung dieser Täuschung gewonnen werden kann. Wenn bestimmte grobe Formen der Selbstsucht überholt oder besiegt sind, werden sie umgestaltet in Bestrebungen, die sich mit dem Grad des Wachstums erweitern, bis der Mensch mit vollem Verständnis und ausreichend erwachtem spirituellem Willen in den größeren Zyklus übergeht und sich selbst als Teil des Ganzen erkennt.
Die Komplexität der menschlichen Natur ist nicht bloß eine Redensart. Es gibt tatsächlich verschiedene Selbste im Menschen, in verschiedenen Stadien der Evolution und mit unterschiedlichen Wünschen, die erfüllt werden wollen – in der Tat ein Mysterium, aber eines, das gelöst werden kann. Die evolvierende Seele kann und soll ihren richtigen Platz finden und die Führung über die zügellosen Kräfte übernehmen, die nur all zu gerne die Macht ergreifen und im menschlichen Tempel Chaos verursachen würden. Wenn der Mensch diesen Platz und die Führung erreicht, wird er wahrlich zu einem Gott.
Aber so lange dies noch nicht der Fall ist, wird das niedere Denken, das wächst und sich entfaltet, Fehler machen. Es benutzt sich selbst auf verkehrte Weise, da es noch nicht gelernt hat, in Harmonie mit dem universalen Denken zu handeln, von dem es ein Teil ist. Schmerz, Krankheit und Leiden gehen aus diesem wachsenden Verstand hervor, das heißt, sie sind auf seine Fehler zurückzuführen, die zu Disharmonie im Körper und zu Krankheit führen. Physische Fehler verursachen physische Schwierigkeiten. Mentale Störungen verursachen mentale und später physische Qualen. Durch Schmerz und Leiden lernen wir. Es gibt jedoch eine Möglichkeit, etwas schneller zu lernen. Leider unterstützen wir oft verkehrte Gedanken, halten sie fest und nähren sie solange, bis ihre Kraft ungeheuer groß ist. Glücklich ist derjenige, der erwacht und beschließt, mit seiner höheren Natur zusammenzuarbeiten, bevor diese niederen Kräfte die Oberhand gewinnen. In Theosophy: The Path of the Mystic (Seite 22-25) von Katherine Tingley finden wir folgende Worte – erfüllt von Inspiration, Ermutigung und – Warnung:
Es gibt eine große Entdeckung, die ein jeder selbst machen muss: dass die menschliche Natur dual ist und dass im Menschen unablässig ein Kampf tobt zwischen dem höheren und dem niederen Selbst, zwischen dem Engel und dem Dämon. …
Diese beiden Kräfte – die physische Kraft, geführt durch die spirituelle, und das Denken, erleuchtet durch Schätze von Wahrheit und Inspiration aus dem Höheren Selbst – diese beiden führen zu unglaublichen Ergebnissen, wenn sie zusammenarbeiten. Es wird auch keine Ewigkeit dauern, diese Dinge zustande zu bringen. Selbst die Atome unseres Körpers können vom Feuer göttlichen Lebens berührt, mit dem Denken und mit der Seele in Einklang gebracht und durch das Höhere Selbst beherrscht werden, genau wie ein Meister der Musik sein Instrument beherrscht.
Denn Leben ist Licht und Licht ist Leben und der Christos-Geist ist in entsprechendem Maße überall. … Könnten wir unser Denken von falschen Auffassungen befreien, von der Natur lernen und der inneren Christos-Stimme lauschen – welche Offenbarungen würden uns zuteil werden! Wir wären dann in der Lage zu sagen: Dieses ist unsterblich, jenes ist sterblich, das gehört zur animalischen Natur des Menschen und das zur spirituellen. Die Macht dazu, das ist die Macht, welche wir brauchen, welche uns sozusagen vom Tod auferweckt und uns zu Licht und Erleuchtung geleitet. …
Von der Zeit an, wenn der Jünger ein Gelübde4 ablegt, wird er stets von zwei Kräften begleitet: zwei unsichtbare Gefährten, gebildet aus seiner eigenen Essenz – die eine bösartig, die andere göttlich. Die Absonderung oder Objektivierung der entgegengesetzten Pole seines Selbstbewusstseins stellen seine guten und bösen Engel dar, den Augias und sein Gegenstück, und jeder der beiden versucht, das Wesen des Jüngers zu beherrschen. Einer von beiden muss schließlich die Oberhand erlangen; durch jede Handlung und durch jeden Gedanken im Leben des Jüngers wird entweder der eine oder der andere gestärkt. Es sind seine höheren und niederen Fähigkeiten, die langsam in Machtfülle übergehen, dem entsprechend, wie die Energien (sowohl die guten als auch die schlechten) erweckt werden.
Unsere Aufgabe liegt darin, immer mehr von uns auf das wirkliche Schlachtfeld zu verlegen. Dieses Feld besteht aus den Gefühlen und Gedanken der Menschheit, deshalb wird der Kampf mit rechtem Fühlen und rechtem Denken geführt. Unsere Stärke liegt darin, positiv zu bleiben, in unseren Herzen eine beständige Freude zu bewahren, jeden Augenblick über alle die umherflutenden großen Ideen zu meditieren, bis wir sie erfasst und uns zu eigen gemacht haben; in einer Meditation mit der Vorstellung der Erhabenheit des zukünftigen Lebens der Menschheit; indem wir bei dem Konzept der Bruderschaft verweilen.
Wir können jedoch diesen Punkt spiritueller Unterscheidung niemals erreichen, bevor wir nicht in unserem Herzen etwas Neues gefunden haben: eine umfassendere Sympathie für alles, was lebt, und eine breitere, tiefere, erhabenere Vorstellung vom menschlichen Leben und den herrlichen Gesetzen, welche es regieren.
Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch in gewisser Hinsicht ein Brennpunkt all der guten und bösen Elemente ist, denen wir in der Vergangenheit bewusstes Leben verliehen haben. In jedem Augenblick, in dem wir uns bewusst der guten oder der schlechten Seite zuwenden, nistet sich das eine oder andere von beiden in unser Gemüt ein und füllt es aus. Und es ist einleuchtend, dass unsere Verbindung mit dem einen oder anderen, zu dem wir mehr neigen, zu Sieg oder Niederlage führen. Wie geringfügig diese Verbindung auch sein mag, sie muss – sobald sie unterstützt wird – zur betreffenden Seite unserer Natur und des Universums hinführen und alles mit einbeziehen, was sich dort befindet. Wenn dies wahr ist, so folgt daraus, dass unser bewusstes Wollen, irgendeinen Fehler oder irgendeine Schwäche zu dulden und zu unterstützen, eine unermesslich gewichtige Abwärtsbewegung darstellt.
Wenn jedoch die Bemühungen fortgesetzt werden, wenn sich der Schüler durch Fehlschläge oder Schwächen nicht entmutigen lässt und immer ‘ebensoviel unerschrockene aufwärtsgerichtete Bemühungen’ folgen, bekommt er stets die Hilfe und den Rat des göttlichen ‘Daimon’, des ‘Kämpfers’. Der Sieg, wie entfernt er auch sein mag, ist gewiss. Denn das ist eine unüberwindbare Kraft, ‘ewig und zuverlässig’, eine tatsächliche Gegenwart und Inspiration, wenn wir sie nur erkennen wollen und auf sie vertrauen, vertrauen, vertrauen.
Die dritte Wurzelrasse – (Fortsetzung)
Wir kommen zurück auf die verschiedenen Entwicklungsstufen der menschlichen Rasse, wie sie in der auf Seite 38 abgedruckten Strophe VII der Geheimlehre erwähnt werden. Die Gruppe, die nur einen ‘Funken’ empfing, bildet unsere gegenwärtige Durchschnittsmenschheit. Diejenigen, die nicht bereit waren, deren Evolution nicht bis zu dem notwendigen Punkt fortgeschritten war, blieben verstandeslos. In der langen Übergangsperiode, als sich im Menschen- und Tierreich die Trennung der Geschlechter vollzog und die Trennungslinie zwischen den beiden Reichen noch nicht so scharf war, vermischten sich die verstandeslosen Menschen mit den Tieren. Aus dieser Verbindung gingen die Urahnen der verschiedenen Affenarten hervor. Sie werden als grässliche, behaarte Ungeheuer beschrieben – „eine Rasse, die stumm blieb, um die Schande nicht zu verkünden“. Sie stellen die zuvor erwähnten Ausnahmen dar und sind dazu bestimmt, in einer Zeit nach dem kritischen Mittelpunkt dieser vierten Runde in die menschliche Familie aufgenommen zu werden. Da sie teilweise menschlicher Natur sind, ist es möglich, dass einige von ihnen in der siebten Wurzelrasse auf diesem Globus D vollständig menschlich werden, aber die meisten müssen auf die fünfte Runde warten.
In einem Teil der menschlichen Familie inkarnierten die Mānasaputras vollständig, und sie wurden die Führer und Lehrer der Menschheit in der dritten Wurzelrasse. Worte können die Veränderung kaum angemessen beschreiben, die im Leben der Menschen nach diesem Ereignis stattfand. Die träge, halbbewusste und sich in einer Art Traumzustand befindende Welt erwachte und begann, sich selbst kennenzulernen. Der schlafende Same des Denkens wurde von einer mächtigen Kraft wachgerüttelt. Der Funke traf das, womit er verwandt war – und siehe, das Tier wurde zum Menschen!
Diese Rasse von Arhats (die im obigen Absatz erwähnten Führer der Menschheit) pflanzten sich nicht durch Vereinigung der Geschlechter fort – wie diejenigen, die nur einen Funken empfangen hatten –, sondern durch die Kraft des Willens. Es wird gesagt, dass diese Fähigkeit in uns allen latent vorhanden ist, dass allerdings bis zu ihrer Entwicklung in der Menschheit noch viele Zeitalter vergehen werden. Die Nachkommen dieser Rasse sind bekannt als die ‘Söhne von Wille und Yoga’. Sie leben noch immer und wachen über die Menschheit; sie fördern und behüten die künftigen menschlichen Adepten auf Erden. Man nennt sie auch die ‘unsterbliche Rasse’. Es wird gesagt, sie könnten ebenso gut im Wasser, in der Luft oder im Feuer leben, weil sie die Naturkräfte vollkommen kontrollieren. Sie waren eine heilige Rasse von göttlicher Kraft und Schönheit. Sie wurden zu Lehrern der heranwachsenden Menschheit und inspirierten sie; sie sind die wahren spirituellen Eltern der Menschheit. Sie waren es, welche die frühen Rassen, während sie heranwuchsen, in der alten Weisheitsreligion unterrichteten. Diese Weisheitsreligion wurde schon immer in zyklischen Perioden der Menschheit gebracht und ist heute unter dem Namen Theosophie bekannt.
Dieser unsterblichen Rasse wurde auch das Zeichen und der Beweis ihres göttlichen Ursprungs und ihrer göttlichen Abstammung eingepflanzt – das dritte Auge. Mit seiner Sehkraft ist das Leben ein offenes Buch. Die bedeutende Vergangenheit, die ruhmreiche Zukunft, sie waren wie das ewige Jetzt. Jene Tage waren das Goldene Zeitalter, in dem die Götter – die spirituellen Väter der Menschheit – unter ihren Kindern wohnten. Anfangs kannten diese das Gefühl des Getrenntseins nicht und fühlten sich in Harmonie mit allem, was existierte. Liebe, Ehrfurcht und Freude erfüllte ihre Herzen. Streit hatte in das menschliche Leben noch nicht Einzug gehalten, aber so konnte es nicht bleiben. Auf diese Weise werden keine Götter geboren. Dieser Himmel auf Erden muss mit Gewalt genommen werden, um ein bleibender Besitz sein zu können. Durch eine lange und mühevolle Pilgerfahrt muss der Mensch den verlorenen Zustand der Reinheit und des Glücks zurückgewinnen, der spirituelle Kraft, ein reiches und vollkommenes Verständnis des Lebens in all seiner Vielfalt und grenzenloses Mitleid für alle Lebewesen mit sich bringt.
Langsam kamen Wolken auf und die Sonne des Lebens verdunkelte sich. Als diese Kinder der Unschuld und Freude begannen, ihre Kraft zu spüren, als ihr latenter Verstand von den Wesen über ihnen erweckt worden war, wuchs das Animalische in ihnen schnell heran. Der Krieg nahm seinen Anfang. Das dritte Auge wurde schwach; und im Laufe der Zeit wurde der Mensch, der erst einäugig und später dreiäugig war, ein Wesen mit zwei physischen Augen. Das dritte Auge zog sich in das Gehirn zurück. Davon zeugt heute die Zirbeldrüse. Bei den ‘Großen’ ist dieses Auge tätig, wenngleich auch unsichtbar. Und in ferner Zukunft wird es bei der Menschheit in ihrer Gesamtheit wieder aktiv werden. Legenden aller Rassen, die das ‘Gedächtnis’ der Vergangenheit bilden, erwähnen die Geschichte des dritten Auges auf verschiedene Art. Die drei ‘Einäugigen’ Zyklopen, von denen Hesiod berichtet, symbolisieren die letzten drei Unterrassen der dritten Rasse oder Lemurier. In Mythen begegnen wir ab und zu Gestalten, deren Vision keine Grenzen kannte.
Die Götter zogen sich zurück, und das Goldene Zeitalter verging. Es gab keinen ewigen Frühling mehr. Das Klima wurde kalt. Tiere, die den Menschen wohlgesinnt waren, wurden gefährlich. Allmählich gaben Schmerz und Leiden dem Gedankenstrom der Menschen eine andere Wendung, und ihren Herzen entrang sich eine flehentliche Bitte um Hilfe. Ihre spirituellen Eltern antworteten darauf. Göttliche Dynastien wurden gegründet, worauf eine ruhmreiche Zivilisation folgte.
Der Kontinent der dritten Rasse, bekannt als Lemurien, liegt heute unter dem Stillen Ozean, dessen Inseln, die sich wie Punkte auf der Oberfläche ausnehmen, einst die Gipfel der Berge dieses alten Landes waren. Es erstreckte sich von den beiden Amerikas bis an die Küsten des heutigen Asiens und darüber hinaus. Die ersten Städte waren aus Steinen und Lava gebaut. Bevor sich jedoch der Lebenszyklus dieser Rasse seinem Ende zuneigte, erhoben sich riesige Städte. Unter der Führung ihrer göttlichen Herrscher blühten Künste und Wissenschaften. Astronomie, Architektur und Mathematik wurden bis zur Perfektion erlernt. Die Zivilisation, die mit der dritten Wurzelrasse begann, war so glorreich, reich und glänzend, dass im Vergleich dazu die griechische, römische und sogar die ägyptische Zivilisation völlig unbedeutend sind. Verglichen mit der langen Zeit, die bis zur Entstehung dieser Zivilisation verstrichen war, schien es, als sei sie schnell und sogar plötzlich erschienen. Aber sie entwickelte sich nur allmählich und überdauerte viele Jahrtausende bis in die vierte Wurzelrasse hinein. Unterschiede gab es selbstverständlich damals genauso wie heute. Primitive und Genies kennzeichneten die beiden Extreme.
Vor dem Ende dieser Wurzelrasse hatte die Mehrheit der Menschen ihre spirituelle Reinheit verloren und sie versündigten sich auf diese oder jene Weise. Trotzdem gab es immer Menschen, die dem inneren Licht folgten und auf diese Weise die Grundlage für die Zukunft formten. Wenn die Rassen am Ende ihres Zyklus angelangt sind, werden sie abwechselnd durch Feuer oder Wasser zerstört. Nicht plötzlich, ausgenommen lokal, sondern langsam und über Zeiträume von hundertausenden von Jahren, während sich gleichzeitig die nachfolgenden Rassen allmählich entwickelten. Die dritte Wurzelrasse fand ihr Ende durch Feuer, das heißt durch die Wirkung unterirdischer Erdbeben und Vulkanausbrüche, denen Überschwemmungen folgten.
Die vierte Wurzelrasse
Vor ungefähr achtzehn Millionen Jahren gingen die menschlichen Egos auf ihrem Evolutionspfad langsam von der dritten in die vierte Wurzelrasse über; sie wurden zu den großen Atlantiern, deren riesiger Kontinent sich über ein Gebiet ausdehnte, das heute den Atlantischen Ozean ausmacht. Die Lebensmitte dieser Rasse fiel mit der Mitte der Lebensperiode dieses Planeten zusammen. Zu diesem Zeitpunkt wurde auch die Tür zwischen dem Tier- und Menschenreich geschlossen. Damals erreichte auch die Materie den Höhepunkt ihrer Evolution. Seit dieser Zeit befindet sich alles Leben auf dem aufsteigenden Bogen zum Spirituellen hin. Alles, was manifestiert war, war gewaltig. Sowohl Menschen als auch Tiere waren riesig groß. Die Menschen waren zwischen sechs und acht Meter groß. Sie besaßen eine hohe Intelligenz. Einen Hinweis darauf finden wir in der Behauptung, dass ihre degenerierten Nachkommen die ersten Pyramiden erbauten.
Am Beginn der vierten Wurzelrasse war das dritte Auge noch aktiv. Und so beherrschten die Atlantier viele der subtileren Naturkräfte, die für uns noch ein Geheimnis sind. In seinem Buch The Esoteric Tradition, Seite 1046, schreibt Dr. de Purucker:
Diese atlantische Rasse erreichte den Höhepunkt materiellen Reichtums ihrer Zivilisation und in ihrem materiellen Fortschritt vor etwa vier oder fünf Millionen Jahren. Jede Wurzelrasse ist durch ihre charakteristischen Entwicklungen sowohl in intellektuellen als auch in psychischen Gebieten gekennzeichnet. Das Hauptmerkmal aller atlantischen Völker war der Materialismus in seinen verschiedenen Arten und Ausdrucksformen. Es waren vielmehr materielle als spirituelle Dinge, die angebetet wurden. Allenthalben und zu allen Zeiten waren Beweise und Auswirkungen dieser dunklen, finsteren Anbetung zu bemerken. Materialismus und nicht Spiritualität – und zwar ein Materialismus, der mit einer vorsätzlichen Ausübung materieller wie auch psychischer Magie verbunden war – war der erklärte und anerkannte Glaube und das Ideal all der verschiedenen Unterrassen, als der Mittelpunkt der vierten Wurzelrasse erreicht war, welcher die atlantische Zivilisation kennzeichnete.
In jener fernen Vergangenheit war der gesamte Erdball derartig materialistisch geworden – nicht nur äußerlich, sondern tatsächlich, so in das Leben der Materie hinabgesunken, dass das Flüstern des Spirituellen im Menschen, das Flüstern seines inneren Gottes, die menschliche Seele nicht mehr so leicht erreichte. Trotzdem es während der langen Zeitalter, in welchen sich der Auf- und Abstieg der verschiedenen atlantischen Zivilisationen vollzog, Gruppen und Einzelne gab, die das geistige Leben aufrichtig und ernsthaft kultivierten, waren doch die Massen, die Menge, welche die individuellen Einheiten der atlantischen Stämme formten, eifrige Anhänger und oft tatsächlich Anbeter der dunklen, bösen Mächte, welche die Schattenseite der Natur bilden.
Wir können uns ein wirklich außergewöhnlich hochintelligentes Volk vorstellen – bei weitem intelligenter als wir in der arischen oder fünften Wurzelrasse –, aber mit einer gänzlich materiellen und oft das Böse suchenden Art von Intelligenz. Sie stellten das Materielle mit seinen Kräften und Früchten über das Spirituelle und sein Licht und beteten das Erstere an. Sie erreichten den Höhepunkt wirklichen Glanzes und Ruhmes, der zwar von gänzlich materieller Natur war, aber größer als alles, was unsere gegenwärtige fünfte Wurzelrasse bislang erreicht hat. Bei ihrem anschließenden rasenden Sturz in allgemeine Zauberei wurden sie nur durch die unaufhörlichen Anstrengungen gewisser Wesen gerettet, von denen wir als wirklich inkarnierte Gottheiten und Halbgötter sprechen können. Diese Großen und ihre Anhänger, von denen es im Ganzen viele gab, aber doch auffallend wenige im Vergleich zu den atlantischen Massen, gründeten zu einer Zeit, als Schandtaten und spirituelle Verderbtheit ihren Höhepunkt erreicht hatten, schließlich zur Rettung der Vielen und Einweihung der für würdig befundenen Wenigen die ersten echten spirituellen Mysterienschulen des Globus. Dies geschah – geologisch gesprochen – kurz bevor die Atlantier als Rasse durch ihr eigenes böses Tun untergingen.
Die ziemlich aufregenden Entdeckungen unserer eigenen Zeit sind nur schwache Erinnerungen an die Wunder und intellektuelle Größe der vierten Wurzelrasse. Und dies sind nur die Vorboten dessen, was kommen wird; wenn nämlich unsere gegenwärtige fünfte Rasse reifer wird, wird sie zurückgewinnen, was sie als Atlantier verloren hatte, aber dann mit größerer spiritueller Entwicklung und Einsicht. H. P. Blavatsky schreibt in einem Artikel, den sie The New Cycle nannte (aus La Revue Théosophique, übernommen in The Theosophical Path, September 1911):
Wir stehen den gesamten Möglichkeiten der Zukunft von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Die Stunde der großen zyklischen Wiederkehr der Gezeiten mystischen Denkens in Europa kehrt wieder. Auf allen Seiten sind wir vom Ozean der universalen Wissenschaft umgeben – der Wissenschaft des Ewigen Lebens –, der auf seinen Wellen die vergessenen und überfluteten Schätze von jetzt vergangenen Generationen mit sich führt, von Schätzen, die den modernen zivilisierten Rassen noch unbekannt sind. In den Tiefen des Ozeans ruhen prähistorisches Wissen und ebensolche Kunst, die zusammen mit den vorsintflutlichen Riesen verschlungen wurden, jenen Halbgöttern, die noch mit einem Rest von Sterblichkeit behaftet waren. Und aus den Tiefen dieses Ozeans steigt eine starke Strömung auf, schlägt in unser Angesicht und flüstert: „Das, was war, existiert wieder; das, was vergessen wurde und seit Ewigkeiten unter den Gesteinsschichten des Jura begraben liegt, kann aufs Neue ans Licht kommen. Bereite dich vor … . Der Kampf wird schrecklich sein zwischen grobem Materialismus und blindem Fanatismus einerseits und Philosophie und Mystizismus andererseits – einem Mystizismus, welcher der mehr oder weniger transparente Schleier ist, der die ewige Wahrheit verbirgt.
All diese Veränderungen, die während des sich entfaltenden Lebensdramas auftreten, zeigen, dass der Mensch während der Umdrehungen der zyklischen Schicksalsräder an einem Schöpfungsprozess teilhat. Jede Umdrehung des Rades fügt etwas hinzu. Wie bereits erwähnt, wird in jeder Runde ein Element evolviert, und der Mensch entwickelt sich physiologisch in Übereinstimmung dazu. Jede Wurzelrasse bringt einen neuen Sinn hervor – da wir uns jetzt in der fünften befinden, haben wir fünf Sinne. Wieder und immer wieder wiederholt jede Runde auf einem höheren Niveau die Erfahrungen, die in der vorigen Runde gemacht wurden, und dasselbe gilt für jede Wurzelrasse und Unterrasse. Die vierte Runde zum Beispiel zeigt eine Ähnlichkeit mit jeder vierten Rasse und mit jeder vierten Unterrasse in allen Runden.
Die Menschheit hatte jetzt genügend Kenntnisse und Verständnis erworben, um ihren eigenen Kurs zu bestimmen, aber leider zog eine große Mehrheit es vor, ihre Fähigkeiten für unheilvolle Zwecke anzuwenden, was für sie selbst und zukünftige Rassen ernsthafte Folgen hatte. Man sagt, dass wir noch immer unter den Folgen des Missbrauchs der Fähigkeiten als Atlantier leiden. Allmählich spaltete die Rasse sich in zwei Teile, die sich deutlich voneinander unterschieden; der eine Teil versuchte, zu einem Meister über sich selbst zu werden und verband sich mit den ‘Söhnen des Lichts’; und der andere Teil, der zum Sklaven von niedrigeren Kräften wurde, entwickelte sich zu Zauberern und Schwarzmagiern.
Während dieser Prozess vor sich ging, geschah in der Geschichte der Menschheit etwas, was die Tatsache verdeutlicht, dass Ursache und Wirkung nicht nur Individuen, Rassen und verschiedene Globen derselben Kette miteinander verbindet, sondern auch Planeten, Universen oder große Manvantaras. Tatsächlich wird nie eine in Bewegung gesetzte Kraft aufhören zu wirken, bevor sie nicht neutralisiert ist. Wir haben über die ‘Söhne des Lichts’ der heiligen Rasse gesprochen, welche die Menschheit stets beschützen und führen, soweit die Menschheit dies zulässt. Aber es gab auch andere mächtige Wesen, die sozusagen im Bösen vollkommen waren. Einer von ihnen war König Thevetat, der offensichtlich aus der Vergangenheit mit diesem Planeten verbunden war, und er wartete seine Zeit ab. Als seine Jünger erschienen – das heißt, als die Mehrzahl der Atlantier den falschen Weg einschlug und in ihrer niederen Natur lebte –, war er bereit, sie zu führen. Hätten sie einen anderen Weg gewählt, wäre er hilflos gewesen. Da das jedoch nicht der Fall war, gelang es ihm, eine Rasse von Zauberern zu erschaffen.
Als für diese Rasse schließlich die Zeit des Untergangs gekommen war, fegte eine ungeheure Naturkatastrophe die Körper jener Bösewichte vom Erdboden hinweg. Die erste große Sintflut fand im Miozän statt; aber kleinere Sintfluten, die der traurigen Geschichte ein Ende setzten, dauerten noch über 150.000 Jahre an. Die letzte Insel, Poseidonis, auf die sich Plato bezieht, versank vor etwa 11.000 Jahren. Die biblischen Erzählungen über die Sintflut sind auf diese großen atlantischen Katastrophen zurückzuführen.
Die spirituellen Eltern der Menschheit retteten jedoch den Samen für die kommende arische oder fünfte Rasse vor der Zerstörung. Es gibt eine Legende über eine ‘Heilige Insel’, mitten in Asien, nördlich des Himalaja-Gebirges, wo heute kahle Wüsten sind. Sie soll von überragender Schönheit gewesen sein und war als der Garten Eden (für jede Rasse gab es einen solchen Garten Eden) bekannt. Er war die Heimat der ‘Unsterblichen Rasse’, die dem Todeskampf von Atlantis entkam. Sie und ihre Vertreter waren es, die es den übriggebliebenen Atlantiern ermöglichten, ihre Reise als Arier zu beginnen.
Wir befinden uns gegenwärtig in der vierten Unterrasse der fünften Wurzelrasse und steigen noch immer zur Mitte oder dem kritischen Punkt dieser Rasse ab. Da jedoch der niedrigste Punkt der Runde in der vierten Rasse überschritten wurde, befinden wir uns auf dem aufsteigenden Bogen zum Spirituellen hin, allerdings noch mit einem schweren Karma beladen, das jeder Einzelne durch reine Gedanken und Taten zu erleichtern versuchen sollte.
Die fünfte Rasse als Ganzes wird vor ihrem Ende das Prinzip des Verstandes höher entwickelt haben als die Atlantier. ‘Manas’ oder der Verstand wird jedoch erst in der fünften Runde vollständig evolviert sein. Wenn diese Zeit anbricht, wird der große Moment der Wahl kommen – eine Wahl, die über Zeitalter hinweg vorbereitet wurde – in Wahrheit ein Tag des Urteils – und der Mensch allein wird sein eigener Richter sein. Das heißt, dass für alle ein Zeitpunkt kommen wird, an dem sie endgültig wählen, ob sie dem Pfad des Geistes folgen werden – hinauf zu ihrer eigenen wahren Natur – oder ob sie sich dem anderen Pol zuwenden, der in der schließlichen Vernichtung enden muss, nach langen Zeitaltern langsamer Auflösung. Denn das ist das Schicksal von evolutionären Fehlschlägen der Natur.
Die hier kurz umrissene Geschichte ist in der Geheimlehre von H. P. Blavatsky ausführlich ausgearbeitet. Die Überlieferung dieser Geschichte stellt einen Teil der Bemühungen dar, der von den Meistern der Weisheit in unserer Zeit gemacht wurde, den Vertretern der ‘Unsterblichen Rasse’, um in den Kindern der Erde das Wissen von ihrer Abstammung und Bestimmung zu erwecken. Diese Geschichte wäre ohne ihre Unterstützung verloren, denn unsere eigenen Aufzeichnungen – abgesehen davon, dass sie oft unzuverlässig und unvollständig sind – reichen nur ein paar Jahrtausende in die Familienrasse zurück, deren Lebensdauer ungefähr 30.000 Jahre beträgt.
Die göttliche Bestimmung des Menschen
Unser Blick in die Vergangenheit macht es etwas leichter, einmal in die Zukunft zu schauen. Wir verstehen, dass unsere Reise ohne Ende ist und daher auch keinen Anfang hat, denn eine Ewigkeit, die nur in eine Richtung reicht, ist undenkbar. Mit dem unvergänglichen Rollen der Zyklen werden wir allmählich zu all dem werden, was die Universen in sich enthalten, unser Bewusstsein wird sich stetig ausweiten, und wir werden immer in Gesellschaft der Götter sein. Sie sind immer in, um und über uns. Da der Schleier, welcher den Glanz verdeckt, aus unserer eigenen Persönlichkeit gewoben ist, können wir die Wolken nur vertreiben, indem wir die Persönlichkeit überwinden. Aber es gibt einen schmalen Pfad, der zum Ziel führt und den alle Religionen mehr oder weniger deutlich beschrieben haben, einen Pfad, den alle Mystiker erkannt haben und der ewig im Licht sein wird.
Manche Menschen glauben, der Pfad, auf dem man das spirituelle Ziel erreicht, sei weit weg hinter den Bergen der Zukunft, fast unerreichbar, während in Wirklichkeit nur eine verhältnismäßig schmale Grenze das gewöhnliche Leben von dem Leben trennt, das der Neophyt oder Chela führt. Der wesentliche Unterschied liegt in der Lebenseinstellung, und nicht im metaphysischen Abstand. Es ist derselbe Unterschied, der zwischen dem Menschen besteht, der der Macht der Versuchung unterliegt und ihr Sklave wird, und jenem Menschen, der der Versuchung erfolgreich widersteht und ihr Meister wird.
Jeder kann den Pfad betreten, wenn sein Wille, seine Hingabe und sein Streben darauf gerichtet sind, für andere eine größere Hilfe zu sein. Das einzige, was ihn daran hindert, diesen so wunderbaren Schritt zu tun, sind seine Überzeugungen, seine psychologischen und mentalen Vorurteile, die ihm ein verzerrtes Bild vermitteln. Wir alle sind Lernende, wir alle haben Illusionen. Selbst die Mahatmas und Adepten haben Illusionen, wenn auch von außerordentlich subtiler und erhabener Art, die sie daran hindern, noch höher zu steigen – und das ist einer der Gründe, warum sie so mitleidsvoll zu jenen sind, die sich bemühen, denselben erhabenen Pfad zu beschreiten, den sie in früheren Zeiten erfolgreich vorangegangen sind.
Der schnellst Weg, diese Illusionen zu überwinden, ist, sie an der Wurzel zu packen; und diese Wurzel ist die Selbstsucht in ihren tausendfachen Formen. Sogar das Verlangen nach Fortschritt, wenn es nur das eigene Ich betrifft, beruht auf Selbstsucht, und diese bringt wiederum ihre eigenen feinen und mächtigen Māyās hervor. Deshalb wird jegliches Erfolgsstreben sich unweigerlich selbst zunichte machen, solange es nicht frei von allem Persönlichen ist, denn der Weg des inneren Wachstums ist Selbstvergessenheit. Er bedeutet, persönlichen Ehrgeiz und Sehnsüchte jeglicher Art aufzugeben, und ein selbstloser und unpersönlicher Diener für alles zu werden, was lebt.
Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass der Zweck des echten Okkultismus nicht darin besteht, ‘Schüler zu produzieren’ oder widerspenstiges Menschenmaterial in Individuen umzuwandeln, die nur nach eigenem Fortschritt streben. Unsere unvollkommene menschliche Natur soll vielmehr gebessert werden, damit wir zuerst edle Menschen und schließlich gottgleich werden – im Sinne der überlieferten archaischen Methoden der Unterweisung und der Schulung, wie sie seit Jahrtausenden erkannt und angewandt wurden.
– Quelle des Okkultimus, G. DE PURUCKER, I:17-18
Es wäre natürlich töricht, wenn wir uns selbst in die Irre führen würden; die Aufgabe des Menschen – individuell und kollektiv – ist nicht leicht. Aber die mutige Seele erfreut sich an Schwierigkeiten. Diese werden größer, denn sobald die höheren Teile stärker werden, trifft dasselbe auf die niederen zu, da sie alle Teil derselben Natur sind. Wenn wir wachsen wollen, müssen wir Widerstand leisten – bis der ‘Herr des Tempels’ mit starker Hand seine Würde gewinnt und seine Diener in passender Weise gebraucht, anstatt von ihnen gebraucht zu werden. Wenn er das tut und seiner Schar auf dem Weg zu der glorreichen Bestimmung voranschreitet, die uns allen beschieden ist, wird er ein wahrer Titan. Wenn er den siebten Zyklus auf dem Planeten, der seine ‘Mutter’ war, vollendet haben wird, wird die Erde für ihn keine Geheimnisse mehr haben. Sein Geist steht über allen Aufgaben, die sie ihm bot, und sein Mitleid wird die ganze Welt umfassen. Das ist unsere göttliche Bestimmung auf Erden. Aber bedeutet dies das Ende? Es fällt nur der Vorhang, der sich – wenn die Zeit gekommen ist – für die nächste Szene im großartigen Drama, in dem wir die ewigen Schauspieler sind, wieder öffnet.
… Leben ist endlos. Es hat weder Anfang noch Ende; und ein Universum unterscheidet sich im Wesentlichen keineswegs von einem Menschen. Wie könnte es auch, der Mensch stellt doch nur das dar, was das Universum als das Urgesetz verkörpert. Der Mensch ist der Teil, das Universum ist das Ganze.
Schaut hinauf in das violette Gewölbe der Nacht. Betrachtet die Sterne und die Planeten: Jeder von ihnen ist ein Lebensatom im kosmischen Körper, jeder von ihnen ist der organisierte Wohnort einer Vielzahl kleinerer Lebensatome, welche die leuchtenden Körper, die wir sehen, aufbauen. Überdies, jede funkelnde Sonne, die den Himmel schmückt, war zu irgendeiner Zeit ein Mensch oder ein dem Menschen gleichwertiges Wesen, das in gewissem Grade Selbstbewusstsein, intellektuelle Kraft, Bewusstsein, spirituelle Vision und einen Körper besitzt. Die Planeten und die Myriaden von Wesenheiten auf diesen Planeten, die solch einen kosmischen Gott, einen Stern oder eine Sonne umkreisen, sind jetzt die gleichen Wesenheiten, die in längst vergangenen kosmischen Manvantaras die Lebensatome dieser Wesenheit waren. Während sie viele Zeitalter hindurch hinterherzogen, lernten sie alle und schritten voran. Auf dem weiter zurückliegenden Pfade der Evolution waren sie jedoch ihr Führer, ihr Elter, die Quelle ihres Seins.
Durch unsere Handlungen beeinflussen wir ständig das Schicksal der zukünftigen Sonnen und Planeten, denn dann, wenn wir die eingeborenen Kräfte des Gottes im Inneren hervorgebracht haben und zu herrlichen Sonnen geworden sind, die in den kosmischen Tiefen strahlen, werden die Nebel und die Sonnen um uns herum die entwickelten Wesenheiten sein, die jetzt unsere Mitmenschen sind. Infolgedessen werden die karmischen Beziehungen, die wir miteinander auf Erden oder auf anderen Globen unserer Planetenkette oder sonstwo haben, mit Sicherheit ihr Schicksal ebenso beeinflussen wie unser eigenes.
Ja, jeder einzelne von uns wird in weit entfernten Äonen der Zukunft eine Sonne sein, die in den Räumen des Raumes leuchtet. Dies wird dann sein, wenn wir die Gottheit im Innersten unseres Wesens entwickelt haben und wenn diese Gottheit ihrerseits zu noch größeren Höhen fortgeschritten sein wird. Jenseits der Sonne gibt es andere Sonnen, die so hoch stehen, dass sie für uns unsichtbar sind, Sonnen, deren göttlicher Begleiter unsere Sonne ist.
Die Milchstraße, ein vollständiges und in sich abgeschlossenes Universum, ist als Gesamtheit nur eine kosmische Zelle im Körper einer superkosmischen Wesenheit, die ihrerseits wiederum nur eine von anderen unendlichen Größen ihrer Art ist. Das Große enthält das Kleine; das Größere enthält das Große. Alles lebt für und mit allem anderen. Dies ist der Grund, warum Sondersein die ‘große Ketzerei’ genannt wurde. Es ist die große Täuschung, denn es gibt kein Sondersein. Nichts kann für sich allein leben. Jede Wesenheit lebt für alle und das All ist ohne diese eine Wesenheit unvollständig und lebt daher für sie.
Der grenzenlose Raum ist unsere Heimat. Dorthin werden wir gehen, und dort sind wir tatsächlich auch jetzt. Wir sind nicht nur durch unzertrennliche Glieder mit dem wahren Herzen der Unendlichkeit verbunden, sondern wir selbst sind dieses Herz. Dies ist der stille, schmale Pfad, von dem die Philosophen des Altertums lehrten; der Pfad des spirituellen Selbst im Inneren.
– Ebenda, S. 132-133
Fußnoten
1. Siehe das Buch Evolution dieser Reihe. [back]
2. Das Erwachen des Denkvermögens wird später in diesem Buch ausführlicher besprochen. [back]
3. Das Denkprinzip war zu diesem Zeitpunkt noch nicht zur Tätigkeit erweckt worden, deshalb war das menschliche Stadium noch nicht wirklich erreicht –der Mensch befand sich noch in einem mehr tierischen Stadium seiner Evolution. D. Ü. [back]
4. Das Gelübde richtet sich an das eigene Höhere Selbst. [back]
Band 7: Die Lehre von den Zyklen
Dr. Lydia Ross
![Band 7: Die Lehre von den Zyklen](https://theosophie.info/wp-content/uploads/2024/11/TP07-300x300.jpg)
Die Lehre von den Zyklen, wie sie in der theosophischen Literatur beschrieben wird, ist ein sehr wichtiges, fesselndes und erhellendes Thema. Wenn wir uns mit den Zyklen beschäftigen, erkennen wir, dass sie von logischen und umfassenden Gesetzen regiert werden, die nicht nur mit unserem täglichen Leben eng verknüpft sind, sondern auch einen universalen Wirkungsbereich haben. Außer auf unsere eigene Existenz beziehen sie sich ebenso auf jedes andere Wesen im Universum. Kurzum, das Gesetz der zyklisch wiederkehrenden Ereignisse erweist sich als Grundlage oder als der Regulator von Ereignissen und Handlungen – sichtbaren und unsichtbaren, spirituellen und materiellen, in Zeit und Raum. Es lehrt uns schließlich, warum die Dinge in einem bestimmten Moment geschehen. Im Altertum verstand man den mächtigen Einfluss des Naturgesetzes der Periodizität und wusste, dass es einen Bestandteil im kosmischen Plan der Einheit bildet, indem man sagte: „Wie oben, so unten.“
H. P. Blavatsky, die zur Reihe der großen Lehrer gehört, welche der Menschheit periodisch einen Teil der Alten Weisheitslehren wiederbringen, wies darauf hin, dass dieses Gesetz uns aufmerksam macht auf …
… ist die absolute Universalität des Gesetzes der Periodizität, Fluss und Rückfluss, Ebbe und Flut, von der Naturwissenschaft auf allen Gebieten der Natur beobachtet und registriert. Wechselfolgen wie Tag und Nacht, Leben und Tod, Schlafen und Wachen, stellen eine so allgemeine, so vollkommen universale und ausnahmslose Tatsache dar, dass es leicht nachvollziehbar ist, warum wir in diesem Gesetz eines der absolut fundamentalen Gesetze des Universums erkennen.
– H. P. Blavatsky, Die Geheimlehre, Band 1, S. 17
Zyklen sind so alltäglich, dass wir sie für ebenso selbstverständlich halten wie die Luft, die wir einatmen, das Wasser, das wir trinken und den festen Boden unter unseren Füßen. Wir können uns gar nicht vorstellen, wie die Welt ohne das alle vierundzwanzig Stunden stattfindende vertraute Wechselspiel von Helligkeit und Dunkelheit und die regelmäßigen Jahreszeiten aussehen würde – Ereignisse, die mit der täglichen Rotation der Erde und dem jährlichen Lauf um die Sonne in Zusammenhang stehen. Auch wir folgen demselben rhythmischen Lauf der Dinge; am Abend gehen wir schlafen und erwachen am nächsten Morgen zu einer neuen Periode der Aktivität. So verläuft in etwas größerem Maßstab unser ganzes Leben. Wir beginnen in der nebelhaften Morgendämmerung eines Kleinkindes, erwachen allmählich zum Stadium des heranreifenden Kindes, gelangen in das volle Tageslicht der Jugend und so weiter, bis zur Mittagsstunde der Reife. Dann folgt die Umkehr auf dem Bogen dieses einen Lebens und wir werden allmählich langsamer, um in den länger werdenden Schatten des Alters Ruhe zu finden. Aber der Pulsschlag des spirituellen Selbst tief in uns hört nie auf, ob wir hier verkörpert oder von der Erde befreit sind. Wenn uns der Tod vom Körper erlöst, beginnt in der Heimat der Seele ein neuer Zyklus der Wiedergeburt.
Theosophische Perspektiven
Band 07: Die Lehre von den Zyklen
Frei überarbeitet nach Lydia Ross, M. D.
© 2000 Theosophischer Verlag der Stiftung der Theosophischen Gesellschaft Pasadena, Eberdingen
Einleitung
Die Lehre von den Zyklen, wie sie in der theosophischen Literatur beschrieben wird, ist ein sehr wichtiges, fesselndes und erhellendes Thema. Wenn wir uns mit den Zyklen beschäftigen, erkennen wir, dass sie von logischen und umfassenden Gesetzen regiert werden, die nicht nur mit unserem täglichen Leben eng verknüpft sind, sondern auch einen universalen Wirkungsbereich haben. Außer auf unsere eigene Existenz beziehen sie sich ebenso auf jedes andere Wesen im Universum. Kurzum, das Gesetz der zyklisch wiederkehrenden Ereignisse erweist sich als Grundlage oder als der Regulator von Ereignissen und Handlungen – sichtbaren und unsichtbaren, spirituellen und materiellen, in Zeit und Raum. Es lehrt uns schließlich, warum die Dinge in einem bestimmten Moment geschehen. Im Altertum verstand man den mächtigen Einfluss des Naturgesetzes der Periodizität und wusste, dass es einen Bestandteil im kosmischen Plan der Einheit bildet, indem man sagte: „Wie oben, so unten.“
H. P. Blavatsky, die zur Reihe der großen Lehrer gehört, welche der Menschheit periodisch einen Teil der Alten Weisheitslehren wiederbringen, wies darauf hin, dass dieses Gesetz uns aufmerksam macht auf …
… die absolute Universalität des Gesetzes der Periodizität, von Bewegung und Gegenbewegung, von Ebbe und Flut, welches die Naturwissenschaft in allen Bereichen der Natur beobachtet und aufgezeichnet hat. Ein Wechsel wie der zwischen Tag und Nacht, Leben und Tod, Schlafen und Wachen, ist eine so allgemeine, so vollkommen universale und ausnahmslose Tatsache, dass es leicht zu verstehen ist, dass wir darin eines der absolut fundamentalen Gesetze des Weltalls erkennen.
– H. P. BLAVATSKY, The Secret Doctrine, I: 17
Zyklen sind so alltäglich, dass wir sie für ebenso selbstverständlich halten wie die Luft, die wir einatmen, das Wasser, das wir trinken und den festen Boden unter unseren Füßen. Wir können uns gar nicht vorstellen, wie die Welt ohne das alle vierundzwanzig Stunden stattfindende vertraute Wechselspiel von Helligkeit und Dunkelheit und die regelmäßigen Jahreszeiten aussehen würde – Ereignisse, die mit der täglichen Rotation der Erde und dem jährlichen Lauf um die Sonne in Zusammenhang stehen. Auch wir folgen demselben rhythmischen Lauf der Dinge; am Abend gehen wir schlafen und erwachen am nächsten Morgen zu einer neuen Periode der Aktivität. So verläuft in etwas größerem Maßstab unser ganzes Leben. Wir beginnen in der nebelhaften Morgendämmerung eines Kleinkindes, erwachen allmählich zum Stadium des heranreifenden Kindes, gelangen in das volle Tageslicht der Jugend und so weiter, bis zur Mittagsstunde der Reife. Dann folgt die Umkehr auf dem Bogen dieses einen Lebens und wir werden allmählich langsamer, um in den länger werdenden Schatten des Alters Ruhe zu finden. Aber der Pulsschlag des spirituellen Selbst tief in uns hört nie auf, ob wir hier verkörpert oder von der Erde befreit sind. Wenn uns der Tod vom Körper erlöst, beginnt in der Heimat der Seele ein neuer Zyklus der Wiedergeburt.
Nach dem Tod erwacht unser besseres Selbst in höheren Regionen, wo es von erhebenden Visionen und einer segensreichen, erfrischenden Ruhe erfüllt wird, die für eine weitere Periode irdischer Erfahrungen Kraft und Mut verleihen. So kommen wir immer wieder zurück – mit dem frischen Körper und Gehirn eines Neugeborenen, bereit für die nächste Runde in jenem Prozess, der uns dem erhabenen Ziel entgegenführt. Alle unsere vielen Leben sind Mini-Kreisläufe auf dem majestätischen Bogen des Lebenszyklus des Sonnensystems. So kommen auch die unzähligen Universen ins Dasein. Nachdem die mächtige kosmische Bewegung einer manifestierten Lebensperiode ihren Höhepunkt erreicht hat, wendet sie sich dem Ende ihres Kreislaufs zu. Für eine kosmische Ruheperiode löst sich schließlich das gesamte Universum in das Meer des Raumes auf, wo sich alles für eine neue, großartigere Runde manifestierten Lebens bereit macht. „Wie oben, so unten.“
Die vorüberziehenden Augenblicke können wir sozusagen als Zeit-Atome betrachten, als sich drehende Zeiteinheiten. Ihre rhythmischen Wiederholungen sind während der Lebensperiode eines Universums wie ein ständiger Pulsschlag der Zeit, mit all seinen miteinander verbundenen Rädern innerhalb von Rädern der Zeit, des Raumes und des Bewusstseins. Der menschlische Pilger ist ein Funken der göttlichen Flamme, die durch alle Reiche der Materie herabsteigt, um später wieder durch ein vervollkommnetes Mensch-Sein zum Gott-Sein auf dem Weg zurück zum Göttlichen aufzusteigen.
Ein Zyklus bedeutet einen Ring oder eine Umdrehung. Er ist kein geschlossener Ring, sondern ein fortschreitender Kreislauf, der sich ausbreitet und vorwärts strebt, so dass der Pfad jeder vorhergehenden Runde durch einen größeren Bogen des Fortschritts überdeckt wird. Die Form eines Zyklus gleicht einer Wendeltreppe, und wenn wir hinauf- oder hinuntergehen, befinden wir uns immer oberhalb oder unterhalb des Niveaus der vorigen Stufe oder der verschiedenen Stufen, die gemeinsam eine Runde bilden. Ebenso erkennen wir die Form eines Zyklus in der Weise, wie sich das Gewinde einer Schraube von ihrer kleinen Spitze hochwindet. Wieder ein anderes Beispiel ist eine Spiralfeder oder die flache Feder, die in einer Armbanduhr oder Standuhr das Gleichgewicht aufrecht erhält.
Aber keine symbolische Form könnte auch nur einigermaßen die komplizierten Bewegungen und den komplexen Charakter der unzähligen Räder innerhalb von Rädern der Zeit, der Bedingungen und des bewussten, sich entfaltenden Lebens darstellen, die immer gemeinsam tätig sind. Universale Bewegung folgt auf allen Ebenen des Seins einer spiralförmigen Bahn, materiell und über-materiell. Derselbe evolutionäre Pfad setzt sich durch die materiellen, mentalen und spirituellen Reiche fort. Zeigt nicht auch das tägliche Leben ein Zusammenspiel der Aktivität von Körper, Seele und Geist im Menschen?
Wie wir sehen werden, umfassen die größeren Zyklen zahllose kleinere von unterschiedlichem Umfang, unterschiedlichem Charakter und aufeinanderwirkenden Einflüssen. Es gibt nichts Zufälliges bei alledem, denn alles bewegt sich mit der koordinierten Präzision intelligenter Führung. Wir befinden uns in einem Universum, das Naturgesetzen und einer natürlichen Ordnung untersteht. Wir wissen, dass die Natur in ihren Bewegungen keine unregelmäßigen und unbegründeten Sprünge macht. Das Kind wächst nicht an einem Tag heran, noch wird der Winter über Nacht zum Sommer. Jedes Ding und jedes Ereignis spielt seine Rolle in einer größeren Runde, geht jedoch trotzdem seinen eigenen Weg, der karmisch1 auf das Ganze abgestimmt ist.
Wie Zyklen ineinander greifen und sich vermischen, zeigt sich deutlich in der Geschichte der großen Rassen. Auch hier gilt dieselbe Regel. Das Ende eines großen Rassenzyklus verschmilzt mit dem Beginn einer neuen Rasse; und diese Veränderung findet am Höhepunkt der Existenzperiode einer dritten Rasse statt, so dass sich gleichzeitig mit der bestehenden Rasse Überreste der vorigen, verschwindenden Rasse und Vorläufer der neuen aufkommenden Rasse auf der Erde befinden. Alles verhält sich ebenso natürlich wie die ineinander greifenden Veränderungen und Geschehnisse im täglichen Leben. Gestern, heute und morgen folgen gemeinsam ihrem Weg – wie eine fortwährende Bewegung. Unser eigenes Identitätsgefühl, das jetzt vollständig entfaltet ist, ist auch der Schnittpunkt eines verschwindenden Selbst aus der Vergangenheit und eines aufkommenden zukünftigen Selbst.
Die Zyklen der Rassen werden weiter hinten in diesem Buch besprochen, wir beschäftigen uns zunächst mit einem etwas vertrauteren Beispiel von ineinander greifenden und sich vermischenden Einflusssphären. Die periodische Rückkehr karmischer Bedingungen aus früheren Leben erklärt einen Großteil der verwirrenden Zustände der heutigen Welt. Während unsere moderne Zivilisation einen gewissen Höhepunkt in einer hervorragenden intellektuellen und materialistischen Evolution erreicht hat, verschwindet im Allgemeinen allmählich die alte Ordnung der Dinge bezüglich Regierung, Wissenschaft, Religion und Wirtschaft. Die Kämpfe des zu Ende gehenden Zyklus vermischen sich mit den Geburtswehen eines neuen, der den Weg zu einem gesünderen und ausgeglicheneren Fortschritt eröffnen wird. Die Weisen unter uns sehen vielleicht in den Zeichen der Zeit eine deutliche Herausforderung. Es liegt eine Gefahr darin, wenn man zurückblickt und sich im individuellen und kollektiven Leben an veralteteten Richtlinien festklammert. Wer sich auf die feineren Kräfte seiner eigenen Natur beruft, wird vorwärtsschreiten und sich an der mächtigen Kraft des universalen Lebens beteiligen, das beständig durch alles, was ist, und alles, was lebt, fortfließt.
Die heutigen Umstände scheinen in vielerlei Hinsicht eine Wiederholung dessen zu sein, was während des Höhepunkts der römischen Macht und Wissenschaft vorherrschte, vor dem Untergang und Fall des Kaiserreichs. Auch uns mangelt es an jenem ausgleichenden, spirituellen Wachstum, das für das natürliche Gleichgewicht zwischen den großen Errungenschaften auf mentalem und materiellem Gebiet wesentlich ist. Offensichtlich stoßen auch wir an die sicheren Grenzen der Kontrolle der Kräfte von Geist und Materie. Diese an sich neutralen Kräfte können eine große Macht ausüben –zum Guten oder zum Bösen. Zum Wohl der Menschheit angewendet sind sie ein Segen; selbstsüchtig angewendet führen sie zu Auflösung und Vernichtung. Wir brauchen die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.
Für die Menschheit ist die Zeit gekommen, vollständigere Menschen zu werden und aus ihrer eigenen Natur die dazu benötigten feineren und edleren Eigenschaften und Kräfte wachzurufen. Zweifellos leben wir in einer kritischen Zeit. Wenn wir jedoch der damit verbundenen Verantwortung offen entgegentreten, könnte sie zu einer Zeit mit außerordentlichen Möglichkeiten für uns werden. Der Mensch ist eigentlich ein spirituelles Wesen; und er kann die Kräfte beherrschen, die er in seiner Selbstsucht zum eigenen Untergang anwenden könnte. Dieselben Kräfte können angewendet werden, um eine bessere und fortschrittlichere Welt aufzubauen. Denn hinter den verdunkelnden Wolken bricht bereits die Morgendämmerung eines neuen Zyklus von innerem Licht, von Frieden und Fortschritt an.
Die Meister der Weisheit sahen die heutigen chaotischen Verhältnisse voraus, unter denen wir jetzt auf der Erde leben – aufgrund ihrer Kenntnis und Einsicht in die Wirkungsweise des zyklischen Gesetzes. Sie sandten ihre Botin, H. P. Blavatsky, um die Menschheit auf die unabwendbare Verwirrung vorzubereiten, die mit jeder Übergangsperiode einhergeht. Sie gründete die Theosophische Gesellschaft mit dem Ziel, die vergessene Wahrheit über unser göttliches Geburtsrecht, das alle in einer Universalen Bruderschaft vereinigt, zurückzubringen. In Hinblick auf den gemeinsamen Ursprung der Menschheit, ihre gegenseitigen Interessen und ihre letztendliche Bestimmung ist es an der Zeit, von unwichtigen Dingen Abstand zu nehmen und mit dem neuen Zyklus vorwärtszuschreiten – mit dem Großen Plan zu arbeiten.
Während dieses zwanzigste Jahrhundert sein Tempo zu erhöhen scheint, erzählen uns die Astronomen, dass unser planetarisches Zuhause – die gute Erde – auf ihrer Reise durch den Raum ebenfalls ein neues Gebiet betritt. Mutter Erde bringt uns dahin, wo – in dem Zodiak genannten zwölfspeichigen Rad – der Einfluss von Aquarius vorherrscht. Tatsächlich bewegt sich alles entlang eines konischen, spiralförmigen Aufwärts-Pfades. Deshalb ist es unmöglich, dass irgendetwas – wie kurz oder lang sein Lebenspfad auch sein möge – an dieselbe Stelle zurückkehren kann wie in einem geschlossenen Kreis. Wir können an unseren Mond auf seinem monatlichen Lauf rund um die Erde denken, die ihrerseits jährlich eine Bahn um die Sonne beschreibt, deren Umlauf ein größeres Zentrum einer Galaxie umkreist, die auf ihrem Weg durch den grenzenlosen Raum herumwirbelt. Jeder Himmelskörper folgt – abgesehen von seinem eigenen Lauf – auch der größeren Bahn eines anderen, sich bewegenden Zentrums. In dieser ewigen Bewegung eines göttlichen Mechanismus gibt es unendlich viele Räder innerhalb von Rädern, die sich alle dem universalen Plan und dem universalen Ziel entsprechend drehen. Der Verstand ist zu beschränkt, um dieses großartige Bild überblicken zu können, aber es ist deutlich, dass die Bahn eines Himmelskörpers an jedem Punkt, den er erreicht, auf seinem Wege im Kosmos weiter fortgeschritten ist als bei seiner vorigen Runde. „Es gibt weder einen Anfang, noch ein Ende.“
Es ist ein stimulierender und befreiender Gedanke zu wissen, dass wir alle in solch guter Gesellschaft durch das Universum reisen, denn jeder Planet und jede Sonne und jeder Stern ist der Körper oder der Wohnsitz eines erhabenen himmlischen Wesens. ‘Ein freundliches Universum’ ist nicht nur so eine Redensart, sondern eine buchstäbliche Wahrheit. Der ganze Zweck der Dinge ist so vollkommen, so gerecht und so natürlich, dass die einzige Frage lautet: „Wie könnte es anders sein?“
Mensch und Natur – verbunden in zyklischem Fortschritt
Es liegt ein Zweck in jeder Handlung der Natur, deren Handlungen alle periodisch und zyklisch sind.
– The Secret Doctrine, I : 640
Die Natur wiederholt sich überall. Sie folgt dem eingefahrenen Geleise der Tätigkeit, das bereits vorher gelegt wurde; sie folgt immer und überall dem Weg des geringsten Widerstandes. Und auf dieser Methode der Wiederholung unserer großen Mutter, der Universalen Natur, gründet das Gesetz von den Zyklen, also dem Geschehen von Ereignissen, die es früher gab, wenngleich jede solche Wiederholung, wie gesagt, bei jeder neuen Manifestation auf einer höheren Ebene stattfindet und ein größeres Tätigkeitsfeld umfasst.
– G. DE PURUCKER, Man in Evolution, S. 158
Die Natur bewegt sich wie ein großes, ständig kreisendes Rad, auf dessen Reise durch Zeit und Raum jede seiner Speichen regelmäßig an die Reihe kommt – aufwärts und vorwärts, abwärts und rückwärts. Während das Rad des Universums weiterrollt, kommt jedes seiner Atome voran, gewinnt Erfahrung und fügt dem allgemeinen Vorwärtsdrängen seinen Impuls hinzu. Im Menschen wird dieser evolutionäre Drang mehr oder weniger durch den Verstand und das Selbstbewusstsein natürlich verstärkt. Deshalb kann er den unterhalb von ihm stehenden Wesenheiten helfen, so wie ihm seinerseit von weiseren und größeren Wesen geholfen wurde.
Auf den ersten Blick scheint dieses großartige Bild des Fortschritts vielleicht zu unbestimmt und zu wenig vertraut, um uns zu interessieren oder zu berühren, selbst wenn wir es verstehen könnten. Natürlich übersteigen die Einzelheiten des Universums unser menschliches Fassungsvermögen. Dennoch zeigt sich das Gesetz der Zyklen in seinen universalen Auswirkungen so überdeutlich, dass es die Einheit von Mensch und Natur beweist, die sich mit einem gemeinsamen Ziel entwickeln. Es gibt viele vertraute Dinge in unserem täglichen Leben, die diese in der Natur wirkende Periodizität deutlich zeigen. Wir müssen nur den Ablauf des zyklischen Gesetzes, das sich vor unseren Augen abspielt, erkennen, um zu verstehen, dass es hinter dem Horizont unseres Gesichtskreises genauso wirksam ist. Für die periodische Wiederkehr von Tag und Nacht – eine Zeit des Wachens und Schlafens – braucht es keinen Beweis. Dieses vertraute und für uns so einfache Beispiel findet seinen Ursprung in der Umdrehung der Erde um ihre Achse – eine gewaltige Bewegung, die minutengenau abläuft. Es ist klar, dass niemand übersehen kann, was diese eine Umdrehung der Erde für alles, was sich darauf befindet, bedeutet. Für Land und Wasser, für alle Pflanzen, Tiere und Menschen ist nach jeder Umdrehung nichts mehr genau so, wie es am vorigen Tag war. Der springende Punkt ist, dass sich alle gemeinsam weiterbewegt haben, jedes der unzähligen Dinge hat seinen eigenen Erfahrungszyklus innerhalb der einen Umdrehung des irdischen Rades durchlaufen. Durch Anwendung der Analogie wird der Universalprozess der spiralförmigen Bahnen im Prinzip genau so einfach und verständlich wie das ABC und das Einmaleins aus unserer Kindheit. Dieselben Buchstaben, die wir in der ersten Klasse erlernen, werden von den Weisen gebraucht, um die tiefsinnigsten Wahrheiten zum Ausdruck zu bringen; und die einfachen Zahlen, die wir für unser Kassenbuch benutzen, werden ebenso genau in wissenschaftlichen Berechnungen verwendet.
Die Wissenschaft von heute bewegt sich mit dem Strom des neuen Zyklus und studiert die wiederkehrenden Bedingungen nicht nur in den verschiedenen Gebieten der Naturkräfte und -phänomene, sondern auch im Ablauf des menschlichen Daseins. Die Wissenschaft beginnt sich sehr wohl der engen Beziehungen zwischen ihren eigenen Untersuchungen, dem täglichen Leben und dem allgemeinen Wohlergehen der Menschheit jetzt und in Zukunft bewusst zu werden. Außerdem gibt es eine wachsende Tendenz, die Resultate der Untersuchung der Periodizität des einen Wissensgebietes mit den Ergebnissen ähnlicher Forschungen auf anderen Gebieten zu vergleichen. Je weiter diese Untersuchungen sich erstrecken, um so deutlicher zeigt sich die fundamentale Einheit von Mensch und Natur. Um ein Beispiel zu geben: Man untersucht den Zusammenhang zwischen den Aktivitäten der Sonnenflecken und dem Wetter, dem Wachstum der Pflanzen, Kriegen, Schwankungen im Geschäftsleben, dem Radioempfang und so weiter.
Periodizität wird wahrgenommen und im Auftreten von Überschwemmungen, Trockenzeiten, Hungersnöten, Krankheiten, Katastrophen, magnetischen Stürmen, dem Polarlicht und Erdbeben aufgezeichnet; und ebenso beim Erscheinen großer Menschen und dem Fortschritt und Rückschritt auf dem Gebiet der Kunst und Wissenschaft; beim Aufstieg und Niedergang von Nationen und ganzen Zivilisationen; bei den Veränderungen der kontinentalen Küstenlinien und von Bergen, die sich langsam heben oder senken; bei Eiszeiten, die kamen und gingen, und Beweise für frühere tropische Klimate in nördlichen Gebieten hinterließen; bei den auf die Jahreszeiten abgestimmten Gewohnheiten von Tieren und vieles mehr. Dieses wissenschaftliche Interesse spiegelt sich in der Tagespresse wieder. Das eröffnet den Weg zu mehr Kenntnissen über das alte Gesetz der Zyklen, das den Schlüssel zu allen Bewegungen in der Natur bildet.
Weder wissenschaftliche Ausbildung noch eine besondere Vorstellungskraft sind erforderlich, um zu erkennen, dass sich die wiederkehrenden irdischen Veränderungen unvermeidlich im Leben der Bewohner widerspiegeln. Das ist an sich eine bemerkenswerte Tatsache. Und der Beweis, dass Mensch und Natur miteinander verbunden sind und unter denselben Gesetzen evolvieren, ist genauso einfach wie verständlich. Der Wirkungsweise des Gesetzes der Periodizität kann man auf zwei Arten folgen – vom Kleinen zum Großen und umgekehrt.
Betrachten Sie die wiederkehrenden ‘Ereignisse’ von Zeit, Materie und bewusstem Leben. Nehmen Sie zunächst die kreisenden Atome, welche Moleküle formen und sich zu Zellen vereinigen, die ihrerseits die Organe des menschlichen Körpers aufbauen, der ein Menschenleben lang existiert. Beim Tod zerstreuen sich die Atome, um ihren Weg durch andere Formen irdischer Materie fortzusetzen. Wenn der Mensch an den Punkt gelangt, eine neue Inkarnations-Runde zu beginnen, vereinigen sich die Atome wieder, um beim Aufbau seines neuen Körpers zu helfen. Nehmen Sie als nächstes den bewussten Lebensfunken –den inneren Menschen –, der sich durch den heranwachsenden Körper des Embryos, des Säuglings, des Kleinkindes, des Jungen oder Mädchens und des Erwachsenen entfaltet, dann den alt gewordenen Körper verlässt und von seiner hiesigen Existenz in einen Zyklus in etherischeren Reichen übergeht. Die vorübergehenden Augenblicke werden mittlerweile zu Stunden, Tagen, Wochen, Monaten, Jahren, die ihrerseits zu Jahrhunderten, Sonnenperioden und vollständigen Runden eines Universums werden und so weiter.
Diese winzigen Zyklen von ‘Atomen’ der Zeit, von bewusstem, sich entfaltendem Leben und von Materie sind die Wirkung dessen im Kleinen, was wissenschaftlich als das Raum-Zeit-Kontinuum zusammengefasst wird. Am Ausgangspunkt eines Universalzyklus beginnen diese Teile sich aus der Einheit heraus zu trennen und zyklisch nach unten zu bewegen – durch die aufeinander folgenden Reiche hindurch, bis hinein in die allerkleinsten Zyklen. Ob man das Große oder das Kleine betrachtet – alles folgt dem einen Plan des Fortschritts: Substanz wird vollkommenere Materie, kurze Zyklen werden zu längeren Perioden; und der sich wiederverkörpernde Mensch bringt mehr von seinem wahren, seinem unsterblichen Selbst, hervor. Eine lebendige, überall zirkulierende Kraft spornt alles dazu an, ‘sich selbst’ mehr zu verwirklichen.
Es ist das Eine Leben selbst, das in all den verschiedenen Formen der Substanz immer wieder kommt und geht. Es hat seine Bestimmung in einem endlosen Zyklus von Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung seiner Formen. In der Erkenntnis dieser Tatsache haben einige große Denker die Geheimnisse der Natur mit dem Wort Bewegung zusammengefasst. Die Theosophie fügt dem hinzu, dass diese universale Bewegung eine Antwort auf den Rhythmus eines kosmischen Herzschlags ist. Die Antwort jedes Wesens auf diesen vitalen und zentralen Impuls ist sein eigenes, charakteristisches Schwingungsmuster. Alle inneren und äußeren Lebenssphären über, unter, um und in uns werden von einer bestimmten Schwingungszahl gekennzeichnet. Die Wissenschaft definiert die subtilen Kräfte der Röntgenstrahlen, des infraroten und Ultravioletten Lichts, die Radiowellen und so weiter durch die ihnen eigenen Frequenzen. Wir wissen alle, dass die verschiedenen Wellenlängen von Licht die prismatischen Farben verursachen und dass wir in einer Tonleiter eine Reihe verschiedener Schallwellen hören. Haben nicht auch wir eine eigene Schwingungszahl, die abwechselnd in Harmonie und dann wieder nicht in Harmonie mit den Bedingungen und Menschen um uns ist?
Die Natur hat ein erhabenes Ziel; dahinter steht eine kosmische Intelligenz, die das menschliche Schicksal auf das der universalen Mutter Natur einstimmt. Die alten Weisen verstanden diese mystische Wahrheit, sowohl in ihren einfachen wie auch in ihren erweiterten Bedeutungen. Sie erkannten in allem und in jedem Lebewesen das Wirken eines Universalgesetzes. Von alters her wurde gelehrt, dass der Mensch von allen natürlichen Vorgängen betroffen und an ihnen beteiligt ist, weil er einen untrennbaren Teil des Universums bildet. Diese Kenntnis ‘der Dinge, wie sie sind’ befreite die Menschen von der Angst vor dem Tod und von aller Furcht vor einem Jenseits des Leidens oder einem endgültigen Vergessen. Sie fürchteten nicht länger das Unbekannte, da sie ihre Einheit mit der Sonne, den Sternen und mit dem ganzen sich entfaltenden Panorama ihrer irdischen Heimat fühlten. Diese sorglose Zeit existierte im Goldenen Zeitalter, als die Erde jung war. Jetzt klingt das wie ein Märchen. Nun, die Märchen und Legenden, die unsere Kinder so gerne hören, beruhen auf Wirklichkeiten, in denen wir als junge Rasse existierten. Wenn diese Ideale niemals für uns real gewesen wären, wie könnten wir dann so spontan darauf reagieren, wie das der Fall ist, und sie durch die Jahrhunderte in Mythen und Legenden lebendig erhalten?
Einige unserer intuitiven Philosophen und Wissenschaftler erkennen allmählich, dass es eine Einheit geben muss, sogar eine bewusste Einheit, die allen Dingen zugrunde liegt. Diese Erkenntnis einer Naturwahrheit wurde schon vor rund einem Jahrhundert vorausgesehen, als H. P. Blavatsky in ihrem Werk Die Geheimlehre die vergessene Geschichte über den Ursprung und die Bestimmung des Menschen, des Planeten und des Universums wiederholte. Sie kam, weil die Zeit für uns reif war, etwas von unserem vergessenen Geburtsrecht der größeren Wahrheit zurückzugewinnen. In der gegenwärtigen Periode – dem Eisernen Zeitalter – haben wir ein wertvolles Erbe aus einer fernen Vergangenheit aus den Augen verloren und uns von der Natur gelöst. Das hemmte unser inneres Wachstum und trübte unsere Sichtweise des Lebens. Der Mensch hat sich von der Rolle, welche er in diesem Planeten-Drama spielen sollte, mental zurückgezogen. Er steht anscheinend abseits der nicht-menschlichen Dinge, die er als etwas für ihn Fremdes, wenn nicht sogar Feindliches, betrachtet. Und doch ist alles auf der Lebensleiter unter ihm auf dem Weg, Mensch zu werden, so wie er selbst schließlich dem menschlichen Stadium entwachsen wird, um die Ebene der Menschen-Götter zu erreichen, die ihm vorausgingen. Alles was ist, bewegt sich vorwärts – entlang einer der Windungen einer gewaltigen Spirale. Alle haben am gemeinsamen Wohlergehen anteil und allen wird geholfen, so dass allen – durch die Bewegung in Einklang mit dem Ganzen – geholfen wird. Das Universum ist in seinem Herzen freundlich.
Dem ursprünglichen Plan gemäß standen der Mensch und sein irdisches Zuhause anfangs unter der Obhut göttlicher Lehrer. Es handelte sich dabei um eine spirituelle Elternschaft, die der jugendlichen Menschheit einen guten Anfang bot. Später, als der Mensch selbstbewusst wurde und Kenntnis von Gut und Böse erlangt hatte, wurde er in moralischer Hinsicht für den Einfluss, den er auf sein irdisches Zuhause ausübte, verantwortlich. Die Sorge für alles wurde ihm übertragen, denn nur in ihm war das Feuer des Denkens entzündet, das ihm Einsicht und Vernunft verleiht. Sein Körper wurde aus demselben Stoff gemacht wie der von Mutter Erde, die ihn immer ernähren, kleiden und beschützen musste. Auch die elektromagnetischen und andere Naturkräfte wirkten in ihm und brachten ihn innerlich mit allem in Berührung.
Es war die Aufgabe der Natur, alle Formen aufzubauen, die nützlich und schön und notwendig waren, um dem durch alle Reiche zirkulierenden, unsichtbaren Lebensstrom Körper zu verleihen. Allmählich sorgten die Urkräfte und Stoffe für die Verdichtung und die Entstehung von etherischen Modellformen, die ihrerseits Urbilder von höheren schöpferischen Ebenen darstellten. Diese Astralmodelle aller Wesen und Dinge waren – und sind es heute noch – die Bindeglieder zwischen den spirituellen und materiellen Ebenen und verursachten Reaktionen zwischen den beiden Reichen. So wurde der Stoff der Erde auf subtile Art von den kräftigen Energien bewussten menschlichen Denkens, Wollens und Fühlens beeinflusst.
Durch die enge Verbindung des Menschen mit den unter ihm stehenden Reichen und seine Herrschaft über sie hat die Natur notwendigerweise auf den Einfluss und die Art seiner Führung reagiert. Das frühe kindliche Stadium des Menschen spiegelte sich in einer glücklichen ‘Garten Eden’-Atmosphäre wider. Später, als er seinen selbstsüchtigen Gedanken und Begierden freien Lauf ließ, reicherte sich die ihn umgebende Atmosphäre mit den ungeordneten Kräften von Stürmen, Krankheiten und Feindschaft an. Die Existenz dieser in Vergessenheit geratenen Verwandtschaft zwischen dem menschlichen Meister und den submenschlichen Reichen hat in der Geschichte der gewaltigen Zyklen von Runden und Rassen auf den verschiedenen Kontinenten immer eine wichtige Rolle gespielt. Auch unsere eigene Geschichte weist Beispiele dafür auf. War nicht der wenig reinliche Umgang mit dem Körper und seiner Umgebung der Auslöser der Pest im Mittelalter? Ist nicht die Zunahme von Geistes- und Nervenkranheiten in unserer Zeit die typische Reaktion unseres komplizierten Gehirn- und Nervengewebes auf die kräfteraubenden Spannungen des modernen Lebens? Werden nicht die heutigen Umbrüche in der Weltpolitik und so weiter in einem ungewöhnlichen Durcheinander der Naturkräfte widergespiegelt?
Jede neue Wurzelrasse (siehe Kapitel ‘Runden und Rassen’) begann mit einer verjüngten Erde, unter günstigem Klima, mit Frieden unter den Menschen und zwischen Mensch und Tier. Wurde eine Rasse massenhaft selbstsüchtig, grausam und kriegerisch, wurde das Klima hart, fruchtbares Land verkam zur Wüste und die Tiere wurden feindselig. Alle Wurzelrassen, die der Reihe nach in das materielle Leben abstiegen, prägten die Erde ihrer Art entsprechend. Die dominierende Eigenschaft der ersten Rasse war die des Goldenen Zeitalters, die der zweiten wies die dominierende Eigenschaft des Silbernen Zeitalters auf, die des Bronzenen Zeitalters war der dritten eigen, und die vierte schließlich wies die dominierenden Merkmale des Eisernen Zeitalters auf; aber jede Wurzelrasse durchlief individuell eine Entwicklung durch die komplette Reihe dieser vier Perioden.
Die Wissenschaft, welche die auffallenden klimatischen und geologischen Veränderungen der Vergangenheit untersucht, sieht darin selbstverständlich Faktoren, die den Menschen zu Veränderung und Anpassung zwangen. Die größere Wahrheit ist, dass – ob die Veränderung nun in einem auf- oder absteigenden Zyklus stattfand – die davon betroffenen Menschen die Folgen dessen ernteten, was sie selbst einmal in ihren Beziehungen zueinander und zur Natur gesät hatten. Es ist möglich, dass man dazu viele, viele Leben zurückgehen muss. Das karmische Gesetz, das die irdischen Naturkräfte benutzte, verursachte eine Periode mehr oder weniger günstiger Umstände. Desgleichen ist es die Ursache dafür, dass der Mensch zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort inkarniert, wo er hingehört. Die Egos wurden zu einer passenden Zeit und an einer geeigneten Stelle geboren, ob es sich nun um eine aufkommende oder eine zu Ende gehende Eiszeit oder andere geologische Auf- und Abstiege handelte. Der Mensch ist kein hilfloses Werkzeug der Elemente. Er ist verhältnismäßig frei, die Dinge nach den Wünschen des Verstandes und des Herzens zu gestalten; und ganz allgemein gesagt ist er es, der seine Welt zu dem macht, was sie ist. Deshalb geben ihm seine Schöpfungen, die karmisch seinen allgemeinen Charakter widerspiegeln, einen Schlüssel zu Selbstkenntnis, der auch der Schlüssel zu den Geheimnissen der Natur ist.
Auch wenn diese wunderbare Wahrheit, dass der Mensch zusammen mit allem anderen Teil einer kosmischen Einheit ist, das Auffassungsvermögen des Verstandes übersteigt, liegt diese Wahrheit nicht außerhalb des Bereichs der Intuition. Der innere Mensch erinnert sich an alles, was in seinen früheren Leben vorgefallen ist. Das ist die Schatzkammer des Wissens, von der ein bildender Künstler oder ein Dichter von Zeit zu Zeit einen Schimmer erhascht und die nicht nur ein Produkt seiner Fantasie ist. Im Gegenteil, es geht darum, dass der Mensch sich dessen bewusst wird, dass in ihm – in nicht-menschlichen Formen verborgen – ein alles durchdringendes Element einer Verwandtschaft mit etwas Stillem und Namenlosem vorhanden ist.
Der Dichter sucht nach Worten, die für andere ein Zeugnis seines Einsseins mit einer Wirklichkeit ablegen, welche sowohl die Erde als auch den Himmel durchdringt. Aber Worte reichen nicht aus. Es ist ein inneres Gefühl der Einheit, das nur von einem Menschenkind erfahren werden kann, das mit Mutter Natur in harmonischem Einklang steht, mit der es die Zeitalter hindurch die Zyklen auf der Erde miterlebt hat. Diese Liebe für die Natur wurzelt in grauer Vorzeit – eine spirituelle Erinnerung an ein Ur-Bündnis.
Die meisten von uns sind jedoch weder Dichter noch Mystiker. Das logische Denken verlangt nach grundlegenden Beweisen dafür, dass überall Zyklen wirken. Wenn wir vertraute Dinge zu beobachten beginnen, stellt sich heraus, dass wir diese Periodizität überall wahrnehmen können. Nehmen wir zuerst das Wasser: Der Ozean bringt mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks überall auf der Welt Ebbe und Flut mit sich, wie ein riesiges Atemschöpfen. Die Wellen brechen sich an der Küste ungefähr in dem Tempo, in dem wir atmen; diesen Rhythmus kann keine menschliche Kraft ändern. Das Regenwasser, das die Erde durchtränkt, von Bäumen und Pflanzen aufgenommen wird und als Dampf aufsteigt, verdichtet sich zu Wolken, Regen und Schnee und kehrt so wieder auf seinem Pfad zurück, um damit den heranwachsenden Dingen zu helfen, die uns ernähren, kleiden und schützen. Die Säfte der Pflanzen steigen aus ihren allzeit tätigen Wurzeln empor und arbeiten zur Förderung des Wachstumsprozesses mit dem Sonnenlicht zusammen, um dann wieder direkt oder nach Vollendung des Zyklus ihren Weg zur Erde zurückzufinden. Der Lebenssaft der Bäume arbeitet in Einklang mit den Jahreszeiten an der jährlichen Feier von neuen Blättern, Blüten und Früchten; und dann zieht er sich wieder zurück um zu ruhen, bevor eine neue Periode der Aktivität beginnt. Nur die Einheit, der ein gemeinsames Ziel zugrunde liegt, kann diesen harmonischen und stetigen Strom von Lebenskräften gewährleisten. Der kleine Grashalm hat – genauso wie der riesige Baum – seinen eigenen Pulsschlag. Diese tagtäglichen Mysterien sind so allgemein, dass wir das Wunder übersehen.
Sogar eine verhältnismäßig niedrige Lebensform, die sich vorübergehend in einer Raupe verkörpert, beendet nach kurzer Zeit ihre Periode des Kriechens. Dann baut sie sich einen kleinen Kokon und löst sich in etwas auf, das nicht mehr ist als ein protoplasmisches Gelee. Aus dieser formlosen Masse nimmt sie die Form eines zierlichen Schmetterlings an, um als Bewohner der Lüfte, vom Honig der Blumen nippend, eine neue Lebensrunde zu beginnen. Seine kleinen Eier legt er zu einem Zeitpunkt, der den dreifältigen Zyklus der Formveränderung ermöglicht. Der rhythmische Lebenslauf dieses winzigen Insekts ist auf seine Weise ebenso wunderbar wie der von Passatwinden und Strömungen des Ozeans, die stets ihren eigenen Wegen folgen.
Wir finden es selbstverständlich, dass sich der irdische Film im Laufe der Jahreszeiten regelmäßig abspult – von der Winterkälte, die in das Frühjahr übergeht, vom Erwachen der Dinge, die im Sommer reifen und im Herbst geerntet werden, um den jährlichen Kreislauf von Erfahrung und Fortschritt zu vollenden. Inzwischen hat das große Rad der Erde seine eigene Bahn beschrieben, die so abgestimmt ist, dass beim Passieren des Frühlingspunktes genau fünfzig Sekunden gewonnen sind. Dieses winzige Zeitteilchen ist sozusagen der Same des platonischen großen Jahres, eines Zyklus von 25.920 unserer Jahre. Die natürliche Bewegung von kleinen Rädern innerhalb mächtiger Räder erinnert uns an das alte hermetische Sprichwort: „Nichts ist groß, nichts ist klein in der göttlichen Ökonomie.“ Die Astronomen sprechen von ‘pulsierenden Sternen’, die unsere Sonne in Bezug auf Größe und Glanz ganz und gar in den Schatten stellen. Alle Himmelskörper sind auf das kosmische Uhrwerk abgestimmt, welches das kreisende Universum reguliert.
Die sogenannten ‘Naturgesetze’ sind rhythmische Auswirkungen von gemeinsamen Willensäußerungen großer himmlicher Wesen, die in Harmonie mit dem göttlichen Willen tätig sind. Wir sind buchstäblich lebende Zellen im Organismus eines großen Wesens, so wie wir die Leiter und das Gesetz für Trillionen von in unserem Körper evolvierenden Zellen sind. Überall findet man das gleiche Muster und das gleiche Ziel.
Diese unsichtbare, aber intelligente Führung, die in der Natur mit so großer Regelmäßigkeit wirkt, liegt allen Phänomenen zugrunde, die nicht durch ‘reinen Zufall’, durch ‘natürliche Zuchtwahl’ oder durch aktive chemische Verbindungen erklärt werden können. Nehmen wir zum Beispiel den Zug der Vögel. Wie wissen die Vögel, wann sie mit ihrer Reise beginnen sollen oder wohin sie fliegen müssen? Wie können sie ihren Weg über enorme Distanzen finden, ohne zu rasten, und dann noch überleben? Manchmal zieht die jüngste Generation, selbst auf ihrer ersten Reise, von den anderen getrennt und auf einer anderen Strecke zu ihren fernen Brutstätten. Dass diese Vogelzyklen durch ‘Instinkt’ geregelt werden, erklärt etwas derartig Zweckmäßiges nicht. Diese nicht selbstbewussten Wesen reagieren instinktiv auf einen alten Impuls, der dieser Art stark eingeprägt wurde.
Die Idee, das Polargebiet wäre das ursprüngliche Zuhause von dort brütenden Vögeln, hat man mit der präglazialen Periode in Zusammenhang gebracht, als der hohe Norden ein frühlingshaftes Klima aufwies. Diese Theorie bezieht sich auf die Vor- und Rückwärtsbewegungen der letzten großen Eiszeiten, die ihre Spuren auf dem Körper der Erde zurückgelassen haben. Den Beweis für die radikalen Veränderungen findet man in den Fossilien von Pflanzen und Tieren. Natürlich veränderte sich mit den Bewegungen der trostlosen Eiswüsten auch das menschliche Leben. Vielleicht ist die merkwürdige Anziehungskraft des ‘hohen weißen Nordens’, die manche arktische Entdeckungsreisenden verspüren, das Erwachen einer alten Erinnerung an ihr ‘Zuhause’, als die Rasse noch jung war. So wie bei den Zugvögeln, die einer alten Naturgewohnheit folgen, schlummert tief in manchem von uns menschlichen Zugvögeln etwas Ähnliches.
Ein anderes Beispiel für unterhalb des menschlichen Reiches stehende Wesen, die mit der Flut schöpferischer Lebensströme mitschwimmen, finden wir in der Wanderung mancher Fische und anderer Tiere. Die Lachse, die tausende Kilometer stromaufwärts schwimmen, kommen mager und erschöpft an den Laichplätzen an. Sie scheinen von einer Gewohnheit angetrieben zu werden, die ihrer Art am Anfang eingeprägt wurde. Offensichtlich behalten sie den Eindruck einer früheren natürlichen Heimat, der so alt ist, dass die Erde seitdem ihr Aussehen geändert hat.
Der Zug der nordeuropäischen Lemminge ist ebenfalls ein solches Naturrätsel. Mit unregelmäßigen Unterbrechungen strömen diese kleinen Nagetiere massenweise aus den Bergen in die Ebenen herunter und fressen dabei alle Pflanzen auf ihrem Weg. Ungeheure Mengen von ihnen schwimmen ins Meer, wo sie umkommen. Dieses zum natürlichen Selbsterhaltungstrieb in Widerspruch stehende Verhalten wird von H. P. Blavatsky erklärt, indem sie Folgendes darüber sagt:
Tatsächlich kommen sie aus allen Teilen Norwegens, und ein mächtiger Instinkt, der durch die Zeitalter als ein Erbe ihrer Vorfahren fortbesteht, treibt sie an, einen Kontinent zu suchen, der einst existierte, aber jetzt unter den Ozean versunken ist, und ein wässriges Grab zu huldigen.
– The Secret Doctrine, II: 782
Diese Geschehnisse in der Tierwelt zeigen Spuren früherer ‘Pfade der Vergangenheit’, die dem Körper der Erde eingeprägt sind. Untersuchungen des Meeresbodens habe viele alte Flussbetten nachgewiesen. Auch unsere eigenen Körper weisen Überreste von Organen auf, die wir nicht mehr benötigen. Sie sind der biologische Beweis für vollkommen andere Zustände im menschlichen Körper bei alten Rassen. Die Natur um uns erzählt die Geschichte einer wunderbaren Vergangenheit, die tief in uns mit der Gegenwart verbunden ist – wie Inseln, die unter dem Meeresspiegel mit dem Festland verbunden sind.
Runden und Rassen
Aus dem Ozean der Zeit und aus dem Ozean des Lebens geht die Manifestation der menschlichen Rasse zu Leben und Licht hervor. Von alters her stand es geschrieben, in den ältesten Büchern. Das Verständnis dafür ist jedoch dem Auge und dem Verstand verborgen.
– Aus dem Vorwort des Popul Vuh (Altes Amerika)
Nach den alten Lehren über die Evolution des Menschen gibt es sieben Wurzelrassen, von denen unsere Rasse die fünfte ist. Unsere Rasse als solche begann vor etwa 1 000 000 Jahren, und wir befinden uns jetzt ungefähr in der Mitte ihres Zyklus. Jede Wurzelrasse ist in sieben Unterrassen unterteilt, die wiederum in Familienrassen mit einer Dauer von ungefähr 30 000 Jahren unterteilt sind.
Jede Rasse und Unterrasse durchläuft ihre eigenen Runden von Geburt, aktiver Reife und Verfall. Dieselben Perioden finden wir sowohl in den Zivilisationen jeder Unterrasse als auch in den sich fortsetzenden Aufteilungen der Menschheit in verschiedene Nationen, Staaten, Gesellschaften und Familiengruppen. In Übereinstimmung mit den verschiedenen Zyklen der menschlichen Existenz vermehrt sich die Anzahl sich manifestierender Formen und Kräfte in den Naturreichen, wenn der spirituelle Mensch in das materielle irdische Leben herabsteigt.
Diesen Abstieg nennt man den Schattenbogen eines Entwicklungszyklus. In der Mitte oder am niedersten Punkt dieses Zyklus beginnt sich die irdische Materie zu verfeinern, und die menschlichen Egos beginnen ihre allmähliche Reise aufwärts – dem aufsteigenden Bogen zu einem erhabenen, spirituellen Zustand folgend. Der gesamte Vorgang wird als planetarisches Manvantara bezeichnet, das alle neunundvierzig Runden der sieben Rassen der Menschheit enthält und auch die Lebensdauer der Erde kennzeichnet. Die Alten nannten diesen planetarischen Zyklus einen Tag Brahmās, eine Periode manifestierten Lebens von 4 320 000 000 Jahren. Dieser grobe Umriss einer sich wiederholenden Zeitperiode zeigt dieselbe rhythmische Bewegung im großen Rad, welche die gesamte irdische Reihe von ‘Ereignissen’ kennzeichnet. Dieses Universalgesetz des Fortschritts, das durch aufeinanderfolgende Perioden der Aktivität und der Ruhe wirkt, deutet in jeglicher Evolution auf ein und dasselbe Ziel hin. H. P. Blavatsky sagt über das Verhältnis zwischen der Menschheit und der Erde:
… es ist eine Sache des Abstiegs in die Materie, der Anpassung – sowohl im mystischen als auch im physischen Sinn – der beiden und ihrer Vermischung für den großen, kommenden „Kampf ums Dasein, der beide Wesenheiten erwartet“. „Wesenheit“ mag als ein sonderbarer Ausdruck erscheinen, wenn er für einen Globus gebraucht wird; aber die alten Philosophen, die in der Erde ein mächtiges „Tier“ sahen, waren in ihrer Generation weiser als unsere modernen Geologen in der ihren; und Plinius, der die Erde unsere gütige Amme und Mutter nannte, das einzige Element, das dem Menschen nicht feindlich gesinnt ist, stand der Wahrheit näher als Watts, der in seiner Phantasie in ihr den Fußschemel Gottes sah. Denn die Erde ist bloß der Fußschemel des Menschen bei seinem Aufstieg in höhere Regionen, … .
– The Secret Doctrine, I: 154.
Unsere Erde muss sieben Runden durchlaufen.
Während der ersten drei [Runden] bildet und konsolidiert sie sich; während der vierten gewinnt sie an Festigkeit und wird härter; während der letzten drei kehrt sie stufenweise zu ihrer anfänglichen, etherischen Form zurück. Sie wird sozusagen spiritualisiert.
Ihre Menschheit entwickelt sich erst in der vierten – unserer gegenwärtigen Runde – vollständig. Bis zu diesem vierten Lebenszyklus wird sie nur in Ermangelung eines angemessenen Ausdrucks als „Menschheit“ bezeichnet. Gleich der Raupe, die zur Puppe und zum Schmetterling wird, geht der Mensch während der ersten Runde – oder vielmehr das, was zum Menschen wird – durch alle Formen und Reiche. Während der zwei folgenden Runden durchschreitet er alle menschlichen Formen. Mit dem Beginn der vierten Runde erreicht der Mensch unsere Erde und ist in der gegenwärtigen Reihe von Lebenszyklen und Rassen die erste Form, die auf derselben erscheint, wobei ihm lediglich das Mineral- und das Pflanzenreich vorausgehen – selbst das letztere muss seine weitere Evolution durch den Menschen entwickeln und fortsetzen.
– Ebenda, I:159
Wenngleich das Absolute, aus dem die Universen hervorgehen, für den begrenzten Verstand immer das Unbekannte bleiben muss, können wir doch im Falle des Menschen und der Erde etwas über den periodischen Anfang ihrer Manifestation wissen. Das betrifft und interessiert uns natürlich am meisten. Die Erde stellt die Wiederverkörperung jener Lebensatome dar, jener Kräfte und bewusster Wesenheiten, die einst die Planetenkette des jetzt toten Mondes beseelten. Die Lebenswogen vieler Arten – von den Mineralien bis zum Menschen – verließen die Globenkette des Mondes, als die Zeit für seine lange, interplanetarische Ruhe im Raum gekommen war.
Als das kosmische Uhrwerk die Stunde für den Anbruch einer neuen Manifestationssperiode schlug, fühlten die Atome und die intellektuellen, materiellen und spirituellen Kräfte des schlafenden Universums den Drang, sich zu einem neuen ‘Tag’ planetarischen Lebens zu versammeln. Wie immer arbeiten Natur und Mensch für den großen neuen Zyklus zusammen. So wie die künftige Erde anfangs ‘formlos und leer’ war, so waren die frühesten Formen des künftigen Menschen vage und etherisch. Dann, als der innere Mensch seine zyklische Reise durch immer dichter werdende Stufen von Materie hinab machte und sich in einen physischen Körper kleidete, war es die Erde, die ihn mit ‘Kleidern von Fellen’ versah. Diese physischen ‘Kleider’ tragen wir heute, mit dem unsichtbaren Astral- oder Modellkörper im Inneren, Zelle um Zelle.
Der Mensch drückt den materiellen Atomen, die in seinem Körper zirkulieren, seinen Stempel auf; und sie nehmen diesen Eindruck mit sich, wenn sie ihn wieder verlassen, um aufs Neue als Bausteine in der Natur benutzt zu werden. Daraus lässt sich die große Verantwortung des Menschen und seine Verbundenheit mit allen übrigen Naturreichen erkennen.
Hilf der Natur und arbeite mit ihr zusammen. Dann wird die Natur dich als einen ihrer Schöpfer betrachten und dir gehorsam sein.
– H. P. BLAVATSKY, Die Stimme der Stille, S. 29
So wie alles in der Natur ist die Erde eine siebenfältige Wesenheit. Darum besitzt die sichtbare Erde, die ihre eigenen sieben verschiedenen Abstufungen von Substanz und Charakter hat, noch sechs weitere Globen, die mit ihr durch das Universum kreisen. Gemeinsam bilden sie das, was eine Planetenkette – und in diesem Fall die ‘Globenkette der Erde’ – genannt wird. Die Globen stimmen mit den verschiedenen Zuständen des menschlichen Bewusstseins überein, das dazu bestimmt ist, in seiner evolvierenden siebenfältigen Natur tätig zu sein. Für den Menschen ist nur sein grober Körper sichtbar, weil er auf dem vierten, festen Globus Erde verkörpert ist, der seinen Körper repräsentiert. Die Globen durchdringen einander und „sind MITEINANDER VERBUNDEN, aber nicht SUBSTANZGLEICH MIT UNSERER ERDE“ (The Secret Doctrine, I: 166).
Dieses Thema betrachtet man am besten in seinem metaphysischen und spirituellen Aspekt, der mit dem inneren Reich unseres Wesens korrespondiert. Sind nicht die Zyklen der materiellen Existenz mit den unsichtbaren Welten des Denkens und Fühlens verbunden? Und ist es nicht auch im Traumzustand so, dass wir dann in einer Welt sehen, denken und handeln, in der Zeit, Raum und Schwerkraft vollständig auf astrale Vibrationen eingestellt sind, unabhängig von den bekannten Gesetzen der Physik? Im tiefen, traumlosen Schlaf und in extatischen Visionen betritt man eine spirituelle Welt. Der Mensch ist letztendlich dazu bestimmt, seinen Zyklus durch all diese Globen hindurch bewusst in Übereinstimmung mit den verschiedenen Zuständen seiner eigenen zusammengesetzten Natur zu vollenden. Und dann, am Ende des großen planetarischen Zyklus, wird der Horizont des vollkommen gewordenen Menschen alle seine früheren Erfahrungsrunden in vollem Bewusstsein miteinschließen.
Der dreifältige evolutionäre Drang, der sich im Menschen physisch, mental und spirituell entfaltet, stammt aus dem göttlich-spirituellen, monadischen Einfluss oder Strahl, der im Herzen jedes Dings und jedes Lebewesens ist. Der Strom menschlicher Egos, der auf unserer Erdkette evolviert, ist begrenzt, obwohl die tatsächliche Zahl für uns nicht berechenbar ist. Diese Egos kamen als eine ‘Lebenswoge’ in aufeinander folgenden Strömen von der Mondkette. Der erste Strom von ‘Leben’ begann auf dem ersten Globus A und durchlief dort sieben lange Runden der Evolution in Körpern, die für den Zustand der Materie auf diesem Globus geeignet waren. Als dieser Strom zu Globus B, oder dem zweiten Globus, weiterging, begann ein anderer ‘Strom’ von weniger entwickelten Egos seinen Weg auf Globus A. In einer geordneten Reihe durchliefen alle den Zyklus von Globen, die gewöhnlich der Einfachheit halber mit A, B, C, D, E, F und G bezeichnet werden.
Im kosmischen Drama, das jede Menschheit selbst gestaltet, hat alles seine eigene Zeit, seinen eigenen Platz und seine eigenen Voraussetzungen. Mehr Einzelheiten über unsere Reise bis heute können wir in dem kleinen Buch Runden und Rassen finden und in der Geheimlehre und anderen Standardwerken der theosophischen Literatur. W. Q. Judge schildert den Prozess mit folgenden Worten:
Diese Reise ging weiter, wobei das Ganze viermal umrundet wurde, womit dann der gesamte Strom oder die ganze Armee von Egos von der alten Mondkette angelangt war; da die Armee damit komplett war, traten nach der Mitte der vierten Runde keine weiteren Egos mehr über. Der gleiche Kreislaufprozess dieser zu verschiedenen Zeiten eingetroffenen Klassen geht weiter, bis sieben vollständige Runden durch alle sieben planetarischen Bewusstseinszentren durchlaufen sind; und wenn diese sieben Runden beendet sein werden und die in dieser ungeheuren Zeit mögliche Vollkommenheit erreicht sein wird, dann wird diese Kette oder Masse von ‘Globen’ ihrerseits sterben, um wiederum einer weiteren Siebenerkette ein neues Dasein zu geben.
Jeder der Globen dient dem Evolutionsgesetz zur Entwicklung von sieben Rassen, Sinnen, Fähigkeiten und Kräften, die den jeweiligen Zuständen der Materie entsprechen. Für eine vollständige Entwicklung ist die Lebenserfahrung aus allen sieben Globen notwendig. Daher durchlaufen wir die Runden und Rassen. Eine Runde ist ein Umlauf durch die sieben Zentren des planetarischen Bewusstseins; eine Rasse bedeutet die rassische Entwicklung auf einem dieser sieben Zentren. Es gibt sieben Rassen für jeden Globus, aber die Summe von 49 Rassen ergibt tatsächlich nur sieben große Rassen, weil die speziellen sieben Rassen auf jedem Globus oder planetarischen Zentrum in Wirklichkeit nur eine Rasse mit sieben Konstituenten oder speziellen Eigenheiten der Funktion und Kraft bilden.
– Das Meer der Theosophie, S. 42-43
Es hat keinen Sinn, eine Darstellung der frühen Zustände des Menschen und Globus zu versuchen. Das Leben und die Materie waren gänzlich verschieden von allem, was wir jetzt kennen. H. P. Blavatsky sagt, dass erst in unserer Rasse auf unserem heutigen Globus D, in unserer vierten Runde, die Zustände für uns einigermaßen verständlich werden.
Der lange Werdegang jeder der großen Wurzelrassen spielte sich auf einem besonderen Kontinent ab. Der erste Kontinent wurde ‘das Unvergängliche Heilige Land’ genannt. Geografisch liegt es am Nordpol und soll bis an das Ende des planetarischen Manvantara bestehen bleiben. Über diesen geheimnisvollen Ursprung des ersten Menschen wird sehr wenig gesagt.
Für den zweiten Kontinent wurde der Name hyperboräisches Festland gewählt. Es war „das Land, dessen Vorgebirge sich südwärts und westwärts vom Nordpol erstreckten, um die zweite Rasse aufzunehmen, und umfasste das gesamte jetzt als Nordasien bekannte Land“. Die ältesten Griechen sprachen von den ‘Hyperboräern’, die irgendwo im fernen Norden wohnten und jedes Jahr von Apollo besucht wurden, der astronomisch die Sonne war – der Gott des Lichts.
Lemurien war der riesige dritte Kontinent, der „einst die Oberherrschaft über den Indischen, Atlantischen und Stillen Ozean hatte“ und die Heimat der dritten Wurzelrasse war. Die Lemurier waren die Nachfolger oder die Nachkommen der zweiten Wurzelrasse. Sie waren dieselben sich verkörpernden Egos, die gemeinsam den zyklischen Abstieg in die irdische Materie begonnen hatten. Sie brauchten enorme Zeitperioden, bis sie an den Punkt gelangten, an dem ihre gigantischen Astralkörper allmählich materiell wurden und Formen annahmen, die auf ihrem weiteren evolutionären Weg zunehmend fester und kleiner wurden, was in den gegenwärtigen Zustand der Menschheit mündet. Die Kontinente wurden abwechselnd durch Feuer und Wasser vernichtet. Lemuriens Schicksal wurde durch Vulkanausbrüche, durch eine Reihe unterirdischer Erschütterungen und das Auseinanderreißen des Meeresbodens vollzogen. Einige Überreste von Lemurien sind ein Teil Kaliforniens, Australien mit seinen Ureinwohnern und seiner zurückgebliebenen Fauna und Flora und einige jener Inseln, „die über die Oberfläche des Stillen Ozeans verstreut liegen“.
Atlantis ist der vierte Kontinent, dessen Geschichte in den alten Überlieferungen aller Völker beschrieben wurde. Sein Schicksal wird in der biblischen Geschichte von Noah und der Sintflut dargestellt. Platos berühmte Insel Atlantis war nur der letzte Teil des Kontinents, der unterging.
Der fünfte Kontinent war Amerika; aber da es bei den Antipoden gelegen ist, so sind es Europa und Kleinasien, die mit ihm fast gleichaltrig sind, welche allgemein von den indoarischen Okkultisten als der fünfte bezeichnet werden. Wenn ihre Lehre dem Erscheinen der Festländer nach ihrer geologischen und geographischen Ordnung folgen würde, so müsste diese Klassifikation geändert werden. Aber da die Reihenfolge der Kontinente der Entwicklungsfolge der Rassen angepasst ist, von der ersten bis zur fünften, unserer arischen Wurzelrasse, so muss Europa der fünfte große Kontinent genannt werden.
– The Secret Doctrine, II: 8
Die großen rassischen Zyklen überschneiden sich, so dass die Geschichte der beiden ersten wirklich menschlichen Rassen – das heißt der letzten Lemurier und der ersten auftretenden Atlantier – mehr oder weniger vermischt ist. Die frühe dritte Rasse war hermaphroditisch und ‘vernunftlos’ in dem Sinne, dass ihr Bewusstsein mehr intuitiv als mental und physisch beschaffen war. Aber während die Zeitalter der Entwicklung verstrichen, wurde das Feuer des Verstandes von den Mānasaputras, von erhabenen Wesen aus höheren Sphären, entzündet. Die Geschlechter wurden getrennt, und die Körper bekamen ein knöchernes Skelett, während der Astralkörper zum inneren Modellkörper wurde – heute der Sitz der fünf Sinne. Diese evolutionären Veränderungen sind eine Erklärung für die Allegorie vom ‘mentalen’ Schlaf Adams, welcher der ‘Trennung’ der Rippe voranging,◊√ aus der dann Eva entstand.
Die späteren Lemurier wurden von göttlichen Dynastien regiert. Diese erhabenen Herrscher lehrten sie die Künste und Wissenschaften, so dass sie „Astronomie, Architektur und Mathematik vollkommen beherrschten“.
Diese ursprüngliche Zivilisation [der Lemurier] entstand nicht – wie man annehmen könnte – unmittelbar nach ihrer physiologischen Umwandlung. Zwischen dem Abschluß dieser Entwicklung und der ersten erbauten Stadt verstrichen viele hundertausende von Jahren. Und doch stellen wir fest, dass die Lemurier in ihrer sechsten Unterrasse ihre ersten Felsenstädte aus Stein und Lava erbauten. Eine dieser großen Städte von ursprünglicher Struktur war ganz aus Lava errichtet, etwa dreißig Meilen westlich von der Stelle, wo jetzt die Osterinsel ihren schmalen Streifen unfruchtbaren Bodens erstreckt. Die Stadt wurde durch eine Reihe von vulkanischen Ausbrüchen vollkommen zerstört.
– The Secret Doctrine, II: 317
Als Beweis für die Kenntnisse und das Können dieser gigantischen Erbauer verweist die Geheimlehre auf die zyklopischen Ruinen und Monumente, die überall auf der Erde verstreut zu finden sind. Diese archäologischen Überreste legen nicht nur Zeugnis von der außergewöhnlichen Kraft und dem außergewöhnlichen Können ihrer Erbauer ab, sondern auch von ihrer größeren Kenntnis mächtiger, unsichtbarer Kräfte, als der moderne Mensch sie heute kontrollieren kann. Weitere Untersuchungen der Archäologie, Geologie, Ethnologie und der feineren Naturkräfte werden einstimmig die alte Geschichte der menschlichen Rasse bestätigen, die uns in universalen Traditionen überliefert ist.
Es war das „Goldene Zeitalter“ in jenen Tagen des Altertums, das Zeitalter, da die „Götter auf Erden wandelten und sich frei unter die Sterblichen mischten“. Danach verschwanden die Götter (das heißt, sie wurden unsichtbar) und spätere Generationen wurden zu Verehrern ihrer Reiche – der Elemente. …
So teilten sich die ersten atlantischen Rassen, die auf dem lemurischen Kontinent geboren waren, von ihren frühesten Stämmen an in die Gerechten und die Ungerechten; in jene, welche den einen, unsichtbaren Geist der Natur verehrten, dessen Strahl der Mensch in sich fühlt – oder die Pantheisten; und in jene, welche den Geistern der Erde fanatische Verehrung entgegenbrachten, den dunklen kosmischen, anthropomorphen Mächten, mit denen sie sich verbündeten. Diese waren die frühesten Gibborim, „die Helden der Vorzeit, die berühmten Männer“ (Genesis, 6, 4), die bei der fünften Rasse zu den Kabirim wurden, zu den Kabiren bei den Ägyptern und Phöniziern, Titanen bei den Griechen und Rākshasas und Daityas bei den indischen Rassen.
So war der geheime und mysteriöse Ursprung aller folgenden und modernen Religionen,… .
– The Secret Doctrine, II: 273-4
Hier wird mit wenigen Worten erklärt, wie die Menschen das Böse in die Welt brachten. Als ihnen von spirituellen Führern ihre ‘Augen geöffnet wurden’, wurden sie mit dem Licht des Verstandes begabt, welches ihnen Kenntnis von Gut und Böse verlieh. Selbst in der dritten Rasse benutzte eine Anzahl von Menschen ihren freien Willen und wählte den Pfad der rechten Hand, den Pfad des Lichtes. Einige ihrer Brüder wandten sich ab und folgten dem Pfad der linken Hand, dem Pfad des Schattens. Letztere missbrauchten immer wieder ihre Kenntnisse und ihre Macht – Leben um Leben. Das waren die Lemuro-Atlantier, die „stolzerfüllt prahlten“. Sie benützten ihre Kontrolle der Natur mit selbstsüchtigem Ehrgeiz und zu schlechten Zwecken. Sie wurden zu einer mächtigen Rasse von Zauberern, stets im Krieg mit ihren rechtschaffenen Brüdern. Der Streit dauerte an, Zeitalter um Zeitalter, während die Menschheit in immer dichtere Ebenen der Materie abstieg, bis zur Mitte des atlantischen Zyklus. Zu dieser Zeit hatte die Rasse eine glänzende Zivilisation entwickelt, die zum größten Teil aus schwarzen Magiern bestand.
Schließlich gingen die Übeltäter nach kleineren Überschwemmungen, die sich über mehrere Millionen Jahre erstreckten, in einer letzten großen Flutkatastrophe unter. Inzwischen hatten sich ihre weiseren Brüder von ihnen getrennt und waren unter spiritueller Führung in ferne Länder gezogen, die von der Sintflut nicht betroffen waren. Von diesen Auswanderern stammen die Anfänge der heutigen fünften oder sogenannten arischen Rasse ab. Der Anfang unserer Rasse geht auf die Mitte des atlantischen Zyklus zurück. Ebenso entsteht der Keim der sechsten Wurzelrasse gegenwärtig unter uns in unserer vierten Runde.
Die unglücklichen, bösen atlantischen Egos waren durch ihre eigenen Taten dazu verurteilt, in wiederholten Inkarnationen die Folgen ihrer früheren Untaten zu erleiden. Durch Karma der mentalen und spirituellen Gaben, die sie verraten hatten, beraubt, verfielen viele von ihnen in unheilvolle Unkenntnis und Degeneration. Degenerierte Überreste dieser Rasse kann man unter manchen wilden und barbarischen Stämmen auf der Erde finden, die in ihrem Verhalten das Gegenteil der kindlichen Einfalt wirklich primitiver Völker sind. Spuren von ihnen findet man zum Beispiel in den verlassenen Höhlen in Frankreich und Spanien. Diese paläolithischen Menschen, die in einen primitiven Zustand zurückfielen, hinterließen Beweise einer hohen Kultur. Ihre Zeichnungen und Gravierungen auf den Felsenwänden ihrer Höhlenwohnungen sind Zeugen einer entwickelten Technik und eines künstlerischen Vermögens, das in kindlichen Kritzeleien nicht zu finden ist. Andere archäologische Funde einer Kultur auf einem niedrigeren Niveau aus viel späteren Zeiten können am besten durch die immer wiederauftretenden Höhen und Tiefen im zyklischen Verlauf der rassischen Evolution erklärt werden. Natürlicher Fortschritt vollzieht sich nicht in einer geraden Linie.
Andere Hinweise auf einen antiken Hintergrund finden sich bei bestimmten degenerierten afrikanischen Stämmen und bei einzelnen polynesischen Gruppen. Wenngleich Aberglaube und Betrug sicherlich bei vielem, was sie tun, eine Rolle spielen, beherrschen ihre Priester und Medizinmänner oft bestimmte Naturkräfte psychischer Art. Europäer besitzen diese Macht nicht, noch können sie diese bei anderen erklären. Die unwissenden Ausführenden verstehen die logische Grundlage der von ihnen hervorgerufenen Phänomene selbst nicht. Aber die gewöhnlich niedrigen Methoden, die sie in ihren Übungen befolgen, um ihren Willen und ihre Vorstellungskraft zu entwickeln, und ihre selbstsüchtigen oder schlechten Motive legen einen Niedergang mystischer Kenntnisse nahe. Ihre Kunststücke erscheinen wie armselige Echos der atlantischen schwarzen Magier, die spirituelles und intellektuelles Wissen und Kräfte zu ihren eigenen Zwecken missbrauchten.
Glücklicherweise haben manche der jüngeren menschlichen Egos keine alten Rechnungen schlechten Karmas mehr zu begleichen.
Dr. G. de Purucker spricht zum Beispiel über
… die Schwarzen, die anstatt degenerierte Abkömmlinge einst mächtiger Ahnen zu sein, ‘primitiv’ lediglich in dem Sinne sind, dass sie eine sich noch in ihrer Kindheit befindende menschliche Rasse darstellen, die dazu bestimmt ist, in der Zukunft einmal eine wahrhaftig zivilisierte Rolle in der Weltgeschichte zu übernehmen. Doch dann wird der Schwarze kein Schwarzer mehr sein, denn er wird sich mit vielen verschiedenen Rassenzweigen vermischt haben – ein Prozess der Rassenmischung, der sich schon jetzt vollzieht, trotz der Gesetze, die der weiße Mann in vielen Ländern erlassen hat – in dem hoffnungsvollen Bemühen, ihn aufzuhalten.
– The Esoteric Tradition, I: 404
Überall weist die gemeinsame Wirkung von Karma, Reinkarnation und den Zyklen auf das ursprüngliche Ziel hin, alles in einen ausgeglichenen Zustand der Vollkommenheit zu bringen. In den niederen Reichen vollzieht sich die Entwicklung unter der Führung der Natur in normalerer und reinerer Art als beim Menschen. Nicht immer führen unsere menschlichen Eigenschaften zur Bildung eines ausgeglichenen Charakters. Der Tag der Begleichung kommt gewiss – je früher um so besser für unseren Fortschritt. Wie oft sehen wir, wie begabte und würdige Menschen scheinbar durch beschränkende und unangenehme Lebensumstände gehemmt werden! Vermutlich sind sie dabei, eine unbezahlte Rechnung aus früheren Leben zu begleichen. W. Q. Judge erklärt, dass
… wir in einem Leben vielleicht in einer fortgeschrittenen Unterrasse inkarnieren, entsprechend unseren zur Auswirkung kommenden Eigenschaften, jedoch dann bestimmte Mängel zum Vorschein bringen oder bestimmte Ursachen erschaffen können, die es nötig machen, im nächsten Leben in eine weniger fortgeschrittene Unterrasse zu wechseln – mit dem Ziel, die Fehler auszumerzen oder die Ursachen abzuarbeiten.
Auf diese Weise wird für genauen Ausgleich, für vollkommene Entwicklung, Regelmäßigkeit und Abrundung im weitesten Sinne vorgesorgt.
– The Path, VII, 257
Würde sich nicht die Verarbeitung einer solchen Erfahrung einfacher, friedvoller und schneller vollziehen, wenn wir den Sinn der Gesetze unseres eigenen Wesen kennen würden? Nehmen wir einmal an, wir wären uns bewusst, dass Etwas in uns, das wirklich erkennt, nach nichts Geringerem als einer vollkommenen Arbeit ruhen wird!
Der Körper des Menschen: ein gewaltiger Resonanzboden
Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt … .?
– 1 Kor, 6, 19
Jedes menschliche Organ und jede Zelle in ihm hat seine eigene Tastatur, wie die eines Klaviers, nur dass sie anstelle von Tönen Empfindungen registriert und sendet. Jede Taste enthält das Potential des Guten oder Bösen, des Hervorbringens von Harmonie oder Disharmonie. Das hängt von dem gegebenen Impuls und den erzeugten Kombinationen ab, von der Kraft der Berührung eines ausübenden Künstlers – tatsächlich eine „doppelgesichtige Einheit“.
– H. P. BLAVATSKY, Lucifer, VII, 181
Wahrhaftig, dieser Körper – durch den Materialismus und den Menschen selbst so entweiht – ist der Tempel des Heiligen Grals, das Adyton der größten, ja aller Mysterien der Natur in unserem Sonnenuniversum. Dieser Körper ist eine Äolsharfe, die mit zwei Saitensätzen bespannt ist – einer aus reinem Silber gefertigt, der andere aus Darm.
– Ebenda
H. P. BLAVATSKY erklärt weiter, wie der Körper auf die Berührung seines innewohnenden Schöpfers, des dualen Menschen, reagiert. Die Qualität seines Denkens und Empfindens versetzt entweder die reinen silbernen Saiten oder die tierischen Saiten der Harfe durch die Wirkung seines besseren oder niederen Selbst in Schwingung. Der verkörperte ‘Künstler’ spielt fortwährend auf dem einen oder anderen Satz von Saiten. Damit erweckt er in diesen Saiten die Gewohnheit zu reagieren und mitzuschwingen. Der Einfluss seiner gewohnheitsmäßigen Spielweise, die dem Instrument eingeprägt ist, spiegelt sich natürlich in seinem Geist und in seinem Herzen wider. Nur zu oft gewinnen die Gewohnheiten unseres Körpers die Oberhand über unseren Willen und dann wird es schwer, sie zu unserem Besten zu verändern. Es verbirgt sich eine praktische Weisheit in dem Rat, den Salomon uns gab: „Mehr als alles hüte dein Herz; denn von ihm geht das Leben aus“ (Das Buch der Sprichwörter 4, 23).
Zum Glück hat die Natur, die das Material für den irdischen Körper des Menschen zur Verfügung stellt, mehr mit dessen Wirkungsweise zu tun, als der Mensch versteht oder beherrscht. Sein stiller Partner, die Natur, beherrscht seinen Körper so gut, dass der Mensch sein Funktionieren für selbstverständlich erachtet. Der Körper ist mit zwei Nervensystemen ausgestattet: erstens mit dem zentralen Nervensystem, das durch das Gehirn, die Sinne und die willkürlichen Handlungen tätig ist. Da dessen Schwingungen mit der menschlichen Natur in Verbindung stehen, sind sie im Allgemeinen nicht so geordnet wie die rhythmischen Wirkungsweisen des zweiten oder sympathischen Nervensystems, welches von der Natur kontrolliert wird. Da jedoch beide Systeme eng miteinander verknüpft sind, reagieren sie unentwegt aufeinander, indem sie die bewussten, die unterbewussten und die überbewussten Lebenskräfte reflektieren.
Es ist die Natur, die uns in Gang hält, vor der Geburt und auch danach, wenn wir schlafen oder wachen, bewusst oder unbewusst, geistig oder körperlich krank oder gesund sind. Die Natur wirkt durch das automatische Nervensystem, um wieder Ordnung zu schaffen, wenn wir mental oder physisch aus dem Gleichgewicht sind. Alle physiologischen Funktionen sind rhythmisch. Ihre Aktivitäten sind auf den natürlichen Rhythmus des kosmischen Herzschlags abgestimmt.
Medizinische Untersuchungen zeigen, dass in den Funktionen von Atmung, Kreislauf, Verdauung, Sektretion, Ausscheidung, Schwangerschaft und so weiter jedes Organ seine eigene Schwingungszahl hat, seine sich stets wiederholende Bewegung von Ebbe und Flut im Lebensprozess. Winzige, mit Flimmerhärchen versehene Zellen, wie zum Beispiel in den Bronchien, sorgen dafür, dass Feuchtigkeit abfließt, indem sie ihre feinen Härchen in ihrem eigenen Rhythmus vorwärts und rückwärts bewegen. Das Herz wiederholt seinen Zyklus von Kontraktion, Ausdehnung und Ruhe ungefähr viermal so schnell, wie der Luftstrom in den Lungen steigt und sinkt. Dennoch sind beide aufeinander abgestimmt, so dass das Blut aufgenommen, gereinigt und in seinen Kreislauf weitergeleitet wird. Es gibt eine wunderbar ausgewogene Beziehung zwischen den Schwingungen der Organe zueinander und dem ganzen Körper. Das koordinierte System ununterbrochener zyklischer Bewegungen in uns gleicht in seiner geordneten Präzision einem Sonnensystem. Vorsichtig ausgedrückt ist der Körper ein bewundernswerter, lebendiger Mechanismus sich gegenseitig beeinflussender Räder.
Die Mathematik, die in ihren astronomischen Berechnungen so exakt ist, zeigt, dass sich die Verhältnisse der Periodizität im Sonnensystem in unserem Körper wiederholen. Der Pulsschlag unserer Organe entspricht einem Vielfachen des Herzschlags der Sonne. Die Sonne beispielsweise ist das Herz des Sonnensystems. Am Beginn der elfjährigen Sonnenfleckenperiode gibt es etwas, das einer Zusammenziehung und einem Ausströmen der Lebenskraft der Sonne gleicht, ähnlich unserem Blutkreislauf. Die vitalen Sonnenströme erreichen die äußersten Grenzen ihres Systems, um dann allmählich in den nächsten elfjährigen Zyklus zurückzuschwingen.
Die Sonne hat unserer Menschheit während des Kommens und Gehens der vergangenen vier Wurzelrassen Lebenskraft geschenkt. Jede Wurzelrasse evolvierte ihrerseits in einer regelmäßigen Reihe von vier Perioden verschiedenen Charakters und verschiedener Dauer. Unsere gegenwärtige fünfte Wurzelrasse wiederholt diese charakteristische zyklische Reihe. Ihre erste Periode dauerte 1 728 000 Jahre, die zweite 1 296 000 Jahre, ihre dritte 864 000 Jahre, während die vierte Periode, unser gegenwärtiges Zeitalter, 432 000 Jahre dauern wird – insgesamt 4 320 000 Jahre (siehe Okkultes Wörterbuch von G. de Purucker, S. 189-90). Diese Reihenfolge der Ziffern 4 3 2 erweist sich als eine Schlüsselzahl in bestimmten wiederkehrenden Runden, ‘oben und unten’. Die Präzession der Tagundnachtgleichen bedeutet sozusagen einen Vorlauf von ungefähr 50 Sekunden auf dem Bogen von 360 Grad, den die Sonne in ihrem jährlichen Lauf durch die Konstellationen durchschreitet. Dieser jährliche Bruchteil von einem Zweiundsiebzigstel Grad akkumuliert bis zu einem vollständigen Bogen von 360 Grad. Nach diesem Zeitraum ist die Sonne an den Ursprungspunkt des Zyklus von 25 920 Jahren zurückgekehrt und steht wieder unter der ursprünglichen Konstellation der Sterne – das ist das ‘Platonische Jahr’.
Diesen Zyklus der Himmelskörper findet man im Kleinen in unserem eigenen Körper. Das heißt, wir atmen ein und aus und das ungefähr achtzehn mal pro Minute. In vierundzwanzig Stunden atmen wir 25 920 mal. Unser kleiner Tag weist in der Atmung dasselbe zyklische Verhältnis auf wie die Präzessionsbewegung der Sonne. Unser Herz schägt durchschnittlich zweiundsiebzig mal pro Minute. Die Sonne braucht zweiundsiebzig Jahre, um sich auf der Bahn des Tierkreises ein Grad weiterzubewegen. Unser Herz schlägt pro Stunde 4 320 mal, womit die Ziffernfolge der alten Schlüsselzahl wiederholt wird. Die mathematische Analogie kann noch weiter ausgebaut werden, indem man die Universalität der Periodizität aufzeigt. Der wichtige Punkt ist die Vermischung von aktiven physischen und super-physischen Kräften. Über das sympathische Nervensystem werden unsere organischen Rhythmen von intelligenten Naturgesetzen auf das superbewusste Herz des Universums abgestimmt.
Die verschiedenen Körperzellen haben nicht nur ihren funktionellen Rhythmus, sondern sie kommen und gehen zeitlich aufeinander abgestimmt, indem sie sich zu neuen Zellen teilen. Diese einfache Teilung zu neuen Wesenheiten erkennen wir heute in den niedrigsten Formen tierischen und pflanzlichen Lebens. Das entspricht der Art, in der sich die etherische, kugelförmige erste Wurzelrasse vermehrte. Unsere Körperzellen werden sozusagen als Miniaturkopien der Urmethode der Rasse wiedergeboren. Manche Zellen teilen sich schnell, wie bei jungen Geschöpfen; andere verändern sich langsam, wie bei älteren Menschen und im Knochensystem, aber es existiert eine fortwährende Bewegung von Ebbe und Flut. Der ganze Körper wird in einem Zyklus von sieben Jahren erneuert. So hat sich ein siebzigjähriger Mensch sozusagen in einem Leben zehnmal wiederverkörpert. Er verlässt dann diese Erde, nur um später für einen weiteren Zyklus dorthin zurückzukehren.
Leben und Tod sind also nichts anderes als die Systole und Diastole des kosmischen Herzschlags, der für uns das spirituelle Selbst kommen und gehen lässt – hier und anderswo. Die okkulte Physiologie erklärt:
In der Natur existiert ein Gesetz, gültig auf allen Gebieten, ob moralisch oder physisch, welches heute als Wellenbewegung mit einer darauf folgenden Pause bezeichnet werden kann. Ein anderes Mal tritt es als Schwingung auf, dann wiederum bringt es sich als Wechsel von Anziehung und Abstoßung zum Ausdruck. Aber alle diese Veränderungen sind nur scheinbar, weil sie im Grunde genommen gleich sind. … In unserer eigenen Blutzirkulation erkennen wir, wie das Blut vom Herzen angetrieben wird und dass die Natur kleine Ventile eingerichtet hat, die nicht zulassen, dass es zum Herzen auf dem Weg zurückkehrt, wie es gekommen ist. … Der Okkultist … erklärt, dass der Impuls vom Herzen stammt und dass dieses Organ seinen Impuls aus dem großen Astralherzen des Ākāśa erhält, von dem alle Mystiker gesagt haben, es vollführe eine Doppelbewegung oder wechselweise Bewegung – die Systole und Diastole der Natur.
In diesem Sinne stellt das Ventil in der Zirkulation den Abgrund hinter uns dar, über den wir nicht wieder zurückkehren können. Wir befinden uns in der großen, allgemeinen Zirkulation und sind dazu gezwungen, ob wir es wollen oder nicht, ihrem Vorwärtsdrang zu folgen.
– W.Q. JUDGE, The Path, II, 292-3
Wir sind sowohl im Bewusstsein als auch mathematisch mit der Sonne, dem Mond und den Planeten verbunden. Die Positionen auf ihren Bahnen und ihre Wechselbeziehungen im Moment unserer Geburt beeinflussen den Verlauf einer Inkarnation. Aus dieser Familie von Himmelskörpern strömen die verschiedenen spirituellen, mentalen, psychischen, astralen und physischen Lebenskräfte, die durch die gesamte Natur und den Menschen zirkulieren, in Ebbe- und Flutbewegungen. Die Periodizität des Mondes hat einen deutlichen dualen Einfluss, der sowohl aufbauend als auch zerstörend ist. Seine wiederkehrenden Phasen stehen in einem Verhältnis zur Periodizität der gesamten Physiologie der Fortpflanzung, zu Veränderungen bei Krankheiten, zum Wachstum der Pflanzen und so weiter. Die psychischen und astralen Emanationen des Mondes spiegeln sich in mentalen und emotionalen Störungen wider. Alle diese Kräfte wurden von den Menschen des Altertums so gut verstanden, dass sie von der guten Wirkung dieser Einflüsse profitierten, während sie die schlechten Folgen mindern konnten. Wir tragen als menschliche Einheiten in der Sonnenfamilie unseren Teil zu den ungeordneten Elementen bei. Aber wir gewinnen an Kraft zum Guten und gleichen, im Verhältnis zu unserem individuellen Gleichgewicht zwischen Gut und Böse, unsere Schulden aus.
Die Qualität der Schwingungen unseres bewussten Lebens wird dem Gewebe unseres Körpers eingeprägt, wie eine Art mentaler und emotionaler Fossilien. Selbst der körperliche Unterschied zwischen einem edlen, rechtschaffenen Menschen und einem selbstsüchtigen, bestialischen Typ ist deutlich. Die Körper der bösen Atlantier waren grob und sinnlich. Auch die Erde hatte damals ihre niederste materielle Ebene erreicht. Von der Mitte der vierten Runde an begann das planetarische Rad, wieder dem aufsteigenden Bogen zu folgen, und die Materie begann sich zu verfeinern. Das findet im Prozess der Radioaktivität seinen Ausdruck, den die Wissenschaft in Gesteinen und Mineralien studiert.
… der Prozess der Radioaktivität wird in künftigen Zeitaltern in allen chemischen Elementen und Verbindungen auftreten – und zwar beginnend mit den schwersten und gröbsten Elementen die Skala hinauf bis zu den leichtesten und einfachsten. …
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, 326
So kommt es, dass in dem Prozess des immer etherischer Werdens, den unser Globus jetzt durchläuft, die schwersten und gröbsten chemischen Elemente und Verbindungen zuerst radioaktiv werden, das heißt sie werden ihre Substanz mit zunehmender Geschwindigkeit verstrahlen, gefolgt von den weniger schweren und groben. Der Prozess wird insbesondere bis zum Ende der gegenwärtigen vierten Runde weitergehen … und dauert an, bis die siebente Runde ihren Höhepunkt oder ihr Ende erreicht hat. Bis dahin wird der Globus und alles auf ihm zu dem äußerst etherischen Stadium oder Zustand der Materie zurückgekehrt sein, der während der ersten Runde herrschte.
– Ebenda, 327 (Fußnote)
Das Bild des Menschen, der Schritt für Schritt mit der Materie seines Körpers und dem Körper der Erde evolviert, zeigt einen wissenschaftlichen Aspekt von „universaler Bruderschaft als einer Tatsache der Natur“. Das ist kein lediglich abstrakter Begriff oder Gemeinplatz. Es ist eine natürliche Tatsache, vereinbar mit der Essenz von Wissenschaft, Philosophie und Ethik – den drei Aspekten der einen Wahrheit. Die gegenwärtig den Körper der Erde bildenden Atome waren auch dabei, als wir unseren Kreislauf um die Mondkette vollzogen. Die Lebensatome des Mondes verkörperten sich hier aufs Neue mit unserer Rasse, und sie brachten die durch unseren früheren Einfluss hervorgerufenen Prägungen, nützliche wie auch schädliche, mit sich. In ähnlicher Weise kommen unsere individuellen Lebensatome aus früheren Inkarnationen jedes Mal wieder zurück, weil sie durch psycho-magnetische Kräfte zu uns hingezogen werden. Auf diese Weise sorgt die Natur dafür, dass die Ernte von nicht abgearbeiteten, in der Vergangenheit gesäten Ursachen eingebracht werden kann. Samen einer karmischen Krankheit werden zum Beispiel einen fertigen Nährboden in den körperlichen Zuständen des einen Menschen finden, während sie im Gewebe eines anderen Menschen nicht wachsen können, weil er karmisch frei ist. Wir finden musikalische, erfinderische oder andere Genies – oder ‘sogenannte Wunderkinder’ – mit jenem physischen Organismus, mit dem sie das Vermögen zum Ausdruck bringen können, das sie sich in vorhergehenden Lebens-Zyklen erworben haben. Auch da wiederholt sich das ‘Heimkommen’ der astralen Atome unseres Modellkörpers und der etherischen, mentalen und emotionalen Substanzen, die zu uns gehören. Dieselbe strenge Gerechtigkeit, die im All herrscht, wirkt auf allen Gebieten unseres Wesens.
Die chemischen Elemente, die sich in den Organen unseres Körpers vereint haben, die musikalischen Töne, die unser Gefühl für Harmonie befriedigen und die Farben, die unser Auge bezaubern, haben alle ihre mathematische Schwingungszahl.
Die Wissenschaft hat bewiesen, dass sich die verschiedenen Schwingungsraten als unterschiedliche Phänomene offenbaren. Mit der zunehmenden Popularität des Radios wurde sogar jedem der Begriff ‘Wellenlänge’ bewusst gemacht. Die Geheimlehre sah den außerordentlichen wissenschaftlichen Fortschritt auf vielen Gebieten voraus, welcher die enge Verbindung – wenn nicht die offensichtliche Einheit – von Energie und Materie aufzeigt. Dies bietet eine wissenschaftliche Grundlage für die Behauptung der Einheit von bewussten menschlichen Kräften und Materie, die heute ihrer Natur nach als elektromagnetisch bezeichnet werden. Ein Beispiel: Unsere heutigen fünf Sinne sind empfindlich für Schwingungsfrequenzen, die sich auch in greifbaren Formen von Ton, Farbe und so weiter manifestieren.
Die fünf Sinne und ihre Organe wurden in der Menschheit nicht gleichzeitig entwickelt, sondern erschienen nacheinander. Kurz gesagt, jede Wurzelrasse hatte gegen Ende ihres großen Zyklus einen der sieben Sinne entwickelt und zu voller Wirksamkeit gebracht. Die erste Wurzelrasse entwickelte das Gehör, die zweite fügte den Tastsinn hinzu, die dritte das Sehvermögen und die vierte den Geschmack. Unsere heutige fünfte Rasse besitzt neben den bereits erwähnten den Geruchssinn und trägt das Potential in sich, in der künftigen sechsten und siebten Wurzelrasse zwei weitere Sinne zu entwickeln.
Dass das Gehör der erste erworbene und der älteste Sinn ist, stimmt mit unserer Fähigkeit überein, Töne über elf Oktaven wahrnehmen zu können, während unsere Augen nur das Licht einer Oktave sehen können. In The Esoteric Tradition (S. 466, 467) wird darauf hingewiesen, dass sich die Radiowellen, die, soweit damals bekannt, elf oder zwölf Oktaven umfassen, als Töne manifestieren und mit unserem Gehör übereinstimmen. Wenn wir in der Skala von Oktaven zu den kürzeren Wellenlängen gehen, erreichen wir Schwingungen, die in unserer Wahrnehmung Wärme bewirken, das heißt, sie sprechen den Tastsinn an. Durch Oktaven noch kürzerer Wellenlängen fortfahrend, erreichen wir das Gebiet der sichtbaren Strahlung, hier entspricht das siebenfältige Spektrum des Lichts unserem Sehvermögen. Wenn wir noch weitergehen, durch noch kürzere Wellenlängen hindurch, betreten wir das Gebiet der ultravioletten Strahlen, das unserem Geschmack verwandt ist. Dann kommen die äußerst kurzen Wellenlängen der Röntgenstrahlen, die unserem Geruchssinn verwandt sind.
Unsere latenten sechsten und siebten Sinne werden sich nacheinander entwickeln, so wie sie durch die Entfaltung unserer höheren mentalen und spirituellen Natur hervorgerufen werden. Dann werden wir die aufbauenden und inspirierenden Kräfte von Verstand und Herz genauso natürlich ausstrahlen, wie wir jetzt unsere anderen Sinne gebrauchen. In dieser weit entfernten Zeit wird sich unser Körper zu einer feineren, geschmeidigeren und beständigeren Substanz verändert haben; der Mensch wird das Gleichgewicht zwischen den positiven und negativen schöpferischen Kräften gefunden haben, da die sexuelle Fortpflanzung nur eine vorübergehende Phase darstellt. Krankheiten werden dann unbekannt sein, da die erleuchtete Menschheit gelernt haben wird, in Übereinstimmung mit den feineren Naturkräften zu arbeiten.
Unter diesen idealen Umständen der Zukunft wird sich der Mensch auf dem aufsteigenden Bogen selbstbewusst durch Reiche des Seins entwickeln, durch die er als nicht-selbstbewusster Gottesfunken auf dem absteigenden Bogen langsam in die Materie herabgesunken war. Das kabbalistische Sprichwort vom Menschen, „der ein Stein, eine Pflanze, ein Tier, ein Mensch, ein Geist und schließlich Gott wird“, ist bezüglich der Formen richtig. In den ersten drei etherischen Runden durchlief der Mensch die vage ‘Vorlage’ dessen, was später zu den Steinen, Pflanzen und Tieren der physischen vierten Runde werden sollte. In seinem animalischen Körper benutzt er noch immer mineralische und pflanzliche Elemente. Der menschliche Embryo entwickelt sich heute durch eine Reihe von Formen, die in Zusammenhang mit Erfahrungen während der früheren Rassen stehen.
Aufgrund der während enormer Zeitalter in allen Arten und Formen von Materie durchlebten Erfahrung entwickelt sich der embryonale Körper heutzutage in neun Monaten. In den ersten Monaten ist das Geschlecht noch undeutlich und weist zunächst auf Asexualität hin, danach auf den androgynen Zustand der ersten Wurzelrassen. Ein weiteres Zeichen der Anfangsrunden ist die frühe Entwicklung und wichtige Stelle der Zirbeldrüse, die später vom embryonalen Gehirn überdeckt wird. Diese kleine Drüse – welcher die Physiologie keine Funktion zuerkennt – vertritt das einst aktive ‘dritte Auge’. Gegenwärtig ist sie ‘tief verborgen in der Gehirnhöhle’, wo sie in enger Verbindung mit allen intellektuellen, sinnlichen und psychischen Zentren steht. H. P. Blavatsky sagt, dass
… sie einst aktiv gewesen ist, denn die Natur erschafft niemals die kleinste, die unbedeutendste Form ohne irgendeinen bestimmten Zweck und zu irgendeinem Gebrauch. Sie war ein aktives Organ, sagen wir, in jenem Stadium der Evolution, als das spirituelle Element im Menschen die Oberherrschaft über die gerade entstehenden intellektuellen und psychischen Elemente hatte. Und als der Zyklus abwärts auf jenen Punkt zu lief, an dem die physiologischen Sinne durch das Wachstum und die Verfestigung des physischen Menschen entwickelt wurden und mit ihnen Schritt hielten – die unermesslichen und verwickelten Veränderungen und Drangsale der zoologischen Entwicklung –, da verkümmerte dieses mittlere „Auge“ zum Schluss zugleich mit den frühen spirituellen und rein psychischen Merkmalen des Menschen. …
Am Anfang war jede Klasse und Familie der lebenden Arten hermaphroditisch und objektiv einäugig.
– The Secret Doctrine, II: 298, 299
Auch wird gesagt, dass dieses ‘Auge’ im ‘Laufe des zyklischen Kreislaufs’ des großen Gesetzes wieder funktionieren wird, wenn wir auf dem aufsteigenden Bogen erneut die spirituellen Reiche erreicht haben werden. Dann werden wir als vollkommene Menschen das irdische Leben verlassen, um zu ruhen, bevor wir als junge Götter die nächsten, höheren Runden der Existenz beginnen werden. Zwischen dem gesamten Fortgang der planetarischen Entfaltung des menschlichen Egos und dem evolutionären Lauf, welchen das Ego in einer Inkarnation durchlebt, existiert eine Analogie. Das Ego beginnt jedes Leben als kleines Kind, sammelt Erfahrungen und im Alter kreuzt sein hinausführender Weg aufs Neue einige Ebenen seines Hereinkommens. Das Neugeborene bringt den erfrischenden Geist einer anderen Welt mit sich und ist hier anfangs kaum wach; allmählich betritt das Kind eine neue Welt – glücklich, ohne Verantwortungsgefühl und voller Vertrauen. Während der sogenannten ‘zweiten Kindheit’ beginnen sich die Gezeiten der Lebenskräfte des Egos zu wenden. Mit dem Abebben der bewussten und vitalen Strömungen werden der alternde Körper und das Gehirn allmählich weniger wach, weniger aktiv. Man wird vergesslich und lebt in den Erinnerungen der Jugendjahre, ist sorglos und abhängig. Die hier abebbende Lebenskraft beginnt irgendwo anders einen neuen Zyklus. Und das Ego, das jetzt ‘heimkehrt’, kreuzt aufs Neue die inneren Ebenen, entlang derer es hierher kam. Altersschwäche bedeutet oft einen gleichzeitigen Zyklus der Wiedergeburt auf der anderen Seite des Schleiers.
Platzmangel hindert uns an einer Betrachtung der Brückenechse (Hatteria oder Sphenodon), einer alten Eidechsenart mit einem dritten Auge, die in Neuseeland gefunden wurde. Auch die Beuteltiere, die in der Fauna Australiens dominieren, stellen ein Übergangsstadium zwischen den eierlegenden und den lebend gebärenden Tieren dar. Wie können diese Tierarten anders erklärt werden als mit dem Überlappen von alten Zyklen? Offensichtlich sind sie demselben Gesetz der Verzögerung unterworfen wie die australischen Eingeborenen, die auf dem Überrest des alten Lemurien leben.
Die moderne biologische Forschung verfolgt die physiologischen Veränderungen der Zelle sozusagen von außen nach innen, bis an das Grenzgebiet der nicht materiellen Kräfte. Die okkulte Physiologie weist auf die kosmische Intelligenz der Natur als die ursächliche Kraft hin, die der Zelle vorschreibt, nur ihre eigene Form und Funktion hervorzubringen. Der unsichtbare, sich wiederverkörpernde Lebenskeim einer Pflanze und sogar eines Tieres, welcher in seiner eigenen Art von Erfahrungen uralt ist, liegt außerhalb des Bereiches eines Mikroskops. Die Experimente, die gemacht werden, indem man die natürliche Rangordnung der Chromosomen oder anderer Elemente der befruchteten Zelle verändert, beziehen sich nur auf das natürliche Vehikel oder den ‘Körper’, durch den sich die Intelligenz manifestiert. Die Resultate, wie bemerkenswert sie auch sein mögen, sind unzuverlässig, weil sie künstlich sind, und anstatt die gesuchten Antworten auf die Fragen des Lebens zu geben, werden sie verwirrend wirken.
Spuren der Zyklen auf der Erde
Es muss sowohl geologische und physische als auch intellektuelle und spirituelle Zyklen geben; sowohl Globen und Planeten als auch Rassen und Nationen werden geboren, wachsen, machen Fortschritte, werden schwächer und – sterben. Große Nationen spalten sich, zerstreuen sich in kleine Stämme, verlieren jede Erinnerung an ihre Größe, fallen allmählich in ihren primitiven Zustand zurück und – verschwinden eine nach der anderen vom Erdboden. Dasselbe geschieht mit großen Kontinenten. Ceylon muss einst Teil des indischen Kontinents gewesen sein. So war offensichtlich Spanien einmal mit Afrika verbunden und der schmale Kanal zwischen Gibraltar und Afrika war früher einmal trockenes Land.
– The Theosophist, „A Land of Mystery“
Die Geologen sind auf dem Wege, immer mehr überzeugende Beweise zu finden, dass diese ‘gute Erde’ Aufzeichnungen von gewaltigen Ereignissen ihrer wunderbaren Laufbahn als menschentragender Planet bewahrt. Tatsächlich ist unser irdisches Zuhause eine sich verändernde Bühne, auf der sich das Drama des menschlichen Lebens regelmäßig abspielt – seit Millionen von Jahren immer wieder aufs Neue. Dieses planetarische Bühnenbild hat sich immer wieder verändert, jedoch stets in Übereinstimmung mit dem menschlichen Plan des sich entfaltenden rassischen Dramas, für das es als Hintergrund diente. Es stellt einen außerordentlich gut reagierenden Hintergrund dar, da auch die Erde selbst eine Wesenheit ist und eine ständige elektromagnetische Wechselbeziehung zwischen ihr und ihren Bewohnern existiert. Die Körper der Menschen sind aus demselben Stoff gemacht und sie beeinflussen die Erde mit dem, was sie denken, fühlen und tun. Die Erde ihrerseits beeinflusst die Menschen, so dass die Erde und die Menschheit gemeinsam aufstiegen und verschiedene kleinere und größere Zyklen durchliefen.
Die Erde erzählt ihre Geschichte – nicht in der Sprache einer bestimmten Zeit oder eines bestimmten Volkes, sondern in der universalen Muttersprache der Natur. Wer seine eigene zusammengesetzte Natur versteht, kann deshalb erkennen, wie die Laufbahnen der Menschheit und des Globus während aller Veränderungen auf dasselbe große Ziel des irdischen Lebens abgestimmt sind. Rassische und planetarische Zyklen haben der Erde geologische Stempel ihrer gemeinsamen evolutionären Perioden der Veränderung und des Wachstums eingeprägt. Deshalb wird der Geologe, der seine Sammlung wissenschaftlicher Daten interpretiert, im Licht der planetarischen Geschichte – wie diese in der Geheimlehre gegeben wird – auf Beweise für zyklische Perioden des Wachstums von Mutter Erde stoßen, die genauso deutlich aufgezeichnet sind, wie die Jahresringe im Querschnitt riesiger Bäume. Über Zeitalter hinweg wurden von der Weißen Bruderschaft detaillierte Aufzeichnungen angefertigt und als heilige Lehren in den Mysterienschulen aufbewahrt.
Agassiz sagte: „Die Kruste unserer Erde ist ein großer Friedhof, auf dem die Felsen die Grabsteine sind und die dort begrabenen Toten ihre eigenen Grabinschriften geschrieben haben.“ Diese ziemlich düstere Aussage vermittelt ein einseitiges Bild des menschlichen Lebens auf der Erde, es trägt dem von der Alten Weisheit betonten dauerhaften Prinzip im Menschen keine Rechnung. Denn dieselben unsterblichen Egos, die ihre vielen Erdenleben in der Zeit des „Garten Eden“ begonnen haben, haben nie aufgehört zu sein.
Es gibt eine interessante Analogie zwischen der Art, wie die Erde ihre frühen Perioden der Verkörperung durchlief und unserem eigenen physischen Anfang bei jeder neuen Inkarnation. In den Mahatma-Briefen an A. P. Sinnett schreibt der Meister KH.:
Wie Sie durch Analogie folgern können, muss jeder Globus durch eine – ebenfalls siebenfache – Formungsperiode hindurchgehen, ehe er die Zeit seines Erwachsenseins erreicht. Das Gesetz in der Natur ist einheitlich, und die Empfängnis, Formung und Geburt, das Wachstum und die Entwicklung eines Kindes unterscheiden sich von jener eines Globus nur der Größe nach. Der Globus durchläuft zwei Perioden, in welchen er zahnt und die ersten Haare verliert – seine ersten Gesteine, die er ebenfalls abschüttelt, um Platz für neue zu schaffen, und seine Farne und Moose, bevor er Wälder erhält. So wie die Atome im Körper alle sieben Jahre wechseln, erneuert auch der Globus seine Schichten nach sieben Zyklen. …
… Die Analogie zwischen einem Mutter-Globus und ihrem Menschen-Kind kann somit ausgearbeitet werden. Beide haben ihre sieben Prinzipien.
– S. 93-94, Brief XV
In The Secret Doctrine, II:149, ist zu lesen, dass die Periode der mineralischen und pflanzlichen Entwicklung nicht weniger als 300 000 000 Jahre andauerte, bevor der Mensch in seiner damaligen astralen Form seine „Kleider von Fellen“ erwarb. Als der Astralkörper physisch wurde, begann die Trennung der Geschlechter – vor ungefähr 18 000 000 Jahren. Damals wurden auch die latenten Feuer des Verstandes des Menschen entzündet, und er begann seine Kreisläufe der Erfahrung als ein selbstbewusstes menschliches Wesen.
Der aktivste Entwicklungszyklus des mineralischen und pflanzlichen Reiches fand während der ersten Runden statt, bevor der Astralkörper des Menschen physisch wurde. Heute ist die Kombination der mentalen und materiellen Natur des Menschen die vorherrschende Kraft auf der Erde, während die niederen Reiche in einem Zyklus verhältnismäßiger Ruhe verharren. Die Erschütterungen in der Natur, die für uns so beunruhigend sind – wie Erdbeben, Vulkanausbrüche und so weiter –, sind sanft im Vergleich zu den Perioden intensiver Aktivität der felsigen Erde während ihrer ersten Stadien. Die theosophische Lehre besagt, dass – obwohl die Körper der späteren dritten Wurzelrasse ausreichend physisch waren, um fossile Spuren zu hinterlassen – die heftigen Vulkanausbrüche, Erdbeben und andere Kataklysmen, die seitdem periodisch auftraten, ohne Zweifel jede Spur davon ausgelöscht haben.
Weiter sind Kontinente im Ozean versunken, und in vielen Teilen der Erde sind neue Länder aus den Wellen emporgetaucht, seit sich die Materie von ihrem ursprünglichen Zustand verfestigt hat. Der Globus selbst hat sich durch seine aufeinander folgenden Zyklen hindurch in Übereinstimmung mit dem Evolutionsprozess der verschiedenen Wurzelrassen entwickelt; und die fünfte Wurzelrasse ist jene, in der wir uns jetzt befinden.
Natürlich gibt es keine scharfe Trennung zwischen den einander folgenden Rassen oder Kontinenten, genauso wenig wie der Mensch von einem Tag auf den anderen plötzlich und vollständig seinen Körper oder seinen Charakter ändert. Es war die Rede von derselben Vermischung und Überlappung von rassischen und kontinentalen Zyklen, wie sie gegenwärtig stattfinden, obwohl schließlich gewaltige Naturkatastrophen die Oberfläche der Erde veränderten. Diese Erschütterungen löschten den degenerierten Teil einer Rasse aus. Mittlerweile hatten die würdigen Überlebenden in Ländern Zuflucht gefunden, die genauso langsam aus dem Ozean emportauchten, wie andere Teile ihrer früheren Heimat im Laufe der Zeitalter versunken waren.
Eine bleibende Erinnerung an diese wichtigen Ereignisse in der Geschichte der Rassen findet man in den übereinstimmenden Überlieferungen aller Völker. H. P. Blavatsky weist darauf hin:
Dass Welten (und auch Rassen) periodisch abwechselnd durch Feuer (Vulkane und Erdbeben) und Wasser vernichtet und wieder erneuert werden, ist eine Lehre, die so alt ist wie der Mensch. Manu, Hermes, die Chaldäer, das ganze Altertum glaubte daran. Zweimal bereits hat sich die Oberfläche des Globus durch Feuer und zweimal durch Wasser verändert, seitdem der Mensch auf ihm erschienen ist. Genau wie das Land Ruhe und Erneuerung, neue Kräfte und eine Veränderung seiner Böden braucht, benötigt es das Wasser ebenso. Daraus entsteht eine periodische Neuverteilung von Land und Wasser, eine Veränderung des Klimas usw. – alles durch geologische Umwälzungen verursacht und schließlich in einer Veränderung der Erdachse endigend. … Es gibt säkulare Änderungen in der Neigung der Erdachse, und ihre festgelegte Zeit ist in einem der großen geheimen Zyklen aufgezeichnet.
– The Secret Doctrine, II: 725-726
Die enge Beziehung zwischen Mensch und Natur lässt ein so wichtiges Ereignis, wie den Anfang und das Ende eines großen Rassenzyklus, mit planetarischen Veränderungen zusammenfallen. Immer und überall wird von einer gemeinsamen Wirkung der Gesetze von Karma (Ursache und Wirkung), Wiederverkörperung und den Zyklen gesprochen. Diese Gesetze beherrschen nicht nur das menschliche Leben, sondern bestimmen ebenso die Lebensgeschichte eines jeden Atoms der Materie. Daher kommt es, dass sich die gesamte Materie ständig verändert und Modifikationen aufweist, welche den Veränderungen entsprechen, die der denkende Mensch erlebt.
Diese gleichzeitigen evolutionären Veränderungen von Geist und Materie stimmen mit der Tatsache überein, dass alle Materie lebt und in gewissem Maße bewusst ist, obwohl nur der Mensch selbstbewusst ist. Materie wird auf die eine oder andere Weise ohne Berührung durch den Kontakt mit den Zuständen des menschlichen Lebens beeinflusst. Ein greifbarer Beweis für den Einfluss des Menschen auf die irdische Materie liefert unsere heutige komplizierte materielle Zivilisation. Im Vergleich zu dem einfachen Leben unserer Vorfahren besteht ein riesengroßer Unterschied zwischen ihrer Lebensweise, zwischen ihren Bedürfnissen und unseren. Wir wollen einmal die schwachen Spuren, welche die alten Völker auf dem von ihnen bewohnten Boden hinterließen, mit dem vergleichem, was heute im selben Gebiet stattfindet. Heute hat man in der Landschaft viele Tunnel gegraben, überall sind Brücken, hier hat man einen Wald abgeholzt und dort einen Deich errichtet, der Boden und sogar das Wetter haben sich verändert, Ozeane hat man durch künstliche Kanäle miteinander verbunden, Elektrizität und Wasserkraft sind nutzbar gemacht, Autobahnen wurden angelegt und Flugwege markiert – das gesamte Bild der Natur hat sich in Übereinstimmung mit einem geänderten Zyklus des menschlichen Denkens und Empfindens verändert.
Eine interessante Bemerkung über die Beziehung zwischen Mensch und Natur wird in Isis Unveiled, I: 395 gemacht, wo über die magnetischen Emanationen des Menschen gesagt wird:
„Magnetische Ströme entwickeln sich beim Verlassen des Körpers zu Elektrizitität.“
Angesichts dieser Wechselwirkung von Kräften kann man leicht verstehen, dass ein andauernder und unausgeglichener Strom bestimmter magnetischer menschlicher Emanationen periodisch einen Punkt der Spannung erreichen kann, der sich stark auf die Erde auswirkt. Die feste Masse der Erde unterliegt unentwegt dem Einfluss elektrischer und anderer Kräfte, wodurch materielle Folgen hervorgebracht werden. Der Zeitpunkt der Entladung, sozusagen, fällt mit der Veränderung eines großen Zyklus zusammen, wodurch heftige Erschütterungen in Form von Erdbeben, Überschwemmungen, Bränden und Eisbildungen hervorgerufen werden. William Q. Judge geht in seinem Buch Das Meer der Theosophie näher darauf ein, wo er sagt:
Am Schnittpunkt der großen Zyklen treten dynamische Wirkungen in Erscheinung und verändern die Oberfläche des Planeten aufgrund einer Verlagerung der Pole des Globus oder anderer Umwälzungen. Diese Theorie mag keine allgemeine Aufnahme finden, aber wir halten sie für zutreffend. Der Mensch ist ein großer Dynamo, der Energie erzeugt, aufspeichert und ausstrahlt. Und wenn große Menschenmassen eine Rasse bilden und auf diese Weise Energie erzeugen und verbreiten, dann resultiert daraus eine dynamische Wirkung auf die Substanzen des Globus, die mächtig genug ist, um Kataklysmen und andere fühlbare Störungen zu erzeugen. Dass sich in den Erdschichten bereits ungeheure und furchtbare Störungen abgespielt haben, wird allgemein zugegeben und erfordert jetzt keine Beweisführung. Diese Katastrophen entstanden, geologisch gesehen, durch Erdbeben und Eisbildung. Für die Tierformen bedeutet das zyklische Gesetz, dass bestimmte, jetzt ausgestorbene Tierformen und auch bestimmte menschliche Formen, die man heute nicht kennt, deren frühere Existenz man jedoch vermutet, mit ihrem eigenen Zyklus wiederkehren werden. …
– S. 149-150
Seit William Quan Judge das im Jahr 1893 geschrieben hat, wurden in tropischen Teilen Afrikas und anderswo alte Gebiete entdeckt, die früher mit Eis bedeckt waren, was darauf hinweist, dass sie einst Polargebiete waren. Die alten Lehren sagen, dass Katastrophen nicht nur Veränderungen in den warmen Strömungen des Ozeans und den heißen magnetischen Strömen der Erde hervorrufen, sondern auch Veränderungen an den Polen mit sich bringen, die sich schon mehrere Male gedreht haben. Das wurde jedesmal von einer völligen Veränderung der Erdoberfläche begleitet, abwechselnd durch Feuer und Wasser verursacht; und darauf beruht die biblische Erzählung über die Sintflut. Die Überlieferungen von Noah und allen Bewohnern der Arche beziehen sich auf die Überlebenden der zum Untergang verurteilten vierten Rasse, welche den Beginn der nächsten Rasse bildeten. Diese Geschichte unserer Sintflut, die aus der grauen Vergangenheit zu uns gekommen ist, ist eine universale Überlieferung. Man findet sie sowohl in den Religionen verschiedenster Nationen, wie bei den Peruanern, Azteken, Chaldäern, Chinesen, Ägyptern, Phoeniziern, Hindus und so weiter, als auch bei Naturvölkern.
Die Geologie zeigt, dass die Polargebiete einst warme und blühende Länder waren. Die Theosophie sagt uns, dass selbst der Mensch damals anwesend und verkörpert war. Arktische sowie antarktische Entdecker haben in sehr hohen Breiten Fossilien subtropischer Pflanzen und Korallen gefunden, die einst an den Küsten von Grönland und so weiter wuchsen. Große wandernde Eisflächen haben ihre Spuren auf der Erdoberfläche hinterlassen und klimatologische Veränderungen verursacht.
Die Geologie ist ein fesselndes Thema, denn weit davon entfernt, ein trockenes Studium zu sein, studiert man eine planetarische Wesenheit, die eine graphische Skizze riesiger Zyklen in unserer wunderbaren Vergangenheit bewahrt hat. Der durch diese Perioden der Erfahrung laufende evolutionäre Plan beinhaltet das Versprechen einer größeren Entfaltung in der Zukunft. Intuitive Forscher werden entdecken, dass die Phänomene der Erde und der Naturkräfte die Sprache sind, welche die Materie in dem universalen Drama des sich entfaltenden, verkörperten, zyklischen Lebens spricht.
In Kapitel 3 haben wir bereits das Thema der versunkenen Kontinente erwähnt, welche die Heimat früherer Menschenrassen waren und die im Laufe vieler Zeitalter unter der Oberfläche unserer heutigen Ozeane versanken. Die Namen Lemurien und Atlantis sind jedem bekannt, obschon man sie meistens mit legendären Erzählungen in Zusammenhang bringt, die nicht auf Wahrheit gründen.
Schon seit langem untersuchen Wissenschaftler mit Hilfe speziell ausgerüsteter Schiffe den Meeresboden. Die daraus resultierenden Entdeckungen passen oft sehr gut zu der Vorstellung von versunkenen Kontinenten, aber dennoch wird heute der Gedanke an ein Versinken und erneutes Emportauchen von Kontinenten im Allgemeinen von der Wissenschaft nicht anerkannt.
Es gab eine Zeit, da die Wissenschaft sehr wohl Wert auf diese Ansicht legte, aber die moderne Geologie akzeptiert im Moment ganz allgemein die sogenannte Schollentheorie, die besagt, dass die Erdkruste in eine Anzahl kontinentaler Schollen auseinander gefallen ist, die in früheren Perioden ineinander passten, aber von bestimmten Kräften auseinander getrieben wurden. Die alte Weisheit hält ihre Behauptung aufrecht, dass der heutige Meeresboden einst die Oberfläche mächtiger Kontinente bildete, auf denen sich die Evolution der Menschheit jener Tage vollzog.
Unterseeische Forschungsarbeiten bringen viele Veränderungen des Wasserstands zum Vorschein – ein Phänomen, das offensichtlich zu den universalen Ebbe- und Flutbewegungen der Dinge zu gehören scheint. Es ist bekannt, dass solche Veränderungen auch heute in vielen Teilen der Erde stattfinden. Einige amerikanische Küsten heben sich langsam, während andere versinken; die Berge des Himalaya und Kaliforniens heben sich ständig und so weiter. Das passt in das Bild ineinander übergehender und sich vermischender großer und kleiner Zyklen – sowohl in Bezug auf die Wurzelrassen als auch auf die Kontinente. Teile Kaliforniens, Ceylons und Australiens fallen in einen überlappenden geologischen Zyklus, der bis zur dritten Wurzelrasse zurückreicht.
Diese geologischen Anzeichen von Zuständen, die wir und Mutter Erde gemeinsam erlebten, haben mehr als nur eine wissenschaftliche Bedeutung. Zurückblickend geben sie uns eine panoramische Vision von der Reise der Seele. Der spirituelle Plan, der den Hintergrund der gesamten Vorstellung bildet, erhebt und veredelt den Pfad unseres täglichen Lebens. Die Vergangenheit, das Heute und die Zukunft sind das ewige JETZT für den inneren Menschen, der seine Zyklen außerhalb der Grenzen der Zeit – in der grenzenlosen Ewigkeit – vollendet. Zu jedem Menschen spricht Die Stimme der Stille:
Deine Schatten leben und vergehen. Das, was in dir für immer leben wird, das, was in dir weiß, weil es Wissen ist, ist nicht von flüchtigem Leben: Es ist der Mensch, der war, der ist und sein wird, für den die Stunde niemals schlägt.
– S. 48
Archäologie und die Rückkehr von Zivilisationen
Die Bewegung der physischen Erde wird, der alten Lehre zufolge, von einer gleichen Bewegung in der Welt des Intellekts begleitet – die spirituelle Evolution der Welt schreitet wie die physische in Zyklen voran.
So erkennen wir in der Geschichte einen steten Wechsel von Ebbe und Flut in den Gezeiten des menschlichen Fortschritts. Die großen Kaiser- und Königreiche der Welt sinken wieder zusammen, nachdem sie den Gipfel ihrer Größe erreicht haben, in Übereinstimmung mit demselben Gesetz, demzufolge sie emporgestiegen sind, bis die Menschheit schließlich, nachdem sie den tiefsten Punkt durchschritten hat, sich wieder aufmacht und erneut emporsteigt, wobei der Stand des von ihr Errungenen dem Gesetz der aufsteigenden zyklischen Evolution entsprechend etwas höher ist als der Punkt, von dem aus sie zuvor herabstieg.
– Isis Unveiled, I: 34.
Aber diese Zyklen – Räder innerhalb von Rädern, … betreffen nicht die gesamte Menschheit zu ein- und derselben Zeit. Daraus resultiert, wie wir sehen, die Schwierigkeit, sie zu verstehen und zwischen ihnen zu unterscheiden. Das betrifft insbesondere ihre körperlichen und spirituellen Auswirkungen, wenn wir ihre Beziehung zur betreffenden Stellung der Nationen und Rassen in ihrem Schicksal und in ihrer Evolution und ihre Auswirkung auf sie nicht vollständig verstanden haben. Dieses System kann nicht verstanden werden, wenn die spirituellen Auswirkungen dieser Perioden – sozusagen vom karmischen Gesetz vorherbestimmt – von ihrem physischen Lauf getrennt betrachtet werden.
– The Secret Doctrine, I: 641-642
Ein ganzes Buch könnte über die Tatsachen geschrieben werden, welche in dieser Zitatstelle dargestellt sind. Nicht einmal eine ganze Reihe von Bänden würde für dieses besonders interessante Thema ausreichen, das teilweise in diesem kleinen Buch umrissen wird. Die Lehren der Geheimlehre sind keine Theorien oder hypothetischen Halbwahrheiten. Es sind in der Tat konkrete Berichte, welche die Jahrhunderte hindurch von den am höchsten entwickelten und edelsten Menschen der Rasse aufbewahrt wurden. Diese Berichte sind sicher in den geheimen Büchern der Großen Weißen Loge der Meister aufbewahrt, die H. P. Blavatsky als Botin zu ihren Mitmenschen sandten.
Was diese alten Aufzeichnungen über die Urgeschichte erzählen, stellt alles, was historisch über die Lebensgeschichte des Menschen und der Erde bekannt ist, in den Schatten. In der großartigen Perspektive des Ganzen finden alle die verwirrenden Angaben über Evolution, Archäologie, Geologie und so weiter ihren logischen Platz und Zeitpunkt. Ein bedeutsames Beispiel in diesem Schema ist die Tatsache, dass im Prozess des menschlichen Fortschritts nicht alle Menschen gemeinsam und gleichzeitig dasselbe Niveau erreichen. Das ist eine Erklärung für die gleichzeitig in denselben geologischen Schichten auftretenden archäologischen Funde von hohen und niedrigen Zivilisationen. Das erklärt auch das Auftreten von übereinander gebauten Städten, wobei die unteren Schichten einen höheren Entwicklungsgrad aufweisen als die oberen.
In verschiedenen Teilen der Welt gab es zur gleichen Zeit Höhlenbewohner, Pfahlbauten, nomadische Jäger, Hirtenvölker und blühende Zivilisationen, die alle ihre eigene, spezielle Evolutionsphase durchliefen.
Es ist völlig natürlich, dass sich Mitglieder der menschlichen Rasse entsprechend ihrer allgemeinen Evolutionsstufe zu kleineren oder größeren Gruppen zusammenschließen. Darüber hinaus ist ein gleichzeitiger Zusammenschluss von Gruppen verschiedener Stufen eine allgemeine Lebensregel. Wir müssen nur an den Schulunterricht denken, von der Grundschule bis hin zu den Universitäten sind die Schüler und Studenten in Gruppen und Klassen eingeteilt. Diese Analogie gilt für die gesamte Menschheitsfamilie als Rasse, wo wir gleichzeitig Vertreter für die Phase der Kindheit, der Jugend, das Erwachsenenalter und das Alter finden können – alle durchlaufen ihre Entwicklung gemeinsam. Die Menschheit hat und hatte immer ihre unterschiedlichen Altersgruppen evolutionären Wachstums. Jede Gruppe erarbeitet ihren rechtmäßigen ‘Platz an der Sonne’ mentaler und spiritueller Erleuchtung. Es ist alles genauso natürlich wie die Tatsache, dass an einem Ort der Tag anbricht, während die Sonne zur gleichen Zeit an einem anderen Ort hoch am Himmel steht, am nächsten Ort untergeht und schließlich an einem weiteren Platz nur schwach vom Mitternachtsmond reflektiert wird – und das alles auf dieser einen Welt.
Evolution ist nur ein anderes Wort für zyklische Gesetzmäßigkeit. Die Rasse bewegt sich nicht en masse in einer linearen Evolution. Diese Tatsache ist offensichtlich, wenn man die Gezeiten der menschlichen Entwicklung beobachtet, die an verschiedenen Orten der modernen Welt ihre Perioden von Ebbe und Flut durchläuft. Die sich gegenüberstehenden Tiden sind für den Beobachter selbstverständlich geworden, nachdem die Luftfahrt und die Medien die Welt zu einem Dorf gemacht haben. Versuchen wir uns einmal einen Piloten bei einem Flug um die Welt vorzustellen, der einen Film über die menschlichen Lebensumstände dreht. Er würde die größten Kontraste finden, lebendige Beispiele sämtlicher mentaler, moralischer und materieller Schichten – von einem barbarischen bis zum hochgebildeten Stadium. Würde diese moderne Welt plötzlich von einer Naturkatastrophe überwältigt und alles in statu quo bewahrt, wie es in Pompei der Fall war, dann würden die Archäologen einer fernen Zukunft eine begrabene, ebenso paradoxe Vergangenheit vorfinden, wie es jetzt bei Ausgrabungen geschieht.
So wie der Mensch von der rotierenden Erde in ihren Bewegungen von einem Tag zum anderen mitgeführt wird und immer wieder seine Arbeit vom vorigen Tag aufnimmt, so erscheinen und verschwinden auch ganze Zivilisationen, die eine Blütezeit erleben und verfallen. Jedes reinkarnierende Ego wird zur richtigen Zeit karmisch wieder an den Ort und zu den Umständen zur Erde hingezogen, wo es den nächsten Schritt auf dem Wege zu weiterer menschlicher Vervollkommnung machen kann. Wie schnell und wie weit ein Mensch während einer einzigen Lebensperiode geht, hängt einzig und allein von ihm selbst ab. Umstände, die für einen schwachen Charakter ein Hindernis darstellen, können für einen anderen Menschen mit einem starken Willen eine Sprosse auf der emporsteigenden Leiter bedeuten. Jeder Mensch wird mit dem Charakter geboren, den er sich selbst geschaffen hat, und jedes Leben bietet Chancen, um mehr von seiner inneren Kraft und Kenntnis hervorzubringen. Das karmische Gesetz begeht keine Irrtümer bei der Zusammenführung von Menschengruppen in einer bestimmten Phase einer Zivilisation. Ebenso wie die Durchschnittsmenschen sind die Höchsten und Niedersten mehr oder weniger eng durch persönliches, nationales und Rassen-Karma miteinander verbunden.
Die bereits weiter oben erwähnten, an verschiedenen Stellen gemachten Funde übereinander gebauter Städte unterschiedlicher kultureller Entwicklungsstufen sind der Beweis für die lebendige Ebbe und Flut des menschlichen Daseins. Die rätselhafte Situation ist ein Anzeichen für den natürlichen zyklischen Lauf der Evolution. Diese ‘Funde’ sind gewöhnlich Wohnorte von Menschen unterschiedlicher Entwicklungsstufen und wurden Schicht um Schicht durch den Staub der Jahrhunderte voneinander getrennt. Die Frage lautet nicht nur, wer diese vergessenen Menschen waren, sondern auch, warum sie alle zur selben Stelle hingezogen wurden, um sich dort niederzulassen? Vielleicht war es ein günstiger Ort für die allgemeinen Interessen einer Gemeinschaft. Möglicherweise reinkarnierten manche von ihnen in mehreren der verschiedenen Schichten. Höchstwahrscheinlich stellte jede Schicht einen kleinerer Zyklus in einem größeren Zyklus dar – mit einem für das Ganze gültigen Ziel. In diesem Fall würde die erste Stadt etwas von ihrem Einfluss hinterlassen, von dem die später kommenden Menschen unbewusst angezogen wurden, die sich dort gemeinsam niederließen. Der denkende Mensch hinterlässt nicht nur auf der materiellen Erde seinen Eindruck. Die vitalen Eindrücke seines inneren Gedanken- und Gefühlslebens spiegeln sich in dem ihn umgebenden Astrallicht wider, das alle diese Bilder festhält. So haben die Bewohner neben greifbaren Überresten in verschiedenen Schichten der Wohnorte und in der Umwelt einen Eindruck einer bestimmten psycho-magnetischen Qualität hinterlassen, die eine ungreifbare Anziehungskraft auf andere Seelen hatte.
Auf dem Gebiet der Entdeckungen dieser alten Wohngebiete ist viel geschehen, seit H. P. Blavatsky im Jahr 1888 darüber schrieb:
Die Überlieferung behauptet, und die Archäologie geht von der Richtigkeit der Legende aus, dass es mehr als eine blühende Stadt in Indien gibt, welche auf verschiedenen anderen Städten aufgebaut ist und so eine sechs oder sieben Stockwerke hohe unterirdische Stadt bildet. Delhi ist eine von ihnen, Allahabad eine andere; Beispiele finden sich selbst in Europa, wie in Florenz, welches auf verschiedenen erloschenen etruskischen und anderen Städten aufgebaut ist.
– The Secret Doctrine, II: 220-221
Manche dieser versunkenen Städte haben zu der Erkenntnis beigetragen, dass vieles, was man für legendäre Ereignisse und mythische Gestalten hielt, auf Tatsachen einer ungeschriebenen Vergangenheit gründet. So wird beispielsweise berichtet, dass der oft erwähnte Hügel von Hissarlik, auf dem Troja lag, die Lage der homerischen Stadt enthüllt, „die siebente von unten in einer Gruppe von neun Städten, die zusammen den Hügel bilden“.
Dieselbe Autorin fügt noch hinzu, dass es in Amerika antike Städte gäbe, die nicht einmal eine legendäre Geschichte haben. Sie sagt darüber Folgendes:
Überall entlang der Küste von Peru, auf der ganzen Landenge und in ganz Nordamerika, in den Canyons der Cordilleren, in den unpassierbaren Schluchten der Anden und besonders jenseits des Tales von Mexiko liegen – in Ruinen und verlassen – hunderte einst mächtiger Städte, dem Gedächtnis der Menschen verloren und selbst namenlos geworden. … Bezüglich prähistorischer Bauten sind sowohl Peru als auch Mexiko Rivalen von Ägypten. Die Bauten Perus, die in ihrer Größe den zyklopenartigen Strukturen Ägyptens gleichen, übersteigen die Zahl der ägyptischen. … öffentliche Gebäude, wie Mauern, Festungen, Terrassen, Bewässerungsanlagen, Aquädukte, Brücken, Tempel, Friedhöfe, ganze Städte und vorzüglich angelegte, hunderte Meilen lange Straßen erstrecken sich in einer ununterbrochenen Linie und bedecken das Land beinahe wie ein Netz. … Über die vielen Generationen der Völker, die sie erbauten, weiß die Geschichte nichts und sogar die Tradition schweigt. … Ganze Wälder sind aus den gebrochenen Herzen der Städte emporgewachsen, und mit wenigen Ausnahmen liegt alles in Trümmern. Aber über das, was einmal war, kann man sich durch das, was noch übrig ist, ein Bild machen.
– The Theosophist, „A Land of Mystery“
Es liegt ein gewisser Pathos in dem Gedanken „der gebrochenen Herzen der Städte“, in denen einst der vitale Strom menschlichen Lebens pulsierte und sich mit der Ebbe und Flut von Hoffnungen und Ängsten, Sehnsüchten und Wünschen, Freuden und Sorgen – wie unsere eigenen – bewegte. Die Archäologie ist kein trockenes Studium, wenn wir die Fortsetzungsgeschichte menschlichen Lebens auf der Erde zu lesen beginnen. Diese ausgegrabenen Häuser, Tempel und Schlachtfelder sind die zerstreuten Kapitel der Geschichte – unsere eigene Vergangenheit.
Die menschliche Natur spielt immer dieselbe duale Rolle im Drama eines Gottes, der im Körper eines Tieres wohnt. Die gewöhnlichen archäologischen ‘Funde’ sowohl von Altären als auch von Waffen sind Symbole derselben gegensätzlichen Impulse, die uns bei unseren heutigen Formen von Gottesdienst und Konflikt bewegen. Manchmal sind es nur ein paar Scherben prähistorischen Steinguts, die inmitten alter Küchen gefunden wurden, die uns etwas von der künstlerischen Seite des Lebens eines unbekannten Volkes erzählen. So sind die Kunst und die Archäologie miteinander verbunden, um einen Beweis unseres Erbes von kreativer Schönheit zu überliefern, die uns Menschen im Blut liegt. Wie könnten sonst viele von uns, die künstlerisch nicht gebildet sind, so oft durch die in Farbe, Linie oder Laut zum Ausdruck gebrachte Harmonie begeistert werden, wenn wir so etwas nicht schon früher gekannt oder empfunden hätten? Unsere angeborenen Ideale sind oft das spirituelle Aroma von Erfahrungsperioden, an die sich das innere Selbst erinnert. Das neue Gehirn, das bei jeder Inkarnation entsteht, hat daran keine Erinnerung. Aber die überdauernde Seele erntet und speichert das Beste aus jeder Runde.
Ein Gegenstand anhaltenden Interesses ist der Ort der Wiege der Menschheit. Natürlich waren die Kontinente der ersten vier Rassen verschwunden, und neue Länder lagen bereit, als die Zeit für die evolvierenden Egos unserer fünften Wurzelrasse reif war, um ihre Zyklen zu beginnen. Die wissenschaftliche Idee, dass die Zivilisation ihren Ursprung dort nahm, wo sich heute die großen Hochebenen von Zentralasien ausbreiten, und die theologische Überlieferung vom Garten Eden beziehen sich beide auf die Heimat unserer heutigen fünften Wurzelrasse. Die alten Aufzeichnungen berichten von einer ausgedehnten Heimat in Zentralasien, mit zwei weit auseinander liegenden Perioden rassischer Geschichte. Der Keim der arischen Rasse reicht weit zurück, bis zu bestimmten, damals zu atlantischen Stämmen gehörenden Egos. Dieser erste Stamm verließ den Kontinent der mächtigen Zauberer und wanderte in aufeinander folgenden Wellen, unter spiritueller Leitung, zu den sich damals erhebenden Ländern Zentralasiens, wo heute die Wüste Gobi liegt. Dieses riesige Kontinentalsystem war damals eine Sammlung wunderschöner, fruchtbarer Länder, mit einem milden und gleichmäßigen Klima und mit kleinen und großen Inseln in den umliegenden Meeren. HPB spricht von einem Binnenmeer, das für heilig gehalten und ‘der Abgrund des Lernens’ genannt wurde (The Secret Doctrine, II: 502). Die heiligen Schriften berichten von den wunderbaren Zivilisationen, die dort entstanden und jahrhundertelang blühten.
Später, als die Zeitzyklen dahinrollten, erhob sich das Land, das Meer wich zurück, das fruchtbare Land wurde dürr und das Klima unerträglich. Das Volk wanderte wieder zu neu entstandenen Ländern und breitete sich nach Westen, Osten und Süden aus. Diese Zerstreuung der alten Kultur in neue Länder setzte sich tausende und abertausende von Jahren fort. Im Laufe der Zeit ging die Kenntnis über die frühen asiatischen Zivilisationen verloren, bis sogar ihre Geschichte legendär wurde. Die Emigranten waren jenes Volk, welches später die Chinesen, die Tartaren, die Hindus, die Assyrier, die Babylonier, die Perser, die Griechen, die Römer, die Kelten und die germanischen und skandinavischen Stämme hervorbrachte.
Der gegenwärtige Drang der Archäologen, diese im Halbdunkel liegenden Pfade der Vergangenheit zu untersuchen, stimmt mit dem neuen Zyklus des spirituellen Erwachens und mit dem Wiedergewinnen des heiligen Wissens über das erhabene Ziel überein, das in unzähligen Inkarnationen angestrebt wurde. Dr. de Purucker sagt in einem interessanten Artikel, dem wir die obigen Einzelheiten entnommen haben, Folgendes:
Ich glaube, dass unsere Archäologen und andere Wissenschaftler, wenn sie anfangen, in den vom Wind heimgesuchten Wüsten und den sandigen, unfruchtbaren Ebenen von Turkestan, Persien und Belutschistan zu graben, eines Tages Überreste finden werden, die zeigen, dass es eine Zivilisation gab, die dem, was wir jetzt kennen, zumindest ebenbürtig war, … .
Ein paar Jahrtausende vor der ältesten uns bekannten Geschichte von Griechenland, Kreta und Kleinasien existierte eine Zivilisation in jener Ebene, die heute dürre Gebiete Persiens darstellen. Was immer das alte Griechenland, Rom, Ägypten oder Babylon vorweisen konnte – es wäre beschämend gewesen gegenüber dieser Zivilisation, die sogar vornehmer und erhabener als unsere war. Das war das Mutterland der griechischen und römischen Völker und der Bewohner der griechischen Kolonien in Süditalien. …
Zentralasien ist nicht nur die Wiege der Zivilisation unserer fünften Wurzelrasse, sondern unser Mutterland. In den ersten Anfängen – als die fünfte Wurzelrasse sie selbst wurde, als ein von Atlantis getrennter Stamm – war es dieses Land, in das die ersten Kolonisten der fünften Rasse zogen, um sich dort niederzulassen. In jener Zeit begann sich dieses Land aus den Wassern emporzuheben. Von seinen hohen Ebenen und Plateaus aus versuchten die aufkommenden neuen Rassen sich im Laufe der Jahrhunderte von den dämonischen Praktiken ihrer eigenen atlantischen Vorfahren zu befreien, die nun ihrem Untergang entgegengingen. Dort wohnte die frühe fünfte Rasse, geschützt durch Karma, geschützt von der Loge. Eine Unterrasse folgte der nächsten, während sie langsam von Unwissenheit zu Wissen und von Wissen zu einem Hauch von Weisheit emporstiegen – und zu dessen Missbrauch, bis wir schließlich unser Kali-Yuga2 erreichten und damit begannen, die Rechnung zu begleichen. Wann werden die Menschen lernen, dass der einzige Weg zu Glück und Frieden, zu Wohlstand und größerem Besitz, sowohl spirituell als auch materiell, in Gehorsam gegenüber dem spirituellen und moralischen Gesetz und im Dienen liegt. … Selbstsucht besiegt ihre eigenen Ziele.
– The Theosophical Forum, Juni 1937
Dieses Licht, das auf eine wunderbare Vergangenheit in Zentralasien geworfen wird, appelliert an unsere Intuition, da diese Ereignisse zu unserer eigenen Geschichte gehören. Die Durchschnittsmenschen, du und ich, waren ‘von Anfang an’ Egos dieser menschlichen Lebenswoge. Wenn wir zurückblicken, weitet sich unser mentaler Horizont bei dem Gedanken an das endlose Drehen von Rädern in Rädern während unserer vergangenen Leben aus. Die vielen Inkarnationen waren nichts anderes als kleine Zyklen entlang der großen Spirale dieser fünften Wurzelrasse, die noch in ihrer Blüte steht. Wir sehen in unserer Vorstellung diesen asiatischen Brennpunkt der Zivilisationen, der sein menschliches Licht und Leben mittels der wandernden Gruppen ausstrahlt, deren Kulturen zu den verschiedenen charakteristischen Nationen evolvierten. Es muss einst Berührungspunkte zwischen den Egos gegeben haben – und sie müssen auch heute noch existieren –, die von dort aus für ein oder für mehrere Leben getrennte Wege gingen.
Der chaotische Zustand einander durchdringender Einflüsse während des Verfalls des römischen Kaiserreichs könnte sehr wohl der karmischen Wiederholung alter Verbindungen zuzuschreiben sein. Zu jener Zeit kam einige Bewegung und Unsicherheit in die starren Formen von Religion und Gewohnheiten. Das sonderbare Gemisch von Denkweisen und Charakteren war ursprünglich indisch, druidisch, germanisch, syrisch, persisch und von noch anderer Art – alles typische nationale Ausdrucksformen der menschlichen Vernunft und der menschlichen Emotionen. Heute ist Amerika ein solcher ‘Schmelztiegel’ der Nationalitäten. Werden nicht auch hier jahrhundertealte Verbindungen erneuert – diesmal in dem Bewusstsein, dass wir aus alten Fehlern lernen und mit größerer Weisheit das allgemeine Wohlergehen mitaufbauen müssen? Besonders in der Neuen Welt ist das Leben der frühreifen Generationen bewegt, ruhelos, dynamisch, suchend – empfindsam für weitreichende Impulse, zum Guten oder zum Bösen.
Da der gegenwärtige Zustand der Welt vorhergesehen wurde, wurden Maßnahmen getroffen, um das befreiende Licht der Wahrheit so scheinen zu lassen, dass wir gemäß den Zeichen der Zeit zu verstehen beginnen, worum es in Wirklichkeit geht. Die große Weiße Loge, die Lehrer sandte, um unsere junge Rasse von dem zum Untergang verurteilten Atlantis in die asiatischen Länder zu führen, sandte H. P. Blavatsky mit dem Alten Wissen, damit wir mit dessen Hilfe einen ‘Ausweg’ aus dem Labyrinth unserer selbstsüchtigen Fehler ‘finden’. Unsere Menschheit ist ihrem unverantwortlichen Kindheitsstadium entwachsen, und sie muss diesen zyklischen Wendepunkt mit selbstbewusstem Willen und den richtigen Motiven in Angriff nehmen.
Es war ein Teil des großen Plans für Universale Bruderschaft, dass das frische Land der Neuen Welt der Geburtsort der Theosophischen Gesellschaft sein sollte. Es war kein Zufall, dass hundert Jahre zuvor dem Siegel der Vereinigten Staaten die Inschrift eingraviert wurde: Annuit coeptis. Novus ordo seclorum (Er [Gott] hat unser Unterfangen begünstigt. Die neue Ordnung der Zeitalter). Damals nahm eine neue Ordnung der Zeitalter auf ihrer großartigen Reise entlang des aufsteigenden Bogens ihren Anfang. Es war ein Teil der Arbeit, die am Ende eines jeden Jahrhunderts für die Menschheit geleistet wird und die ihren Ausgangspunkt ‘hinter den Kulissen’ hat. Auch in Europa wurden rechtzeitig Anstrengungen unternommen, um die Machthaber vor den bevorstehenden Katastrophen zu warnen. Die Boten versuchten jene Menschen, die geheime Methoden zur Erlangung von Reichtum, Macht und langem Leben anwendeten, wachzurütteln und sie darauf hinzuweisen, dass der wahre ‘Stein der Weisen’ in unserer eigenen spirituellen Natur verschlossen liegt. Aber die Warnungen und die edlen und außergewöhnlichen Werke von Cagliostro, Mesmer und Saint-Germain wurden nur von ‘den Wenigen’ verstanden.
Es ist bedeutungsvoll, dass die äußere Arbeit der Großen Loge am Ende des neunzehnten Jahrhunderts von der Theosophischen Bewegung in das 20. Jahrhundert hinüber getragen wurde. Zum ersten Mal seit dem vierzehnten Jahrhundert wurde das ‘Licht aus dem Osten’ im Westen heller und stärker. Es wird von immer mehr vorwärts strebenden Menschen erkannt. Wir finden Hinweise für die wichtigeren Kernfragen, die tief in dem sich ändernden Lauf der Dinge liegen. Zum Beispiel:
… die Okkulte Philosophie lehrt, dass sich sogar jetzt, gerade unter unseren Augen, die Entstehung einer neuen Rasse und neuer Rassen vorbereitet, deren Umwandlung in Amerika stattfinden wird und die bereits im Stillen begonnen hat.
Reine Angelsachsen vor kaum dreihundert Jahren, sind die Amerikaner der Vereinigten Staaten bereits eine Nation für sich geworden; und infolge einer starken Beimischung verschiedener Nationalitäten und von Mischehen sind sie beinahe zu einer Rasse sui generis geworden, nicht nur mental, sondern auch physisch. …
So sind die Amerikaner innerhalb von nur drei Jahrhunderten eine „ursprüngliche Rasse“ geworden, pro tem., bevor sie eine Rasse für sich und streng getrennt von allen anderen jetzt existierenden Rassen werden.
– The Secret Doctrine, II: 444
Zyklen der Sprache
… So wie Sprachen ihre zyklische Entwicklung haben, ihre Kindheit, Reinheit, ihr Wachstum, ihren Fall in die Materie, ihre Vermischung mit anderen Sprachen, ihre Reife, ihren Verfall und schließlichen Tod, so verfiel die ursprüngliche Sprache der höchstzivilisierten atlantischen Rassen – jene Sprache, welche in alten Sanskritwerken als „Rākshasi-bhāshā“ bezeichnet wird – und starb fast aus. Während die „Auslese“ der vierten Rasse immer mehr dem Höhepunkt physischer und intellektueller Evolution zustrebte und so der entstehenden fünften (arischen) Rasse die flektierenden, hochentwickelten Sprachen als Erbe hinterließ, verfielen die agglutinierenden und blieben als ein bruchstückhaftes fossiles Idiom zurück, das jetzt zerstreut und nahezu auf die eingeborenen Stämme Amerikas beschränkt ist.
– The Secret Doctrine, II: 199
… Aber eine Sprache, die zyklisch fortschreitet, ist nicht immer geeigent, spirituelle Gedanken zum Ausdruck zu bringen.
– Ebenda, Fußnote
Das Gehör war der erste der fünf Sinne der Menschheit, die sich entwickeln sollten. Die Sprache war dazu bestimmt, ihre wichtige Rolle in den immer wiederkehrenden ‘Ereignissen’ des sich auf der Erde entfaltenden Lebens zu spielen. Da Sprache gleichrangig mit dem Verstand ist, ähnelten die Laute, welche die ersten Rassen hervorbrachten, bevor das Feuer des Denkens von den Sonnengöttern entzündet wurde, mehr Naturlauten als einer artikulierten Sprache. Die letzten Unterrassen der dritten Rasse, die unter der Leitung ihrer göttlichen Lehrer ganze Städte bauten und Zivilisationen entstehen ließen, benutzten nur eine einsilbige Sprache.
Selbstverständlich hielt die Entwicklung der Stimme als Mittel zum Ausdruck menschlicher Gedanken und Gefühle mit der zyklischen Ausweitung des Bewusstseins Schritt. Während der Mensch seine menschliche Natur mehr und mehr entwickelte, eignete er sich allmählich die Mittel an, die ihn befähigten, seine Sprache zu erweitern. Zur Zeit der späten Vierten Rasse hatten sich die ersten flektierenden Sprachen entwickelt. Diese Sprachen – von der überlappenden frühen fünften Wurzelrasse übernommen – wurden die Wurzel des Sanskrit. Die Devanāgarī-Schrift wurde von den Kabiri erfunden (siehe The Secret Doctrine, II: 364).
H. P. Blavatsky sagt über ihr großes Werk Die Geheimlehre:
Der Versuch, in einer europäischen Sprache das große Panorama des ewig periodischen Gesetzes darzustellen – das dem plastischen Denkvermögen der ersten mit Bewusstsein begabten Rassen von jenen eingeprägt wurde, die es aus dem Universalen Denken reflektierten –, ist ein Wagnis, denn keine menschliche Sprache, ausgenommen Sanskrit – welches die Sprache der Götter ist –, vermag das auch nur annähernd.
– The Secret Doctrine, I: 269
Der antike Ursprung des Sanskrit wird in einem Artikel mit dem Titel „War das Schreiben vor Pānini bekannt?“ dargestellt, den man in Five Years of Theosophy finden kann (Ausgabe 1885, S. 419-20). In diesem von einem ‘Chela’ geschriebenen Artikel wird erklärt, dass das klassische Sanskrit nicht von dem berühmten Grammatiker Pānini erschaffen, sondern lediglich von ihm verbessert und möglicherweise vervollkommnet wurde. Diese Sprache hatte bereits seit vielen Zyklen existiert und würde auch weiterhin eine Rolle spielen. Der Autor fährt fort:
Jeder sieht – muss es einfach sehen und wissen –, dass eine Sprache, die so alt und so vollkommen ist wie das Sanskrit, um als einzige unter allen Sprachen zu überleben, Zyklen der Vervollkommnung und Zyklen des Verfalls durchlebt haben muss. Und mit ein wenig Intuition kann man erkennen, dass das, was man eine „tote Sprache“ nennt, als etwas Abnormales, etwas Unnützes, in der Natur nicht überlebt hätte, auch nicht als „tote“ Sprache, wenn sie nicht ihren bestimmten Zweck im Reich der unveränderlichen zyklischen Gesetze hätte. Das der Welt beinahe verloren gegangene Sanskrit breitet sich nur langsam wieder in Europa aus und wird eines Tages wieder dieselbe Verbreitung haben wie vor vielen Jahrtausenden – die einer universalen Sprache. Dasselbe gilt für Griechisch und Latein: Es kommt die Zeit, in der das Griechisch des Aischylos (und in seiner künftigen Form sogar perfekter als heute) in Südeuropa von allen gesprochen werden wird, während Sanskrit in seinem periodischen Pralaya ruhen wird; und die attische Sprache wird später vom Latein des Virgil gefolgt werden.
In Übereinstimmung mit den oben gegebenen Informationen sollte diese heilige Sprache – die aus dem nach innen gekehrten und philosophischen Osten gebracht wurde – erhalten bleiben und gemeinsam mit der Alten Weisheit einen neuen Aufstieg erleben. Als die Theosophische Gesellschaft im Jahr 1875 gegründet wurde, waren die Lehren für den prosaischen Westen so neu, dass man oft keine geeigneten Worte fand. So wurden zur Erklärung von tiefgehenderen oder universaleren Begriffen in der Literatur und in Vorträgen Sanskritworte gebraucht. Das Wort Karma (oder besser Karman, obwohl beide Wörter gebraucht werden) mit der Bedeutung ‘Handlung’, ‘Folge’ oder ‘Ursache und Wirkung’ wurde bald allgemein gebraucht, besonders in Zusammenhang mit dem menschlichen Leben. Dieses eine Wort beinhaltet die Bedeutung des biblischen Satzes: „Was der Mensch sät, das wird er ernten.“ Außerdem wurde der logische Vorgang des Erntens durch die periodische Aufeinanderfolge von Reinkarnationen erklärt, obwohl die Lehre von den Zyklen damals weniger betont wurde als heute, wo sie sowohl in der Wissenschaft als auch in der Philosophie anerkannt wird. Anfangs jedoch stießen die Fremdwörter auf viel Kritik, wie sich aus W.Q. Judges prophetischer Anwort an einen Reporter ersehen lässt:
Das Sanskrit wird einst wieder die Sprache sein, die von den Menschen auf der Erde angewendet wird – zunächst in der Wissenschaft und Metaphysik und später auch im täglichen Leben. Selbst der geistreiche Autor der Sun wird es noch erleben, wie die Ausdrücke, die jetzt in dieser edelsten der Sprachen erhalten sind, in die Literatur und Tagespresse Einzug halten, wie sie in Artikeln aufkreuzen und in verschiedenen Büchern und Vorträgen erscheinen. … So wird diese neue Sprache … eine Sprache sein, die in allem, was eine Sprache ausmacht, wissenschaftlich ist und die von Zeitaltern des Studiums der Metaphysik und wahrer Wissenschaften angereichert wurde.
– The Path, I, 58
Das Vertrauen, das William Quan Judge in die Aufnahme von Sanskrit-Begriffen in westliche Sprachen hatte, wurde ganz und gar gerechtfertigt. Sie treten nicht nur in der Presse und der heutigen Literatur auf, sondern an den Universitäten erfreuen sich Sanskrit-Lehrgänge einer wachsenden Popularität. Das bedeutet mehr als bloßes literarisches „Licht aus dem Osten“ zu erhalten. Es zeigt eine wachsende Notwendigkeit für Begriffe, um größeren Idealen und tieferen Gefühlen von Männern und Frauen, die nach Wahrheit und Licht suchen, Worte zu verleihen. Diese Suchenden sind es, die den Kern einer Unterrasse des neuen Zyklus mit seiner Unterströmung natürlicher Mystik bilden und dabei ihr eigenes, schlummmerndes Bewusstsein einer inneren Realität erwecken werden.
Die Wiederbelebung dieser alten Sprache bewirkt eine bessere Beziehung zwischen der denkenden Welt des mystischen, nach innen gewandten Ostens und dem praktischen, intellektuellen Westen. Beide Welten haben einander viel Wertvolles zu schenken und können gegenseitig davon profitieren. H. P. Blavatskys Verständnis für die inneren Schätze der Wahrheit, die im Besitz gelehrter indischer Pandits war, sicherte ihr und ihrer Arbeit die Unterstützung einiger der besten indischen Gelehrten und gebildetsten Bürger. Sie beteiligte sich schon bald an der Gründung von Schulen für indische Jungen und später für Mädchen, an denen Sanskrit unterrichtet wurde – zu jener Zeit etwas völlig Neues. Diese Arbeit, die in den frühen Ausgaben ihres Magazins The Theosophist beschrieben wird, ist typisch für ihre Methoden, einen Kern für eine universale Bruderschaft zu bilden. Anstatt den verschiedenen Völkern eine neue Religion oder eine fremdartige Philosophie zu bringen, richtete sie ihren Appell an jeden einzelnen, um sie alle auf die verborgenen und befreienden Wahrheiten in ihren eigenen Lehren zu verweisen. Die Vibrationen ihres Leitgedankens des internationalen Verständnisses sind seitdem lebendig geblieben und klingen heute stärker und klarer als je zuvor – ein hoffnungsvoller Beginn der Harmonie in einer chaotischen Welt.
Worte sind lebendige Dinge. Eine Sprache spiegelt die Zeit, die Ereignisse und den Charakter des Volkes wider, in dem sie als Mittel zum Austausch von Gedanken und Gefühlen gebraucht wird. Ein fast alltägliches Beispiel liefern neue Worte und Schlagworte, die auf typische Weise entstehen, eine Spiegelung des modernen Lebens mit seiner Unruhe und seinen Spannungen darstellen und nach einiger Zeit ihren Platz im offiziellen Sprachgebrauch einnehmen.
Die Sprache ist einer der wertvollen Schlüssel der Ethnologen. Manche von ihnen, die die Evolution als eine mehr oder weniger durchgehende Bewegung sehen, können nicht verstehen, dass bestimmte barbarische und wilde Stämme auftreten, die – wenn auch unvollkommen – sowohl dem Wortschatz als auch dem Satzbau nach eine komplizierte Sprache sprechen. Würden diese Völker einem affenartigen Urahnen näher stehen als einem Europäer, wäre ihre Sprache dementsprechend primitiv und einfach. Dieser scheinbare Widerspruch erweist sich jedoch als ein Paradoxon, das durch das Gesetz der Zyklen erklärt werden kann. Diese Fälle bilden einen deutlichen Beweis für den spiralförmigen Verlauf der Evolution, dem die großen Runden und Rassen folgen. Diese Völker befinden sich auf der letzten Umdrehung eines Rades von unsagbarem Alter.
Man weiß zum Beispiel, dass australische Ureinwohner „eine komplizierte Grammatik mit drei Geschlechtern gebrauchen“. Einige dort lebende Weiße, die Sympathie und Verständnis für die einheimischen Menschen haben, sind der Auffassung, dass ihre Natur Wesenszüge aufweist, die sie in die Lage versetzt, äußerst dürftigen äußeren Umständen die Stirn zu bieten und zu überleben. Jedem Menschen ist es bestimmt, letztendlich Vollkommenheit zu erreichen. Die Natur arbeitet getreu dem Universalplan, damit wir dieses Ziel selbstbewusst erreichen.
Dr. de Purucker schreibt über die Hinweise, die wir in den Sprachen gewisser Völker auf verlorene Zivilisationen finden, in The Esoteric Tradition (S. 403, Fußnote Nr. 177):
Der springende Punkt ist dabei nicht, dass der Wilde oder Barbar diese Begriffe seiner Sprache versteht, sondern dass er sie nicht versteht, da es Wörter oder Namen aus der Vorgeschichte seiner Sprache sind. Seiner Auffassung nach sind sie entweder völlig unerklärlich oder es handelt sich um Wörter, die bei mystischen Stammes-Zeremonien gebraucht wurden, oder bei Stammes-Einweihungen, oder die in der Mythologie der Stämme zur Bezeichnung ihrer Gottheiten oder der Kräfte, Werkzeuge oder Instrumente der Götter benutzt wurden. Die Wörter wurden überliefert, aber ihre wirkliche Bedeutung geriet völlig in Vergessenheit.
Man darf aber nicht übersehen, dass solche linguistischen Fossilien außergewöhnlich selten vorkommen, soweit es sich um Dinge oder Ereignisse rein physischen oder materiellen Charakters handelt. Sehr zahlreich sind aber jene Fossilien, die mehr von abstrakten Dingen handeln, von solchen, die der Philosophie, der Religion, der Mystik und dergleichen angehören. Der Grund dafür ist, dass Wörter, die physische Dinge betreffen, eher und wahrscheinlicher aussterben und zwar mit dem Verschwinden der Dinge selbst, wenn diese nicht mehr in Gebrauch sind; dagegen bleiben Wörter der Religion oder Mystik erhalten.
Diese unglücklichen Mitmenschen liefern unbewusst den Beweis, dass etwas anderes als das menschliche Gehirn sich tatsächlich an die vergangenen Leben erinnert. Keiner kann seinen Prozess des ‘Werdegangs des Selbst’ in der astralen Schrift auf dem Bildschirm der Zeit ausradieren. Ebenso wenig kann ein Mensch ‘rückgängig’ machen, was er aus sich gemacht hat. Nur eine primitive oder verarmte Phantasie kann sich keine Vorstellung von der Allgegenwärtigkeit einer mystischen Realität machen. Die kulturellen Echos im Leben dieser Völker datieren sowohl aus der Zeit ihrer früheren Erfahrungen in Zyklen, in denen die Weisheit zunahm, als auch aus Perioden, in denen man sich der üblen Magie hingab.
Kreisläufe in Mensch und Kosmos
Die Sonne ist das Herz der Sonnenwelt (des Sonnensystems) und ihr Gehirn ist hinter der (sichtbaren) Sonne verborgen. Von da wird Empfindung in jedes Nervensystem des großen Körpers ausgestrahlt; und die Wogen der Lebensessenz strömen in jede Arterie und Vene … . Die Planeten sind ihre Glieder und Pulsschläge.
… es findet eine regelmäßige Zirkulation des Lebensfluidums durch unser ganzes System statt, von dem die Sonne das Herz ist – so wie die Zirkulation des Blutes im menschlichen Körper – während der manvantarischen Sonnenperiode oder Lebenszeit; die Sonne zieht sich bei jeder Rückkehr davon rhythmisch zusammen, so wie es das menschliche Herz tut.
– The Secret Doctrine, I: 541
Der kursiv geschriebene Teil dieses Zitats ist ein Kommentar aus den Archaischen Aufzeichnungen, ‘gesammelt von Generationen von Adepten’. Da die Geheimlehre auf diesen Aufzeichnungen basiert, wird die auffallende Ähnlichkeit zwischen dem Herzen der Sonne und dem des Menschen dort als ein logischer Teil der einen universalen Evolution dargestellt. Als das Buch herausgegeben wurde – ungefähr sieben Jahre vor der Entdeckung der Röntgenstrahlen –, prophezeite H. P. Blavatsky, dass man – könnte das lebendige und pochende Herz leuchtend und sichtbar gemacht werden – das Phänomen der Sonnenflecken sehen könnte, das sich in jeder Sekunde wiederholt. Später öffneten das wachsende Interesse und ein vertiefendes Studium von Sonnenflecken und elektromagnetischen und anderen Einflüssen der Himmelssphären den Weg zu immer weiteren alten Lehren, die den Menschen in Zusammenhang mit der universalen Natur bringen.
Unser Sonnensystem mit seiner Sonne und seinem Mond, mit älteren und jüngeren Planeten, Kometen, Nebelflecken und so weiter – sichtbar und unsichtbar – ist eine große kosmische Familie. Jeder leuchtende Globus verkörpert ein intelligentes Wesen, eine Gottheit bestimmten Grades, die ihren eigenen Zyklus von Erfahrung und Wachstum durchläuft. Auch unsere Erde verkörpert eine planetarische Wesenheit; und auch die Menschheit hat ihren gesetzmäßigen Platz in der Sonnenfamilie, denn
… die „Schlangen der Weisheit“ haben ihre Berichte wohl aufbewahrt, und die Geschichte der menschlichen Evolution ist am Himmel ebenso verzeichnet wie auf unterirdischen Mauern. Die Menschheit und die Sterne sind unauflöslich miteinander verbunden – wegen der Intelligenzen, welche die letzteren beherrschen.
– The Secret Doctrine, II: 352
Diese „Schlangen der Weisheit“ sind die wenigen am höchsten entwickelten spirituellen und intellektuellen Menschen jeder aufeinanderfolgenden Runde und Rasse. Durch Initiation in den Mysterienschulen lernten sie, die inneren Lehren über den Menschen und das Universum zu belegen. Die göttlichen Lehrer der jungen Menschheit führten den menschlichen Geist zur Erfindung aller Künste und Wissenschaften, durch welche der kreative Impuls wieder zum Vorschein kommt und in wiederkehrenden Zivilisationen tätig ist. Diese Lehren umfassten unter anderem Gesetze und Gesetzgebung, Architektur, Metallurgie, Landwirtschaft, die medizinische Anwendung von Pflanzen, verschiedene Arten der Magie, Astronomie und so weiter. Echos all dieser Dinge wurden in der inneren Atmosphäre der Erde aufbewahrt und bilden die Quelle angeborener Ideen, die das Denken der Menschen durchziehen. Jedes Ego muss seinen Teil des Zyklus von aufbauendem Wissen durchlaufen, indem es sich dessen in seinem Inneren bewusst wird. Es wird gesagt:
Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.
– Das Buch Kohelet, 1, 9
Jeder Mensch hat eine ewige Vergangenheit und eine grenzenlose Zukunft. Dass wir alle bei der majestätischen Prozession anwesend waren, die mit dem Lebenszyklus unserer Erde begann, bedeutet, dass wir das menschliche Stadium erreicht haben. Dies war der Moment, als „die Morgensterne zusammen sangen und alle Kinder Gottes vor Freude jauchzten“. Unter denen, die sich über die Geburt der jungen Menschheit freuten, waren unsere spirituellen Ahnen, die ihren eigenen menschlichen Zyklus vor sehr langer Zeit vollendet hatten. Sie sind sich eines karmischen Bandes mit uns bewusst, das nach ihrer Unterstützung ruft, damit wir ihnen auf dem vorbestimmten Pfad folgen.
Wie die Erde entlang ihrer zyklischen Bahn fortschreitet, so machen die Astronomen Fortschritte in ihrem Wissen. Die Technik hat sie dazu befähigt, in neue Gebiete des Universums vorzudringen. Sie entdeckten viele außergalaktische Systeme, die offensichtlich alle ihren eigenen Bahnen und ihrer eigenen Evolution folgen. Auch das deutet auf eine intelligente Leitung und ein gemeinsames Ziel hin. Schon der Gedanke an diese Tatsache erweitert das Denken, das hierin die Wirkung des Universalgesetzes zu erkennen vermag. Die harmonischen und geordneten Beziehungen zwischen den zahllosen Himmelskörpern zeigen den essentiellen Charakter von Zusammenarbeit und Ethik im Universum.
Die Bahnen der Himmelskörper bilden Spiralen von sehr komplizierter Art. Außerdem bringt die Sonne, indem sie ihre eigene Bahn beschreibt, die ganze Familie der sich drehenden Globen in neue Gebiete des Raums, wo sie nie zuvor waren und wohin sie auch nie wieder zurückkehren werden. Neue Bedingungen von Geist und Materie und ihrer Einflüsse nehmen ihren Anfang und vermischen sich mit denen der entschwindenden Vergangenheit.
Wir kommen auf den zuvor erwähnten Zyklus von 25 920 Jahren zurück, während dessen die Sonnenfamilie den Tierkreis durchläuft. Jedes Zeichen des Tierkreises hat einen anderen Einfluss auf die Erde und auf uns. H. P. Blavatsky sagte im Jahr 1887 darüber, dass – wenn wir in einigen Jahren in das Zeichen des Wassermanns eintreten – „die Psychologen zusätzliche Arbeit bekommen und die psychischen Eigenarten der Menschen am Anfang einer großen Veränderung stehen würden“ (Lucifer, I: 174). Ihre Worte haben sich durch die Zunahme von Geistes- und Nervenkrankheiten, die Sucht nach psychischen Phänomenen, die Anzahl sensitiver und mediumistisch veranlagter Menschen und so weiter bewahrheitet. Vor etwa hundert Jahren kamen diese Zustände viel seltener vor als heute.
Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wurde die Gedankenwelt von den gegensätzlichen Kräften eines wissenschaftlichen Materialismus und einer unlogischen Theologie beherrscht. Keine dieser beiden Kräfte war den Problemen der sich entfaltenden Natur des zusammengesetzten Menschen gewachsen, der in seiner Essenz mit dem Universum verbunden ist. Genauso wenig waren sie der psychologischen Phase der evolvierenden Menschheit gewachsen, die sich jetzt in den Störungen äußert, mit denen sich Ärzte, Politiker, Publizisten und auch der individuelle Mensch und Völker im Allgemeinen konfrontiert finden. Kurz gesagt, der selbstsüchtige, egozentrische Standpunkt der Menschen und Nationen liegt auf derselben Wellenlänge wie der mittelalterliche Glaube an eine flache Erde als dem Mittelpunkt einiger sie begleitender Globen. Die moderne Welt zeigt überdeutlich, wie sehr sie der praktischen Hilfe der Mystik der Alten bedarf. Unsere Staatsmänner könnten den Lauf der Geschichte ändern, wenn sie die Bedeutung sich wiederholender Ereignisse verstünden. Ein solches Wissen ist genauso wissenschaftlich wie die Voraussage eines kommenden Kometen oder Sterns. Wenn wir zum Beispiel auf die Zeichen des Jahres 1888 zurückblicken, lesen wir:
Es sind einfach Wissen und mathematisch korrekte Berechnungen, wodurch die WEISEN MÄNNER DES OSTENS zu der Vorhersage befähigt sind, dass zum Beispiel England am Vorabend dieser und jener Katastrophe steht; dass Frankreich sich einem solchen Punkt in seinem Zyklus nähert; und dass Europa im Allgemeinen von einer verheerenden Katastrophe bedroht ist oder vielmehr am Vorabend derselben steht, zu der es sein eigener Zyklus von Rassen-Karma geführt hat.
– The Secret Doctrine, I: 646
Die Meister der Weisheit lassen sich nicht auf Politik ein. Ihre Warnung betraf das, was in dieser durcheinander gebrachten Welt allmählich deutlich wird. Ihr rascher Fortschritt hat alle materiellen und spirituellen Interessen so miteinander verwoben und vermischt, dass die Welt ohne die brüderliche Sorge um das Wohlergehen der gesamten Menschheit nicht weitermachen kann. Die Meister, die den Zuständen in der Welt und den Einflüssen der Sterne so viel Beachtung schenken, kennen die Perioden des Tierkreises, in denen ihre Hilfe gebraucht wird. Darüber lesen wir:
Diesen Zyklus von 2 160 Jahren nennt man den Messianischen Zyklus – ein moderner Ausdruck, den man der Arbeit der Theosophischen Gesellschaft verdankt –, weil er die wiederkehrende Zeitperiode darstellt, zu deren Anfang oder Ende die Große Bruderschaft eine neue, ganz besondere spirituelle und intellektuelle Anstrengung macht und eine Anstrengung in der Öffentlichkeit unternimmt. Es darf ebenfalls offen ausgesprochen werden, dass H. P. Blavatsky ein Bote war und einen solchen Messianischen Zyklus einleitete, sowie dass der vorangegangene Messianische Zyklus etwa vor 2 160 Jahren endete – oder ein neuer begann –, ungefähr mit dem Leben und dem Werk des Avatāra, den das Abendland unter dem Namen Jesus der Christus kennt.
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 1058
Diese Verbindung der siderischen Zyklen mit dem Menschen war bei den Alten der esoterische oder heilige Teil der Astronomie. Für sie war die Astrologie genauso eine Wissenschaft wie die Astronomie; und das ist auch heute noch so. Die geheimen Aufzeichnungen gehen bis zu jenen des großen atlantischen Astronomen Asuramāyā zurück. Es wird erzählt, dass die atlantischen Aufzeichnungen nicht irren können, weil sie unter der Führung der göttlichen Lehrer (in Astronomie) der frühen Menschheit zusammengestellt wurden. Was bis heute davon übrig und sogar allgemein bekannt ist, bildet nur einen Bruchteil der umfangreichen und edlen Wissenschaft der alten Astrologie. Die Alten betrachteten alle Himmelskörper als Vehikel intelligenter Wesenheiten.
Das moderne Horoskop kann, wenn es auch in mancher Hinsicht richtig sein mag, eher zum Nachteil als zur Hilfe geraten. Der Mensch, der den Inhalt des Horoskops als unvermeidlich betrachtet, ist weniger dazu geneigt, seinen spirituellen Willen anzuwenden, um seinen Schwierigkeiten zu begegnen und diese unpersönlich zu verarbeiten. Unvorteilhafte Ereignisse nur als in Widerspruch zu unseren persönlichen Wünschen und Plänen zu betrachten, bedeutet den Verlust der Möglichkeit, karmische Erfahrung als ein Mittel zu Selbsterkenntnis und Charakterstärke zu erlangen. Wir können unsere vergangene Saat unglücklicher Ursachen nicht ändern. Aber wie wir der Ernte der Wirkungen begegnen und damit umgehen, liegt in unserer Macht. „Die Sterne machen geneigt, aber sie zwingen nicht.“
Die Alten wussten, wie das menschliche Leben durch die Berechnungen der kosmischen Natur-Uhr – die unfehlbar ist – reguliert werden kann.
Diese Uhr ist das Himmelsgewölbe; und die Sonne, der Mond, die sieben Planeten (wie die Alten sie berechneten) und die Sterne sind die „Hände“, welche die Zeitzyklen anzeigen.
– PURUCKER, Fundamentals of the Esoteric Philosophy, S. 206
Alle esoterischen Höhepunkte des Jahres, wie die vier heiligen Jahreszeiten – Winter- und Sommersonnenwende und die Frühlings- und Herbst-Tag-und-Nacht-Gleiche – beruhen auf der Wissenschaft, die das Schicksal der Menschen mit dem Lauf der Himmelskörper in Zusammenhang bringt. Der Mensch ist ein Kind der spirituellen Sonne, und sein Körper und sein ganzes Leben auf der Erde werden von der Sonnen-Vitalität unterstützt. Der Mensch ist ein werdender Gott. Die Götter waren einst in ihrem äonenlangen Zyklus des ‘Selbst-Werdens’ Menschen. Der Geist beseelt alle sich manifestierenden Formen der Materie – von der geringsten bis zur größten in der Einen Großen Runde.
Schluss
Abschließend müssen wir erwähnen, dass die Lehre von den Zyklen, wie sie in diesem kleinen Buch für Interessenten erklärt wird, keineswegs vollständig abgehandelt ist. Ein weiteres theosophisches Studium, das auf unterschiedlichen Aspekten dieses Themas in den verschiedenen Kapiteln beruht, ist von Interesse, weil die Lehre von den Zyklen die wissenschaftliche, philosophische und religiöse Basis für eine allumfassende Lebensphilosophie bildet. Je tiefer man eindringt, um so deutlicher zeigt sich die mystische und vitale Einheit von Mensch und Natur. In den periodisch wiederkehrenden Verkörperungen wird der Mensch seine inneren Kräfte entwickeln. Schließlich wird er ein Stadium erreichen, das über das menschliche Stadium hinausgeht. Er wird dazu angespornt, weil er Leben um Leben die Folgen seiner früheren Gedanken und Taten erntet, wodurch er seine Kräfte und Möglichkeiten besser anwenden wird.
Jeder Mensch befindet sich als selbstbewusste Einheit an seinem eigenen Platz im allgemeinen Strom der menschlichen Rasse, die sich mit Durchschnittsgeschwindigkeit vorwärts bewegt, um ihr Dasein auf diesem Planeten während der sieben Zeitalter des Erdenlebens zu erfüllen. Aber jeder Mensch hat die Möglichkeit, sich selbst so zu schulen, dass er dem Durchschnittstempo vorauseilt. Das Ergebnis dieser selbstgeleiteten Versuche sehen wir rund um uns, in verschiedenen Abstufungen. Es sind alle diejenigen, die sich über den Durchschnitt erheben, auf welchem Gebiet auch immer – wie Genies, Meister und Heilande. Irgendwann in der Zukunft werden wir in dieser Rasse den ‘Augenblick der Wahl’ erreichen, dessen Ergebnis bestimmen wird, ob wir fortschreiten und die große Planetenrunde auf dem aufsteigenden Bogen vollenden können. Wenn wir ungenügend vorbereitet sind, um mit den Aufwärtssteigenden Schritt halten zu können, werden wir zurückbleiben und auf einer Sandbank der Zeit stranden. Dort müssen wir auf ein nächstes Manvantara warten, um die Evolution mit der langsamen Entfaltung einer neuen Rasse fortzusetzen. Die Sache ist die, dass die göttliche treibende Kraft, die sich überall im Kosmos manifestiert, auf Fortschritt eingestellt ist. Der Mensch als integraler Teil des Universums muss mitgehen, wie lange er auch zögert und sich selbst dadurch Schaden zufügt. Der ‘Zyklus der Notwendigkeit’ ist unvermeidbar. Der Ursprung der Ethik ist also keine von Menschen aufgestellte Regel, sondern eine Wirklichkeit, die mit dem Gewebe des Universums verwoben ist.
Um dem Naturgesetz gerecht zu werden, ist der schließliche ‘Augenblick der Wahl’ nur die Aufrechnung und das Ausgleichen der täglichen Wahl des Menschen zwischen Gut und Böse während seiner vielen Leben, in denen er seinen freien Willen als ein selbstbewusstes Wesen gebraucht hat. Im jetzigen Evolutionsstadium ist der Mensch der Kampfplatz seiner eigenen dualen Natur, die einerseits für selbstsüchtige, persönliche Ambitionen und Wünsche und andererseits für spirituelles Denken und unpersönliches Handeln kämpft. Wir haben alle unsere kleinen Schwächen, die unserer guten Eigenschaften eigentlich unwürdig sind. Der allgemeine Trend unserer dualen Gedanken und Impulse scheint eine automatische Wirkungen auf unser Denken und Empfinden zu haben, weil jeder eine zyklische Wiederholung eigener Art darstellt. Es sind die Elemente unseres selbstgemachten Charakters. Jeder Gedanke und Impuls schöpft aus unserer eigenen Lebenskraft und gewinnt jedesmal an Stärke, wenn er zurückkehrt und ihm freie Hand gewährt wird. Wenn unsere Gedanken und Gefühle kleinmütig und egoistisch sind, wird unsere Reaktion ihre Qualität von Eifersucht, Neid, Wut, Hass, Argwohn, Betrug und so weiter sowohl unsere neuen als auch alten Assoziationen und Zustände färben. Instinktiv bringen wir unseren Charakter zum Ausdruck.
Wenn wir die entgegengesetzten Eigenschaften von Großherzigkeit, Freundlichkeit, Sympathie, Liebe, Vertrauen, Aufrichtigkeit und dergleichen mehr verstärkt haben, kehren auch diese auf ihrer zyklischen Runde zu uns zurück. Unsere dualen Impulse benützen beide den Verstand, um im inneren Streit zwischen dem Gewissen und unseren Wünschen über Gut und Böse zu urteilen. Wenn wir die richtige Entscheidung treffen, verliert unsere niedere Natur an Kraft und die bessere Seite wird gestärkt. Wenn wir diese Möglichkeit erkennen, dass wir – Stufe um Stufe – einen edleren Charakter formen können, ergeben sich auch die Gelegenheiten, die es uns tagtäglich ermöglichen, einen kleinen Schritt vorwärts zu kommen. Diese scheinbar so kleinen Siege vereinen ihre Kraft und bewirken, dass wir den Problemen, die unsere Seele auf eine harte Probe stellen, gewachsen sind. Sogar ein Versagen kann mitunter als Erfolg gelten, denn wenn wir weiterkämpfen, bauen wir an unserer moralischen Kraft und können so zu einer helfenden Kraft werden.
Jeder Tag ist für alle ein Neubeginn, was auch immer in der Vergangenheit geschehen sei. Entfaltung, Fortschritt, ‘Werden’ ist in allem und in jedem ein lebendiger Impuls. Ein äußerlich mühseliges und schwieriges Leben kann ein Zyklus der Gelegenheiten für den inneren Menschen sein, der damit seinen Mut und seine unpersönliche Kraft beweisen kann.
Die Seele kennt nur die Seele; das Netz der Geschehnisse ist die fließende Tracht, in welche sie gekleidet ist.
– Emerson
Band 6: Der Tod: Was kommt danach?
Leonie L. Wriht
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„Tod, wo ist dein Stachel? Grab, wo ist dein Sieg?“ Wir alle sind mit diesen schönen Worten von Paulus vertraut, aber – ach – wie wenig wirklichen Trost haben sie betrübten Herzen gespendet! Denn es gibt keine Lehre oder Erfahrung, die dieses Versprechen mit göttlicher Gewissheit untermauert. Und doch ist die Wahrheit schon immer ganz nahe bei uns und flüstert unseren Herzen genau mit der Stimme unserer eigenen Liebe für die ‘Dahingegangenen’ zu: Der spirituelle Mensch ist ewig; es gibt keinen Tod.
Die Theosophie sagt uns, dass die scheinbare Trennung von unseren Geliebten durch den Tod keine Realität ist. Lehrt nicht auch die Naturwissenschaft, dass Materie ‘hauptsächlich aus Löchern’ besteht? Und doch scheinen Materie und das äußere Leben für uns alles geworden zu sein, was uns eigentlich interessiert. Wir leben fast ausschließlich für materielle Zwecke und die Interessen unserer Persönlichkeit – für den Gehirnverstand oder unser emotionales Denken. Und diese Persönlichkeit – die ganz und gar irdisch und mit physischen Dingen verwoben ist und die mit dem Körper zerfällt – stirbt und entschwindet aus dem menschlichen Gesichtskreis.
Dass die Natur der Persönlichkeit flüchtig ist, das ist die große Lektion, die wir lernen müssen – wenn wir nicht nur in spiritueller Verbindung mit den Toten bleiben möchten, sondern mit all jenen, die körperlich von uns getrennt sind. Wir müssen unser persönliches Selbst als das vergängliche Ding verstehen lernen, das es ist. Wenn wir dann die hinter ihm und im Inneren stehende spirituelle Realität entdecken und danach leben, werden wir unser inneres Unsterbliches Selbst finden und beginnen, in und für diese bleibende Wurzel unseres Wesens zu leben. Wenn uns das gelingt, werden wir sehen: Wir werden dann uns selbst als bereits unsterblich erkennen – jetzt, in diesem Augenblick! Wir werden dann auch das wahre Selbst jener wahrnehmen, die wir lieben und in jedem Augenblick unseres Lebens die Wirklichkeit empfinden, dass wir immer zusammen sind; immer wirklich miteinander in Verbindung stehen, wenn auch die physischen Augen das geliebte Gesicht nicht sehen und die physischen Ohren die Stimme des Abwesenden nicht hören. Lediglich die Kenntnis unseres spirituellen Selbst und des inneren spirituellen Selbst unserer Lieben wird uns den Sieg über den Tod bringen.
Wir können tatsächlich Wahrheit erlangen. Jeder von uns hat die Fähigkeit, alle seine Probleme zu lösen und für jeden Schmerz Heilung zu finden. Der Tod ist kein Mysterium in dem Sinne, dass er nicht verstanden werden kann. Die Wahrheiten über den Tod liegen innerhalb unseres Verständnisses.
Theosophische Perspektiven
Band 06: Der Tod: Was kommt danach?
Frei überarbeitet nach Leoline L. Wright
© 2000 Theosophischer Verlag der Stiftung der Theosophischen Gesellschaft Pasadena, Eberdingen
Der Tod ist der Eröffner, der Eine, der Vision schenkt; der Tod ist der größte und lieblichste Wechsel, den das Herz der Natur für uns bereithält.
– Gottfried von Purucker, Goldene Regeln der Esoterik, S. 63
Einleitung
„TOD, wo ist dein Stachel? Grab, wo ist dein Sieg?“ Wir alle sind mit diesen schönen Worten von Paulus vertraut, aber – ach – wie wenig wirklichen Trost haben sie betrübten Herzen gespendet! Denn es gibt keine Lehre oder Erfahrung, die dieses Versprechen mit göttlicher Gewissheit untermauert. Und doch ist die Wahrheit schon immer ganz nahe bei uns und flüstert unseren Herzen genau mit der Stimme unserer eigenen Liebe für die ‘Dahingegangenen’ zu: Der spirituelle Mensch ist ewig; es gibt keine Toten.
Die Liebe an sich ist der Beweis für das spirituelle Überleben des Menschen – wahre Liebe, die selbstlos ist, anspruchslos, rein, verzeihend und – unzerstörbar. Wenn wir auch irgendwann aufhören, ständig um jene zu trauern, die uns in das Land des Lichts vorausgegangen sind, können wir jemals aufhören zu lieben? Gerade weil unsere Liebe unzerstörbar ist, muss sie einem Element in uns entspringen, das gleichfalls unsterblich ist – denn wie kann eine Qualität größer sein als die Quelle, der sie entspringt?
Genau hier, in der Liebe, müssen wir nach Beweisen suchen, dass der Geist des Menschen für alle Zeit lebt. Aber wir dürfen dabei nicht vergessen, dass nur wahre Liebe, und nicht selbstsüchtiges emotionales Anhaften, uns die Tür zu wirklichem spirituellen Kontakt mit unseren Verstorbenen öffnen kann.
Die Theosophie sagt uns, dass die scheinbare Trennung von unseren Geliebten durch den Tod keine Realität ist und wir in Illusionen leben. Lehrt nicht auch die Naturwissenschaft, dass Materie ‘hauptsächlich aus Löchern’ besteht? Und doch scheinen Materie und das äußere Leben für uns alles geworden zu sein, was uns eigentlich interessiert. Wir leben fast ausschließlich für materielle Zwecke und die Interessen unserer Persönlichkeit – für den Gehirnverstand oder unser emotionales Denken. Und diese Persönlichkeit – die ganz und gar irdisch und mit physischen Dingen verwoben ist und die mit dem Körper zerfällt – stirbt und entschwindet aus dem menschlichen Gesichtskreis. Dass die Natur der Persönlichkeit flüchtig ist, das ist die große Lektion, die wir lernen müssen – wenn wir nicht nur in spiritueller Verbindung mit den Toten bleiben möchten, sondern mit all jenen, die körperlich von uns getrennt sind. Wir müssen unser persönliches Selbst als das vergängliche Ding verstehen lernen, das es ist. Wenn wir dann die hinter ihm und im Inneren stehende spirituelle Realität entdecken und danach leben, werden wir unser inneres Unsterbliches Selbst finden und beginnen, in und für diese bleibende Wurzel unseres Wesens zu leben. Wenn uns das gelingt, werden wir sehen: Wir werden dann uns selbst als bereits unsterblich erkennen – jetzt, in diesem Augenblick! Wir werden dann auch das wahre Selbst jener wahrnehmen, die wir lieben und in jedem Augenblick unseres Lebens die Wirklichkeit empfinden, dass wir immer zusammen sind; immer wirklich miteinander in Verbindung stehen, wenn auch die physischen Augen das geliebte Gesicht nicht sehen und die physischen Ohren die Stimme des Abwesenden nicht hören. Lediglich die Kenntnis unseres spirituellen Selbst und des inneren spirituellen Selbst unserer Lieben wird uns den Sieg über den Tod bringen.
Wir können tatsächlich Wahrheit erlangen. Jeder von uns hat die Fähigkeit, alle seine Probleme zu lösen und für jeden Schmerz Heilung zu finden. Der Tod ist kein Mysterium in dem Sinne, dass er nicht verstanden werden kann. Die Wahrheiten über den Tod liegen innerhalb unseres Verständnisses.
Die einzige Ursache, die den Tod mit so viel Leid, Angst und Furcht umgibt, ist unsere Unwissenheit über die hinter dem materiellen Leben stehenden spirituellen Tatsachen. Mit Mut und Entschlossenheit ist es uns möglich, den Schleier zu lüften und mittels unserer erwachten spirituellen Fähigkeiten zu entdecken, dass der Tod nur der Eingang zu einer höheren Daseinsform auf einer Ebene ist, auf der wir und unsere Lieben untrennbar sind; und dass wir, immer gemeinsam, „von Zeitalter zu Zeitalter und von Höhen zu noch größeren Höhen immer weiter fortschreiten“.
Unwissenheit ist der größte Feind des Menschen, vor allem Unwissenheit über seine eigene Natur. Mensch, erkenne dich selbst! Denn in dir liegen alle Möglichkeiten und Wirklichkeiten des Universums. Weil die meisten von uns praktisch nichts über sich selbst wissen – und nur die eingefahrenen Geleise unseres Lebens kennen, in denen sich unsere Gedanken und Gefühle täglich wiederholen –, haben wir keine Antworten auf die Fragen, warum wir hier sind und wohin wir gehen.
Der illusorische und trügerische Charakter materieller Dinge wurde den Nachdenklichen durch die Arbeit der modernen Wissenschaft allmählich verständlich gemacht. Die Naturwissenschaft erklärt uns zum Beispiel, dass unser Körper aus kleinen Teilchen aufgebaut ist, bekannt als Elektronen, Protonen, Neutronen usw., welche die Theosophie hingegen ‘Leben’ oder Lebensatome nennt. Wenn man die gesamte Materie des menschlichen Körpers zusammenpressen könnte, würde nicht mehr zurückbleiben als ein kleines Staubkörnchen, so sagen die Wissenschaftler. Und trotzdem formt dieses Körnchen – sozusagen von der Magie der Lebenskräfte ausgebreitet – unseren verhältnismäßig großen und scheinbar festen physischen Körper. So ist auch ein Tisch, ein Marmorblock oder jeder andere feste Gegenstand in Wirklichkeit aus einer unvorstellbaren Anzahl kleiner Teilchen zusammengesetzt, die mit unvorstellbarer Schnelligkeit schwingen und uns die Illusion von Festigkeit vorspiegeln, obwohl große Abstände zwischen ihnen existieren. Das, was wir immer als ‘feste Wirklichkeit’ ansehen, ist tatsächlich eine Illusion, obwohl es vom Standpunkt der Erfahrung aus real erscheint.
Man hat auch Formen der Materie entdeckt, die wir nicht sehen können, weil ihre Schwingungsraten für unsere Sinne nicht wahrnehmbar sind – wie die infraroten und die ultravioletten Lichtstrahlen, die einen mit einer zu langsamen und die anderen mit einer zu schnellen Schwingungsfrequenz, um für uns sichtbar zu sein.
Wenn wir also die Mysterien von Leben und Tod verstehen und die außerhalb des normalen Wahrnehmungsvermögens stehenden Dinge der spirituellen Reiche sehen und erkennen wollen, müssen wir die täuschende Natur der rein materiellen Dinge erkennen. Und wir müssen für uns die Bedeutung von Materieformen erkennen, die unsere gegenwärtige Wahrnehmungsfähigkeit übertreffen. Wir müssen verstehen, was die Wissenschaft gerade aufzuzeigen beginnt, jedoch die Theosophie – die alte Weisheits-Wissenschaft – seit Äonen gelehrt hat, nämlich dass das wirkliche Universum nicht aus Materie, sondern aus Bewusstsein errichtet ist. Der Mensch ist kein Körper, denn der ist illusorisch. Er ist ein Zentrum, eine Einheit von Bewusstsein, eingebettet in ein Gewand aus vergänglichem Fleisch.
Natürlich sollen wir den Körper und die Persönlichkeit oder den Verstand – unser gewöhnliches Selbst – nicht unterbewerten, denn sie bilden das Instrumentarium oder die Werkzeuge für Erfahrung in unserer Welt, in der unsere Evolution gegenwärtig stattfindet. Ein richtiges Verständnis unserer Persönlichkeit würde uns tatsächlich dazu befähigen, sie zu einem Instrument ungeahnter Schönheit und noch unvorstellbaren Nutzens zu entwickeln. Aber das gelingt uns nicht, noch können wir sie dazu bringen, uns richtig zu dienen, solange wir nicht gedanklich beiseite treten und sie in ihrer Beziehung zu dem tieferen, unsterblichen Selbst betrachten, in dem der Schlüssel zu all unseren ‘Mysterien’ liegt.
Oft staunen wir über unsere eigenen Launen und unsere mentale Verfassung. Wir verstehen nicht, weshalb wir von einem Tag auf den anderen so wechselhaft sind. Aber dennoch wissen wir, dass es in uns etwas Dauerhaftes gibt, das diese Veränderungen erkennt und beobachtet – etwas, das unser Identitätsgefühl von Jugend an bis ins Alter weiterträgt, durch alle Erfahrungen, die den Charakter so bedeutungsvoll umformen. Dieses dauerhafte Element in uns ist das wahre Selbst, das beständig ist – ungeachtet unserer Launen, gerade wie das Meer, das auch unter dem Einfluss von Gezeiten und Stürmen, welche die Oberfläche aufwühlen, unverändert bleibt. Diese im Inneren wohnende Wirklichkeit ist das spirituelle Selbst im Menschen.
Wenn wir darüber nachdenken, bemerken wir, dass der wahre Mensch am besten verstanden werden kann, wenn wir ihn nicht so sehr als einen Körper oder Denker betrachten, sondern als ein Bewusstseinszentrum. Mit dem Wort ‘Bewusstsein’ sollten wir uns vertraut machen, denn Bewusstsein ist der Stoff, mit dem die Evolution arbeitet. Es ist die Grundlage allen Lebens, allen Wachstums und allen Seins. Der Mensch ist in Wirklichkeit aus verschiedenen Bewusstseinsarten zusammengesetzt, in denen das spirituelle Selbst das bindende Element darstellt – den unsichtbaren Kern sozusagen. Auch einige prominente Wissenschaftler betrachten Bewusstsein nicht länger als ein Nebenprodukt des Gehirns, sondern als den fundamentalen Stoff der Existenz.1
Was verstehen wir nun unter Bewusstsein? Dem Wesen nach ist es die Empfindung des ICH BIN: Ich existiere, ich lebe, fühle und erfahre. Aber dieses ICH BIN ist nur unsere Wurzel, die unpersönliche, universale Grundlage. Während des Lebens entwickelt sich dieses Gefühl des Wurzel-Bewusstseins zu vielerlei Formen: körperliches Bewusstsein, emotionales und mentales Bewusstsein und – das wichtigste von allem – Selbstbewusstsein: das Gefühl des ICH BIN ICH – ich bin ich und kein anderer. Jede dieser verschiedenen Bewusstseinsarten wächst zu einem Komplex oder einem Bündel von Energien, die als Aktivitäts-Zentren in uns existieren.
Dass das wahr ist, erkennen wir in der Tatsache, dass jeder einzelne davon überzeugt ist, in einer bestimmten, charakteristischen Weise zu denken und zu empfinden. Bei einem Geizhals gehen wir nicht davon aus, dass er in einem plötzlichen Impuls von Großzügigkeit handelt. Er hat durch seine Gedanken und Gewohnheiten gewisse starke Gefühlszentren aufgebaut, die ihn beherrschen, sogar wenn Großzügigkeit seinem eigenen Vorteil dienen könnte. Die meisten von uns haben sich jedoch noch nicht in einer bestimmten Art entwickelt und sind sich deshalb des Wachstums des inneren, psychologischen Organismus – der aus einzelnen, lose verknüpften Gefühlszentren besteht – ebenso wenig bewusst, wie des Wachstums des Körpers.
Dennoch gibt es diese Zentren. Täglich identifizieren wir uns einmal mit diesem und einmal mit jenem Zentrum, je nach unseren Launen. Wir haben diese Zentren im Laufe der Zeit aufgebaut. Sie bilden die Basis unseres Charakters und Handelns. Die Tyrannei unseres Temperaments, die Schwierigkeit, mit Gewohnheiten zu brechen oder sich von Vorurteilen zu befreien, sind auf diese Energiezentren zurückzuführen, die wir in uns im Laufe all unserer Leben völlig unbewusst aufgebaut haben. Und so führt uns die Theosophie zunächst zu einem Studium des Bewusstseins. Das Mysterium des Todes ist eines der Mysterien des Bewusstseins.
Schlaf und Tod
Die Ähnlichkeit zwischen Schlaf und Tod hat die Denker aller Zeiten beeindruckt. Die alten Griechen hatten ein Sprichwort: „Schlaf und Tod sind Brüder.“ Denn der Tod stellt das gleiche Phänomen dar wie der Schlaf – nur in einem größeren und tieferen Ausmaß. Wir wissen alle, dass der Schlaf ein zeitlich begrenzter Zustand ist, weil wir ihn verstehen oder uns einbilden, es zu tun. Den Tod betrachten wir jedoch als das Lebensende, obwohl wir ihn eigentlich nicht in dieser Weise mit dem Leben in Zusammenhang bringen sollten. Wir sollten nicht ‘Leben und Tod’ sagen, sondern Geburt und Tod. Bei der Geburt denken wir nicht an etwas Endgültiges, weil wir wissen, dass ihr der Tod folgt. Aber die Theosophie zeigt uns, dass auch der Tod nichts Endgültiges ist. Der Tod ist nicht nur eine Geburt des spirituellen Menschen auf einer höheren Daseinsebene, sondern dem Tod folgt schließlich die Wiedergeburt des Menschen auf der Erde. Die große, fortdauernde Tatsache ist also Leben oder Bewusstsein; und Geburt und Tod sind lediglich rhythmische Ereignisse im endlosen Kreislauf der bewussten Evolution aller Dinge.
Schlafen und Wachen stellen ebenfalls rhythmische Ereignisse dar, durch die in diesem Leben unsere persönliche Entwicklung bestimmt wird. Wenn wir uns selbst nur im Lichte der Theosophie genauer beobachten und den Tod mehr in Zusammenhang mit den Erfahrungen unseres gewöhnlichen Bewusstseins bringen würden, wäre er nicht länger solch ein düsteres und hoffnungsloses Rätsel. Sobald wir den Tod als einen verständlichen Teil unserer Evolution und als bedeutungsvoll und reich an neuen Entdeckungen für Verstand und Herz betrachten, fügt das Studium des Todes unserer spirituellen Geschichte ein neues und interessantes Kapitel hinzu.
Nach dem alten griechischen Sprichwort sind Schlaf und Tod Brüder. Sie sind jedoch nicht nur Brüder, geboren aus der gleichen Struktur des menschlichen Bewusstseins, sondern sie sind in voller Wahrheit eines, identisch. Der Tod ist ein vollkommener Schlaf mit seiner Art von zwischenzeitlichem Erwachen, wie zum Beispiel im Devachan, und einem vollen menschlichen Erwachen in der darauf folgenden Reinkarnation. Der Schlaf ist ein unvollständiger Vollzug des Todes, … .
Nachts schlafen wir und deshalb sterben wir nachts teilweise. Man kann tatsächlich noch weitergehen und sagen, dass der Schlaf und der Tod und alle die verschiedenen Prozesse und Realisationen der Initiation nur verschiedene Phasen oder Vorgänge des Bewusstseins sind, abgewandelte Formen derselben fundamentalen Sache. Der Schlaf ist größtenteils eine automatische Funktion des menschlichen Bewusstseins. Der Tod ist das gleiche, aber in einem viel größeren Ausmaß. Er ist eine notwendige Verhaltensweise des Bewusstseins, damit sich der psychische Teil der Konstitution ausruhen und die Erfahrungen assimilieren kann.
… Der einzige Unterschied zwischen Tod und Schlaf ist das Maß. Genauso wie im Tod wird das Bewusstsein während des Schlafs, nach einer kurzen Periode vollständiger Unbewusstheit, zum Sitz oder aktiven Brennpunkt bestimmter Formen innerer mentaler Aktivität, die wir Träume nennen.
– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, III:169/170
Wenn wir nun unseren verschiedenen Bewusstseinszuständen ein wenig mehr Aufmerksamkeit schenken, entdecken wir noch einen anderen wertvollen Schlüssel. Was meinen wir mit ‘Bewusstseinszuständen’? Viele von uns betrachten sich selbst selten als etwas anderes als einen durch ein physisches Gehirn belebten Körper. Wir dringen nicht tief genug in unser eigenes Innenleben ein, um zu begreifen, dass unser wahres Wesen aus Bewusstsein besteht, das sich zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Teilen unserer Konstitution konzentriert. Das kann man sehr leicht verstehen, wenn man über die Tatsache nachdenkt, dass sogar unser normales Alltagsleben aus verschiedenen Bewusstseinszuständen gebildet wird, die so unterschiedlich sind, wie es nur geht.
Manche dieser ‘Zustände’ oder Funktionen unseres Bewusstseins sind emotional – wie Wut, Trauer, Glück oder Aufregung; mitunter sind sie rein intellektuell, wie in der Arbeit eines Wissenschaftlers oder eines Schriftstellers; ein anderes Mal, wenn wir hungrig oder müde sind oder einen schmerzhaften Unfall hatten, konzentrieren wir uns gänzlich auf den Körper. In der Nacht wandert unser Bewusstsein zu wieder anderen, noch weniger bekannten Funktionen oder Aspekten von uns.
Fast jeder hat schon einmal bei einem Spaziergang, beim Lesen oder im Gespräch erlebt, dass ihm etwas auffällt, was ihn plötzlich lebhaft an einen Traum in der letzten Nacht erinnert; oder dass er beim Erwachen ganz von einem bestimmten Traum erfüllt ist, der ihm momentan klar und deutlich vor Augen steht, der aber später mit der Rückkehr des Tagesbewusstseins völlig verblasst. Im ersten Fall hätten wir uns ohne den äußerlichen Anlass vielleicht nie an den Traum erinnert. Beide Fälle zeigen uns, dass es Erfahrungen im Bewusstsein gibt, von denen wir normalerweise nichts wahrnehmen, die aber auf ihrer eigenen Ebene genau so lebendig wie die des Bewusstseins im Wachzustand sind. Wieviele solcher Erfahrungen kann der innere Mensch wohl schon gemacht haben, an die sich das Selbst im Wachzustand niemals erinnert! Dennoch gibt es sie und sie waren in jenem Augenblick genauso real wie im Wachzustand, genauso wirklich wie die infraroten und ultravioletten Strahlen, die wir niemals sehen. Darüber hinaus tragen diese Erfahrungen ihren Teil zu dem bei, was wir jetzt sind. Und darin liegt der Schlüssel, von dem wir vorher gesprochen haben.
Wenn wir also den Tod verstehen wollen, müssen wir unser eigenes Bewusstsein studieren, wir müssen uns selbst kennen, denn Bewusstsein ist die fundamentale Tatsache des Universums. Die moderne Wissenschaft, die solange davon überzeugt war, Bewusstsein sei nichts anderes als ein Nebenprodukt der Materie, ändert nun allmählich ihre Meinung. Männer wie Einstein, Planck, Eddington, Jeans, Lodge und Millikan begannen, über Bewusstsein als die Realität hinter allen Phänomenen zu sprechen. Von den oben genannten wollen wir zwei Aussagen zitieren, die 1931 im Londoner Observer erschienen. Das erste Zitat ist von Max Planck, den man zu seiner Zeit als einen der besten und innovativsten Forscher betrachtete:
… Ich betrachte Bewusstsein als grundlegend. Ich betrachte Materie als von Bewusstsein abgeleitet. Wir können nicht hinter das Bewusstsein vordringen. Alles, worüber wir sprechen, alles, was wir als existierend betrachten, setzt Bewusstsein voraus.
– The Observer, London, 25. Januar 1931
Sir James H. Jeans, ein anderer innovativer wissenschaftlicher Forscher von damals, brachte den gleichen Gedanken in fast identischer Weise zum Ausdruck:
Ich neige zu der idealistischen Theorie, dass Bewusstsein grundlegend ist und das materielle Universum daraus hervorgeht – und nicht umgekehrt. … Es kann sehr wohl sein, so scheint mir, dass jedes individuelle Bewusstsein mit einer Gehirnzelle in einem universalen Denkvermögen verglichen werden sollte.
– The Observer, London, 4. Januar 1931
Mit den oben erwähnten Grundgedanken stimmt die Alte Weisheit völlig überein. Sie hat sie gelehrt, so lange der Mensch existiert. Jetzt allerdings beginnen wir zu erkennen, wohin diese Idee uns führt: Wenn Bewusstsein die fundamentale Wirklichkeit des Universums ist und der Mensch ein individuelles Zentrum dieses Bewusstseins, weist ihn das als ebenso real und unzerstörbar aus wie das Universum. Er ist ein Tröpfchen des Universalen Lebens.
Das Universum besteht tatsächlich aus Bewusstsein und erstreckt sich in unzähligen Abstufungen vom Menschen abwärts zu den niederen Reichen bis zum Elektron und noch weiter abwärts; dann aufwärts vom Menschen bis zum Göttlichen über ihm – eine endlose Reihe hierarchischer Wesen, von denen der Mensch ein integraler Teil ist. Wir sind Teile eines lebendigen Ganzen, und solange das Universum existiert, können wir und alle anderen es zusammensetzenden Wesen nicht aufhören zu existieren. Wir sind Teilhaber an seiner Kontinuität.
Diese Idee wird in der theosophischen Literatur immer wieder betont. In The Esoteric Tradition, S. 144, sagt G. de Purucker:
Denn das Universum ist ein riesiger Organismus; alles, was sich darin befindet, sind untrennbare, weil inhärente, Bausteine. Der Mensch ist deshalb gleichfalls ein untrennbarer Teil davon und enthält somit auch alles in sich, was das Universum enthält … . Jede Energie, jede Substanz, jede Bewusstseinsform in den Unendlichkeiten des grenzenlosen Raumes ist in ihm – latent oder aktiv, je nachdem. Deshalb kann er wissen, indem er dem Pfad folgt, der immer weiter zu seinem Inneren führt, und noch weiter nach innen, bis hin zu seinem essentiellen Selbst, zu seinem Geist, der ein Strahl des Universalen ist. Auf diese Weise erlangt er Kenntnis der Realität aus erster Hand.
Im Zusammenhang mit der Ähnlichkeit zwischen Schlaf und Tod sagt er:
Wenn jemand wissen möchte, wie es ihm beim Sterben ergeht oder was er im Augenblick des Todes wahrnimmt, möge er, wenn er sich schlafen legt, sein Bewusstsein mit seinem Willen fassen und die wirklichen Vorgänge seines ‘Einschlafens’ studieren – falls er es fertigbringt. Es ist recht einfach, das zu tun, wenn man die Idee erfasst hat und sich mit der Praxis der Übung mehr oder weniger vertraut gemacht hat.
– Ebenda, S. 832-3
Wenn wir die tiefer gehenden Probleme des Lebens lösen wollen, müssen wir uns selbst umerziehen. Meistens identifizieren wir uns mit unserem persönlichen Bewusstsein, das heißt mit jenen mentalen und emotionalen Aspekten, die sich auf Selbstsucht oder persönliche Wünsche konzentrieren. Wenn der Mensch die Mysterien von Leben oder Tod verstehen will, muss er sich selbst studieren – als ein Zentrum spirituellen Bewusstseins, als göttlichen Pilger, der dem glorreichen Pfad der selbstgeleiteten Evolution folgt.
Warum sterben wir?
Der Mensch stirbt, weil er in seinem Innersten ein spirituelles Wesen ist. Das Leben auf der Erde stellt nur einen Teil seiner Evolution dar. Die Geist-Seele des Menschen ist in den unsichtbaren spirituellen Welten zu Hause und verweilt nur kurze Zeit hier, um ihre Erfahrungen abzurunden und den zahllosen, weniger entwickelten Wesen sowie den Lebensatomen, die sein irdisches Vehikel zusammensetzen, eine Gelegenheit zum Wachstum zu bieten.
Der spirituelle Mensch reinkarniert hier Leben um Leben; aber zwischen diesen Leben kehrt er in seine Heimat in den inneren Welten zurück und setzt dort auf höheren Ebenen seine Evolution fort.
Der wahre Grund, warum wir sterben, liegt darin, dass tief in unserem Inneren das spirituelle Selbst den Ruf aus seiner ‘Heimat’ verspürt. Es kommt die Zeit, in der es durch die Last der physischen Existenz ermüdet ist und sich nach der Freiheit und dem Licht der spirituellen Reiche sehnt. So löst sich der Geist des Menschen normalerweise allmählich von seinem irdischen Zuhause und bereitet sich darauf vor, sich auf seine erhabene Heimreise zu begeben.
Was die Menschen ‘Tod’ nennen, bedeutet weit mehr, als die meisten von uns realisieren. Das Ablegen des physischen Körpers oder der Hülle ist nicht alles, was der spirituelle Bewohner zu tun hat, um sich für die Reise in die inneren Sphären bereit zu machen. Denn der Mensch ist ein zusammengesetztes Wesen. Er hat nicht nur einen physischen Körper, sondern seine Geist-Seele benutzt auch ein psychologisches Vehikel – seine Persönlichkeit. Diese besteht aus mentalen und emotionalen Bewusstseinszuständen. Sie stellt ein komplexes Gewebe dar, das durch ihre Selbstsucht und ihren Materialismus den Geist sogar stärker nach unten zieht als der grobe physische Körper. Dieses Kleid der Persönlichkeit muss ebenfalls abgeworfen werden und unterliegt der Auflösung. Diesen Prozess nennt man in der esoterischen Philosophie den ‘zweiten Tod’.
Der Tod ist deshalb das Auflösen dieser beiden niederen Bewusstseinsaspekte – des physischen und des psychologischen Aspekts – in ihre entsprechenden Elemente. Der Körper löst sich auf und verschwindet. Alle flüchtigen Energiezentren der psychologischen Natur – die Leidenschaften, die irdischen Wünsche und Begierden und rein persönliche, mentale Aktivitäten – lösen sich in die Lebensatome auf, aus denen diese Zentren durch die Gedanken und Taten der sie benutzenden Individualität aufgebaut wurden. Der wahre Mensch, das spirituelle Selbst, kann – nachdem er auf diese Weise das ihn umhüllende irdische Vehikel abgeworfen hat wie ein Schmetterling seinen Kokon – seine Flügel ausbreiten und in die Freiheit und Freude seiner spirituellen Heimat aufbrechen.
Der gesamte wunderbare, mystische Prozess des Todes wird durch das Gesetz der Periodizität unterstützt, welches das Leben aller Dinge regiert. Denn Tod und Geburt selbst sind Zwillings-Manifestationen dieses Universalgesetzes der Periodizität. Alles Leben hat zwei Pole, den positiven und den negativen. Alles bewegt sich wie ein Pendel zwischen Tag und Nacht, Hitze und Kälte, Ebbe und Flut, Regen und Sonnenschein, Systole und Diastole, Schlafen und Wachen – und ebenso zwischen Geburt und Tod. Aber genau so wie der zweite Pol dieser Gegensatzpaare – Ebbe, Kälte, Systole, Schlaf usw. – auch nur eine Amplitude und keine Endphase darstellt, so ist auch der Tod kein Ende, sondern der Anfang einer Lebensperiode anderer Art. Und da diese auch nur eine Periode ist, muss ihr wieder eine Geburt folgen.
Diesem Gesetz der Periodizität liegt also die Manifestation aller aktiven und zusammengesetzten Wesen zugrunde; und dieses Gesetz ist dem spirituellen Selbst behilflich, sich von seinem irdischen Tabernakel zu befreien. Dieses Ereignis aber, dieser sogenannte ’Tod’, den wir beobachten können, ist nur die Umkehr der Gezeiten, über die hinaus das unsterbliche, für das Auge unsichtbare Selbst durch die spirituelle Ebbe hinausgetragen wird – auf den grenzenlosen Ozean unendlichen Seins.
Jedenfalls sollten wir Folgendes im Auge behalten:
In den meisten Fällen geht dem Tod eine gewisse Zeit voraus, in der sich die monadische Individualität oder vielmehr das sich wiederverkörpernde Ego zurückzieht. Dies findet gleichzeitig mit der Trennung des sieben Prinzipien enthaltenden Wesens, das der Mensch ist, statt. Das sich wiederverkörpernde Ego gehorcht der Anziehung nach innen zu der unaussprechlichen Seligkeit der inneren Welten so stark, dass der goldene Faden des Lebens, der es mit der niederen Triade verbindet, abreißt. Danach folgt sofortige Bewusstlosigkeit; denn die Natur ist in diesen Dingen sehr barmherzig, da sie sozusagen durch unendliche Weisheit geleitet wird.
Das Alter ist folglich nur das physische Resultat davon, dass sich das wiederverkörpernde Ego von der selbstbewussten Teilnahme an den Angelegenheiten des Erdenlebens vorbereitend zurückzieht. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit kann dies mit der Periode – die sich über Monate, ja sogar Jahre erstreckt – verglichen werden, die der Geburt eines Kindes vorausgeht. In dieser Zeit hat sich das zurückkehrende Ego quasi bewusst auf seinen ‘Tod’ im Devachan und seinen Abstieg durch die niedrigeren Zwischenreiche in den für seine Verkörperungen auf dieser Erde geeigneten Zustand vorbereitet. Die charakteristischen Bedingungen dessen, was als zweite Kindheit bekannt ist, stellen einen Aspekt der verschiedenen natürlichen Wege des Hinscheidens aus diesem Erdenleben dar. Es ist nichts Nachteiliges damit verbunden; das Leben verebbt ganz einfach, während sich in den unsichtbaren Welten eine ‘Geburt’ vorbereitet.
– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, III:93
Die sieben Prinzipien des Menschen
Um besser verstehen zu können, was nach dem Tod geschieht und wie der innere Mensch, das spirituelle Selbst, die für seine Erfahrung hier notwendig gewesenen Gewänder oder Vehikel eines nach dem anderen abwirft, wollen wir kurz die sieben Prinzipien der zusammengesetzten Natur des Menschen betrachten.
Das folgende Diagramm, mit dem Spirituellen als dem ersten und höchsten Prinzip beginnend, gibt einen kurzen Überblick.
Ātman-Buddhi ist die Monade, die spirituelle Seele des Menschen. Das Wort ‘Monade’ bezeichnet eine Einheit von Leben oder Bewusstsein – ein Individuum. Im Herzen eines jeden Wesens lebt eine Monade, sei es ein Stern, ein Planet, ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, ein Atom oder ein Elektron – ganz gleich, was. Im Menschen können wir sie deutlicher als sein spirituelles Selbst beschreiben, die Empfindung von Ich bin. Ātman ist ein Strahl des reinen Universalgeistes, der uns mit dem ALL verbindet. Buddhi ist reine Intelligenz, Weisheit und Liebe. Sie dient als Vehikel oder Kanal, um das Licht des Universalen in die Konstitution des Menschen herunter zu ‘transformieren’. Aus Buddhi entspringen alle unsere höchsten Eigenschaften: Mitleid, Unterscheidungsvermögen, Sympathie und das Gewissen; ebenso die Visionen einer wahren, spirituellen Schau oder erhabene Genialität. Ātman-Buddhi ist reines Bewusstsein, das allen Wesen gemeinsam ist, auch wenn es ohne Manas (wie bei den Tieren) intellektuell nicht funktionieren kann.
Manas ist der Denker im Menschen. Es ist sein Ego, der Sitz des Selbstbewusstseins, wodurch das Empfinden von Ich bin ich und kein anderer entsteht. Manas ermöglicht uns, mit anderen Menschen und unserer Umgebung bewusste Beziehungen einzugehen; wir sind dadurch imstande, unsere eigene, selbstgeleitete Evolution fortzusetzen. Manas sammelt die Erfahrungen des individuellen Lebens in allen Welten und erinnert sich daran. Und wenn diese Erfahrungen schließlich durch den Universalgeist absorbiert werden, bereichern sie fortwährend die Entfaltung kosmischen Bewusstseins. Diese drei höheren Prinzipien sind göttlichen Ursprungs.
Die niedere Vierheit bildet das aus den animalisch-vitalen Eigenschaften der Natur zusammengesetzte Vehikel, das die Evolution auf dieser Erde in vergangenen Zeitaltern gestaltet hat, damit wir Manas, den selbstbewussten Denker, benützen können. Im Diagramm auf Seite 25 sehen wir, dass Manas dual ist, denn dieser selbstbewusste Denker oder das Ego muss sich – sobald es auf der Erde zu arbeiten beginnt, um sich durch den physischen Körper zum Ausdruck zu bringen – in seinem niederen Aspekt mit der animalischen Vierheit verbinden. Diese Verbindung ist es, welche die Persönlichkeit oder das menschliche Ego bildet, das wir das niedere Manas nennen.
Der höhere Aspekt von Manas jedoch steht in Verbindung mit der Weisheit und dem Licht von Buddhi; und dieser höhere Aspekt von Manas stellt das reinkarnierende Ego – das höhere Manas – dar. Das reinkarnierende Ego erfährt den Tod nicht; anders dagegen das niedere Manas, welches nur das Produkt der Verbindung des Denkprinzips mit dem sterblichen Teil der menschlichen Natur ist, es existiert lediglich während des Erdenlebens und löst sich mit dem zweiten Tod auf.
Die niedere Vierheit
Nun wollen wir den Kāma-Rūpa betrachten, den höchsten Aspekt der niederen Vierheit und eines der stärksten und wichtigsten Elemente der menschlichen Natur. Kāma-Rūpa bedeutet buchstäblich ‘Wunsch-Körper’; und es ist jenes Zentrum von animalischen Begierden, von Leidenschaften und Emotionen, das im Leben der meisten Menschen die treibende Kraft bildet. Sind nicht die meisten von uns viel stärker durch ihre Leidenschaften und Begierden, durch Selbstsucht und Vorurteil beherrscht als durch Selbstlosigkeit und unpersönliche Weisheit?
Der Kāma-Rūpa wurde – wie eben gesagt – durch vergangene Evolution während vieler Zeitalter entwickelt. Während des menschlichen Lebens ist es dieses Bündel oder dieser Komplex von Energien, den die höhere Triade benötigt, um mit den niederen, den materiellen Naturreichen auf dieser Erde, in Verbindung zu treten. Diesen Wunsch-Komplex zu überwinden und in ein Zentrum spirituellen Wollens umzuwandeln – anstelle der animalischen und selbstsüchtigen Neigungen – ist eine der evolutionären Aufgaben von Manas, dem reinkarnierenden Ego.
Die Entscheidung des Denkers im Inneren – entweder vom spirituellen Selbst oder von der niederen Vierheit beherrscht zu werden – schafft gutes oder schlechtes Karma, das sein gegenwärtiges und seine künftigen Leben formt. Der Zweck der Reinkarnation liegt darin, dass der Denker über eine lange Reihe von Erdenleben hinweg durch Erfahrung und selbstgeleitete Anstrengung, durch Freude und durch Schmerz die flüchtige und unbefriedigende Natur aller mit der niederen Vierheit in Zusammenhang stehenden Dinge unterscheiden lernen kann. Wenn er schließlich entdeckt, wie er sich mit seinem spirituellen Selbst verbinden kann, wird er seine sterblichen Teile zu Unsterblichkeit erheben.
Ein anderes wichtiges Prinzip der menschlichen Konstitution, das wir verstehen sollten, ist der sogenannte Astralkörper oder Liṅga-Śarīra. Liṅga bedeutet Modell oder Muster und Śarīra eine nicht dauerhafte Form. Dr. de Purucker beschreibt ihn in seinem Okkulten Wörterbuch als das sechste Substanz-Prinzip der menschlichen Konstitution,
das Modell oder Gerüst, um das sich der physische Körper aufbaut und aus dem in gewissem Sinn der physische Körper hervorfließt oder sich mit fortschreitendem Wachstum entwickelt.
Prāṇa können wir uns wie das ‘Feld’ vitaler Kräfte vorstellen, das unser astral-physischer Organismus beinhaltet. Es ist ein Aggregat vitaler Lebensatome, die dem Reservoir der Natur entnommen werden, und es wird in Bezug auf die Art und die Aktivität durch die karmischen Affinitäten und Eigenschaften des betreffenden Menschen bestimmt. Beim Studium der nachtodlichen Zustände ist das Verständnis dieser Prinzipien nicht so wichtig wie das der höheren, denn beide zerstreuen sich fast unmittelbar nach dem Tod. Dasselbe gilt für den physischen Körper.
Zustände nach dem Tod
Was geschieht nun mit diesen Prinzipien nach dem Tod? Zunächst trennt sich die höhere Triade von der niederen Vierheit, und letztere beginnt sofort zu zerfallen. Die Auflösung des physischen Körpers setzt sofort ein, wodurch ihr astraler Modellkörper oder Liṅga-Śarīra befreit wird, der sich ebenfalls auflöst. Prāṇa oder Vitalität zieht sich in das Reservoir der Natur zurück.
Beim Zurückziehen der höheren Triade und dem Auseinanderfallen der drei niederen Prinzipien wird der Kāma-Rūpa sozusagen als ein Bündel oder Rūpa (Form) von Wunsch-Energien abgetrennt. Er ist natürlich seelenlos, denn die höhere Triade, das wahre Selbst, ist gegangen; aber er wird für kürzere oder längere Zeit weiter existieren, je nachdem, ob die leidenschaftliche, selbstsüchtige Natur des Menschen während des gerade beendeten Lebens gefördert oder kontrolliert und verfeinert wurde.
Wo aber existiert dieser Kāma-Rūpa? Ist er noch lebendig und aktiv? Diese Schale des verstorbenen Menschen existiert in dem weiter, was in der Theosophie als Kāma-Loka bezeichnet wird – das heißt der ‘Ort’ oder die ‘Welt’ des ‘Verlangens’.
Es ist wichtig für uns, den Kāma-Loka-Zustand nach dem Tod zu verstehen, denn er übt eine sehr starke Wirkung auf den Fortschritt und das Glück des Menschen aus. Der gesamte psychologische Bereich, der sich im Bewusstsein vom Erdenleben bis zum Devachan – der spirituellen Himmelswelt – erstreckt, ist in der Theosophie als Kāma-Loka bekannt. Das Okkulte Wörterbuch gibt folgende Erläuterung zu diesem Begriff:
Ein zusammengesetztes Wort, das mit ‘Wunsch-Welt’ übersetzt werden kann; … . Es ist eine halbmaterielle Ebene oder vielmehr Welt – subjektiv und für den Menschen in der Regel unsichtbar –, die unseren physischen Globus umgibt und einschließt. Es ist der Aufenthaltsort der astralen Formen verstorbener Menschen und anderer toter Wesen – das Reich der Kāma-Rūpas oder Wunsch-Körper verstorbener Personen. Wie H. P. Blavatsky sagt, ist es „der Hades der Griechen und das Amenti der Ägypter, das Land der schweigenden Schatten“. In Kāma-Loka findet der zweite Tod statt, … . Die höchsten Regionen von Kāma-Loka gehen unmerklich in die niedersten Regionen oder Reiche von Devachan über … .
Wenn der physische Körper beim Tod zerfällt, verbleiben die astralen Elemente der entkörperten Wesenheiten in Kāma-Loka oder der ‘Schattenwelt’, wobei noch die gleichen Lebenszentren wie im irdischen Leben an ihnen haften und sie noch weiter beleben; hierbei finden gewisse Prozesse statt. Die niedere menschliche Seele, die mit irdischen Gedanken und den niederen Instinkten befleckt ist, kann sich nicht leicht aus Kāma-Loka erheben, da sie verunreinigt und schwer ist; ihre Neigung zieht sie infolgedessen nach unten. In Kāma-Loka findet die Trennung der Monade vom kāma-rūpischen Spuk oder Phantom statt; und wenn diese Trennung vollständig ist, was den oben erwähnten ‘zweiten Tod’ bedeutet, nimmt die Monade das ‘Reinkarnierende Ego’ in sich auf, in der es seine lange Ruheperiode der Glückseligkeit und Erholung genießt.
Der zweite Tod ist ein allmählicher Prozess, dessen sich der Durchschnittsmensch überhaupt nicht bewusst ist. Es ist ein völlig normaler Prozess. Wir sollten nicht vergessen, dass wir mit ‘Tod’ einfach den Zerfall der Elemente eines Körpers meinen. Wir sind uns dieses zweiten Todes nicht mehr bewusst, als wir uns der täglichen und ganz normalen und gesunden Auflösung unseres Körpergewebes bewusst sind oder der allmählichen und subtileren Veränderungen, die in unserem Charakter stattfinden. Denn dieses Bündel von Energien, das wir als Kāma-Rūpa oder Wunsch-Körper bezeichnen, arbeitet instinktiv. Obwohl es uns im Allgemeinen nicht bewusst ist, bewahrt es für einige Zeit die Prägung, den charakteristischen, persönlichen Eindruck des Menschen, zu dem seine Kräfte gehörten – kurz das menschliche Individuum, das den Kāma-Rūpa ins Dasein brachte. Und gerade das Verständnis dieser Tatsache ist so wichtig.
Eine große Anzahl spiritistischer Manifestationen entstehen daraus, dass das Medium und die anderen Anwesenden durch den Magnetismus intensiven Verlangens, durch Schmerz oder Neugierde diese Hüllen oder Masken oder Kāma-Rūpas der Verstorbenen anziehen, welche als deren Reste in den Sphären von Kāma-Loka zurückgeblieben sind. Solche Hüllen können magnetisch zur Gedankenatmosphäre eines Seancezimmers hingezogen werden und von dem Medium und ‘Kreis’ der Anwesenden Lebenskraft und eine bestimmte Richtung bekommen, wodurch sie zu einer Art fiktivem Leben stimuliert werden. Danach können diese Automaten – eine Art Schallplatte – Sätze, Erinnerungen und Gedanken wiedergeben, die eng mit dem Leben und der Persönlichkeit des Verstorbenen verbunden sind. Oder sie können – wie ein Film – die Gedanken der in dem Kreis Anwesenden wiedergeben. Zweifellos ist ein großer Teil der sogenannten ‘Mitteilungen von Verstorbenen’ von dieser Art.
Dass diese Mitteilungen selten etwas anderes als automatische Wiederholungen sind, zeigt sich in der Tatsache, dass noch nie so etwas wie eine kreative Philosophie dieser oder der kommenden Welt, Anweisungen für neue Wege der wissenschaftlichen Forschung oder für archäologische und historische Entdeckungen aus den Seancezimmern gekommen sind. Die wenigen vorsichtigen neuen Wege der Forschung, die der Spiritismus einbrachte, waren das Ergebnis von lebenden, nicht von verstorbenen Denkern.
Aber dies ist nur die negative Seite der Sache, wie wir in einem späteren Kapitel sehen werden.
Das folgende Diagramm gibt einen kurzen Überblick über die verschiedenen Prozesse und Zustände, die nach dem Tode durch das Auseinanderfallen der sieben Prinzipien des Menschen auftreten.
Devachan, die Himmelswelt
Die „rosige Schönheit“ der Himmelswelt: Das sind die Worte eines Lehres, der uns einen ersten flüchtigen Eindruck davon vermittelt, was uns die Theosophie über Devachan erzählt. Unter ‘Devachan’ versteht man jenen Seinszustand, in den sich das reinkarnierende Ego – allgemein als ‘Seele’ bezeichnet – allmählich nach Vollendung des Auflösungsprozesses beim zweiten Tod zurückzieht.
Das folgende Zitat beschreibt Devachan etwas näher:
Dieser Ausdruck ist ein zusammengesetztes sanskrit-tibetisches Wort: … Man kann es übersetzen mit Götterland, Götterreich. Es ist jener Zustand zwischen zwei Erdenleben, in den die menschliche Wesenheit, die menschliche Monade, eingeht und dort in Seligkeit und Ruhe bleibt. …
Devachan bedeutet Erfüllung aller unerfüllten spirituellen Hoffnungen der vorigen Verkörperung. Darin kommt all das spirituelle und intellektuelle Sehnen zur Blüte, das in jener vergangenen Verkörperung keine Gelegenheit zur Erfüllung hatte. Es ist eine Periode unaussprechlicher Seligkeit und unsagbaren Friedens für die menschliche Seele, bis die Zeit der Ruhe und der Wiederherstellung der eigenen Kräfte beendet ist.
– G. DE PURUCKER, Okkultes Wörterbuch
Wer hat nicht bei einem Rückblick auf sein Leben feststellen müssen, dass die meisten, vielleicht auch alle seine schönsten Träume unerfüllt geblieben sind? Auf unsere Jugendideale, die so rasch ‘im Licht des Alltags’ verblassten, folgten unsere Träume von wahrer Freundschaft, die wir niemals fanden, von musikalischen, literarischen, wissenschaftlichen oder humanitären Leistungen, die wir erstrebten, jedoch nie erreichten. Vielleicht ergab sich nicht einmal eine Gelegenheit, es zu versuchen. Und dann gibt es die Dinge, die wir so gerne für unsere Lieben getan hätten, aber wir waren zu ungeschickt oder zu beschäftigt, um sie auszuführen.
Diese Wünsche sind unser edelster Teil. Mehr als das – sie sind Energien, die – weil sie nicht zum Ausdruck kommen – umso stärker und mächtiger werden, solange sie in der Stille gehegt werden. Da sie Kräfte sind, müssen sie irgendwo Früchte tragen; und jene Früchte werden natürlich dort wachsen, wo sie ihren Ursprung hatten. Es sind diese Kräfte, die für uns die Bedingungen der Götterwelt erschaffen, der Himmelswelt – Devachan. Wir haben gesehen, dass die durch seine eigene unbewusste Aktivität erschaffenen niederen, mentalen Wünsche des Menschen dazu beitragen, die Bedingungen für seinen Bewusstseinszustand während seines Aufenthaltes in Kāma-Loka zu bestimmen, das unsere Erde mit einer mental-emotionalen Atmosphäre umgibt. Ebenso bauen seine höheren Gedanken, Sehnsüchte und Bestrebungen nach spirituellem Selbstausdruck sein Devachan auf. Devachan ist jener Bewusstseinszustand, in dem er von diesen höheren Kräften umgeben ist, die ihm spirituelle Früchte an Freude, Schönheit und Frieden bringen.
Nun könnten wir verleitet sein anzunehmen, Devachan wäre dem christlichen Himmel ähnlich. Aber in Wirklichkeit bestehen hier grundlegende Unterschiede. Vor allem kann die kreative Evolution des Menschen nur durch Wiedergeburt auf Erden stattfinden. Die Periode von Devachan bringt keine neuen Muster in der Entwicklung hervor; sie trägt nur die Früchte der spirituellen Aspekte der Erfahrungen, die im vergangenen Leben ihren Ursprung haben. Deshalb ist Devachan nur ein vergänglicher Zustand. Mehr noch, Devachan ist lediglich eine Erweiterung – eine subjektive Fortsetzung – des Karmas aus dem vergangenen Leben des Egos. Der Charakter von Devachan, die Schönheit, das Glück und die Dauer der Episoden werden lediglich durch die Entfaltung jener spirituellen Gedanken und Bestrebungen definiert, die das Ego während seines irdischen Lebens empfunden hat.
Die Ähnlichkeit zwischen Schlaf und Tod wurde bereits angesprochen. Der Schlaf – und wir betonen es abermals – ist ein unvollständiger Tod; der Tod ist ein vollständiger und perfekter Schlaf. Deshalb muss dem Tod, genau wie dem Schlaf, ein Erwachen zu einer neuen Periode der Aktivität in einem Erdenleben folgen. Und darin liegt selbstverständlich der größte Unterschied zwischen Devachan und dem christlichen Himmel.
Aber es gibt noch eine andere bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen dem Tod und dem Schlaf. Im Schlaf träumen wir und in unseren Träumen begegnen wir Menschen, die wir kennen; die Träume sind von vielerlei Erfahrungen erfüllt, die – solange sie andauern – genauso lebendig und fesselnd sind, wie die im Wachzustand. In Träumen können und führen wir Dinge aus, zu denen wir im täglichen Leben niemals imstande wären. Wir können vielleicht malen oder auf einem Instrument spielen, das wir lieben. Es gibt Menschen, die in ihrem Traum auf einem Musikinstrument spielen können, von dem sie im Wachzustand noch nicht einmal eine Ahnung haben. Manchmal begegnen wir interessanten neuen Freunden oder reisen in unbekannte Länder. Diese Träume, die schön oder unangenehm sein können, sind das Resultat unserer täglichen Gedanken und Wünsche, die sich auf diese Weise auswirken, wenn die Kontrolle des Verstandes nachlässt.
Der Tod, der nur ein längerer und vollständigerer Schlaf ist, ist ebenfalls eine Zeit des Träumens. Während jedoch unsere Träume in der Nacht oft beängstigend sind, sind sie nach dem Tod voller Trost und Schönheit. Denn wir haben die niederen Teile, in denen Alpträume aufkeimen und Leiden entsteht, abgelegt. Diese niederen Elemente wurden beim zweiten Tod zerstreut. Nichts ist in uns zurückgeblieben, wodurch wir leiden könnten, denn wir verweilen nun im Licht und der Reinheit der harmonischen Reiche des Geistes. Und über uns ist das göttliche Schild des spirituellen Selbst. Aber:
Während des Schlafs und nach dem Tod geht jeder Mensch zu den Plätzen, auf die er durch sein Denken und seine Bestrebungen, oder auch ohne diese, Anspruch hat. Anders ausgedrückt, es ist alles eine Frage der synchronen Vibration – der Mensch geht in sein natürliches Heim, sei es hoch oder niedrig.
– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, III:171
Die in Devachan verbrachte Zeit dauert durchschnittlich fünfzehnhundert Jahre. Die individuelle Regel lautet: hundert Jahre in Devachan für ein Lebensjahr auf Erden. Ein Mensch, der mit 50 stirbt, wird also 5 000 Jahre in Devachan verbringen, wenn er mit 80 stirbt, 8 000 Jahre und so weiter. Der niedrige Durchschnitt von 1 500 Jahren ergibt sich aus dem sehr großen Anteil von Menschen, die – aufgrund ihrer materialistischen Natur – in sich kein Fundament für die spirituellen Freuden von Devachan bilden und deshalb nicht in der Lage sind, über längere Zeit nicht erneut auf der Erde zu inkarnieren.
An dieser Stelle sollten wir uns daran erinnern, dass es einen deutlichen Unterschied zwischen einem bösen und einem lediglich materialistischen Menschen gibt. Nur die wirklich bösen Menschen, die durch Selbstsucht oder Triebhaftigkeit willentlich anderen Leid zugefügt haben, leiden in Kāma-Loka. Es gibt viele wohlmeinende und ehrliche Menschen, die nur für ihre eigenen Interessen und Vergnügungen leben. Sie leiden nicht in Kāma-Loka, da sie kein bewusstes Leid zugefügt haben. Sie können jedoch auch nicht die segensreichen Zustände von Selbstausdruck und Selbsterkenntnis der Himmelswelt erfahren. Wie könnten sie auch, da sie kein Fundament in ihrem Inneren gelegt haben? Weiter ist es beruhigend zu wissen, dass selbst das Leid jener, welche die mentalen Qualen von Kāma-Loka erleben, ein Ende hat, wenn die von ihnen angehäuften Energien zur Neige gehen; dann fallen sie in jenen Zustand von Unbewusstheit, der zu einer Wiedergeburt auf der Erde führt. Und während der Reinkarnation – wenn sie in ihrer eigenen Umgebung dem Leid begegnen, das sie anderen zugefügt haben – werden sie verstehen lernen, was Selbstsucht bedeutet, und so die Chance haben, aus dem Bösen zu Sympathie und Mitleid zu wachsen.
Auf einen bereits früher angesprochenen Aspekt zurückkommend wollen wir uns auch daran erinnern, dass das Leben nach dem Tod nicht ein Zustand der Existenz ist, der wie durch einen Abgrund von uns, so wie wir jetzt sind, getrennt ist. Die Zustände nach dem Tode sind: erstens die Auflösung unserer physisch-astralen und danach unserer niederen mentalen und emotionalen Bewusstseinszentren; zweitens – wenn das abgeschlossen ist – wird das Leben auf einer höheren als der uns jetzt bekannten Ebene fortgesetzt – in der unbegrenzten Aktivität unserer spirituellen Natur, in Zuständen, in denen sich diese Natur zum ersten Mal wirklich entfalten und erfüllen kann.
Die Furcht vor dem Tode beruht auf falscher Erziehung, die uns keine Vision über ein Leben nach dem Tod bietet, das in logischer oder normaler Beziehung zu dem steht, was wir hier auf der Erde kennen oder erfahren. Aber es gibt einen Faden der Kontinuität, der alle Erfahrung des Menschen in allen Welten durchzieht und die unsichtbaren Welten mit der Welt verbindet, in der wir heute leben.
… Wenn ein Mensch stirbt, dann ist es genauso, als würde er in einen sehr tiefen Schlaf fallen, in äußerste süße Unbewusstheit, es sei denn, dass das vitale Band abgerissen ist; dann ist die Seele, wie der Ton einer sanften goldenen Note, augenblicklich frei.
Was während des Schlafes geschieht, ist eine schwache Andeutung dessen, was mit einem Menschen beim Tod vor sich geht. Das persönliche Ego gerät in Vergessenheit und sein Bewusstsein wird in den spirituellen Teil zurückgezogen, wo es ruht und vorübergehend seinen Frieden findet. …
– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, III:171
Können wir mit den Verstorbenen in Verbindung treten?
Unsere alten, kindlichen Vorstellungen von Himmel und Hölle sind zurückzuführen auf Unwissenheit über unsere wahre Natur und über die Natur des Universums, zu dem wir gehören. Der ‘Himmel’ – und es ist gut, dies nochmals zu betonen – ist kein Ort, sondern ein Zustand des Seins, des Bewusstseins. Und unser Himmel ist keine Belohnung, wie wir bereits gezeigt haben, sondern eine natürliche Folge dessen, was wir aus uns selbst gemacht haben. Das trifft auch auf die ‘Hölle’ oder Kāma-Loka zu, die keine Strafe ist, sondern eine Folge unserer Taten auf Erden.
Wer mit diesem Bild von Himmel und Hölle nicht vertraut ist, könnte vielleicht fragen: „Aber wie ist es mit denjenigen, die ich liebe? Werde ich ihnen nach dem Tod wirklich nicht mehr begegnen?“ Wie wenig verstehen wir doch von uns selbst oder wissen darüber Bescheid, was unsere innersten Bedürfnisse sind! Denken wir an einen Mann, an einen alten Mann, der seine betagte Frau verloren hat, seine Gefährtin vieler von Freude und Sorge erfüllter Jahre. Wie möchte er sie wohl in der Himmelswelt anzutreffen, wenn sie dort als ihr wahres Selbst mit ihm vereint ist? Soll es die junge und schöne Freundin seiner Jugend sein oder die gebrechliche, jedoch geliebte Partnerin seiner alten Tage? Wird das für ihn nicht schwierig sein, wenn im Himmel buchstäblich wahr werden soll, was er fordert? Und die Mutter: Wird der Sohn, den sie als Kind verloren hat, immer noch ein Kind sein, oder wird sie ihn zufälligerweise nicht mehr erkennen, weil er mittlerweile aufgewachsen war? Das sind logische Fragen, die der Vorstellung entspringen, der Himmel sei eine bloße Örtlichkeit und unsere Lieben bloße physische Persönlichkeiten, an die wir uns so gerne erinnern. Der Mensch ist jedoch keine Persönlichkeit. Er ist ein spirituelles Wesen, das die Persönlichkeit als sein Instrument zum Sammeln von Erfahrung benützt.
… Der Mensch ist ein Embryo-Gott, eingekerkert in Gewänder aus Emotionen, Gedanken und Gefühlen, umhüllt von lähmenden inneren Schleiern, die ihrerseits in einen Körper aus Fleisch gekleidet sind; und der Mensch sollte wieder an eine Wahrnehmung des göttlichen Lichts im Inneren, des göttlichen Geistes im Inneren, erinnert werden … .
Mensch erkenne dich selbst, sagte das delphische Orakel, denn wenn du dich selbst kennst, wirst du das Universum kennen.
– G. DE PURUCKER, Lucifer, Mai 1933, S. 488 ff
Die Idee, dass wir im Himmel unseren Freunden tatsächlich so begegnen werden, wie sie mit uns in diesem Leben zusammen waren, ist eine materialistische Vorstellung, die direkt unseren persönlichen Vorstellungen entspringt und dazu beiträgt, die vorher erwähnten Schleier und lähmenden Fesseln zu errichten. Wenn wir die spirituelle Natur in uns studieren wollen – die der einzige dauerhafte Teil von uns ist –, werden wir erkennen, dass die wahre Himmelswelt mit unserer Persönlichkeit und den Persönlichkeiten unserer Freunde nur wenig gemeinsam haben kann; denn aus unseren eigenen Fehlern und Begrenzungen und denen anderer resultieren unsere größten Versuchungen.
Devachan ist vor allem ein Ort der Ruhe. Es ist der ‘Schlaf’ des Egos – vergleichbar mit dem Schlaf des Körpers –, während dessen er das assimiliert, was er an Kenntnis und Erfahrung in dem gerade beendeten Erdenleben gesammelt hat.
Wenn wir noch einmal auf unser Leben zurückblicken, entdecken wir, dass aus unseren menschlichen Beziehungen das herrührte, was uns am stärksten versucht und enttäuscht hat. Die Schwierigkeiten, die hauptsächlich aus den Umständen entstehen – wie frühe Behinderungen, Geldmangel oder Gelegenheiten verschiedener Art –, erwiesen sich in vielen Fällen als anregend und brachten das Beste zum Vorschein, das in uns schlummerte. Es sind die Menschen, die uns ermüden. Eine Mutter zum Beispiel, die lange, herzzerreißende Jahre gekämpft hat, ihren ungeratenen Sohn zu bessern und die schließlich daran scheiterte – wie könnte sie nach dem Tod ruhen, wenn sie wieder mit seiner ungestümen Natur vereint würde? Und wenn er seinen Unterhalt teilweise mit Verbrechen bestritt, mit starken animalischen Wünschen und Neigungen lebte, wie könnte er mit ihr zusammen in Devachan existieren? Er hat für sich keine Himmelswelt aufgebaut. Er wird stattdessen eine Periode der Unruhe in Kāma-Loka durchlaufen und schließlich in Schlaf versinken, um auf der Erde wiedergeboren zu werden. Und da sich seine Mutter im Gegensatz zu ihm eine lange und segensreiche Ruhe in Devachan verdient hat, wird er vielleicht lange vor ihr reinkarnieren und – indem er durch Leiden und die Folgen schlechter Handlungen in seinem vergangenen Leben lernt und sich entwickelt – ihr vielleicht in einer späteren Inkarnation als ein besseres und liebevolleres Kind begegnen. So wird die aufrichtige Mutter ihren Lohn erhalten; denn in Devachan werden alle ihre Träume für diesen Sohn verwirklicht, und sie wird freudig erleben, wie ihre liebevollen Opfer in seinem Charakter Früchte tragen. Weil die Liebe die durchdringendste und schöpferischste Energie im Universum ist, und weil wir eine tiefe innere Verbindung mit unseren Toten haben, wird ihn ihre Freude über seine erfolgreiche Besserung erreichen, wo immer er ist und sie wird vielleicht ein mächtigerer Einfluss zum Guten sein –denn sie wird unbewusst auf ihn wirken –, als ihre lebendige Gegenwart mit ihren möglicherweise irritierenden Einschränkungen. Denn es gibt Träume, die mächtiger sind als sogenannte Realitäten.
Die Natur ist weise und voller Mitleid. Während wir in der Himmelswelt ruhen, schützt sie uns vor allen äußeren und störenden Einflüssen. Sie erlöst uns von unseren emotionalen Wünschen und Begierden und heilt unser verletztes und müdes Herz. Und wenn diese Zeit der Erholung vorüber ist, werden wir auf der Erde wiedergeboren und schließen uns wieder denen an, die zu uns gehören – in neuen Beziehungen, welche bessere Gelegenheiten und weiteres Wachstum bieten.
Natürlich führen uns diese Gedanken zu einer Betrachtung des Themas über den ‘Kontakt mit den Toten’. Damit meinen wir allerdings nicht die unterschiedlichen Methoden sogenannter Kommunikation, die in den Séancezimmern praktiziert werden. Die Theosophie bestreitet, dass es sich dabei tatsächlich um Botschaften des spirituellen Selbst unserer Verstorbenen handelt. Es wurde bereits erklärt, dass Kāma-Loka, das sich in seinen unterschiedlichen Stufen– höheren und niederen – mit der Gedankenatmosphäre unserer Welt vermischt, mit den Kāma-Rūpas oder Hüllen von kürzlich verstorbenen Menschen erfüllt ist. Diese Hüllen werden auch Elementare und Spuk genannt.
Um es zu wiederholen: Die Hülle ist das Doppel oder das scheinbare Ebenbild in Aussehen und Charakter der verstorbenen Persönlichkeit. Wie ein ausgezogener Handschuh bewahren sie die Form desjenigen, der sie so lange benützt hat. Diese Hüllen sind aus Lebensatomen aufgebaut und spiegeln nicht nur die Gesichtszüge wider, sondern auch die Gewohnheiten und mentalen Merkmale des Verstorbenen. Das ist möglich, weil ihr Eigenleben aus mechanischen Erinnerungen des gerade beendeten Lebens besteht. Denn sie sind in der Tat nichts anderes als Automaten; und als Automaten sind sie sich ihrer selbst nicht bewusst, es sei denn, sie werden durch Medien so sehr angeregt, dass sie zu einem falschen und gefährlichen Scheinleben erweckt werden. Aber für gewöhnlich sind die Botschaften, die sie auf Drängen von Medien und Anwesenden überbringen, nichts anderes als das gespensterhafte Echo einer Stimme, dessen Eigentümer verschieden ist. Das Ego, das diese astral-psychologischen Gewänder abgeworfen hat, wartet auf den zweiten Tod und die Stunde, wenn es in die Ruhe von Devachan eingehen kann. Diese gesegnete Stunde der Erlösung für das Ego wird verzögert, wenn seine kāma-rūpische Schale durch die Anstrengung von Medien und anderen intakt gehalten wird, anstatt dem natürlichen Prozess der Auflösung zu folgen.
Diese psychischen Praktiken können noch weitaus schlimmere Wirkungen erzeugen. Durch das Medium und die Aktivitäten während der Séance kann eine falsche und gefährliche Liaison zwischen der sich auflösenden Hülle und den unglücklichen Verwandten des Verstorbenen zustande gebracht werden; das kann zu unglücklichen karmischen Konsequenzen für alle führen, die betroffen sind. Es wird davor gewarnt, dass alle nekromantischen Praktiken die Tür eines psychischen Leichenhauses öffnen, dessen Ausdünstungen viel ungesünder und gefährlicher für den Menschen sind, als jene der letzten Ruhestätten der physischen Überreste. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten zeigt die Theosophie der westlichen Welt jene Philosophie und Wissenschaft spiritueller Hygiene, durch welche dieser schädliche Psychismus aus unserem Leben ausgeschlossen werden kann.
Die Theosophie verwirft den sogenannten ‘Kontakt mit den Toten’. H. P. Blavatsky schrieb in ihrem Buch Der Schlüssel zur Theosophie, über den Unterschied zwischen Theosophie und Spiritismus:
… Die Spiritisten sind der Auffassung, dass alle diese Manifestationen von den ‘Geistern’ verstorbener Menschen hervorgerufen werden, meist von ihren Verwandten, von denen sie sagen, dass sie zur Erde zurückkehren, um mit jenen, die sie geliebt haben und denen sie ergeben sind, Verbindung aufzunehmen. Das bestreiten wir entschieden. Wir behaupten, dass die Geister der Verstorbenen nicht zur Erde zurückkehren können, außer in seltenen Ausnahmefällen, über die ich später sprechen werde; sie können sich Menschen auch nicht mitteilen, außer auf eine rein subjektive Weise. Was objektiv erscheint, ist nur das Phantom des physisch nicht mehr existierenden Menschen.
– S. 27/28
Über die wenigen Fälle wirklicher Verbindung zwischen den Toten und den Lebenden sagt sie im selben Kapitel:
… es sind nicht die Geister der Toten, die zur Erde heruntersteigen, sondern die Geister der Lebenden, die zu der reinen Spirituellen Seele aufsteigen. In Wahrheit gibt es weder ein Auf- noch ein Absteigen, sondern eine Veränderung des Zustandes oder der Bedingung. …
– S. 30
Und wenn sie über die ursprüngliche Verbindung – nicht ‘Verständigung’ – mit den Dahingeschiedenen spricht, erläutert sie sehr klar im selben Absatz:
… es gibt kaum einen Menschen, dessen Ego – während sein Körper schläft – keinen freien Umgang mit seinen entschlafenen Lieben hätte; da seine physische Hülle und sein Gehirn jedoch viel zu positiv und unempfänglich sind, erinnert er sich nicht daran, sie ziehen sich höchstens vage, traumhaft unbestimmt, leise in die Erinnerung des wachen Menschen hinein.
– Ebenda
In den vorhergehenden Passagen finden sich verschiedene Vorstellungen, die einleuchtend sind, wenn wir darüber nachdenken. Die Begriffe ‘objektiv’ und ‘subjektiv’ sowie ‘eine Veränderung des Zustands oder der Bedingung’ enthalten beispielsweise den Schlüssel zu der wahren Verbindung mit unseren Toten. Diese Ausdrücke betonen die Tatsache, dass das spirituelle Hellsehen – kein astrales oder psychisches – zu unserer inneren oder subjektiven Natur gehört und nichts mit den materiellen oder astralen Sinnen zu tun hat. Das trifft sowohl bei Medien und Sensitiven als auch bei normalen Menschen zu. Der Unterschied zwischen diesen beiden Arten der Manifestation ist leicht erkennbar: Die objektive oder psychische ist irreführend und die Moral zersetzend, während die subjektive oft eine segensreiche und tief spirituelle Erfahrung bedeutet.
Eine der größten, von den meisten Menschen gehegten Illusionen ist heutzutage die Ansicht, dass wir die Verbindung zu den geliebten Menschen verlieren, wenn sie sterben; und selbst viele, die glauben, dass sie ihre geliebten Mitmenschen in einem künftigen Erdenleben wieder treffen, leiden unter der gleichen Illusion. Nun ist es auf keinen Fall wahr, dass der Geist jemals nach dem Tode zurückkehren kann, um mit den Lebenden in irgendeiner Weise Umgang zu haben, ganz abgesehen von der unzweifelhaften Grausamkeit sowohl für den Verstorbenen als auch für diejenigen, die er zurückließ, ganz abgesehen von der außerordentlich materialistischen Atmosphäre dieses Gedankens – es sollte einleuchtend sein, dass ein entkörperter Geist weder zu irgendeiner Zeit noch unter irgendwelchen Umständen auf die Erde ‘herunterkommen’ kann. Nach dem Tode und nachdem die prāṇischen Hüllen in verschiedenen Prozessen im Kāma-Loka abgeworfen worden sind, erhebt sich das menschliche Ego in seine devachanische Ruhe und ist danach von allem unerreichbar, ausgenommen von dem, was von seinem eigenen Charakter oder von seiner eigenen hohen spirituellen Art ist. Gerade in diesem letzten Satz liegt der Grund, warum wir niemals annehmen sollten, dass wir jede spirituelle Verbindung mit den Menschen verlieren, die wir geliebt haben; denn die höheren Teile unseres Wesens können in jedem beliebigen Augenblick durch gleichgestimmte Sympathie ihre Schwingungen mit denen des Devachanī verbinden und so zeitweilig mit ihm eins werden. …
…, wenn tatsächlich aufrichtige spirituelle Liebe vorhanden ist, die sich nicht einmal bemühen muss, um mit dem Verstorbenen in Verbindung zu treten, denn eine solche unpersönliche Liebe wird sich ganz automatisch zu dem Devachanī erheben und wird dem, der sich auf Erden befindet, die innere Überzeugung geben, dass die Verbindung nicht abgebrochen ist.
Der Devachanī wird durch die der Natur eigenen Gesetze beschützt. Nichts auf der Erde kann ihn erreichen, … . Nur die spirituelle Liebe kann zu einer inneren Verbindung mit denjenigen, die uns vorausgingen, aufsteigen. Eine Liebe, die irgendetwas Selbstsüchtiges oder Persönliches in sich hat, kann niemals die devachanischen Zustände erreichen. Es ist jedoch meine tiefe Überzeugung, dass es unvergleichlich besser ist, nicht einmal zu versuchen, mit dem Devachanī in Verbindung zu treten, weil die Liebe der wenigsten von uns von solch reinem und heiligem Charakter ist, dass sie geeignet oder auch nur imstande ist, zu dieser hohen Ebene der Unpersönlichkeit aufzusteigen.
– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, III:150-151
Ein Rückblick
Um die theosophischen Lehren in Bezug auf die Zustände nach dem Tod abzurunden, sollten wir – bevor wir weitergehen – solche Ausnahmen wie Unfalltod, Todesstrafe und Selbstmord einer Betrachtung unterziehen. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass sowohl vor als auch nach dem Tode dieselben Bewusstseinzustände existieren. Wir sind uns ihrer als solche jedoch nicht bewusst, weil sie sich alle miteinander vermischen und in uns wirken – mehr oder weniger wie ein einziger Zustand psychologischer Aktivität, der in Wirklichkeit natürlich zusammengesetzt ist, sich aber demjenigen, der sie zu einem einzigen Gewebe des Seins vereinigt, nicht so darstellt.
Nach dem Tod, wenn das spirituelle Selbst seiner Wege gegangen ist, zerfällt dieses Gewebe in seine Bestandteile. Das ist vergleichbar mit den chemischen Elementen, die sich zur Schaffung eines physischen Körpers mit einem gemeinsamen und eindeutigen Bewusstsein seiner selbst und seiner Funktionen miteinander verbinden, nach dem Tod jedoch ihrer eigenen Wege ziehen, wodurch das entsprechende physische Bewusstsein verschwindet. Das, was unsere psychologischen Aspekte zu einem einzigen Gewebe vereinigt, ist die Selbstheit; was das Gewebe auflöst, ist der Abschied dieser Selbstheit, des spirituellen Selbst.
Was aber geschieht, wenn ein Selbst nicht fortgeht, obwohl der physische Körper stirbt und sich auflöst?
Wenn ein Mensch geboren wird, kann seine Konstitution mit einer Uhr verglichen werden, die für eine bestimmte Zeit aufgezogen wurde. Wenn man das Uhrwerk beschädigt, wird es vorzeitig stillstehen, sonst nicht. Die Wissenschaft erkennt, dass jeder Organismus sozusagen sein Zeitlimit oder seine Lebensperiode hat. Jeder Mensch besitzt in sich ein Reservoir an Lebenskraft, aus dem er schöpfen kann, wenn er außergewöhnlichen Spannungen ausgesetzt ist, wie z. B. einer gefährlichen Krankheit oder einer Periode quälender Ungewissheit. Wir sagen dann, dass solche Erfahrungen auf Kosten unserer Lebenskraft gehen.
Dieses Reservoir an Lebenskraft ist unser vital-psychologischer Teil. Vitalität und instinktive Willenskraft erhalten uns am Leben. Nach der Theosophie entspringen diese Kräfte nicht dem physischen Körper. Selbstverständlich hängen sie während eines Erdenlebens vom Körper ab, um sich durch ihn zum Ausdruck zu bringen, aber sie haben dort nicht ihren Ursprung. Deshalb werden diese Kräfte beim Tod des Körpers nicht vernichtet, sie schwinden vielmehr erst dann, wenn ihre eigene Energie erschöpft ist, welche die Dauer ihrer Existenz bestimmt.
Deshalb ist im Falle eines vorzeitigen Todes der Körper der einzige Teil, der sich aufzulösen beginnt. Denn im natürlichen Ablauf ist der Zeitpunkt noch nicht gekommen, an dem das spirituelle Selbst seine periodische, evolutionäre Anziehungskraft zu den unsichtbaren Welten verspürt. Die menschlichen Anziehungskräfte, die sein Selbst an das Leben auf der Erde banden, sind noch lange nicht erschöpft. Das Pendel der irdischen Erfahrungen hat seine festgelegte Bahn noch nicht zurückgelegt.
Was ist also geschehen? Eine vollständige menschliche Wesenheit, nur ohne physischen Körper, bleibt in Kāma-Loka zurück, um anstelle der gewohnten Existenz auf der Erde ihre angemessene Lebensperiode in dieser Sphäre zu verbringen.
Man spricht zwar von einem ‘Unfalltod’. Aber in Wirklichkeit gibt es so etwas wie einen Unfall nicht. Es mag uns so erscheinen, weil wir die inneren Ursachen nicht erkennen, die zu diesem Ereignis führten. Aber das Universum wird von moralischer Gerechtigkeit regiert. Kein Mensch ist zum ersten Mal hier auf der Erde. Jeder hat schon viele andere Leben auf diesem Globus verbracht; und es waren unsere Gedanken und Handlungen in diesen früheren Leben, die uns zu dem gemacht haben, was wir heute sind. Wenn ein Mensch von einem zu schnell fahrenden Auto überfahren wird oder von einem Felsen stürzt, geschieht das, weil er selbst in diesem oder in einem früheren Leben eine Kette von Ursachen geschaffen hat, die zu diesem Unglück führten. In ihm selbst liegen die Ursachen, die ihn an den Ort oder in die Umstände führten, wo der ‘Unfall’ geschah. So ist dieser Unfalltod in Wirklichkeit ein Teil seines Karmas, eine Folge früherer Handlungen, die er selbst beging. Trotzdem hat sein Karma ihn vorzeitig von seiner irdischen Existenz getrennt. Dieser sogenannte ‘Unfall’ ist ein Teil des ungünstigen Karmas, das er durch frühere Fehler selbst geschaffen hat.
Was geschieht nun im Falle eines sogenannten Unfalltodes? Das wird natürlich von dem Menschen selbst abhängen. Wenn sein Leben von unedlen Wunsch-Elementen erfüllt war, aus denen die niederen Schichten von Kāma-Loka bestehen, wird er zu diesen niederen Elementen gravitieren. Und genau die Identität seines Bewusstseins mit ihnen wird ihn dort am Leben erhalten. Genau in dem Maß, in dem er selbstsüchtig war oder seine animalischen Neigungen kultiviert hat, wird er in dieser niederen mentalen Sphäre, die der physischen Existenz so nahe steht, äußerst lebendig bleiben. Er wird jedoch lediglich das Verlangen seiner Begierden verspüren – er wird keinen Körper haben, um sie zu stillen. Von dem, was gute Menschen richtigerweise als die Hölle seiner Selbstsucht auf der Erde bezeichnen würden, geht er mit dem Tod in eine wahrhaftige Hölle mentaler Tortur in Kāma-Loka über.
Wenn wir an Kriminelle in allen Ländern denken, deren Leben durch die Todesstrafe ein plötzliches Ende gesetzt wird, können wir erkennen, welch mächtige Kraft des Bösen wir mit einer solchen Tat in die Gedankenatmosphäre der Menschheit freisetzen. Diese entkörperten, aber noch immer lebendigen Menschen beleben in der mentalen Sphäre der Menschheit sowohl Gedanken des Hasses und der Rachsucht als auch unedle Wünsche und Neigungen. Solche Bedingungen in der Gedankenatmosphäre der Welt müssen den spirituellen Fortschritt all jener hemmen, die Sympathie mit ihnen empfinden. Ist es da verwunderlich, dass die meisten Sozialreformen offensichtlich auf zunehmende Schwierigkeiten stoßen? Und ist es nicht bezeichnend, dass eine Abnahme der Kriminalität in den Ländern zu beobachten ist, welche die Todesstrafe abgeschafft haben?
Aber es gibt natürlich auch die schönere Seite des Bildes. Glücklicherweise sind die durchschnittlichen Menschen von dem vorher Beschriebenen sehr verschieden. Wenn ein Mensch, dessen Leben von Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft geprägt war, durch einen Unfall ums Leben kommt, wird er in seiner psychologischen Natur wenig mit dem niederen Kāma-Loka gemein haben. Es wird daher nichts geben, was ihn sozusagen in diesen niederen Sphären am Leben erhält. Er wird in einen längeren Schlummerzustand fallen – in denselben Zustand, den er im Fall eines normalen Todes in kürzerer Form durchlaufen würde. Sein ganzes Leben lebte er – wenn auch unbewusst – einigermaßen in Harmonie mit seinem spirituellen Selbst; und als natürliche Reaktion kann ihn dieses Selbst schützen und in seinen eigenen göttlichen, auf ihn wartenden Frieden aufnehmen. Und so wird er schlafen, bis der Moment gekommen ist, in dem sein spirituelles Selbst den Ruf hört oder den Drang verspürt, die Reise in sein eigenes inneres Reich anzutreten.
Dann beginnt auch der psychologische Auflösungsprozess, der ‘zweite Tod’. Jener Teil der psychologischen Natur, der in den höheren Regionen von Kāma-Loka ruht, wird von dem reinkarnierenden Ego absorbiert. Die niederen Teile zerfallen in ihre Bestandteile.
Die beiden vorherigen Beispiele sind als typische Fälle angegeben. Verschiedene Aspekte des allgemeinen Zustands wurden von Dr. de Purucker einmal folgendermaßen beschrieben:
Für jeden Mann und für jede Frau auf dieser Erde gibt es Kāma-Loka. Aber es gibt so viele unterschiedliche Arten von Existenzen in Kāma-Loka als es Existenzen auf der Erde gibt; und der Durchschnittsmann oder die Durchschnittsfrau durchläuft Kāma-Loka beinahe ohne es wahrzunehmen. Ein sehr schlechter, sehr böser Mensch – Mann oder Frau – dagegen nimmt seinen Aufenthalt in Kāma-Loka sehr genau wahr; und es gibt Fälle, in denen das Leiden einfach schrecklich ist. Aber es ist mentales Leiden … . Sehr gute Männer oder Frauen gehen durch Kāma-Loka und bemerken es nicht. Diese Unbewusstheit, das uns die mitleidsvolle Natur im Augenblick des Todes bringt, dauert ohne Unterbrechung fort; sie besteht ohne Pause fort, bis Devachan [die Himmelswelt] mit seiner rosafarbenen Schönheit betreten wird. …
Die körperlose Wesenheit, die der verstorbene Mensch ist, verbleibt gerade so lange in Kāma-Loka, wie es seinen karmischen Verdiensten entspricht – und keinen Augenblick länger.
– The Theosophical Forum, Feb. 1933, S. 176
Und im Fall eines Unfalltods:
… wenn die dem normalen Tod des physischen Körpers entsprechende Zeit erreicht ist, gibt es ein Erwachen in Kāma-Loka und der einfache Prozess der Befreiung von Kāma-Loka, den alle Menschen durchlaufen, wird begonnen. … Kāma-Loka ist nicht schrecklich, außer für jene, die wirklich böse sind. Auch auf unserer physischen Erde gibt es schreckliche Orte, schrecklich für die Menschen, die böse sind und gefangen werden.
– Ebenda
Selbstmord ist die unglücklichste aller Arten von gewaltsamem Tod. Das kommt daher, weil es bedeutet
… sich absichtlich das Leben zu nehmen, um den Konsequenzen dessen zu entfliehen, was man verdient hat; und wenn irgendjemand denkt, dass er die Natur auf diese Art betrügen kann, irrt er vollkommen. Er fügt der schweren Last, die er in der Zukunft zu tragen hat, nur noch weitere hinzu. … Er fordert die Natur sozusagen absichtlich heraus. Er setzt in voller Absicht seine eigene Willenskraft und sein Bewusstsein auf widernatürliche Art für eine unheilige Sache ein und begeht eine Tat, welche die Natur durch ihre nie irrenden Gesetze nicht aus sich selbst heraus hervorgebringt; und wenn man ein Naturgesetz bricht – was geschieht dann?
– G. DE PURUCKER, Questions We All Ask, Serie I, Nr. 6
Die Antwort kann leicht gegeben werden:
Das Schicksal eines Selbstmörders ist traurig, wirklich schrecklich, und es ist gut und richtig, dass die Wahrheit über Selbstmord gesagt wird. Selbstmord schneidet das Leben ab, das die Natur, wie es in der Theosophie heißt, länger plante; und er hat sich in einen post-mortem Zustand versetzt, in dem er leben und sehr leiden muss, bis das Ende seiner Lebenszeit – hätte er auf Erden gelebt – gekommen ist. Das Schicksal eines Selbstmörders ist schrecklich.
– Ebenda, Serie II, Nr. 19
Der springende Punkt liegt darin, dass Selbstmord willentlich das Leben beendet, das gemäß Karma länger hätte dauern sollen. Bei anderen Formen des gewaltsamem Todes wie Unfall, Verbrechen oder Todesstrafe handelt es sich um ein karmisches Geschehen. Mit dem Erleiden eines solchen Unglücks zahlt der Mensch seinen ‘karmischen Preis’. Indem er die Folgen seiner eigenen Taten aus der Vergangenheit erleidet, macht er sozusagen reinen Tisch in Bezug auf diese besondere Schuld.
Aber der Selbstmörder, der durch seine Tat den Konsequenzen seiner Fehler im Leben entgehen will und der – was oft geschieht – die Bürde anderen überlässt, hat für sich selbst eine neue Ursache für Leid in Bewegung gesetzt. In seinem nächsten Leben wird er denselben Bedingungen die Stirn bieten müssen, welche in diesem zu seinem Selbstmord geführt haben, nur in einer Form, die gerade durch die Energie seiner Weigerung, ihnen jetzt zu begegnen, intensiviert wird. Jede unserer Handlungen ist aus Energie gemacht, und mit jeder Intensivierung der Energie vertiefen sich die Konsequenzen. So wird der spätere Zustand eines Selbstmörders wahrhaftig schlimmer sein als zuvor.
Der post-mortem Zustand eines Menschen, der sich das Leben nimmt, besteht darin, dass er den Schrecken seiner Tat und die mentale Qual, die dazu führte, wieder und wieder erlebt. Selbstmörder und exekutierte Kriminelle müssen in den meisten Fällen zu mächtigen Strudeln kranker Gedankenenergien werden, die ihre Kraft den bestehenden Hindernissen für den spirituellen Fortschritt der Welt hinzufügen.
Es ist jedenfalls gut sich zu erinnern, dass diese bedauernswerten Fälle, die wir besprochen haben, nur einen ganz kleinen Teil der großen Masse von Menschen bilden. Der bei weitem größte Teil von Unfalltoden betrifft Menschen, die ein gutes und normales Leben führten, und ihre post-mortem Zustände können nur friedlich sein. Reinkarnation bietet jedem Einzelnen Leben um Leben eine neue Chance und führt den Menschen am Ende zu seiner eigenen Erlösung.
Wir können dieses Kapitel ganz passend mit folgenden Worten von Dr. de Purucker beenden:
Jedes Mal, wenn wir intensiv leiden, ich meine mentales Leiden – wenn es etwas Besonderes ist, das die Elemente eines Gewissenskonfliktes oder intensiver Reue beinhaltet –, dann handelt es sich dabei um Kāma-Loka. Man befindet sich dann in Kāma-Loka, selbst wenn man im physischen Körper lebt. Beachten wir die Lehre, die daraus gezogen werden kann. Man erkennt, warum H. P. Blavatsky so darauf bedacht war, dass die Lehre über Kāma-Loka und Devachan unter den Menschen als eine Warnung, wenn auch nur als Warnung, verbreitet werden sollte. Führen wir ein anständiges Leben, ein anständiges Leben als Mann oder Frau, und wir brauchen uns über Kāma-Loka nicht den Kopf zu zerbrechen. Man muss nicht einmal darüber nachdenken, denn man wird davon nichts wissen. Man wird lediglich wie ein Meteor hindurchgehen, aber sozusagen aufwärts.
– G. DE PURUCKER, The Theosophical Forum, Feb. 1933, S. 177
Der Tod und die Monade
Der Gedanke an den Tod der von uns geliebten Menschen und die Aussicht auf unseren eigenen ist jedem von uns so vertraut, dass wir leicht die weitreichenderen und wirklich tiefen Erfahrungen übersehen, die der Tod für einen spirituellen Menschen birgt. Aber die Theosophie, die eine Erklärung der Tatsachen der Existenz darstellt, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf diese erweiterte Sichtweise; denn das, was wir den Tod nennen, und die Lebenszustände, die ihm folgen, sind für die Evolution des Individuums und der Rasse von äußerster Wichtigkeit.
Die Theosophie behauptet, dass die Probleme des Lebens erst gelöst werden können, wenn unsere Forscher erkennen, dass das Geheimnis allen Lebens vielmehr in der unsichtbaren als in der physischen Welt liegt. Die Wissenschaftler selbst beginnen das zu vermuten. Einer von ihnen, Professor J. Y. Simpson, ehemaliger Professor für Physik in Edinburgh, machte diese bedeutsame Bemerkung:
Mit physikalisch-chemischen Instrumenten und Methoden ist es schwer vorstellbar, irgendetwas anderes als physikalisch-chemische Ergebnisse zu messen; und wenn sie für die Untersuchung des Lebens angewendet werden, stellt eine solche Praxis naturgemäß keinen Beweis dafür dar, dass es in den Charakteristika des Lebens nichts gibt, was über ein physikalisch-chemisches Ereignis hinausgeht. Dass das Denken – welches jegliches Experimentieren ersinnt – selbst das Nebenprodukt analoger physikalisch-chemischer Ereignisse sein kann, scheint darüberhinaus eine Annahme zu sein, welche für die Voraussetzungen schwer haltbar ist.
– The Listener, 8. März 1933
Wir wollen diesen wichtigen negativen Standpunkt durch die positive Sichtweise in Dr. de Puruckers Worten ergänzend zum Ausdruck bringen.
Um das äußere Universum zu kennen, muss man den Erkenner im eigenen Inneren in rege Tätigkeit versetzt haben. … Um das Universum zu verstehen, muss man das Verständnis des Herzens haben, die Fähigkeit des Verstehens. Können Sie die Idee erfassen? Während also beispielsweise die Wissenschaftler großartige Arbeit leisten, … versagen sie doch in dem Punkt, dass sie selbst nicht Erkennende sind, dass sie nicht ursprünglich verstehen, was sie entdecken. Wir müssen unser eigenes Inneres kultivieren.
– The Theosophical Forum, April 1933, S. 230
Das Geheimnis der Evolution ist daher in der inneren Natur des Menschen zu suchen und in den unsichtbaren Welten, von denen unser sichtbares Universum nur der physische Beweis ist, so wie der Körper des Menschen der sichtbare Ausdruck seines unsichtbaren, jedoch ursächlichen Selbst ist – seiner Monade.
Wir wollen uns hier ins Gedächtnis rufen, was wir unter der Monade verstehen, worüber wir bereits in Kapitel III gesprochen haben. Eine Monade ist eine Einheit von Bewusstsein, eine unzerstörbare Einheit von Individualität. Im Herzen eines jeden Wesens existiert eine Monade – vom Atom bis zur Sonne. In einem Atom ist die Monade weit weniger evolviert als im Menschen, der begonnen hat, vollkommen selbstbewusst zu werden. Die Monade im Herzen einer Sonne ist bis zum Zustand des Göttlichen evolviert. Im Menschen können wir sein spirituelles Selbst als die Monade betrachten.
Evolution wird grundsätzlich durch Monaden zustande gebracht. Die Monaden, die heute das Menschenreich bilden, begannen ihre Evolution in längst vergangenen Zeitaltern, indem jede für sich ein Vehikel in jeder der niederen Ebenen und Reiche aufbaute – zunächst im Mineral- und Pflanzenreich, später evolvierte die Monade eine animalische Natur mit einem physischen Körper. Schließlich entfaltete sie aus ihrem Inneren eine Kraft, die wir das egoische Bewusstsein oder das selbstbewusste Ego nennen. Die unterhalb des Menschen stehenden Naturreiche bestehen aus Monaden, die noch kein Selbstbewusstsein entwickelt haben. Im Großen und Ganzen können wir sagen, dass der Mensch nun eine Monade oder ein spirituelles Selbst (Ātman-Buddhi) ist, das sich mittels eines selbstbewussten, reinkarnierenden Egos (Manas, dual, höheres und niederes) zum Ausdruck bringt; diese Egos ihrerseits wirken durch eine niedere Triade: Kāma, einen Modellkörper und einen physischen Körper, wobei Prāṇa für beide als Lebensatem dient (siehe das Diagramm auf Seite 25).
Der gesamte Zweck dieser evolutionären Reise durch alle Reiche ist zweifach: Erstens wird die Monade befähigt, die Früchte des Selbstbewusstseins auf den Ebenen zu ernten, die unterhalb ihrer eigenen spirituellen Ebene stehen; zweitens wird die Evolution der Lebensatome – jedes Atom mit seiner eigenen, beseelenden Monade – unterstützt, und sie formen die verschiedenen Vehikel auf den unterschiedlichen Ebenen der Evolution – materiell, emotional, intellektuell und spirituell. Um den Tod, das erhabenste aller Mysterien, begreifen zu können, müssen wir etwas über diesen Evolutionsprozess und seinen Zweck wissen.
Der Mensch hat im Kern seines Wesens einen Gott im Inneren, der er nicht selbst ist, sondern seine Wurzel und sein spiritueller Ursprung – die Monade, aus der er unbewusst seine spirituelle Vitalität schöpft. Dieses göttliche Wesen in uns ist unser Anreger, Beschützer und Leitstern, die Stimme des Mitleids und des Gewissens in unserem menschlichen Herzen. Sein heiliges Licht erweckt in uns alle Ideale und wahren Bestrebungen. Ohne diese uns umgebende und alles durchdringende Anwesenheit würden wir schnell wie hilflose menschliche Nachtfalter in der heißen Flamme materieller Trugbilder verbrennen.
Die Monade ist also ein Teil von uns oder, besser gesagt, wir sind ein Teil von ihr; und dennoch sind wir nicht die Monade. Wir können nicht getrennt von ihr existieren, weil sie unser Bindeglied oder unser Verbindungskanal mit dem universalen kosmischen Leben ist.
Nun ist die Monade selbst ein Individuum auf ihrer eigenen (für uns) unsichtbaren Daseinsebene. Manchmal, wenn wir vielleicht kurz über die Beschränkungen unseres täglichen Selbst durch eine Tat der selbstlosen Liebe, das Bemühen um besondere Selbstdisziplin oder durch starke Sehnsucht nach dem Göttlichen in uns hinauswachsen – in solch einem Augenblick ergreift manchmal eine Schwingung der Freiheit, der Einsicht, des reinen Glücks oder Friedens von uns Besitz. Eine Zeitlang atmen wir den Äther einer reineren Welt, und alle Dinge erscheinen uns auf einmal möglich. Das ist das Licht des Gottes, der Monade in uns. Dieser Gedanke oder diese Tat wirkt wie ein Klopfen an die verschlossene Tür ihres Reiches der spirituellen Erleuchtung, die Tür öffnet sich kurz, um einen Strahl des Lichts in das nach oben strebende Herz zu werfen.
So hat der Gott in uns seine eigene spirituelle Welt. Er lebt auch dort und macht seine Erfahrungen, wächst und erhellt gleichzeitig das reinkarnierende Ego auf seiner Reise durch die Schatten des Erdenlebens. Sein eigenes Reich liegt in der ursächlichen göttlichen Welt, von der diese physische Sphäre das äußere Kleid oder Vehikel ist.
Es hat wenig Zweck zu fragen: „Wo befindet sich diese innere, unsichtbare Welt?“ Man könnte genauso gut das unsichtbare Selbst eines Freundes fragen: „Wo bist du?“, den mental-spirituellen Menschen damit meinend, welcher der wahre Herzensfreund ist. Denn die spirituelle, innere Welt existiert auf einer anderen Ebene, in einem anderen Zustand der Materie, sie hat eine andere Schwingung als die Welt, die wir um uns wahrnehmen.
Wir müssen daran denken, dass der Mensch ein zusammengesetztes Wesen ist: Körper, Ego, spirituelles Selbst. Jedes dieser drei muss – wie wir gesehen haben – für ein genaueres Studium wiederum unterteilt werden, wodurch wir zu sieben Prinzipien oder Elementen gelangen. Dasselbe trifft auch auf die Planetenwelt zu, in der wir evolvieren. Eine Planetenkette besteht aus sieben Globen, und unsere Erde ist der physische und niederste Globus, der einzige, den wir sehen können, und das trifft analog auf den physischen Körper des Menschen zu.2
Jeder Planet im Raum ist ebenso siebenfältig – er wird von sechs anderen, für uns jedoch unsichtbaren Globen begleitet. Hätten wir also ein für die innere Wahrnehmung geeignetes Organ, könnten wir in der Nacht bis tief hinein in den Sternenhimmel blicken, um im kosmischen Raum eine unzählige Schar ätherischerer Welten zu sehen. Diese inneren, ätherischeren Welten sind die ursächlichen Wurzeln des physischen Universums, so wie beim Menschen das spirituelle Selbst die Wurzel seiner sichtbaren Erscheinung ist.
H. P. Blavatsky sagt uns Folgendes über diese Welten:
… Der Okkultist definiert diese Sphären weder außerhalb noch innerhalb der Erde, wie es die Theologen und die Dicher tun; denn ihre Lage ist nirgends in dem den Profanen bekannten und von ihnen verstandenen Raum. Sie sind gewissermaßen mit unserer Welt vermischt – sie durchdringen dieselbe und sind von ihr durchdrungen. Es gibt Millionen und Abermillionen für uns sichtbare Welten; eine noch größere Anzahl existiert außerhalb der für das Fernrohr sichtbaren; und viele von der letzteren Art gehören nicht unserer objektiven Daseinssphäre an. Obwohl so unsichtbar, als ob sie Millionen von Kilometern jenseits unseres Sonnensystems wären, sind sie doch bei uns, uns nahe, innerhalb unserer Welt, ebenso objektiv und materiell für ihre betreffenden Bewohner, wie die unserige für uns. … Sie unterstehen gänzlich ihren eigenen Gesetzen und Bedingungen und keine hat eine unmittelbare Beziehung zu unserer Sphäre. …
Nichtsdestoweniger existieren solche unsichtbaren Welten. Ebenso dicht bewohnt wie unsere eigene, sind sie im scheinbar leeren Raum in unermesslicher Anzahl verstreut; einige sind viel materieller als unsere eigene Welt, andere stufenweise etherischer, bis sie formlos werden und wie ‘Atem’ sind. Die Tatsache, dass unser Auge sie nicht sieht, ist kein Grund dafür, nicht an sie zu glauben. …
Wenn wir uns aber eine Welt vorstellen, aus einem Stoff bestehend, der für unsere Sinne feiner als der Schweif eines Kometen ist und dessen Einwohner im Verhältnis zu ihrer Kugel ebenso etherisch sind, wie wir im Verhältnis zu unserer felsigen, hartkrustigen Erde – dann ist es nicht verwunderlich, dass wir sie nicht wahrnehmen und dass wir ihre Gegenwart oder auch nur Existenz nicht fühlen. …
– Secret Doctrine, I:605-607
In den höheren und innersten Regionen dieser unsichtbaren Welten weilt die Monade, das spirituelle Selbst des Menschen. Und dennoch bedeutet das nicht, dass die Monade nicht bei uns ist. Auch von den wahren Egos unserer Freunde können wir nicht sagen, sie seien nicht bei uns, obwohl wir nur ihren physischen Körper sehen. Wie bereits vorher gesagt, müssen wir lernen, Lebewesen mehr im Sinn von Bewusstsein zu betrachten. Das spirituelle Selbst des Menschen ist ein Wesen reinen Bewusstseins, verkörpert in seinem buddhischen Vehikel; das Ego ist ein intellektuelles Bewusstseinszentrum, verkörpert in einem persönlich-animalischen Vehikel; entsprechend ist die niedere Triade aus Elementarbewusstsein zusammengesetzt, verkörpert in einer astral-physischen Form. Und alle diese verschmelzen zu einer Einheit durch ihren gemeinsamen Ursprung in der Monade im Herzen von allen.
Wir sehen also, dass diese verschiedenen Zentren während des irdischen Lebens ein Wesen formen. Wenn es ein sonderbarer Gedanke zu sein scheint, dass der Gott in uns unentwegt auf seiner eigenen Ebene evolviert, können wir es besser verstehen, wenn wir bedenken, dass der Verstand und der Körper sich ebenfalls zur gleichen Zeit auf zwei verschiedenen Ebenen entwickeln, von denen eine für unsere äußeren Sinne unsichtbar ist. Jedes Prinzip oder Element in uns erleuchtet und unterstützt das Prinzip, das unmittelbar unter ihm steht. Wenn das Niedere in seiner Evolution voranschreitet, bietet es den Bewusstseinszentren über ihm größeren Handlungsspielraum – vergleichbar einem Menschen, der seine körperlichen Verlangen besiegt hat und damit von ihnen befreit ist; jemand, der noch nicht so weit ist, ist in einem gewissen Grad deren Sklave. Und das gilt in weit größerem Maße für die Laster des Verstandes und der Emotionen. Wenn wir uns von ihnen befreien, schreitet die gesamte Natur zu einer weiteren und tieferen Art des Handelns fort. Andersherum betrachtet kann niemand einen Gedanken hegen oder etwas tun, das ohne Einfluss bleibt – weder zum Guten noch zum Bösen – auf die unzähligen niederen Lebensformen seines eigenen Organismus, welcher ganz und gar von seinem Bewusstsein durchdrungen ist. Der Einfluss menschlicher Laster auf die Gesundheit ist ein Beispiel dafür. Und um den Gedanken zu vervollständigen: Unsere täglichen Gedanken und Handlungen unterstützen oder behindern die spirituelle Evolution unserer höheren Prinzipien, die mit ihrer größeren Reichweite des Bewusstseins unser gewöhnliches menschliches Selbst ganz durchdringen und inspirieren. So gibt es eine evolutionäre Wechselbeziehung zwischen allen Existenzebenen.
Der Tod ist der große Freund, der das spirituelle Selbst des Menschen von seinem materiellen Gewand erlöst und für die ermüdete menschliche Seele das herrliche Tor zu spiritueller Selbsterfüllung und zu Frieden öffnet.
Die Wanderungen der Monade
Die Lehren der esoterischen Weisheit – die wir hier kurz umreißen werden – sind eine schöne Antwort darauf, was zu allen Zeiten ein intuitiver Traum von Dichtern und Denkern war. Wie oft hat sich der Geist des Menschen, der in die unermessliche Weite des mitternächtlichen Himmels emporblickt, nicht danach gesehnt, die Geheimnisse dieser strahlenden Welten, die sich in ihrer unerreichbaren Majestät über uns drehen, zu durchschauen! Und viele hatten die wahre Vision, dass es tatsächlich die Bestimmung des menschlichen Geistes ist, nach dem Tod andere Welten und Planeten zu besuchen, die uns in ihrer ruhigen Schönheit aus den Tiefen des Raums anblicken. Der Dichter und Astronom Camille Flammarion – einst ein Schüler der Theosophie – war einer von den modernen Denkern, der diese Überzeugung zum Ausdruck brachte, die eine so logische und gleichzeitig romantische Antwort auf die Herzensfragen der Menschheit ist.
Die Reisen des spirituellen Selbst des Menschen zu den Welten des äußeren und inneren Raumes werden in der Theosophie die Wanderungen der Monade genannt. Auf den vorigen Seiten haben wir sozusagen das Große Abenteuer vorbereitet, das auf den irdischen Tod folgt. Wir haben gesehen, wie sich die vier niederen Prinzipien oder Elemente des Menschen beim ersten und zweiten Tod auflösen und verschwinden, wie die höhere Natur der Persönlichkeit von Manas, dem selbstbewussten, reinkarnierenden Ego, absorbiert wird; und wie dann Manas für eine längere Periode glückseliger Ruhe in den Schoß der Monade, den ‘Vater im Himmel’, zurückgezogen wird.
Die Monade (Ātman mit ihrem spirituellen Vehikel oder Gewand – Buddhi) ist nun frei, um ihre Wanderungen oder Pilgerfahrten durch die inneren Welten fortzusetzen. Denn wir dürfen uns nicht vorstellen, dass die Monade, die ein göttliches Wesen mit einem kosmischen Bewusstsein und kosmischen Möglichkeiten ist, während der Perioden zwischen unseren irdischen Leben, in welchen sie das schlafende Ego in ihrem Schoße birgt, ruht. Die Monade bedarf dessen nicht, was wir Ruhe nennen. Sie ist immer aktiv und während der Perioden solarer Manifestation ständig in Tätigkeit – um jene Scharen weniger evolvierter Wesenheiten – mit denen sie ihr weites Feld karmischer Anziehungen in Kontakt bringt – im Sinne der Evolution zu emanieren und zu inspirieren. Und diese Hilfe und Inspiration verwirklicht sie, indem sie sich in von ihr selbst geschaffene Vehikel kleidet, die aus diesen niederen Wesenheiten bestehen – auf all diesen Ebenen, den inneren und äußeren, den ‘höheren’ und ‘niederen’, die sie auf ihren Wanderungen durchziehen muss. Zu diesen niederen Wesenheiten, die unmittelbar und indirekt als Vehikel für die Bedürfnisse und Aktivitäten der Monade dienen, gehören die sechs anderen, weniger entwickelten Prinzipien des Menschen und auch alle Formen in den niederen Reichen, die von der Monade beseelt werden, wie im vorigen Kapitel erklärt wurde.
Vielleicht werden die folgenden Lehren verständlicher, wenn wir hier kurz wiederholen, dass alles im Universum in seiner manifestierten Evolution oder Konstitution siebenfältig ist; das heißt, im Universum manifestiert sich das Leben in sieben verschiedenen Stufen von Bewusstsein und Substanz, für die die sieben Prinzipien unserer Konstitution ein Beispiel sind. Die sechs anderen Prinzipien oder Elemente, durch die sich sowohl die kosmische als auch die persönliche Monade manifestiert, sind unsichtbar. Ihre Substanz ist zu ätherisch, um von unseren physischen Sinnen, die nicht auf die feineren Vibrationen dieser ätherischen Substanz abgestimmt sind, wahrgenommen werden zu können. So ist auch unsere Erde Teil eines Systems von sieben Globen, von welchen die uns vertraute Erde den äußersten, physischsten und für unsere Sinne einzig wahrnehmbaren darstellt. Die sechs Schwestergloben unserer Erde existieren auf inneren und höheren Ebenen des Seins.
Wir müssen hier kurz innehalten und den Leser daran erinnern, diese Schwestergloben nicht als die sechs anderen Prinzipien der Erde zu betrachten, denn das sind sie nicht. Jeder dieser Globen ist selbst, so wie die Erde, eine vollständige siebenfache Wesenheit. Aber zusammen mit der Erde bilden sie eine Reihe von sieben evolutionären Bühnen oder Entwicklungsebenen, die wir alle irgendwann durchlaufen müssen, um unsere eigene siebenfache Evolution zu vollenden und so zu vollständigen Aspekten des Ganzen zu werden.3
Nach dem physischen und dem zweiten Tod beginnt die Reise der Monade oder des spirituellen Selbst zu diesen unsichtbaren Globen unserer Erdkette. Nach demselben Verfahren, das bereits beschrieben wurde, bringt die Monade auf jedem Globus ‘Körper’ oder Vehikel oder Formen hervor, die zu der Evolution auf diesen höheren Bewusstseinsebenen passen. Diese Wanderungen durch die unsichtbaren Globen unserer Planetenkette sind eine Phase der ‘Inneren Runden’. Wenn schließlich der Zyklus der monadischen Wanderungen auf diesen höheren Globen unserer Planetenkette vollendet ist, beginnt die Monade ihren Zyklus von Reisen in den ‘Äußeren Runden’ – das heißt, sie schreitet die Runde entlang jener Planeten fort, welche die Alten die ‘sieben heiligen Planeten’ unseres Sonnensystems nannten.
Aber was und welche sind diese heiligen Planeten, und warum nennt man sie heilig? Da die Wurzeln der Monade ihren Ursprung offensichtlich in einem organisierten Universum haben, das in all seinen Teilen durch unveränderliche Gesetze geleitet wird, irrt sie auf ihren Streifzügen durch die Sphären nicht ziellos umher. Sie folgt vielmehr jenen Pfaden, die in der esoterischen Philosophie die ‘Kreisläufe des Kosmos’ genannt werden. Die Wanderungen der Monade werden auch durch ihre eigenen angeborenen karmischen Affinitäten oder Anziehungskräfte sehr genau bestimmt und beschränken dadurch die kosmischen Reisen der Monade auf die sieben heiligen Planeten.
Diese Planeten sind Saturn, Jupiter, Mars, Venus, Merkur, die Sonne und der Mond. Die beiden letzteren werden hier als Symbole verstanden, als Stellvertreter für zwei Planeten, über die in der exoterischen Literatur der Alten Weisheit sehr wenig Information zu finden ist.
Warum nun werden diese besonderen Planeten heilig genannt und worin liegt ihre karmische Beziehung zum Menschen? Auf diese Fragen finden wir in Fundamentals of the Esoteric Philosophy von Dr. de Purucker (S. 472) eine Antwort:
… Diese sieben Planeten sind für uns als Bewohner dieses Globus heilig, weil sie die Übermittler der sieben Grundkräfte des Kosmos von der Sonne zu uns sind. Unsere sieben Prinzipien und unsere sieben Elemente entspringen ursprünglich diesem siebenfachen Lebensstrom.
Diese sieben heiligen Planeten oder besser gesagt ihre ‘Leiter’ – die innewohnenden spirituellen Wesen, von denen diese Planeten die physischen Vehikel sind – beaufsichtigen jeder den Bau oder die Bildung eines der sieben Globen der irdischen Planetenkette und das ‘Swabhāva’ (oder die angeborenen karmischen Eigenschaften) dieses Globus. Weitere Information über diesen und andere Aspekte dieser Lehre kann der Leser in The Esoteric Tradition von G. de Purucker, Kapitel XXIX, ‘Circulations of the Cosmos’ finden.
In der The Secret Doctrine verweist H. P. Blavatsky auf diese Lehren, von denen hier ein Abschnitt zitiert wird (I: 577):
Der planetarische Ursprung der Monade oder Seele und ihrer Fähigkeiten wurde von den Gnostikern gelehrt. Auf ihrem Weg zur Erde, sowie auf ihrem Weg von der Erde zurück [zu ihrer ursprünglichen, göttlichen Heimat], musste eine jede in und aus dem ‘grenzenlosen Licht’ geborene Seele die sieben planetarischen Regionen in beiden Richtungen durchwandern.
Wenn die Monade ihre Inkarnationen auf den unsichtbaren Globen unserer irdischen Planetenkette vollendet hat, setzt sie ihre nachtodlichen Wanderungen auf diesen sieben heiligen Planeten und ihren jeweiligen Planetenketten fort. Folgende Beschreibung aus The Esoteric Tradition wirft Licht auf vieles, was bis jetzt nur umrissen wurde:
… Überdies wandert die Monade, nachdem ihre Aktivität mit der nachtodlichen Existenz des Menschen begonnen hat, von Sphäre zu Sphäre und durchläuft auf ihren endlosen Wanderungen während des Manvantaras die Runden aufs Neue. Sie durchläuft die Sphären nicht nur, weil sie in ihnen allen beheimatet ist und darum durch die eigenen magnetischen Anziehungskräfte und Impulse zu ihnen hingezogen wird, sondern auch, weil sie selbst es will; denn der freie Wille ist etwas Göttliches und ist eine angeborene, von ihr nicht zu trennende Eigenschaft.
– S. 857
Wir lenken die Aufmerksamkeit auf die Worte „durchläuft ihre Runden aufs Neue“, die sich natürlich auf die Tatsache beziehen, dass die Monade diese inneren und äußeren Runden nach jeder Inkarnation des Menschen auf der Erde durchläuft. Wir wollen auf den freien Willen als Eigenschaft der Monade hinweisen, die als göttliches Wesen freiwillig die enorme Aufgabe auf sich nimmt, sich in allen Klassen der niederen Lebensformen ihres eigenen Kosmos zu verkörpern, um sie emporzuheben und ihre eigene Evolution zum Göttlichen hin zu inspirieren.
Wir fahren fort:
Während der Pilgerfahrt der Monade durch die ‘Sieben Heiligen Planeten’ der Alten folgt besagte Monade zwangsläufig jenen Pfaden oder Kanälen oder Bahnen des geringsten Widerstandes, welche die Esoterische Philosophie als die ‘Kreisläufe des Kosmos’ oder ähnlich bezeichnete. Diese Kreisläufe des Kosmos sind sehr reale, wirkliche Verbindungswege zwischen Punkten, Orten oder Himmelskörpern, wie sie alle in den Gitterstrukturen des sichtbaren und unsichtbaren Universums existieren. Diese Kreisläufe sind nicht eine bloß poetische Metapher oder eine bildliche Darstellung; sie sind in der inneren, ökonomischen Wirksamkeit der sichtbaren und unsichtbaren Welten des Universums ebenso real wie die Nerven und Blutgefäße, die Arterien und Venen im menschlichen physischen Körper. Geradeso wie die Arterien und Venen die Kanäle, Wege oder Pfade darstellen sowohl für die Übertragung intellektueller, psychischer und nervlicher Impulse und Anweisungen als auch für die lebensnotwendige Blutflüssigkeit, stellen die Kreisläufe des Kosmos analog dazu die Kanäle, Wege oder Pfade dar, denen die auf- und absteigenden Lebensströme folgen. Diese setzen sich aus dem nie endenden Strom wandernder, pilgernder Wesenheiten aller Klassen zusammen und verlaufen rückwärts und vorwärts, hierhin und dorthin, ‘auf und nieder’ durch das gesamte Universale Gebäude.
– S. 859
Nachdem die Monade die siebenfältige Erdkette verlassen und den nächsten Planeten in der Reihe erreicht hat, erzeugt oder bildet sie während ihrer Wanderung in und durch diese Planetenkette einen Strahl oder eine Strahlung aus sich selbst heraus, einen psycho-mentalen Apparat oder eine ‘Seele’ von vorübergehender Existenz, die sich dort als Folge davon zeitweilig in einem entsprechenden geeigneten Körper oder Vehikel inkarniert, einem Körper spiritueller, etherischer, astraler oder physischer Art.
– S. 867
So sammelt die Monade, unser spirituelles Selbst, unser essentielles Selbst … auf jedem der sieben heiligen Planeten eine neue Ernte an Seelenerfahrungen, die nur auf jedem einzelnen dieser Planeten gewonnen werden kann. Eine jede solche ‘Ernte’ besteht aus den von der spirituellen Monade während der Verkörperung erworbenen angesammelten Erfahrungen, die in der essentiellen Charakteristik von Substanz und Energie zu den betreffenden Planeten gehören.
– S. 870-871
Ist dies nicht ein erhabenes Bild? Es führt uns von dem versandeten Hafen immer noch vorhandener mittelalterlicher Theologie oder dem modernen Materialismus weg, hin zu dem Meer des spirituellen Abenteuers! Es schildert in treffender Weise die Bedeutung eines in der Theosophie oft benutzten Ausdrucks: ‘Erweiterung des Bewusstseins’. Nein, wir sind keine Würmer im Staub und auch keine entwickelten Affen. Wir befinden uns weder auf dem Weg in einen unveränderlichen Himmel oder eine Hölle, noch führt unser Pfad in gnadenlose Vernichtung. Vor uns liegen grenzenlose Gebiete kosmischer Aktivität und Abenteuer, die unser Vorstellungsvermögen weit übersteigen.
Es ist wahr, dass die reinere Seite unseres heutigen Bewusstseins ihre glücklichen Träume in Devachan träumen wird, während der innere Gott – das spirituelle Selbst oder die Monade, die uns ‘in ihrem Schoße trägt’ – seine Reise entlang der Pfade des Sonnensystems vollendet. Die Adepten und Weisen der archaischen Weisheit zeichneten dieses Bild unserer großartigen Berufung für uns, als das Ziel inspirierten Bemühens. Sie zogen die verdunkelnden Schleier unserer Unwissenheit beiseite, um das unergründliche Panorama des Lebens zu enthüllen, das die inneren Reiche des Raums erfüllt. Sie versichern uns, dass wir unseren Platz haben, unsere fruchtbare und niemals endende Teilhabe an dem unermesslich abwechslungsreichen und faszinierenden Drama des Universums.
Wir erkennen nun etwas vom Sinn des Evolutionsprozesses, der im letzten Kapitel besprochen wurde. In diesem Prozess wird das reinkarnierende Ego am Ende seines großen Evolutionszyklus selbst zu einer Monade. Dann hat es aus dem Kern seines eigenen Wesens das Monadenhafte evolviert, das jetzt dort noch latent anwesend ist oder seine Entfaltung erst beginnt. In einem künftigen Manvantara wird es selbst als Monade zwischen seinen Perioden der Verkörperung den Kreisläufen des Kosmos folgen. Und was jetzt unsere animalische Natur ist, wird in der Evolution zur Ebene des Menschlichen erhoben sein.
Der Wert dieser Lehren
Eines der schönsten Dinge im Zusammenhang mit der Theosophie ist die Tatsache, dass ihr Idealismus so konstruktiv und praktisch ist. Auf den ersten Blick könnte es dem Leser schwierig erscheinen, dieses erhabene philosophische System in Verbindung zu unserer gehetzten und kommerzialisierten Gesellschaft zu bringen. Und dennoch gibt es nicht eine einzige theosophische Lehre, nicht einmal die scheinbar am schwersten Verständlichste, die ohne eine innere und praktische Bedeutung für das Denken und Handeln im täglichen Leben der Menschen ist. Wir wollen hier ein Beispiel geben: Könnte es in seiner Auswirkung irgendetwas Praktischeres geben als die Gewissheit, dass wir nach dem Tod weiterleben? Der ethische Einfluss dieser Gewissheit ist offensichtlich enorm, besonders in Zusammenhang mit Reinkarnation und Karma.
Warum fürchten wir den Tod überhaupt? Ist es nicht so, dass wir uns fürchten ‘loszulassen’, unser vertrautes tägliches Bewusstsein aufzugeben? Den Schlaf fürchten wir nicht, denn wir erinnern uns an gestern und wissen, dass der Bewusstseinsverlust nur vorübergehend ist und es morgen wiederhergestellt ist. Aber angesichts des Todes sind wir wie kleine Kinder, die jeden Abend kämpfen, sich wach zu halten und den Augenblick fürchten, in dem sie in unbewussten Schlaf versinken. Erst wenn wir älter werden und mehr Erfahrung haben, wird uns klar, welch gesegneter Freund und Erquicker der tägliche Zyklus des Vergessens im Leben ist.
Derselbe Unterschied in der Entwicklung zwischen dem Kind und dem Erwachsenen in Bezug auf den Schlaf kennzeichnet den Unterschied im Wachstum zwischen unvollkommen entwickelten Menschen, wie wir es sind, und den spirituellen Adepten oder Mahatmas in Bezug auf den Tod. Denn den Tod zu überwinden – also das Bewusstsein ohne Unterbrechung von einem Leben ins andere fortzusetzen – ist einer der größten Erfolge einer wahren okkulten Ausbildung. Und mit einer wahren okkulten Ausbildung meinen wir die wissenschaftliche Anwendung der theosophischen Lehren zur Selbstentfaltung unter der Leitung eines spirituellen Lehrers.
Wir sterben – in dem Sinne, dass wir den Zugriff auf uns selbst verlieren –, denn wir leben jetzt beinahe vollständig in jenem Teil unserer Natur, der sterben muss, im persönlichen und physischen Bewusstsein. Sogar der höchste Gott der inneren spirituellen Welten muss – könnte er einen menschlichen Körper annehmen – früher oder später zum Zeugen von dessen Auflösung werden. Die physische Natur von Jesus, der ein hoher Avatāra war – oder die Manifestation eines Gottes –, musste die Tore physischer Auflösung durchschreiten. „Aber,“ werden Sie sagen, „er ist vom Tode auferstanden.“ Ja, tatsächlich – sowie jeder von uns lernen muss ‘aufzuerstehen’ – „größere Dinge als diese werdet ihr vollbringen“ hat er uns versprochen.
Die ‘Auferstehung’ ist eine Einweihungslehre der alten Mysterienschulen. Diese Schulen existierten im Altertum als ein vitaler Bestandteil aller alten Zivilisationen. Ihr Ziel war, den Menschen über seinen Ursprung, seine Konstitution, die Gesetze und die Bestimmung des Universums zu unterrichten und über seine Beziehungen und Erfahrungen in diesem Universum. In den Tagen von Jesus hatten diese Mysterienschulen schon an Wert verloren, so wie es mit allen Dingen im Laufe der Zeit geschieht. Aber die Wahrheiten, die diese Schulen jahrhundertelang gelehrt hatten, waren so in das mentale und moralische Gewebe der Zivilisationen um das Mittelmeer eingewoben, dass die christlische Kirche sich gezwungen sah, vieles aus der Mysteriensprache und den Zeremonien zu übernehmen, um die Menschen dafür zu interessieren und ihnen die neuen Dogmen begreiflich zu machen. Da man sie jedoch nur teilweise übernahm, wurden sie falsch verstanden, und die Lehren sanken auf ein materielles Niveau ab, wodurch die erhabene Idee der ‘Auferstehung’ des spirituellen Menschen, der seine eigene selbstsüchtige und animalische Natur besiegt, zu der gegenwärtigen, unlogischen Lehre erniedrigt wurde. Die wirkliche Auferstehung nimmt in der Lehre des Okkultismus einen wichtigen Platz ein. Sie bedeutet Einweihung, die letztendliche, glorreiche Vollendung des langen Weges selbstgeleiteter Evolution unter der Führung eines spirituellen Lehrers. Und diese Einweihung ist für jeden bestimmt, der ein solches Leben führen und die Lehre in die Praxis umsetzen möchte. Das Thema Einweihung wird in der theosophischen Literatur ausführlich behandelt. Wir möchten uns hier auf einen Abschnitt beschränken:
Einweihung ist der Weg, durch den der evolutionäre Prozess des Wachstums stark beschleunigt werden kann. Aber ein Mensch muss zunächst die Voraussetzungen dafür erworben haben, er muss gelernt haben und wissen, wie die ‘richtigen Antworten’ zu geben sind. Mit anderen Worten: Er muss für die Einweihung bereit sein, ehe er den Versuch wagen darf, ihre Riten zu durchschreiten. All das umfasst eine sehr ernsthafte Selbstschulung, ein Sehnen, einen ungeheuren Hunger nach Licht und den Besitz eines unbeugsamen Willens vorwärtszugehen, den nichts entmutigen kann. Noch anders ausgedrückt: Es bedeutet das Einswerden eines Menschen mit seiner inneren, höheren Konstitution, mit seinem höheren Teil. Es bedeutet, in diesem und für diesen zu leben und ihn vorherrschen zu lassen – ihn in seinem täglichen Leben aktiv werden zu lassen, statt so, wie es die Massen tun, bloß in Ruhe, in Schläfrigkeit und spirituellem Schlaf zu verharren und sich vom langsamen Strom der Zeit von Mutter Natur gleichgültig auf seiner ruhigen, sich jedoch immer bewegenden Welle dahintreiben zu lassen.
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 1036/37
Es gibt tatsächlich auch eine Art Auferstehung des Körpers:
Wenn die Zeit für die Reinkarnation des Menschen zu physischem Leben wieder anbricht, steigt das sich wiederverkörpernde Ego aus der monadischen Zurückgezogenheit hinab, in der es eine Zeit von unvorstellbarer Ruhe und unvorstellbarem Frieden erlebt hat. Es ‘steigt hinab’ durch dieselben Zwischenebenen oder Welten, durch die es früher, am Ende des vorhergehenden Erdenlebens, emporgestiegen ist; und es nimmt nun möglichst viele der Lebensatome wieder auf, die es während des früheren Aufstiegs zurückgelassen hat und die nun aufgrund von Anziehung … zu dem absteigenden, sich wiederverkörpernden Ego zurückgezogen werden. Diese gradweise Verdichtung oder Materialisierung der inneren Vehikel oder Elemente – von der monadischen oder spirituellen Welt abwärts bis zur physischen Welt – bildet die sieben Teile der Konstitution des Menschen, wie er auf der Erde sein wird. Darum ist also der neue physische Körper des Menschen hier auf dieser unserer physischen, irdischen Ebene aus denselben oder gleichen Lebensatomen zusammengesetzt, in denen das Ego während seiner letzten Inkarnation lebte und durch die es wirkte.
– Ebenda, S. 790
Diese beiden Lehren gehörten zu den Mysterienschulen und wurden in stark abgeänderter und unvollständiger Form von der neuen Religion, dem Christentum, übernommen.
Die Theosophie hat sich das Ziel gesetzt, die alten Mysterienlehren neu zu beleben, die von Kṛishṇa, Lao-tse, Gautama und Jesus auf verschiedene Art gelehrt wurden – verschieden, weil jeder von ihnen zu einem anderen Zeitpunkt und unter einem anderen Volk erschien. Die Theosophie versucht, den alten, mystischen Ruf aus dem Herzen des Universums in den Herzen der Menschen zum Erklingen zu bringen. Es ist der Ruf, der ihn bittet aufzustehen und zum Vater zu gehen, in dessen Tempel des Geistes er jene Kraft und Weisheit finden kann, die ihn über die Illusionen der selbstsüchtigen Persönlichkeit erheben und ihn zum Sieger über den Tod machen wird. Sagte nicht der große Avatāra: „In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“ und „Ich gehe, um einen Platz für dich zu bereiten.“
Diese erhabenen Ideen und Versprechen stehen mit unseren täglichen Erfahrungen in Zusammenhang, weil sie das Ziel der gesamten Menschheit zum Ausdruck bringen. Wir leiden und plagen uns und sterben, weil wir weder uns selbst noch die Elemente verstehen, aus denen wir aufgebaut sind. Wir wissen nicht, warum wir hier sind. Wir verstehen so wenig vom Leben, dass uns unsere eigenen egoistischen Interessen als das Wichtigste erscheinen. Von nahezu allem haben wir falsche Vorstellungen. Wir versuchen jenen Dingen möglichst aus dem Weg zu gehen, die der Ruf der spirituellen Natur im Inneren sind – wie Schmerz, Selbstaufopferung, Leid und Schulung. Wir geben uns stattdessen nur allzu oft der Befriedigung unserer eigenen Wünsche oder der Gleichgültigkeit hin. Und das führt zu mehr Schmerz, mehr Leid und Krankheit und zu all den tieferen Aspekten der persönlichen Sterblichkeit.
Das Ziel des Lebens – wie Katherine Tingley es ausdrückte – liegt darin, „das Sterbliche zum Unsterblichen emporzuheben“. Aber Unsterblichkeit wird uns nicht ohne weiteres zuteil, ebenso wenig wie der Charakter und unser Umfeld. Durch eigene Anstrengung muss man sie verdienen und aufbauen. Das menschliche Selbst muss Unsterblichkeit und sein Recht auf das göttliche Abenteuer erwerben, indem es seine niedere zusammengesetzte Natur in die Einheit und Homogenität des Geistes umwandelt. Dinge, die aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt sind – seien sie materieller oder psychologischer Natur – müssen zerfallen, wenn die Energie, die sie zusammenbrachte, erschöpft ist. Aber der Gott im Inneren ist ein reiner Strahl der universalen Einheit und kann sich nicht auflösen oder aufhören zu sein. Wenn der Mensch seine eigene menschliche Natur durch selbstloses Denken und Handeln in die Homogenität des Göttlichen umwandeln kann, wird er sich als unsterblich erkennen, denn so wurde er durch selbstgeleitete Anstrengungen. Er wird ein Meister des Lebens sein.
Tod und Wiedergeburt
Es ist kaum möglich, sich ein Weiterleben nach dem Tod vorzustellen, ohne auch nur an Prä-Existenz und Wiedergeburt zu denken, denn wenn man annimmt, dass etwas kein Ende hat, so muss man auch annehmen, dass es keinen Anfang hat. In einem logischen Gedankensystem müssen wir nicht nur beschreiben und erklären, was nach dem Tod passiert, sondern auch, was vor der Geburt stattfindet.
Und genau hier ist es auch interessant, die unmittelbaren Ursachen für die Reinkarnation des Egos zu untersuchen. Wiederverkörperung ist natürlich ein ‘Gesetz’, das heißt eine universale Gewohnheit der Natur. Alles im Universum verkörpert sich wieder – ein Elektron, ein Atom, ein Mineral, eine Pflanze – das heißt, die Monaden, die durch diese Formen evolvieren, müssen sich wiederverkörpern. Dasselbe trifft auf ein Tier, einen Menschen, einen Planeten, eine Sonne, ein Sonnensystem, ein Universum zu – nichts kann seinem essentiellen Schicksal der Evolution oder Entfaltung seiner inneren Natur und Kräfte durch Wiederverkörperung, stetig fortschreitende Organisation und sich verändernde Lebensumstände entgehen. Selbstverständlich nimmt auch das menschliche Ego an dieser universalen Gewohnheit der Selbstentfaltung teil.
Aber was uns jetzt vor allem interessiert, sind die unmittelbaren Ursachen, welche die Reinkarnation auf der Erde bewirken, und die Arbeitsweise, die in diesem Prozess befolgt wird. Die Monade, das spirituelle Selbst, vollbringt ihre Wanderungen durch die sieben heiligen Planeten mit dem reinkarnierenden Ego ‘schlafend in ihrem Schoße’. Aber wie immer in der Natur muss das, was ruht oder schläft, erwachen und aufs Neue seine selbstbewusste Aktivität mit dem Ziel aufnehmen, seine eigene Evolution fortzusetzen.
So erreicht schließlich das reinkarnierende Ego allmählich das Ende seiner Periode der devachanischen spirituellen Assimilation. Undeutliche, aber unwiderstehliche Erinnerungen an seine früheren Erdenleben lassen es aus seinem glücklichen Schlaf erwachen. Alle Prozesse in der Natur sind so harmonisch, flexibel und selbstregulierend, dass die Monade ihre Wanderungen durch die inneren und äußeren Runden zu der Zeit vollendet, in der auch das reinkarnierende Ego das Ende seiner Traum-Ruhe in der monadischen Essenz erreicht.
Wie also klar sein dürfte, hat infolgedessen ein Ego, ob es ein langes oder im Gegenteil ein kurzes Devachan hat, in keinem Falle irgendwelche Schwierigkeiten. Denn die spirituelle Monade wird mehr oder weniger stark von der spirituellen Beschaffenheit oder Qualität des sich wiederverkörpernden Ego, welches es in seinem Schoße trägt, beeinflusst. So kommt es, dass die Pilgerfahrt der spirituellen Monade hinsichtlich der Zeit, welche die interplanetarische Pilgerfahrt in Anspruch nimmt, bis zu einem gewissen, oftmals sogar hohen Maß gesteuert wird.
– The Esoteric Tradition, S. 885
Das reinkarnierende Ego wird deshalb allmählich ‘herunter’ oder ‘nach außen’ geführt – durch die unsichtbaren interplanetarischen Sphären, bis es wieder beginnt, sich der Schwelle des irdischen Lebens zu nähern. Hier sendet es aus sich selbst eine manasische Strahlung oder einen Strahl. Die Anwesenheit dieses Strahls hat eine dynamische Wirkung auf all jene Energiezentren, die zurückgelassen wurden, als es das letzte Mal durch die Tore des Todes hier auf der Erde ging. Die Lebensatome, aus denen diese Energiezentren oder Prinzipien oder Elemente bestehen, beginnen dann, sich um den manasischen Strahl wie um einen Kern zu kristallisieren. Wie bereits gesagt, gibt es vier solcher Prinzipien oder Elemente, und sie bilden die niedere Vierheit oder das niedere Selbst, welches das Ego in seinem letzten Leben als Vehikel benutzte. Es sind: Kāma, die Begierde; Prāṇa, das Lebensprinzip oder die Vitalität; der Astral- oder Modellkörper, der Liṅga-Śarīra; und die physische Hülle oder der Śthūla-Śarīra. Sobald diese vier Prinzipien wieder damit beginnen, rund um den manasischen Strahl eine Form zu bilden, tritt die Persönlichkeit – Kāma-Manas – wieder in ihre irdische Existenz ein.
Das Ende dieses Prozesses wird folgendermaßen umschrieben:
Schließlich erreicht der Strahl oder die Strahlung des sich wiederverkörpernden Egos den kritischen Punkt oder jene Stufe seines ‘Abstiegs’, auf der er zu der besonderen, bestimmten menschlichen Keimzelle hingezogen oder von ihr angezogen wird, deren Wachstum – wenn es nicht unterbrochen wird – in einen physischen Körper mündet. Die psycho-magnetischen Anziehungskräfte und inneren Impulse des sich wiederverkörpernden Egos haben es … karmisch zu der Zelle hingeführt, die unter einer Anzahl anderer möglicher Zellen die geeignetste ist, Vater und Mutter zu ihrer Zeit zu vereinigen, um das zu geben, was man bildhaft vielleicht die magische Verbindung vereinigten ‘Lebens’ nennen könnte. …
Von diesem Augenblick an beginnt das lebende Protoplasma von innen nach außen zu wachsen und nach und nach das, was in ihm aufgespeichert ist, zur Manifestation zu bringen.
– Ebenda, S. 888
Das Ego wird gewöhnlich zu jener Familie und dem sozialen Umfeld hingezogen, in welchem es beim letzten Tod seines physischen Körpers seine Lasten, Probleme und Verwandten zurückgelassen hat. Nähere Details zu diesem Thema finden sich in einem anderen Büchlein dieser Reihe: Karma und Reinkarnation.
Das Studium des Todes und der nachtodlichen Zustände von Bewusstsein und Erfahrung ist für jeden von größter Bedeutung – und zwar unter anderem aus folgenden Gründen:
(1) Das Studium lehrt uns, wie die Kluft überbrückt werden kann, die nur offenbar wird – zwischen uns selbst und denen, die wir lieben, sobald sie in die unsichtbaren Welten hinübergegangen sind. Und das nimmt dem Tod den Stachel.
(2) Es löst die Furcht vor dem Tod in unserem Herzen und inspiriert uns zu einer großen Hoffnung und zu einem Sinn des Lebens, damit wir das Heute so gestalten, dass der morgige Tod gut sein wird.
(3) Wir können den Tod nicht verstehen, ohne die Geheimnisse unserer eigenen Natur kennenzulernen. Ihr Studium und ihre Bemeisterung wird zu einer Erneuerung des gesamten Lebens sowohl hier als auch im Jenseits führen.
Die Theosophie bietet uns ein Bild von der Gesamtheit vieler Prozesse in der Natur, welche die Wissenschaft heute nur als Halbwahrheiten ansieht. Dazu gehören die Schwerkraft und die Evolution, wie H. P. Blavatsky in The Secret Doctrine erklärt. Die Wissenschaft betrachtet das Leben des Menschen zum Beispiel als eine gerade Linie, als ein Fragment, während es ein infinitesimaler Teil eines mächtigen Kreises ist, der sich in wechselnden Graden von Licht und Schatten emporwindet – eine gewaltige spirituelle Spirale. Sie tendiert aufwärts, immer langsam nach oben, und führt den Menschen aus den dunklen Schatten eines einzelnen Erdenlebens hin zum leuchtenden Bogen der Periode zwischen zwei Leben; und dann wieder zu einem nächsten Schatten-Abschnitt irdischer Existenz und so weiter, immer noch allmählich emporsteigend, bis das Ziel schließlich erreicht ist.
Wenn wir vom Ziel oder ‘Ende’ des Evolutionsprozesses sprechen, von dem das Leben auf dieser Erde ein Abschnitt ist – mit dem Tod als dem einen und dem Zeitraum danach als dem anderen –, bedeutet dieses Ziel auch nur ein relatives Ende. Es ist nicht mehr als eine Haltestelle, eine Periode der Ruhe und spirituellen Assimilation einer höheren Art.
Wir haben jetzt ein einigermaßen detailliertes Bild darüber, was der Tod wirklich bedeutet und über seinen Platz in der Evolution des Menschen. Es könnte hilfreich sein, die diesen Prozess betreffenden Stadien kurz zusammenzufassen, welche das menschliche Bewusstsein durchläuft, wenn das spirituelle Selbst durch den Tod befreit wird. Diese sind:
1. Der ‘Tod’ an sich oder das Abwerfen, der Zerfall des physischen Körpers, verursacht durch die Durchtrennung des Bindeglieds zwischen dem spirituellen Selbst und seinen niederen Prinzipien. Der astrale Modellkörper oder Liṅga-Śarīra löst sich jetzt auch auf – ein Prozess, der in hohem Maße durch die Verbrennung des physischen Körpers beschleunigt wird.
2. Die Rückschau des reinkarnierenden Egos auf die Geschehnisse des gerade beendeten Lebens. Das ist ein sehr wichtiger und feierlicher Teil des Prozesses, in dem das Ego jeden Gedanken und jede Tat seines Lebens betrachtet und deutlich die Gerechtigkeit und Bedeutung der Ereignisse des Lebens erkennt. In der unmittelbar auf den Tod folgenden Zeit sollte um den Verstorbenen vollständige und ehrfürchtige Stille herrschen, so dass kein Hauch einer Störung aus der äußeren Ebene das notwendige und heilige Geschehen unterbrechen kann.
3. Das Einschlafen der menschlichen Persönlichkeit oder des menschlichen Bewusstseins, während die beiden folgenden Prozesse stattfinden.
4. Die Auflösung des Kāma-Rūpa, wenn er nicht durch Einmischung eines Mediums am Leben gehalten wird.
5. Der zweite Tod, bei dem die spirituelle Essenz der Persönlichkeit durch das Ego absorbiert wird. Die beiden letzten Prozesse sind dem gewöhnlichen Menschen nicht bewusst.
6. Der Übergang des reinkarnierenden Egos in seine devachanische Ruhe im Schoße des spirituellen Selbst oder der Monade.
7. Die Wanderungen oder die kosmischen Reisen der Monade oder des spirituellen Selbst während seines ‘Göttlichen Abenteuers’, wobei es das reinkarnierende Ego in seinem Schoße bei sich trägt.
8. Das Wiedererwachen des reinkarnierenden Egos für die Anziehung des Erdenlebens und sein Abstieg zur Reinkarnation in eine neue Persönlichkeit.
Einige Fragen und Antworten
In Zusammenhang mit unserem Studium dieses tiefen und wunderbaren Themas werden wahrscheinlich viele Fragen auftauchen. Es wird zum Beispiel öfters gefragt, ob die Theosophie, die lehrt, dass es eine Himmelswelt gibt, nicht auch etwas über eine Hölle lehrt? Und wie steht es um das Fegefeuer, an das viele Menschen glauben?
Wenn man unter ‘Hölle’ einen Ort ewiger Strafe versteht, dann bestreitet die Theosophie diese beiden Vorstellungen nachdrücklich. In der Alten Weisheit gibt es keinen Platz für die unlogische und kindische Vorstellung der Strafe. Wir begegnen ausschließlich den Folgen unserer früheren Gedanken und Taten in diesem oder einem vorigen Leben – mit anderen Worten Karma. Niemand bürdet oder zwingt uns diese sich ergebenden Bedingungen auf. Sie folgen genauso natürlich aus unseren Taten, wie Wärme der Verbrennung oder die Furche dem Pflug folgt. Und um es noch einmal zu wiederholen: Kein einziger Existenzzustand oder Umstand kann ewig sein!
Unsere theologischen Vorstellungen über Himmel und Hölle sind jene mehr oder weniger entstellten Ideen, über die wir bereits gesprochen haben – jene verzerrten Überbleibsel alter Mysterienlehren, die am Beginn der christlichen Ära noch populär waren. Alle diese Missverständnisse setzten sich in jener Zeit im Denken der Menschheit fest, als sie in ein Zeitalter der spirituellen Trägheit eintrat, die ihren Höhepunkt im Mittelalter fand. Und die theologischen Lehren über die Hölle, wie sie in allen Religionen in der einen oder anderen Form zu finden sind, verkamen fast ausnahmslos zu völlig falschen Interpretationen der ursprünglichen Lehre, wie sie von den Gründern dieser Religionen vorgebracht worden waren. All diese Missverständnisse resultierten daraus, dass die Lehren nach dem Buchstaben aufgefasst wurden und nicht symbolisch und im übertragenen Sinne. Sie haben den menschlichen Herzen unsagbar viel Leid und Elend zugefügt. Die Worte ‘Himmel’ und ‘Hölle’ in ihrem wahren, mystischen Sinn haben als Teil der alten Mysterienlehren eine andere Bedeutung. Mit Himmel werden gemeint:
… jene spirituellen Erfahrungsreiche, durch die alle Monaden, welche auch immer, auf ihren zeitalterlangen Wanderungen zu einer beliebigen Zeit hindurchgehen sollen, ja hindurchgehen müssen, und in denen sie so lange verbleiben, wie es mit dem erreichten oder gewonnenen karmischen Verdienst in Einklang steht. Die sogenannten ‘Höllen’ sind jene Sphären oder Reiche der Reinigung, wohin alle Monaden, welche auch immer, während gewisser Perioden ihrer zeitalterlangen Wanderungen müssen, um dort die materiell beladenen und somit schwer belasteten Seelen zu reinigen, damit sie – sobald sie einmal gereinigt sind – sich wieder auf den aufsteigenden Bogen kosmischer Erfahrung erheben können.
– The Esoteric Tradition, S. 551
Diese Erde wird tatsächlich von den Wesen, die vor langer Zeit ihre Materie beladenen Vehikel und Versuchungen überwunden haben, als eine Hölle besonders schmerzlicher Art betrachtet. So befreit die Theosophie, wenn sie den Ursprung dieser theologischen Missverständnisse erklärt, das menschliche Denken ein für alle Mal von ihrem erniedrigenden und grausamen Einfluss.
Natürlich gibt es in den weiten Reichen der Natur eine Bedingung oder einen Zustand des Seins, der das Gegenteil oder der niedere Pol zu jenen Stufen spiritueller Verwirklichung und Ruhe ist, die sich von Devachan bis zu den verschiedenen nirvāṇischen Stufen am Ende der größeren Evolutionsperiode erstrecken. Dieser anderer Seinszustand wird ‘Avīchi’ genannt, er besteht ebenfalls aus verschiedenen Abstufungen, welche mit den materiellen Neigungen der Wesenheiten übereinstimmen, die durch ihre eigenen schlechten Taten dorthin gezogen wurden. Diejenigen, die sich den Gefühlen des Hasses, der Rache, der Begierden oder Laster anderer Art hingeben, rutschen unvermeidlich auf die eine oder andere Weise in Avīchi ab, wozu auch die niederen Stufen von Kāma-Loka gehören. Die ‘Höllen’ oder niederen Ebenen von Kāma-Loka sind die direkten karmischen Folgen eines Nachgebens gegenüber jenen Eigenschaften, die den Menschen nach unten ziehen. Doch selbst dort sind die Folgen mitleidsvoll, denn diese ‘Höllen’ konfrontieren die dorthin gezogenen Wesenheiten mit den entsetzlichen Konsequenzen einer hemmungslosen Hingabe an das Böse. Auf diese Weise wird ihnen klargemacht, dass der Weg, der zu Avīchi führt, später vielleicht vermieden werden kann. Der Zustand hält glücklicherweise nur vorübergehend an und die Anzahl solcher unglücklichen Männer und Frauen ist verhältnismäßig gering.
Theologische Lehren über das Fegefeuer sind ebenfalls ein Beispiel dafür, wie durch Unwissenheit die Mysterienlehren der Alten Weisheit entstellt wurden, um den Zielen exoterischer Religionen zu dienen. Aus dem Vorigen kann leicht ersehen werden, wie es dazu kommen konnte. Die Alte Weisheit, die heute von der Theosophie vertreten wird, lehrt, dass der tatsächliche Zustand von Kāma-Loka – ausgenommen die seltenen Fällen von Selbstmördern und wirklich sehr schlechten Menschen – eine Reinigung in dem Sinne darstellt, dass sich die materiellen und selbstsüchtigen Elemente des Verstorbenen auflösen. Diese Reinigung erfolgt unbewusst und bringt wenig oder kein Leiden irgendeiner Art für gewöhnliche Menschen mit sich. Die ganzen Schreckgespenster der Theologie und des Aberglaubens werden von der Theosophie erklärt und dadurch ausgeräumt.
Ein anderer, öfter angesprochener Punkt bezieht sich auf die Möglichkeit, den Zeitraum zwischen zwei irdischen Leben zu verkürzen. Es gibt eine vielleicht überraschend große Anzahl von Männern und Frauen, die den Gedanken nicht ertragen können, dass sie Tausende von Jahren der Seligkeit genießen, während die Welt sich mühsam plagt, ohne dass sie etwas zu ihrer Hilfe und Erleichterung beitragen können. So betrachtet scheint der devachanische Zustand eigentlich selbstsüchtig. Dr. de Purucker antwortete auf eine ihm diesbezüglich gestellte Frage:
Wenn wir den Zustand von Devachan genau analysieren, müssen wir zu der Erkenntniss gelangen, dass er – wie schön er auch sein mag und wieviel Ruhe und Erholung er auch schenken mag, was bestimmt der Fall ist – trotzdem ein selbstsüchtiger Zustand ist. Wir können sagen, was wir wollen, Devachan ist im gegenwärtigen Stadium notwendig, weil es Ruhe bedeutet, Erholung und Frieden, und weil es die Aufarbeitung und die Assimilation der Erfahrungen des gerade beendeten Lebens bedeutet. All das mag so sein, es bleibt dennoch eine selbstsüchtige Existenz, denn in den Jahrhunderten, die wir in Devachan verbringen, träumen wir schöne Träume, und auch wenn der Welt das Schlimmste geschieht, stört uns das nicht. Nun, das ist nicht im Geiste der Buddhas des Mitleids. Liebe, unpersönliche Liebe, die alles umfasst – groß und klein – wird uns sogar von Devachan befreien. Es ist gerade dieser Geist der unpersönlichen Liebe, Liebe für alle Dinge, eine Sehnsucht, allen zu helfen und zur Seite zu stehen, die den wahren Kern der Buddhas des Mitleids bildet. … Es ist dieser Geist, der unser Devachan verkürzen wird und uns schnell auf dem Chelapfad voranbringen wird. Es ist der Geist, der unsere Älteren Brüder erfüllt, die Meister der Weisheit, des Mitleids und des Friedens. Sie haben kein Devachan. Sie sind darüber hinausgewachsen – zumindest die höheren unter ihnen.
– The Theosophical Forum, Feb. 1933, S. 178
Ein ausgeprägtes, unpersönliches Verlangen, für die Menschheit zu leben, bildet eine Energie von außergewöhnlicher Kraft, wenn dies ein ganzes Leben lang durchgehalten wird – besonders wenn es nicht nur Sentimentalität ist, sondern die Form täglicher Selbstaufopferung im Denken und Handeln annimmt. Diese Energie ist stärker als alle anderen Energien, weil sie an der bewegenden Harmonie und Liebe teilhat, die aus dem Herzen des Universums hervorfließt, um alles, was ist, zu durchdringen. Sie wird ihren entsprechenden Ausdruck finden, indem sie die exkarnierte Wesenheit an jenen Ort zurückzieht, wo allein sich diese spirituelle Wunschenergie auswirken kann – Reinkarnation auf der Erde, in jeglicher Umgebung, in welcher eine solche humanitäre Aktivität möglich ist.
Das Vorhergehende führt zu einer oft gestellten Frage in Bezug auf die relative Wichtigkeit der beiden Zustände – das Leben auf der Erde und Devachan. Um es etwas zu vereinfachen, könnten wir fragen: Was ist wichtiger, essen oder verdauen? Das irdische Leben gewährt ein Ansammeln von Erfahrung und Devachan dessen Assimilation. Für die Durchschnittsmenschheit sind beide notwendig, das eine ergänzt das andere.
Aber der Mahatma, der Adept, der Meister des Lebens ist über Devachan hinausgewachsen. Er schreitet ohne Unterbrechung des Bewusstseins von Leben zu Leben und von Körper zu Körper. Wir dürfen jedoch die Tatsache nicht übersehen, dass er dabei für sich selbst die Notwendigkeit zu weiteren irdischen Erfahrungen überschritten hat. Er reinkarniert als Mensch, um sich dem spirituellen Wohlbefinden aller zu widmen. Um den Tod und die damit verbundenen Umstände zu überwinden, müssen wir erst den Durst nach Leben besiegen. Denn diese beiden – das Leben auf der Erde und das Leben in den inneren Welten jenseits des Todes – sind gegenwärtig die passende Art und Weise für die Evolution des Menschen. Erst wenn der Mensch das Bedürfnis für beide überwunden hat, kann er ein Mahatma werden – selbstbewusst unsterblich.
Aber der Tod wird sich sogar für den Durchschnittsmenschen verändern, denn der Mensch entwickelt sich natürlich unentwegt. Nicht nur unter dem Einfluss seines eigenen inneren Dranges, sondern auch mit der Hilfe einer Umgebung, die er zusammen mit seiner Familie, seiner Nation und seiner Rasse täglich erschafft, wird er aus dem Kern seines eigenen Wesens neue Kräfte und Fertigkeiten entwickeln, entfalten, entrollen. Und während er diese neuen Fertigkeiten entwickelt, wird er gleichzeitig solche Umstände hervorrufen, duch die er sie zum Ausdruck bringen kann. Das ist ein Teil der großartigen Aussicht, welche die Theosophie für die Zukunft der Menschheit bietet.
Gottfried de Purucker sagt uns:
In der Zukunft, wenn die Menschheit etwas weiter fortgeschritten sein wird als sie heute ist, wird man allgemein das Alter als den schönsten Zeitabschnitt des Erdenlebens ansehen, weil es der an intellektueller, psychischer und spiritueller Kraft reichste ist, und das wird so bleiben, bis auf die wenigen kurzen Stunden vor dem Eintreten des wirklichen physischen Todes.
– The Esoteric Tradition, Band II, S. 813, Fußnote
Eine andere Sache, die wir zum Schluss ansprechen sollten, ist das neue Licht, das die Theosophie auf die gängigen unwissenschaftlichen Vorstellungen über die Unsterblichkeit wirft. Gottfried de Purucker brachte folgende Auffassung vor:
… die Menschen wissen nicht wirklich, was wahre Unsterblichkeit bedeutet. Sie glauben, sie bedeute unveränderliche Fortdauer der menschlichen Seele, wie sie jetzt ist – was für eine Hölle wäre das! Stellen wir uns vor, für immer und ewig das zu sein, was wir jetzt sind!
Die Lehre des Okkultismus ist das genaue Gegenteil davon. Seine Lehre erzählt von endlosem Wachstum, endloser Vervollkommnung, endloser Entwicklung, endloser Evolution und deshalb von endloser Veränderung des Bewusstseins, das immer höher steigt, aus der menschlichen Sphäre in die halbgöttliche, von den halbgöttlichen Welten in die göttlichen und danach in die übergöttlichen und so fort ad infinitum. Es gibt nirgends so etwas wie Unsterblichkeit, wie sie allgemein verstanden wird. Das einzige Unsterbliche ist das Universum selbst. Doch selbst das Universum ist durchaus nicht unsterblich, so wie es jetzt ist, denn es verändert sich fortwährend. Seine Essenz ist sein Leben, dessen wirklicher Kern Veränderung ist, die Wachstum bedeuted, welches Evolution hervorbringt.
– Studies in Occult Philosophy, S. 382-3
Der springende Punkt im vorherigen Absatz liegt in den Worten „wie es jetzt ist“. Nichts existiert fortdauernd so, wie es jetzt ist. Es ist diese Tatsache, die oft so unlogisch und unwissenschaftlich von Theologen ignoriert wird und doch von der Natur selbst fortwährend unterstützt wird. Sie ist die Wurzel der modernen wissenschaftlichen Vorurteile gegenüber der Vorstellung von der Unsterblichkeit. Das Individuum bleibt bestehen, aber dieses Weiterbestehen ist nur durch Veränderung möglich. Wir sind unser Karma – wir sind zu dem geworden, wozu wir uns selbst gemacht haben. Was bleibt, ist das, was wir aus uns selbst machen, und in diesem Fortschritt oder Rückgang liegt unsere Zukunft. Kann man sich eine größere oder zwingendere Herausforderung für den gesunden Verstand und für das Beste und Stärkste und auch für das Reinste in der menschlichen Natur vorstellen? Selbst die schöne Ausdrucksweise ‘das Sterbliche zum Unsterblichen emporheben’ hat nur eine relative Gültigkeit. Denn die Monade selbst, zu der wir unser Bewusstsein zu verwandeln versuchen und die im Vergleich mit dem menschlichen Ego unsterblich ist, wächst und evolviert auf ihrer eigenen Ebene zu immer größeren und größeren Höhen.
Wir beenden diese Betrachtungen über den Tod mit folgenden Worten:
Wir werden den Tod und seine Mysterien so lange nicht vollständig verstehen, solange wir unsere Aufmerksamkeit auf den Körper konzentrieren, in den sich diese Flamme des Selbstbewusstseins hüllt. Folge dem Bewusstsein in dir, werde mit dir selbst vertraut, erkenne dich selbst besser, folge dieser Flamme des Bewusstseins im Inneren – immer weiter nach innen, was gleichzeitig aufwärts bedeutet; und dann wirst du den Tod nicht länger fürchten, sondern ihn als den süßesten, heiligsten Freund erkennen, den der Mensch hat; denn es bedeutet, Unvollkommenheit für Vollkommenheit aufzugeben, begrenztes Bewusstsein für eine erweiterte Bewusstseinssphäre. Folge jenem Bewusstseinsstrom unaufhörlich, und schließlich wirst du das Innere erreichen, das Zentrum des Seins, die Göttlichkeit im Herzen deines Selbst. Dort liegt das Geheimnis für das Verstehen des wahren Mysteriums vom Tod, wie es in den alten esoterischen Schulen aller Menschenrassen gelehrt wurde.
– G. DE PURUCKER: Lucifer, April 1934, S. 441-2
Vergesst nicht, dass ihr Kinder der Ewigkeit seid, jeder von euch, untrennbar mit dem grenzenlosen Universum verbunden, in dem wir alle leben, uns bewegen und unser Dasein haben. Vergesst nicht, dass von den allmächtigen Gesetzen der Natur wohl für euch gesorgt ist, die uns hierher brachten und die uns auf unseren Wegen unfehlbar leiten. Vertraut auf euch bis zum Tod; sterbt mit starkem und freudigem Willen. Sterbt glücklich, wenn eure Zeit kommt, habt keine Angst. Verhöhnt das Phantom des ‘Todes’ – verspottet das alte, verborgene Schreckgespenst angsterfüllter Vorstellungen der Unwissenheit, das in die Herzen und in das Denken der Menschen verwoben ist. Verhöhnt dieses Gespenst, dieses üble Produkt der Vorstellungskraft! Löscht es aus! Denkt daran, das wohl für euch gesorgt ist.
– Questions We All Ask, Serie II, Nummer 19
Fußnoten
1. Siehe The Esoteric Tradition von G. de Purucker, S. 409-13. [back]
2. Eine vollständigere Erklärung befindet sich in Band 8 Runden und Rassen dieser Reihe. [back]
3. Eine weiterführende Erläuterung dieser sieben Globen unserer Planetenkette findet sich in The Secret Doctrine, Band I, S. 170 und folgende. Für ein Studium der sieben Prinzipien der Erde wird Fundamentals of the Esoteric Philosophy von G. de Purucker empfohlen. [back]
Band 5: Evolution
H. T. Edge
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Evolution ist ein universaler Prozess, demgemäß sich alles verändert, entwickelt und wächst. Einige einfache Beispiele können den Charakter dieses Prozesses verdeutlichen. Man pflanzt einen Samen, ein winziges Teilchen, das sich kaum von anderen Samen unterscheidet; er durchläuft verschiedene Stadien der Entwicklung, bis er ein ausgewachsener Baum geworden ist, der Blüten und Früchte trägt. Das ist Evolution – der Baum entwickelt sich aus dem Samen. Ein befruchtetes Ei im Mutterschoß entwickelt sich durch die verschiedenen Stadien hindurch zu einem vollständig geformten Kind, das sich weiter zu einem Erwachsenen entfaltet. Auch das ist Evolution – der Mensch evolviert aus einem Mikroorganismus. Ein Architekt hat eine Idee; die Idee nimmt auf dem Papier Form an und die Pläne werden gezeichnet; schließlich werden sie in Marmor und Granit verwirklicht, so dass – nachdem viele Stadien durchlaufen sind – sich durch die Arbeit vieler Hände eine prächtige, mächtige Kathedrale erhebt. Auch das ist ein Beispiel für Evolution – das Bauwerk entwickelt sich aus der Idee.
Das menschliche Dasein illustriert dasselbe Evolutionsgesetz; es beinhaltet allerlei Einrichtungen, gesellschaftliche Klassen, Bräuche usw., die sich allmählich aus einer Idee oder einem Plan entwickelten. Kurz gesagt, die Evolution stellt die Verwirklichung von Ideen dar.
Was das bedeutet, kann auch auf andere Weise formuliert werden. Wir können sagen, dass Evolution das Sichtbarmachen des Unsichtbaren ist; das In-Aktivität-Setzen des zuvor Latenten; die Offenbarung des nicht Geoffenbarten. Aber Evolution bedeutet nicht das Schaffen von etwas, was vorher nicht existierte. Die Kathedrale war schon da, nicht als steinernes Gebäude, sondern als Idee im Denken des Architekten. Der Baum existierte, bevor er sich in materieller Form manifestierte; er war latent, potenziell, als Samen anwesend. Der vollständige, zukünftige Mensch war in der Keimzelle verborgen anwesend. Wäre das nicht der Fall, wie könnte es dann geschehen, dass der eine Samen eine bestimmte Pflanze und der andere eine gänzlich andere hervorbringt?
Hinter allen Prozessen in der Natur stehen Geist, Intelligenz, Instinkt und Verlangen. Wenn wir dem nicht zustimmen können, werden wir uns wieder die Frage stellen müssen, wodurch all das in mysteriöser Weise zustande gebracht wird. Dazu kommt, dass Geist, Intelligenz usw. Attribute von lebendigen Wesen sind und nicht davon getrennt gesehen werden können; sie sind ein Teil von ihnen. Deshalb müssen wir die gesamte Natur als eine Ansammlung lebendiger Wesen betrachten. Wenn wir diesen Schritt einmal vollzogen haben, verschwinden die Probleme und es bietet sich uns eine verständliche Erklärung des Universums, des Lebens und der Evolution.
Der Evolutionsgedanke hat die Philosophen seit Urzeiten beschäftigt. Er ist eine Alternative zur Vorstellung von einer expliziten Schöpfung durch das Wort Gottes. Die Vorstellung, dass Gott das Universum in einem Zuge erschuf, an irgendeinem Zeitpunkt in der Vergangenheit, ist für den Intellekt wenig befriedigend. Wenn wir sehen, wie alles um uns herum wächst und sich verändert, ist es eine natürliche Vorstellung, dass das Universum, mit allem was darin enthalten ist, nach demselben Wachstumsprozess entstand.
Theosophische Perspektiven
Band 05: Evolution
Frei überarbeitet nach H. T. Edge
© 2000 Theosophischer Verlag der Stiftung der Theosophischen Gesellschaft Pasadena, Eberdingen
Der Mensch ist tatsächlich ein Mysterium: Unter der Oberfläche und hinter dem Schleier liegt das Mysterium des Selbstes, der Individualität, eines Werdegangs, der sich bis in die weitest entfernten Ewigkeiten erstreckt. Der Mensch ist im Kern seines Wesens göttliche Energie, von Schleiern umhüllt.
– Gottfried von Purucker
Einleitung
In der Theosophie wird das Wort Evolution benützt, um den universalen Prozess anzudeuten, durch den alles entsteht und sich entwickelt. Das Thema ist zu umfassend, um hier vollständig behandelt werden zu können. Deshalb geben wir nur einen Abriss des gesamten Gebiets und beschäftigen uns mehr mit dem Besonderen, mit bestimmten Facetten, wie der Evolution von Mensch und Tier, dem Darwinismus und ähnlichen Themen, für die im Allgemeinen großes Interesse besteht. Das hat zur Folge, dass die hier gegebenen Lehren nur Ausschnitte des gesamten Themas darstellen. Wir werden – wie es üblich ist – mit den Grundlagen beginnen und ein tiefergehendes Studium auf einen späteren Zeitpunkt zurückstellen. Da die Evolution ein derartig weitreichendes Gebiet darstellt und die theosophischen Lehren umfassend sind, verweisen wir von Zeit zu Zeit auf andere theosophische Werke, die sich auf besondere Aspekte dieser Thematik beziehen.
Evolution ist ein universaler Prozess, demgemäß sich alles verändert, entwickelt und wächst. Einige einfache Beispiele können den Charakter dieses Prozesses verdeutlichen. Man pflanzt einen Samen, ein winziges Teilchen, das sich kaum von anderen Samen unterscheidet; er durchläuft verschiedene Stadien der Entwicklung, bis er ein ausgewachsener Baum geworden ist, der Blüten und Früchte trägt. Das ist Evolution – der Baum entwickelt sich aus dem Samen. Ein befruchtetes Ei im Mutterschoß entwickelt sich durch die verschiedenen Stadien hindurch zu einem vollständig geformten Kind, das sich weiter zu einem Erwachsenen entfaltet. Auch das ist Evolution – der Mensch evolviert aus einem Mikroorganismus. Ein Architekt hat eine Idee; die Idee nimmt auf dem Papier Form an und die Pläne werden gezeichnet; schließlich werden sie in Marmor und Granit verwirklicht, so dass – nachdem viele Stadien durchlaufen sind – sich durch die Arbeit vieler Hände eine prächtige, mächtige Kathedrale erhebt. Auch das ist ein Beispiel für Evolution – das Bauwerk entwickelt sich aus der Idee. Das menschliche Dasein illustriert dasselbe Evolutionsgesetz; es beinhaltet allerlei Einrichtungen, gesellschaftliche Klassen, Bräuche usw., die sich allmählich aus einer Idee oder einem Plan entwickelten. Kurz gesagt, die Evolution stellt die Verwirklichung von Ideen dar.
Was das bedeutet, kann auch auf andere Weise formuliert werden. Wir können sagen, dass Evolution das Sichtbarmachen des Unsichtbaren ist; das In-Aktivität-Setzen des zuvor Latenten; die Offenbarung des nicht Geoffenbarten. Aber Evolution bedeutet nicht das Schaffen von etwas, was vorher nicht existierte. Die Kathedrale war schon da, nicht als steinernes Gebäude, sondern als Idee im Denken des Architekten. Der Baum existierte, bevor er sich in materieller Form manifestierte; er war latent, potentiell, als Samen anwesend. Der vollständige, zukünftige Mensch war in der Keimzelle verborgen anwesend. Wäre das nicht der Fall, wie könnte es dann geschehen, dass der eine Samen eine bestimmte Pflanze und der andere eine gänzlich andere hervorbringt?
Wir wissen, dass wachsende Mikroorganismen Elemente aus der Erde, dem Wasser, der Luft und dem Licht aufnehmen und damit ihre materielle Struktur aufbauen. Biologen können mit Hilfe des Mikroskops die Entwicklung eines Mikroorganismus studieren und eine sehr ausführliche und detaillierte Beschreibung davon geben, was er sieht. Er kann jedoch die treibenden Kräfte, die er vielleicht als Eigenschaften der Materie oder irgendeines Lebensprinzips betrachtet, nicht bei ihrer Tätigkeit beobachten.
Das bleibt solange eine schwierige und unverständliche Angelegenheit bis wir erkennen, dass alle diese Aktivitäten von Intelligenz geleitet werden. Hinter allen Prozessen in der Natur stehen Geist, Intelligenz, Instinkt und Verlangen. Wenn wir dem nicht zustimmen können, werden wir uns wieder die Frage stellen müssen, wodurch all das in mysteriöser Weise zustande gebracht wird. Dazu kommt, dass Geist, Intelligenz usw. Attribute von lebendigen Wesen sind und nicht davon getrennt gesehen werden können; sie sind ein Teil von ihnen. Deshalb müssen wir die gesamte Natur als eine Ansammlung lebendiger Wesen betrachten. Wenn wir diesen Schritt einmal vollzogen haben, verschwinden die Probleme und es bietet sich uns eine verständliche Erklärung des Universums, des Lebens und der Evolution.
Der Evolutionsgedanke hat die Philosophen seit Urzeiten beschäftigt. Er ist eine Alternative zur Vorstellung von einer expliziten Schöpfung durch das Wort Gottes. Die Vorstellung, dass Gott das Universum in einem Zuge erschuf, an irgendeinem Zeitpunkt in der Vergangenheit, ist für den Intellekt wenig befriedigend. Wenn wir sehen, wie alles um uns herum wächst und sich verändert, ist es eine natürliche Vorstellung, dass das Universum, mit allem was darin enthalten ist, nach demselben Wachstumprozess enstand. Die Kontroverse zwischen denjenigen, die an eine spezielle Schöpfung glauben, und jenen, die der Meinung sind, dass Evolution eine fundamentale Arbeitsweise der Natur ist, zeigte sich überdeutlich in dem berühmten Prozess von Dayton in den Vereinigten Staaten, als vor Jahren ein junger Lehrer verurteilt wurde, weil er seine Schüler in der modernen wissenschaftlichen Evolutionslehre unterrichtete. Wahrscheinlich empfanden die meisten Menschen, dass die von der Anklage vertretene Meinung sehr reaktionär und engstirnig war und dass sie geringes Wissen und wenig Respekt für die Arbeit der Wissenschaft zeigte. Trotzdem kann man sich des Gefühls nicht ganz erwehren, dass sie gewissermaßen Recht hatten. Zwar war ihre Argumentation vielleicht sehr einfach, sie waren sich jedoch der Tatsache bewusst, dass es sich in diesem Konflikt zwischen den Anhängern der Evolutionslehre und den Gläubigen um wichtige Fragen handelte.
Das Problem wurde mit drei Worten auf den Punkt gebracht: ‘Engel oder Affe ?’ – mit anderen Worten, stammt der Mensch von den Engeln ab oder von den Affen? Man empfand, dass die Evolutionisten eine materielle und animalistische Auffassung der menschlichen Natur hegten, die im Widerstreit zur göttlichen und spirituellen Vorstellung lag, die von ihren Gegnern vertreten wurde. Es ist deshalb nicht ganz gerecht, es den religiösen Gruppierungen zu verübeln, dass sie sich lediglich aufgrund der biblischen Lehren so über diesen Prozess ereiferten, denn hinter ihrem Eifer stand mehr als das. Sie wurden von keinem Geringeren als W. J. Bryan verteidigt – sicherlich ein Mann von hoher Intelligenz und Bildung. Man war davon überzeugt, dass die wissenschaftlichen Theorien den Materialismus vertraten, den Animalismus, ein mechanisches, vernunftloses, seelenloses, gottloses Universum; und das war für viele der Grund ihres Widerstands. Eine erbitterte Feindschaft entstand in jener Zeit, als die moderne wissenschaftliche Theorie der biologischen Evolution zum ersten Mal verkündet wurde.
Viele ernsthafte Denker versuchten einen Weg zu finden, die konträren Standpunkte miteinander zu versöhnen. So wurde zum Beispiel gesagt, dass Gott, als er das Universum geschaffen hatte, alles weitere der Evolution überließ; oder dass Gott noch immer mit der Schöpfung des Universums beschäftigt wäre, weil seine Arbeit nie ein Ende fände. Auch wurde erwähnt, dass die Evolution für die göttliche Methode oder Arbeitsweise stehe. Das sind alles Schritte auf dem Weg der Annäherung verschiedener Ansichten, aber die Frage muss noch erheblich vertieft werden. Der theosophische Standpunkt, dass das Universum aus lebendigen Wesen besteht, wird uns bei der Lösung dieses Problems helfen.
Was ist Evolution?
Huxley formulierte die Antwort auf diese Frage folgendermaßen: „Evolution oder Entwicklung wird heute in der Biologie als allgemeiner Begriff für die Abfolge der Schritte gebraucht, mit welchen jedes Lebewesen den morphologischen und physiologischen Charakter erwirbt, durch den es sich von allen anderen Lebewesen unterscheidet.“ Die Theorie besagt, dass die verschiedenen Pflanzen- und Tierarten sich entwickelten, indem sie sich hinsichtlich der Abstammung in einem gewissem Maß von den vorangegangenen Typen unterscheiden. Auch der Mensch, von dem man annimmt, dass er zum Tierreich gehört, soll sich in dieser Weise aus niedereren Arten des Tierreiches entwickelt haben. Die allgemeine Richtung dieser Evolution verlief stets von einfacheren zu komplizierteren und höher organisierten Formen; manchmal jedoch nimmt man eine entgegengesetzte Bewegung wahr. Man versucht, die Spur dieser Reihe der sich entwickelnden Typen bis zu einzelnen, sehr einfachen Formen oder sogar einzelligen Organismen zurückzuverfolgen. Lamarck ist ein prominenter Gelehrter, sein Name ist mit diesen Ideen verbunden. Er war der Meinung, dass die in den Organismen stattfindenden und zu ihrer Evolution führenden Veränderungen Reaktionen auf die Umgebung dieser Organismen darstellen. Diese Theorie wurde von Charles Darwin weiterentwickelt und ist heute unter dem Namen Darwinismus bekannt. Er geht davon aus, dass Organismen danach streben, Nachkommen zu erzeugen, die von ihren Eltern nur in geringem Maß abweichen, und dass der Prozess der natürlichen Selektion darauf ausgerichtet ist, das Überleben derjenigen Individuen zu fördern, die durch ihre besonderen Eigenschaften optimal an ihre Umgebung angepasst sind. Das ist die Lehre vom Überleben des Stärkeren.
Das bedeutet, dass die höheren Organismen sich aus den niedrigeren Arten entwickelt haben, indem sie allmählich kleine Veränderungen erfuhren; diese kleinen Veränderungen wurden bei der Fortpflanzung von den Eltern an die Nachkommenschaft weitergegeben. Die Veränderungen kommen durch Einwirkungen der Umwelt (Klima, Nahrung, Feinde, usw.) auf den Organismus zustande, wodurch er dazu gezwungen wird, sich seiner Umgebung besser anzupassen. Einige der auf diese Weise zustande gekommenen Mutationen konnten nicht überleben und nur derjenige hat eine Chance, der sich den Lebensumständen am besten anpasst und standhält; auf das Gesamte bezogen folgt daraus, dass die Evolution eine zu immer höher entwickelten Formen steigende Linie aufweist. Was die hinter diesem Evolutionsprozess stehende Ursache, den Sinn und den Zweck betrifft – darüber lässt uns die darwinistische Evolutionstheorie im Ungewissen. Sie zeigt uns einen mechanistischen, durchgängigen Prozess, von dem nicht bekannt ist, wie und wodurch er in Gang gesetzt wurde und was seine Bestimmung ist. Kurzum, sie stellt das Leben als einen mechanistischen Prozess dar, ohne Seele oder Geist, ohne Sinn oder Ziel. Und das ist es, was die Ablehnung verursacht, die viele Menschen dieser Theorie gegenüber empfinden.
Seit Darwins Zeiten hat man sich umfassend mit dieser Thematik beschäftigt, und viele seiner Thesen wurden angezweifelt; aber generell wird seine Evolutionstheorie immer noch aufrechterhalten. So wird heute der natürlichen Selektion als einem Evolutionsfaktor eine geringere Bedeutung beigemessen. Weit mehr als am Anfang neigt man heute zu der Annahme, dass natürliche Selektion eigentlich ein Resultat bezeichnet und dass bestimmte im Dunkeln liegende oder unbekannte Ursachen dazu führen. Deshalb ist es unlogisch, die natürliche Selektion als einen verursachenden Faktor zu bezeichnen.
In der etablierten Wissenschaft ist es üblich, eine vorläufige Hypothese zu formulieren, um damit bestimmte beobachtete Fakten zu erklären; und von Zeit zu Zeit ändert man diese Hypothese, wenn neue Fakten ans Tageslicht kommen. Aber das menschliche Denken hat eine Schwäche für Dogmen und hält seine vorläufigen Hypothesen zu lange fest. Und wenn sich neue Tatsachen ergeben, die nicht mit der Hypothese übereinstimmen, neigt es dazu, die Beweise lieber so auszulegen, dass sie mit der Theorie übereinstimmen, als diese aufzugeben. Die wissenschaftliche Auffassung über die Evolution hat sich im Laufe der Zeit aufgrund neuer Erkenntnisse geändert, und sie nähert sich mehr und mehr dem theosophischen Standpunkt. Dies zeigt erneut, welch positive Auswirkung eine unabhängige Forschung auf die Neigung zu dogmatischem Denken hat.
Die Analogien zwischen verschiedenen Arten von Organismen lassen stark vermuten, dass eine Evolution stattgefunden hat, aber die Schwierigkeit bestand immer darin, den tatsächlichen Gang der Dinge aufzuzeigen. Wenn die darwinistische Theorie richtig ist, müssten wir unter den heute bestehenden Formen solche antreffen, die das Übergangsstadium von der einen zur anderen Art repräsentieren. Was wir jedoch wirklich finden, sind einzelne Formen mit Lücken dazwischen. Um dies zu erklären, behauptet man, die Zwischenformen seien verschwunden, weil sie sich ihrer Umgebung nicht anpassen konnten. Und es wird darauf hingewiesen, dass die Paläontologie von vielen dieser Zwischenformen spricht, die es vor langer Zeit gegeben haben soll, als die Lebensbedingungen noch anders waren, aber dass sie seitdem ausgestorben sind. Die Paläontologie zeigt uns aber auch, dass die Reptilien den Höhepunkt ihrer Entwicklung im Mesozoikum erreichten, dem Zeitalter der Riesenechsen. Heute existieren sie nur noch als Eidechsen von einigen Zentimetern Länge. Dies ist ein Beispiel für eine Spezies, die ihre höchste Entwicklungsform erreicht hatte und dann ausstarb. Diese Tatsache zeigt, dass der Evolutionsplan nicht so einfach ist, wie man ursprünglich dachte; und es ist auch vernünftig anzunehmen, dass die Arbeitsweise der Natur weitaus komplexer ist als der einfache Plan, den man sich zunächst davon machte.
Spätere Studien von Biologen haben den Standpunkt bestätigt, dass die Natur mit einer auf der physischen Ebene fortschreitenden Evolution mehr zu einer größeren Verschiedenartigkeit geneigt ist als zu Uniformität, und dass jede Art eher dazu neigt, sich entlang ihrer eigenen speziellen Linien zu entwickeln und sich dabei vom Hauptstamm entfernt, als in einer geraden Linie zur nächsthöheren Form auf der Leiter aufzusteigen. Außerdem wurde festgestellt, dass Arten, die sich durch äußere Umstände differenzieren, so wie es bei Haustieren der Fall ist, dazu neigen, zu ihren ursprünglichen Typen zurückzukehren, wenn diese speziellen Umstände verschwinden. Ein Beispiel hierfür ist eine bestimmte Hühnerart, das sogenannte Gallus Ferrugineus (Bankivahuhn), das in Ost-Indien, in Süd-China bis Sumatra und Java wild vorkommt und die ursprüngliche Form darzustellen scheint, von der alle unsere Hühnerarten abstammen. Wenn nun die zahmen Hühner wieder verwildern, behalten sie ihre erworbenen Eigenschaften nicht, sondern entwickeln sich wieder zum primitiven Gallus Ferrugineus Typus zurück. Man könnte noch mehr Beispiele aufzählen. Dies scheint darauf hinzuweisen, dass die Evolution von Arten nicht entlang einer geraden Linie der Kontinuität von der einfacheren zur komplizierteren Form verläuft, sondern dass jede Art dazu neigt, entlang ihrer eigenen speziellen Linie davon abzuweichen. Deshalb wird die Evolution manchmal mit einem Baum verglichen – mit dem Hauptstamm, den größeren Ästen, den kleineren Ästen und den Zweigen. Die Äste und Zweige stellen die Arten dar, während die großen Äste die primitiven Formen sind, woraus erstere hervorkamen. Wenn sich herausstellt, dass zwei Formen die gleiche Struktur haben, ist das dann ein Beweis dafür, dass die eine Form aus der anderen hervorging oder dafür, dass beide von gemeinsamen Eltern abstammen, wonach jede ihren eigenen Weg einschlug, der sie im Laufe der Zeit weiter auseinandertriften ließ? Entsprechend dieser Auffassung wäre die Vielfalt der Formen, die wir heute sehen, aus einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von ursprünglichen Formen entstanden.
Trotz alledem ist nicht klar, ob Veränderungen bei den Arten die Folge von Vererbung sind. Die weitläufigen Untersuchungen auf dem Gebiet der Vererbung machen das Problem eher komplizierter, als dass sie uns einer Lösung näher bringen. Wenn jedoch kleine, zufällig entstandene Veränderungen nicht durch Vererbung weitergegeben werden, dann bricht die ganze Theorie zusammen. Und trotzdem können wir den Gedanken kaum ignorieren, dass es Evolution gibt – denn derartiges Wachstum und Entwicklung ist offensichtlich ein allgemeines Naturgesetz. Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus?
Diese und viele andere Schwierigkeiten, die bei der Interpretation von Evolution entstehen, sind eine Folge des Versuchs, den Prozess rein physisch und mechanistisch zu betrachten. Doch auch in dieser Hinsicht kommt die Wissenschaft in Bewegung. Viele Biologen legen im Augenblick mehr wert auf den Organismus an sich als auf die Umwelt, in der dieser lebt. Kein Umfeld könnte auch nur ein einziges Resultat zustande bringen, würde der Organismus selbst nicht auf dessen Einfluss reagieren. Wenn man also die Auswirkungen der Umwelt anführt, ist es notwendig anzunehmen, dass das Individium imstande ist, darauf zu reagieren; und das ist für einen unvoreingenommenen Geist gleichbedeutend mit der Erkenntnis, dass das Individium ein lebendiges Wesen ist, ein Wesen mit einem bestimmten Maß an Gefühl und Intelligenz – mit anderen Worten: eine Seele. Um einer derartigen Schlussfolgerung zu entgehen, müssten wir zu Äußerungen zurückkehren wie ‘inhärente Eigenschaften der Materie’ oder inhärente Eigenschaften der lebendigen Materie, des Protoplasmas; eine Erklärung, die unbrauchbar ist und eigentlich keine Erklärung darstellt. Zwischen der lebendigen und der sogenannten toten Materie gibt es zwar gewisse Unterschiede, aber sie können nur schwerlich als essentiell bezeichnet werden. Wenn dem so wäre, müssten wir annehmen, dass es im Universum zweierlei Arten von Materie gibt: die eine lebendig, die andere nicht; eine unnötige Komplikation, die außerdem zu unüberwindlichen Schwierigkeiten führt. Im Mineralreich der sogenannten toten Materie nehmen wir mancherlei sonderbare Eigenschaften und Aktivitäten wahr. Ein unvoreingenommener Beobachter wird geneigt sein, diese als Beweis von Leben und Intelligenz zu sehen. Aber da die Wissenschaft heute davon ausgeht, dass es so etwas wie tote Materie gibt, ist sie gezwungen, diese Eigenschaften und Aktivitäten zu erklären – unter der Annahme, dass es blinde ‘Kräfte’ gibt. Diese werden durch die wohlbekannten physikalischen Kräfte wie Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetismus, Anziehung und Abstoßung, Kohäsion und so weiter, dargestellt. Wenn aber aus dem Zusammentreffen von zwei Dingen eine Anziehungskraft resultiert, dann kann sie nicht die Ursache sein, die die Dinge zusammenbringt. Das würde bedeuten, dass Gegenstände durch Bewegung in Bewegung gesetzt werden. Wärme ist naturwissenschaftlich etwas, das mit Molekularschwingung, Ausdehnung und anderen Phänomenen gemeinsam auftritt. Was jedoch bringt diese Phänomene zustande? Die Kräfte, die die Materie antreiben, um Phänomene wie Wärme oder chemische Aktivität hervorzurufen, können selbst nicht materiell sein; oder sie müssen zumindest aus einer feineren Art von Materie bestehen.
Es gibt keinen triftigen Grund, den Pflanzen ein Leben zu gestatten und dies den Mineralien zu verweigern, obschon wir natürlich zugestehen müssen, dass sich das Leben in den unterschiedlichen Naturreichen auf verschiedene Weise manifestiert. Und so kommen wir wieder zu der These zurück, dass die gesamte Natur aus lebendigen Wesen zusammengesetzt ist, von denen viele mikroskopisch klein sind, die aber dennoch alle zusammengesetzt sind, evolvieren und wachsen. Mit dieser These als Ausgangspunkt wird die Evolutionslehre viel leichter verständlich.
Obschon wir vorgeben, in religiösen Angelegenheiten unvoreingenommen zu sein, haben wir trotzdem unbewusst gewisse Vorurteile, die aus dem Dogmatismus früherer Generationen herrühren. Die theologische Idee eines Gottes außerhalb des Universums, das er schuf, erweckte die Vorstellung, dass es eine riesige Menge toter Materie gegeben habe, die er als Material verwendete oder der er Leben schenkte. Die Vorstellung von toter Materie ist die Folge einer vom Universum losgelösten Gottesvorstellung. Wir sehen, dass der Mensch im Altertum an ein Universalbewusstsein der Natur glaubte und dass dieser Glaube noch heute in Gebieten existiert, in welche die Idee von einem theologischen Gott noch nicht vorgedrungen ist. Dies wird als Aberglaube bezeichnet und es wird behauptet, dass die Menschen des Altertums tote Materie mit einem imaginären Leben bedachten, wobei doch wir es sind, die dem Aberglauben unterliegen, in der Natur existiere so etwas wie tote Materie.
Was uns aber in dieser Kontroverse am meisten beschäftigt ist die Frage nach dem Ursprung des Menschen. Der Gedanke, dass der Mensch vom Affen oder einem anderen Tier abstammt, erweckt Widerwillen. Um diese Schlussfolgerung zu umgehen, sahen die Gegner der Evolutionstheorie sich dazu gezwungen, viel von dem zu leugnen, was von der Wissenschaft als Tatsache festgestellt wurde. Und so manövrierten sie sich selbst in eine eigenartige Position, die nur schwerlich zu verteidigen ist. Aber warum ist es nötig, die Wissenschaft beiseite zu schieben und Dinge zu leugnen, die nicht geleugnet werden können? Dafür gibt es keinen Grund. Denn, wie gezeigt wurde, gibt es ohne evolvierende Lebewesen keine Evolution; und der ganze Prozess ist nicht vorstellbar, wenn er nicht die Folge intelligenten Denkens ‘hinter den Kulissen’ darstellt. Das führt uns zu der Formulierung dessen, was Evolution ist: der Geist, der versucht, sich in der Materie zum Ausdruck zu bringen und dazu die notwendigen Mittel schafft. Die Wissenschaft hat ihren Blick auf das Entstehen und den Entstehungsprozess selbst konzentriert und dabei die Architekten und den Plan übersehen. Man stellte sich eine Urzelle vor, bedachte sie mit einer mysteriösen und unbeschreiblichen Wachstumskraft, die sich durch zahllose Stadien hindurch zu einem unbekannten Ziel entwickelt. Sie reicht sozusagen experimentell ins Unendliche und bringt – durch einen zufälligen Anpassungsprozess an die Umgebung – vielerlei Formen hervor. Heute sind viele Biologen weniger dogmatisch eingestellt als in den Tagen, da H. P. Blavatsky die Evolutionstheorien in ihrer Geheimlehre kritisierte; und einige unter ihnen geben heute zu, dass die wirkliche treibende Kraft hinter der Evolution das lebendige Wesen selbst ist. Aber um Formen unterhalb des Tierreichs mit einzubeziehen, müssen wir einen allgemeineren Begriff gebrauchen und sagen, dass die treibende Kraft die Monade ist, also die lebendige Seele im Organismus, ob diese nun tierisch, pflanzlich oder auch mineralisch ist.
Evolution ist daher ein Prozess der Selbstverwirklichung oder Selbstoffenbarung, der durch das Kosmische Leben, den Kosmischen Geist oder die Kosmische Intelligenz in Gang gehalten wird. Im theosophischen Sprachgebrauch würden wir sagen: der Gott, der sich entfaltet und offenbart, während die Natur das sichtbare Gewand der Gottheit ist. Die Evolution muss als dualer Prozess betrachtet werden – Geist, der sich in Materie ein-faltet, und Materie, die sich nach dem Muster des Geistes ent-faltet. Man kann dies mit den Worten Involution und Evolution beschreiben, aber meist gebraucht man lediglich das Wort Evolution, stellvertretend für den gesamten Prozess. Wir müssen lernen, derartige Variationen im Gebrauch von Worten zu bemerken; und wir müssen sie berücksichtigen. Es geht hier darum, dass der Geist sich nicht wie die Materie aufwärts entwickelt hat. Er hat sich in die Materie ein-gefaltet. Deshalb ist es falsch und irreführend, sich eine Evolution des Geistes vorzustellen, die parallel mit der Evolution der Formen in den Naturreichen verläuft. Die Verwirrung kulminiert in dem Versuch zu zeigen, dass die Intelligenz des Menschen sich aus der Intelligenz der Tiere entwickelte. Es gibt einen radikalen Unterschied zwischen dem Bewusstsein des Menschen und dem Bewusstsein selbst des am höchsten entwickelten Tieres – nämlich das Selbstbewusstsein. Es ist entweder präsent oder nicht, und es erscheint nicht schrittweise.
Evolution bedeutet das Entfalten dessen, was latent vorhanden ist; und das beinhaltet, dass der ursprüngliche Mikroorganismen potentiell alles in sich trägt, was später zum Ausdruck gebracht wird. Evolution bedeutet nicht das Zusammenbringen von einzelnen Elementen mit dem Ziel, etwas Zusammengesetztes daraus zu machen. Sie ist kein Prozess des Hinzufügens. Auf diese Weise kann man ein Gebäude errichten oder eine Maschine, aber nicht einen Organismus. Ein Gebäude oder eine Maschine eigentlich auch nicht, denn diese müssen vorher schon als Plan in der Vorstellung des Planers bestehen. Es ist wahr, dass der Samen Teilchen aus der Erde und der Luft anzieht, um seine Form aufzubauen. Dieser Aufbau erfolgt jedoch nach einem bestimmten Modell. Bevor die Pflanze als physischer Organismus – für das Auge sichtbar – existiert, besteht sie bereits als astraler Organismus; und das Auge eines Hellsehers kann sie als solche wahrnehmen. Wenn die Pflanze zerfällt, bleibt der astrale Organismus bestehen, um so ein Modell für zukünftige, ähnliche physische Organismen zu formen.
Bereits vor dem zweiten Weltkrieg neigte eine Anzahl prominenter Biologen immer mehr dazu, die Gedankenbilder zu akzeptieren, die hier erläutert werden. Es wurde ihnen allmählich klar, dass die bloße Beschreibung des Prozesses keine ausreichende Erklärung der Evolution liefert und dass man um die Schlussfolgerung nicht herumkommt, dass hinter diesem Prozess intelligente Kräfte stehen. Auch Physiker sehen, dass ihre ‘Kräfte’ lediglich sich in der Materie auswirkende Folgen sind, die von etwas Unbekanntem hervorgebracht werden. Sie haben die Materie bis zu einem Punkt analysiert, an dem es unmöglich ist weiterzugehen, ohne die Grenzen der Materie zu überschreiten. Wie vollständig die materielle Erklärung von Naturerscheinungen auch sein mag – sie ist nur innerhalb bestimmter Grenzen vollständig und lässt noch sehr viel Raum, um ultra-physische Kräfte hinzuzufügen, ohne dass die physikalische Erklärung auch nur im Geringsten verworfen wird. Und einzelne Naturwissenschaftler machen den unvermeidlichen Schritt und durchtrennen den Knoten mit der Schlussfolgerung, dass sogar die physische Materie von lebendigen Kräften angetrieben wird – und das heißt von Lebewesen.
Die Astralebene
Die Erklärungsversuche der Evolutionisten werden in hohem Maß durch die Tatsache erschwert, dass sie die Existenz anderer als der uns vertrauten Formen der Materie nicht in ihre Forschung einbeziehen. Es ist unmöglich, die Phänomene der gewöhnlichen Materie zu erklären, ohne die Existenz subtilerer Arten von Materie in Betracht zu ziehen. Wie bereits gesagt scheint es, als baue sich eine Pflanze in ihrem Wachstum in mysteriöser Weise auf, nach ihrem eigenen Muster, ohne eine sichtbare regelnde Kraft. Die Erklärung liegt in der Tatsache, dass die vollkommene Form der Pflanze bereits in der astralen Materie existiert. Beim Wachstum richten sich die physischen Atome nach diesem bestehenden Modell und bauen so die physische Struktur auf. Bei den Pflanzen und den Tieren finden die Veränderungen in den Astralformen der Organismen statt, nicht in der physischen Struktur; und hiermit werden die fehlenden Glieder in der Kette erklärt. Dies lässt sich anhand nachfolgender Analogie erklären: Wenn Menschen eine Wendeltreppe hinaufsteigen, wird ein einseitig beobachtender Zuschauer sie auf verschiedenen Stufen stehend sehen, aber er sieht nicht, wie sie von der einen Stufe zur nächsten gelangen. Er kann annehmen, dass sie springen oder allmählich aufwärts steigen, aber es gelingt ihm nicht, dem tatsächlichen Vorgang zu folgen. Tatsächlich steigen sie allmählich auf der Rückseite einer Spirale empor, die unseren Blicken entzogen ist. Die physischen Arten, die auf der Erde vorkommen, bleiben lange Zeit unverändert, aber das heißt nicht, dass keine Evolution vonstatten ginge. Diese physischen Formen sind lediglich die aufeinanderfolgenden Häuser, in denen die Monade wohnt; aber die Monade selbst evolviert unaufhörlich. Ihre evolutionären Veränderungen finden in der astralen Form statt und dann inkarniert sie in einer entsprechenden physischen Form.
An diesem Punkt angelangt ist eine eingehendere Betrachtung sinnvoll, was wir eigentlich unter einem Tier oder einer Pflanze verstehen. Die Annahme, diese Erscheinungen würden nicht mehr als einen physischen Organismus darstellen, ist nicht richtig und wir können die Evolution nicht von einem falschen Ausgangspunkt aus erklären. Die Pflanze oder das Tier ist in Wirklichkeit eine Monade – eine lebende Seele, ein Funke des kosmischen Feuers, ein Atom des universalen Lebens. Sie unternimmt eine Pilgerfahrt durch die Materie, wobei sie allmählich und stufenweise verschiedene Formen entwickelt, um ihren eigenen, in ihr schlummernden Fähigkeiten Ausdruck verleihen zu können. Sie ist ein wachsendes und lebendiges Wesen, ein Samen, der alle Möglichkeiten seines göttlichen Ursprungs in sich trägt. Die Monade oder der Lebensfunke ist verkörpert, aber nicht nur in einem physischen Körper, denn außer dem physischen Körper gibt es andere, feinstofflichere Verkörperungen der Materie. Sie besitzt eine psycho-mentale Verkörperung, die aus ihr eine Tier- oder Pflanzenseele macht; diese wiederum besitzt eine astrale Verkörperung, was wieder eine Verkörperung in der gewohnten physischen Materie zur Folge hat. Wir müssen dies berücksichtigen, wenn wir die Evolution verstehen wollen.
Würden wir unser eigenes Bewusstsein studieren, bekämen wir ein klareres Bild als bei der bloßen Betrachtung der Außenseite der Dinge. Wir stellen fest, dass wir in erster Linie selbstbewusst denkende Wesen sind; unsere Organe und unsere Körper sind Instrumente, die wir für uns selbst aufgebaut haben, um mit der Außenwelt in Verbindung treten und uns dort zum Ausdruck bringen zu können. Wir wachsen von innen nach außen. So ist es überall; alles wächst, und alles wächst von innen nach außen. Sichtbare Pflanzen und Tiere kommen aus dem Unsichtbaren, und auf den unsichtbaren Ebenen finden die evolutionären Veränderungen statt. In dem Maß, in dem die Seele eines Wesens sich nach und nach entwickelt, ändert sich die astrale Form; und die Veränderungen werden auf die physische Form übertragen.
Man kann unmöglich erklären, wie es geschieht, dass der Körper einer Pflanze oder eines Tieres ein Leben lang derselbe bleibt, während die physischen Atome ständig ersetzt werden – es sei denn, es gäbe ein bleibendes Muster, in das sich die physischen Atome einordnen und das die Gesamtheit des Organismus – trotz des Austausches der physischen Atome – bewahrt. Wir können die Evolution daher nicht ohne Berücksichtigung der Existenz der Astralebene und des Astralkörpers der Organismen erklären.
Die Evolution des Menschen
- Die Bedeutung des Wortes ‘Mensch’
- Das Selbstbewusstsein
- Der Standpunkt der Wissenschaft
- Der Mensch ist der ursprünglichste Stamm
- Der Mensch stammt – vom Menschen ab
- Der Mensch und die Affen
- Die spirituelle Triebkraft hinter der Evolution
Die Bedeutung des Wortes ‘Mensch’
Zunächst einmal sollten wir definieren, was wir unter dem Wort ‘Mensch’ verstehen. Wenn auch die wissenschaftlichen Evolutionisten mit ihren Theorien bezüglich der Evolution des menschlichen Körpers Recht haben sollten, würden sie dennoch über den Ursprung der menschlichen Intelligenz und der menschlichen Seele – mit einem Wort: den Ursprung des Menschen selbst – vollkommen im Dunkeln tappen. Das ist der Gedanke, der bei den Anti-Evolutionisten so lebendig ist – wie unzureichend auch immer sie ihre Bedenken in Worte fassen können. Sie sind sich bewusst, dass sie sich durch die Annahme des wissenschaftlichen Standpunkts der animalistisch-materialistischen Betrachtungsweise der menschlichen Natur ausliefern würden. Die Wissenschaftler ihrerseits können dann wieder entgegenhalten, dass dieser Aspekt der Angelegenheit sie nichts angeht und dass sie lediglich die materiellen Fakten studieren. Es ist aber eine Tatsache, dass ein so materialistischer und mechanistischer Standpunkt das Denken beeinflusst und einen pessimistischen Blick auf die menschliche Natur unterstützt. Viele sehen in der Wissenschaft eine Art Religion – eine Religion, welche die Gottheit leugnet oder zumindest negiert; eine Religion, die den Menschen, was seine Abstammung betrifft, ins Tierreich verweist. Selbst das tierische Bewusstsein oder die Intelligenz, die eine Pflanze ihrer Art und Funktion entsprechend wachsen lässt, kann nicht als mechanistisches oder chemisches Produkt interpretiert werden. Noch viel weniger kann das in Bezug auf den Geist des Menschen der Fall sein. Wir wollen nach innen schauen und versuchen, die Tiefen unseres eigenen wunderbaren Bewusstseins zu ergründen. Wenn es aus der Materie hervorkommt, müsste die Materie Gott sein. Gleiches bringt Gleiches hervor; und Flüsse können nicht höher fließen als ihre Quelle. Unser Bewusstsein ist ein Teil eines Bewusstseins-Meeres, unser Denken ein kleines Lichtbündel; und unser physischer Organismus kann nicht mehr sein als die Leinwand, auf die das Licht projiziert wird.
Die Theosophie beschäftigt sich mit der Wirklichkeit. Und was ist wirklicher als unsere eigene bewusste Existenz? Wir können uns als Ausgangspunkt nichts Wesentlicheres vorstellen, als unser eigenes Bewusstsein. Die Evolution des Geistes verläuft in der der Materie entgegengesetzten Richtung. Beim Zusammentreffen dieser beiden wird das Denkvermögen gebildet. Genaugenommen ist der Mensch das Resultat zweier zusammenfließender evolutionärer Entwicklungen: der des Geistes und der der Materie. Das gesamte manifestierte Universum ist durch die Vereinigung von Geist und Materie gebildet, durch kosmisches Leben und Bewusstsein, die sich Vehikel aufbauen, um sich selbst zum Ausdruck zu bringen. Wie gesagt, es wäre besser von der Involution des Geistes in die Materie und der daraus entspringenden Evolution der Materie zu sprechen. Die Wissenschaft studiert die Evolution der Materie, nicht die Involution des Geistes. Außerdem versucht man beides als ein und denselben Prozess zu betrachten. Das Denkvermögen stellt man sich als ein Produkt der Evolution vom Tier- zum Menschenreich hin dar. Es ist der Geist, der die Entfaltung der Organismen verursacht; die Form verändert sich und passt sich den zunehmenden Fähigkeiten der innewohnenden Monade an. Wir können eine Analogie aus der Wissenschaft entlehnen: nämlich die Wirkung von Wärme, die verschiedene Veränderungen verursacht. Zum Beispiel wird Wasser zu Wasserdampf und weiter resultieren aus der Zufuhr von Wärme zahlreiche chemische Veränderungen. Wir erkennen hier, dass Wärme das unsichtbare Mittel ist, das sichtbare Veränderungen verursacht. Aber viele Biologen argumentieren, als wären die Veränderungen von selbst geschehen und Wärme ein Nebenprodukt dieses Prozesses. Da man von einem Wissenschaftler erwartet, dass er alle seine inneren Sinne verschließt und die Natur mit nüchternem Blick betrachtet, entgeht ihm möglicherweise der Bewusstseinsfunke im Auge des Tieres, den er als etwas, das mit ihm selbst verwandt ist, erkennen könnte.
Das Selbstbewusstsein
Der Mensch ist nicht das Endprodukt einer Reihe von Pflanzen- und Tierformen, denn es gibt eine ganz deutliche Kluft – die Kluft des Selbstbewusstseins, wie bereits vorher erwähnt. Der Mensch hat das Vermögen, sein eigenes Bewusstsein zu erforschen, und es liegt in seiner Macht, sich zu verändern, indem er seinen Willen und seine Vorstellungskraft einsetzt. Tiere besitzen diese Fähigkeiten nicht. Sie sind entweder da oder nicht, eine Zwischenform gibt es nicht. An dieser Stelle müssen wir jetzt eine unter Vorbehalt gemachte Aussage ergänzen, als wir nämlich sagten, der Mensch sei das Produkt einer dualen Evolution. Wir werden ihn jetzt als ein Produkt dreier verschiedener Evolutionslinien betrachten. Die dritte ist die Linie des selbstbewussten Denkens.
Gemäß den religiösen Kosmogonien, einschließlich der Bibel, wurde der Mensch ursprünglich aus dem Stoff der Erde geschaffen und zu einer lebenden Seele gemacht, das heißt einer animalischen Seele, in Übereinstimmung mit einer genauen Übersetzung aus dem Hebräischen. Später wurde diese Seele mit dem göttlichen Feuer begabt, so dass der Mensch nach Gottes Vorbild und Ebenbild geschaffen wurde. Das ist eine Universallehre, und es gibt nichts, worüber mehr Einstimmigkeit bestanden hätte, als über die duale Schöpfung des Menschen. Die Wissenschaft wird diese Wahrheit gewiss einmal bestätigen, auch wenn sie anstelle der biblischen eine eigene Terminologie benutzen wird.
Die Tatsachen lehren uns, dass Intelligenz in dem einen Menschen durch einen anderen Menschen geweckt wird. Ein Kind, das sich selbst überlassen bleibt, ist nicht imstande, seine Intelligenz zu entwickeln, sondern es würde zu einer Art instinktiv lebendem Wesen werden. Einige Beispiele dafür sind bekannt. Das Kind lernt von seinen Eltern und Erziehern durch Belehrung und Nachahmung, und später wird es in der Schule unterrichtet. Wichtige Veränderungen im Denken des Menschen wurden immer von großen Geistern in Gang gesetzt, von einzigartigen Denkern von Format, die Schüler anzogen, von denen sich die Woge auf das Denken der Massen übertrug. Das Licht wird immer weitergegeben werden. Tatsächlich ist in jedem Menschen Intelligenz latent vorhanden, aber sie bleibt latent, wenn sie nicht zum Leben erweckt wird. Die höchst entwickelten Tiere bleiben das, was sie sind, und sie zeigen nicht die Neigung, Intelligenz zu entwickeln. Welche Argumente könnten wir zur Unterstützung der Annahme vorbringen, dass das in der Vergangenheit anders gewesen sein sollte? Die Suche nach fossilen Überresten von Wesen, die in der Evolution zwischen dem Menschen und den Menschenaffen stehen, ist ohne Erfolg geblieben. Es ist wahrscheinlich, dass die Knochen von degenerierten menschlichen Wesen als Zwischenglied betrachtet werden können. Die Ähnlichkeit in der Struktur des Menschenaffen und des Menschen wirkt nach beiden Seiten und kann deshalb genausogut als Beweis für die Tatsache dienen, dass der Affe vom Menschen abstammt; es gibt Biologen, die der Meinung sind, dass das tatsächlich durch die Fakten bestätigt wird.
Der Mensch ist also das Produkt von drei Hauptlinien der Evolution. Die dritte Linie ist die der manasischen Evolution – das heißt die Evolution von Manas, dem selbstbewussten Denken. Es ist dieses selbstbewusste Denken, das den Menschen so deutlich von den höheren Tierarten unterscheidet und das kann nicht – wie bereits gesagt – die Folge von direkter Evolution des nicht selbstbewussten Tieres sein. Es ist eine Errungenschaft des Menschen in einem bestimmten Stadium seiner Evolution. Es gab eine Zeit, in der er das selbstbewusste Denken nicht besaß, und es kam eine Zeit, in der er es erwarb. Das erklärt den Unterschied zwischen den ehemaligen ‘gemütlosen’ Menschenrassen und den späteren ‘erwachten’ Rassen.
Dieses Ereignis wird in der Theosophie das Erscheinen der Mānasaputras genannt, was ‘Söhne des Denkens’ bedeutet. Sie waren göttliche Wesen, die selbst einst Menschen waren. Da sie jedoch der vorigen Runde des Evolutionszyklus angehören, haben sie das menschliche Stadium, wie wir es jetzt kennen, bereits durchlaufen. Von diesen Wesen empfing der Mensch seine spezielle Intelligenz. Man soll aber nicht denken, dass sie ihm das Denkvermögen schenkten, so wie man jemandem etwas gibt, was er noch nicht hat. Sie weckten in den gemütlosen Menschen sozusagen den latenten Samen des Selbstbewusstseins, der bereits in ihnen schlummerte. Wir müssen im Auge behalten, dass in jedem Wesen im Universum, wie niedrig es auch sein mag, die höchsten Möglichkeiten in latentem Zustand vorhanden sind, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft entfalten werden, wie weit entfernt der auch sein mag. Diese ‘Söhne des Denkens’ waren die Lehrmeister des Menschen – die Inspiratoren oder Heilande. Dieses Ereignis wird in vielen heiligen Schriften und Mythologien in allegorischer Sprache beschrieben, einschließlich der Genesis in unserer Bibel. Der interessierte Leser kann in der theosophischen Literatur über das Thema der Mānasaputras umfassendere Information erhalten.
Hier müssen wir uns auf das beschränken, was notwendig ist, um das gegebene Thema zu erklären. Es ist dieser manasische Teil des Menschen, der das unentbehrliche Glied zwischen Geist und Materie bildet. Wir müssen uns eine natürliche Evolution vorstellen, die unten anfängt und stets kompliziertere Formen hervorbringt, und eine spirituelle Evolution (oder besser gesagt Involution), die oben anfängt und eine abwärts strebende Richtung besitzt. Die spirituellen Wesen können nicht in tierischen Organismen inkarnieren, die von der niederen Evolution erzeugt werden, weil die Kluft zu groß ist. Es ist dieses dazwischen liegende Prinzip – Manas oder das selbstbewusste Denken, Intelligenz –, das die Kluft überbrückt und die Vereinigung des Spirituellen und Materiellen zustande bringt, wodurch der vollständige Mensch entsteht.
Jeder weiß aus eigener Erfahrung, dass mit dieser Methode tatsächlich Wissen von Mensch zu Mensch übertragen wird. Wir lernen alle durch den Kontakt mit anderen. Diese anderen geben uns nicht etwas, sondern sie wecken vielmehr unsere eigenen latenten Kräfte. Das ist Erziehung im wahrsten Sinne des Wortes, das heißt ‘Zum-Vorschein-Bringen’ – so wie Plato in seiner bekannten Geschichte zeigte, in der er einem ungebildeten Sklaven eine mathematische Wahrheit entlockte.
Auf die Frage, ob die heutigen Tiere jemals Menschen werden, muss die Antwort ja und nein lauten. Es ist nicht richtig zu behaupten, dass tierische Körper zu menschlichen Körpern evolvieren können oder dass Tiere auf dem Weg der allmählichen Transformation zu Menschen werden. Aber es ist wahr, dass die Monaden, die jetzt in tierischen Körpern wohnen, einmal ins Menschenreich übergehen und vom Feuer des Denkens erleuchtet sein werden. Das wird aber nicht im gegenwärtigen Evolutionszeitalter stattfinden; die Tür zum Menschenreich ist für diesen Zyklus geschlossen; und die jetzige Tierwelt wartet ihrerseits auf die zukünftige Evolutionsrunde.
Der Standpunkt der Wissenschaft
Der allgemeinen Auffassung gemäß entwickelte sich alles aus einem äußerst einfachen Beginn. Die Anzahl von Dingen, die wir als anwesend voraussetzen und als selbstverständlich annehmen müssen, ist ungeheuer groß. Aus dieser Auffassung folgt, dass das Atom mit seinen inhärenten Eigenschaften die Verantwortung für die Entstehung des Universums und die dazugehörenden Wesen trägt. Wir könnten es mit Fug und Recht das Allmächtige Atom nennen. Aber davon abgesehen ist die Bewegung, die beim Einfachen ihren Ursprung hat und zum Komplizierten führt, nur die eine Hälfte eines wahrnehmbaren Universalprozesses. Die zweite Hälfte ist die Bewegung, die vom Komplizierten zum Einfachen führt. Diese beiden Prozesse wirken gleichzeitig und kontinuierlich. Die Prozesse der kosmischen Evolution sind sehr zahlreich und mannigfaltig, und der ganze Plan ist unendlich umfangreich und kompliziert. Die Wissenschaft wurde unbewusst von der religiösen Ansicht hinsichtlich des beschränkten Zeitraums der Entwicklungsgeschichte des Menschen beeinflusst. Diese eingeengte Sichtweise der Geschichte des Menschen wird außerdem noch durch die Schlussfolgerung gefördert, dass der Mensch das Endprodukt einer durchgängigen Evolutionslinie ist.
Eine unvoreingenommene Untersuchung der Tatsachen hätte zu einer anderen Schlussfolgerung geführt. Bei genauer Betrachtung deutet nichts darauf hin, dass der Mensch sich in der jüngsten Vergangenheit aus der Barbarei entwickelte. Die Archäologie bringt laufend neues Material ans Licht, woraus hervorgeht, dass der Mensch – selbst der Mensch von hoher Zivilisation – aus der grauen Vorzeit stammt. Und auch in der Biologie musste man zugestehen, dass der Bau des menschlichen Körpers eine gewisse Primitivität zeigt, die nur schwer mit dem Standpunkt in Einklang zu bringen ist, dass er das jüngste Produkt der Evolution sei. Die Menschheit ist tatsächlich der ursprünglichste und daher der primitivste Stamm von allen. Der Mensch hat in seinem Körper eine einfache Rangordnung von Knochen und Muskeln.
Für denjenigen, der mehr darüber erfahren will, was die Wissenschaft über dieses Thema sagt, verweisen wir auf das Buch Man in Evolution von G. de Purucker. Darin ist eine ausführliche Aufzählung einer Anzahl anatomischer Besonderheiten enthalten, die dies bestätigen. Die Ausführungen beruhen hauptsächlich auf den Studien des Professors für Anatomie Dr. Wood Jones. Ein kurzer Überblick dazu findet sich im Anhang.
Der Mensch ist der ursprünglichste Stamm
Gemäß der theosophischen Evolutionslehre war der Mensch der ursprüngliche Stammvater der Säugetiere, und auch die anderen Tierarten sind aus diesem menschlichen Stamm hervorgegangen. Das erklärt den primitiven und einfachen Bau des menschlichen Körpers. Bei den verschiedenen Tierarten kommen Spezialisierungen bestimmter Organe und Funktionen vor, wie Flügel, Rüssel, Krallen, Hörner, Kiemen. Nach der Evolutionstheorie sind dies Attribute, die im Laufe der Entwicklung zum Menschlichen hin verschwanden. Die Alte Weisheit jedoch lehrt, dass die späteren Tierarten aus den Mikroorganismen des menschlichen Stamms hervorgingen. Diese Keimzellen entwickelten und spezialisierten sich entlang einer eigenen, bestimmten Evolutionslinie, so dass im Lauf der Zeitalter die menschliche und tierische Entwicklung stets weiter auseinanderliefen. Ein unvoreingenommenes Studium der Fakten zeigt, dass dies tatsächlich der Fall ist, denn man hat festgestellt, dass die einzelnen Arten die Neigung zeigen, sich gemäß ihrer eigenen Linie zu spezialisieren, anstatt allmählich in eine andere Spezies überzugehen.
Wenn wir sagen, dass die Mikroorganismen, die sich später zu Säugetieren entwickelten, vom menschlichen Stamm abgeworfen wurden, müssen wir hinzufügen und erklären, weshalb wir vom ‘menschlichen Stamm’ und nicht vom ‘Menschen’ reden. Die Geschehnisse, von denen hier die Rede ist, fanden in einer sehr fernen Vergangenheit statt, und seitdem hat sich die menschliche Rasse weiterentwickelt, so dass die Menschheit, von der die Säugetiere abstammen, sich von der heutigen Menschheit stark unterscheidet. Wir müssen auch bedenken, dass im Universum, in dem alles evolviert, auch die Materie selbst evolviert und dass ihr heutiger Zustand, den wir ‘physisch’ nennen, die jüngste Phase einer ununterbrochenen Kette von Phasen oder Zuständen ist, welche die Materie durchlief. Der Prozess, in dem die Mikroorganismen oder Samen, die sich später zu Säugetierstämmen entwickeln sollten, abgeworfen wurden, wird ‘Knospung’ genannt. Ein kleines Teilchen löste sich von dem Elternkörper – ungefähr so wie eine Spore die Pflanze verlässt oder eine Eichel die Eiche – und begann dann seine eigene Entwicklung. Der heutige menschliche Organismus ist nicht imstande, auf diese Weise Nachkommen hervorzubringen, obgleich diese Methode der Fortpflanzung noch immer bei einzelnen Arten von Lebewesen vorkommt.
Deshalb kann die Frage, ob die Tiere von den Menschen abstammen, sowohl mit ja als auch mit nein beantwortet werden. Sie stammten in der Weise vom Menschen ab, wie es hier beschrieben wurde, aber nicht im Sinne der Darwinisten. Die Tiere gingen nicht als Endprodukt einer einzelnen, durchgehenden und nach oben gerichteten Evolutionslinie aus dem Menschen hervor. Die Keimzellen der Tierarten entsprangen in einer fernen Vergangenheit dem menschlichen Stamm, der vom heutigen menschlichen Stamm jedoch sehr verschieden war. Das Evolutionsmodell der beseelten Reiche muss man sich deshalb als einen Baum vorstellen – mit einem Hauptstamm, mit dicken und dünnen Ästen, mit Zweigen und Blättern. Dieses Modell ist ganz anders als das lineare Evolutionsmodell. Die Wissenschaft nähert sich in dem Maß, in dem die Erkenntnisse sich häufen und die Untersuchungen weitergehen, zunehmend diesem Baum-Modell der Evolution.
Der Mensch stammt – vom Menschen ab
Der Vorfahre des Menschen war der Mensch selbst; möglicherweise vormenschlich, aber trotzdem menschlich. Was war der Mensch und woher kam er?
Das Dasein des Menschen nahm auf der göttlichen Ebene seinen Anfang und zwar als ein nicht-selbstbewusster, göttlicher Funke, dessen Bestimmung es ist, am Ende des Evolutionszyklus wieder mit der göttlichen Essenz vereint zu werden, aus der er hervorgeging. Er ist eine Monade, ein Keim des Universalen Lebens. Die Monaden, deren Bestimmung es war, Menschen zu werden, waren göttliche Wesen, die in den frühesten Tagen im Leben des Planeten auf die Erde kamen. Der erste physische Mensch existierte bereits vor 18 000 000 Jahren auf der Erde; und vor dieser Zeit war er schon in astraler oder ätherischer Form anwesend. Dass die Materie selbst evolviert und diese Erde nicht immer in dieser heutigen, materiellen Form lebte, wird von der Wissenschaft übersehen. Dies hatte weitreichende Folgen für das Gesamtbild der Paläontologie; und viele Schwierigkeiten entspringen der fälschlichen Annahme, dass die Zustände und Eigenschaften der Materie in der fernen Vergangenheit den heutigen entsprechen. In den letzten Jahren hat die Wissenschaft jedoch eine stürmische Entwicklung erlebt, unter anderem in Bezug auf ihre Ansichten über das materielle Universum. Astrophysiker zum Beispiel sind zu der Schlussfolgerung gelangt, dass sich in der Sonne und in den Sternen im Allgemeinen eine Evolution der Elemente vollzieht, die mit der Umwandlung von Wasserstoff in Helium ihren Anfang nimmt. In seinem Buch The Ascent of Man1 sagt Jacob Bronowski, dass die Materie selbst evolviert. Die Meinung des neunzehnten Jahrhunderts, das Universum sei nichts weiter als eine materielle Maschine, hat ausgedient; und wir können mit Recht die Schlussfolgerung ziehen, dass die neue Physik zur Metaphysik geworden ist.
In der gegenwärtigen Periode oder Runde der kosmischen Evolution gibt es sieben Wurzelrassen, und wir befinden uns gerade in der fünften. Die erste Wurzelrasse begann etwa vor 130 oder 150 Millionen Jahren. Jede dieser Rassen hatte ihre eigene Form und ihre eigene spezielle Art der Fortpflanzung. Die erste pflanzte sich durch Teilung fort. Die zweite durch Knospung und die dritte war androgyn und legte Eier. Bei manchen Tierarten kommen diese Fortpflanzungsarten noch immer vor. Die Phase der uns gegenwärtig bekannten geschlechtlichen Fortpflanzung ist nur von vorübergehender Dauer. Die ersten physischen Menschen und die ihnen vorausgehenden astral-ätherischen Menschen waren die Urahnen der Säugetiere. Zu jener Zeit war der Mensch ‘gemütlos’ – das heißt er handelte instinktiv, denn das Licht des Selbstbewusstseins war noch nicht in ihm entzündet. Damals konnte der Mensch die Evolution verschiedener Säugetierarten durch das Ausschwitzen von Zellen oder Samen aus seinem eigenen Körper verursachen. Später folgten diese ausgeschwitzten Zellen oder Samen ihrer eigenen speziellen Evolutionslinie und brachten in den folgenden Zeitperioden die verschiedenen Säugetiere hervor, die wir heute kennen.
Bis jetzt haben wir über die Säugetiere gesprochen, aber es gibt auch noch niedrigere Tierarten, wie die Reptilien, die Vögel, Fische und so weiter. Diese gingen nicht aus dem menschlichen Stamm in dieser Runde des großen Evolutionszyklus hervor, sondern in einer vorausgegangenen Lebensperiode auf dieser Erde. Hieraus ergibt sich, dass der Evolutionsplan komplizierter ist, als angenommen wird. Es ist nicht beabsichtigt, hier tiefer und detaillierter darauf einzugehen. Vielleicht wirkt unsere Darlegung dadurch etwas fragmentarisch, aber in weiterführender theosophischer Literatur wird dieses Thema vollständiger ausgearbeitet; dort können die Zusammenhänge klarer gesehen werden.
Der Mensch und die Affen
Einen Sonderfall müssen wir hier zur Sprache bringen; und dieser betrifft die beiden affenartigen Familien: die Antropoiden oder Menschenaffen und die gewöhnlichen Affen. Manche Wissenschaftler vermuten, dass diese vom Menschen abstammen und nicht auf dem Weg zum Menschen sind. So behauptet zum Beispiel der finnische Antropologe Björn Kurtén, dass von Primaten stammende Fossilien unverkennbar darauf hinweisen, dass der Mensch nicht vom Affen abstammt; es ist vielmehr richtiger zu sagen, dass die Affen und Menschenaffen von den frühen Ahnen der Menschen abstammen.2 Das ist die wahre Geschichte vom Ursprung der Menschenaffen und der übrigen Affen; und die Richtigkeit derselben kann durch ein Studium der anatomischen Kennzeichen von Mensch und Menschenaffe gezeigt werden. Die Meinung, dass sich der Mensch aus dem Menschenaffen oder beide aus einem gemeinsamen Stamm entwickelt haben sollten, wird dann als Widerspruch zu den Tatsachen erkannt werden. Für eine eingehendere Betrachtung dieser komplexen Lehren wird auf Die Geheimlehre von H. P. Blavatsky und die Werke Dr. de Puruckers hingewiesen.
Die spirituelle Triebkraft hinter der Evolution
Wir haben festgestellt, dass der Mensch in einer Hinsicht von den Tieren stammt. Das heißt, dass der menschliche Körper das Ergebnis einer sehr lange andauernden Evolution durch die niederen Reiche ist. Aber diese aufwärts gerichtete Evolution hätte ohne eine gleichzeitige Involution des Geistes in das Physische von oben her niemals stattfinden können. Das Universale Leben – Bewusstsein, Geist (eine genauere Bezeichnung ist schwer zu finden) – ist die wirkliche Ursache der Evolution. Dieses Universale Leben errichtet immer neue und geeignetere Formen auf der Erde. Aber Leben, Bewusstsein und Geist an sich sind lediglich Abstraktionen; sie sind Eigenschaften von Lebewesen, und diese Lebewesen sind die Monaden aller möglichen Klassen und Abstufungen.
Die Monaden sind Funken oder Atome des Universalen Lebens. Sie sind spirituelle Wesenheiten; und sie können als letztendlicher Same betrachtet werden – als fundamentale Keimzelle eines jeden lebenden Etwas, bis zum winzigsten Atom oder Teilchen. Jede dieser Keimzellen beginnt ihren individuellen Evolutionspfad. In ihnen sind die Möglichkeiten all dessen latent vorhanden, was sie später aus sich heraus entwickeln. Das Universum ist also die Bühne für eine sehr große Schar solcher lebender, evolvierender Wesenheiten. Sie existieren in verschiedenen Stadien der Evolution. Wenn das Spirituelle sich anfangs in die Materie einzuhüllen beginnt, schreitet die Evolution sehr langsam voran, so dass lange Zeitalter in den niederen Naturreichen verbracht werden – im Mineralreich, dem die drei Elementalreiche vorausgehen; und danach im Pflanzenreich und so weiter.
Der Individualisierungsprozess fängt bei den Pflanzen an, entwickelt sich weiter in den Tieren und wird im Menschen vollendet. Man muss hierbei bedenken, dass es nicht die organischen Formen sind, die ineinander übergehen, sondern dass es die ihnen innewohnenden Monaden sind, die eine Form nach der anderen als Wohnung benützen, dem Lauf ihrer Evolution entsprechend. Die Formen können also während langer Perioden gleich bleiben oder sich lediglich geringfügig verändern, während die Evolution die ganze Zeit über voranschreitet.
Es ist bemerkenswert, dass von Pflanzen oder Tieren manchmal plötzlich neue Spielarten auftreten, sogenannte Mutationen. Sie sind die sichtbare Wirkung eines bestimmten inneren Drangs der Monade, der nach einem solchen veränderten Körper verlangt, um sich dadurch zum Ausdruck zu bringen. Das hängt sehr eng mit der vorhergehenden Evolution zusammen, was die Paläontologie festgestellt hat, und das löst viele Fragen, auf welche dieser Wissenschaftszweig gestoßen ist. Obschon es im Allgemeinen richtig ist, dass die Arten niedriger werden, je weiter man in die Vergangenheit zurückgeht, verlief die Entwicklung doch in keinster Weise gleichförmig. So gab es eine explosionsartige Vermehrung der einen oder anderen Art, wie beispielsweise die der Reptilien im Mesozoikum, die eine gewaltige Entwicklung durchliefen und Riesenkörper hervorbrachten. Später nahmen immer kleiner werdende Eidechsenarten die Stelle der einst gigantischen Saurier ein. Während einer bestimmten Periode gab es eine enorme Entwicklung der Farne, die so hoch wuchsen, wie die Bäume; und ein anderes Mal waren es die Ammoniten und so weiter. Gleichzeitig mit diesen Entwicklungen der Pflanzen und Tiere traten Veränderungen in der Struktur der Erde auf, in der Verteilung von Land und Wasser, in der Zusammensetzung der Atmosphäre, in der Temperatur, im Luftdruck und in anderen geophysischen Bedingungen. Dies macht das Evolutionsschema wesentlich bunter als der Gedanke einer geradlinig verlaufenden Abstammung.
Die Theosophie stimmt mit dem Darwinismus bezüglich des Gesetzes einer äußerst langsamen, viele Millionen Jahre umfassenden Entwicklung überein. Aber es ist notwenig, einen Unterschied zwischen der Tatsache, dass es eine Evolution gibt, und deren Arbeitsweise zu machen. Diesbezüglich bestehen in der Theosophie andere Auffassungen. Dann gibt es noch die Frage nach der Ursache der Evolution, ein Streitpunkt mit unterschiedlichen Auffassungen.
Gemäß einer bestimmten Ansicht muss man die Ursache für die Evolution in den in der Materie vorhandenen, inneren Kräften suchen, ohne Vermittlung eines außerhalb der Materie stehenden Einflusses. In Wahrheit wird hiermit das schwierige Problem, wodurch die Evolution eigentlich verursacht wird, umgangen. Vermutlich wurden die Worte ‘innere Kräfte’ benutzt, um die Vermittlung eines göttlichen Schöpfers auszuschalten und auf diese Weise den Unterschied zwischen der Evolutionstheorie und der Idee der Schöpfung zu betonen. Eigentlich ersetzen wir damit eine Schwierigkeit durch eine andere, die genau so groß ist, wenn nicht sogar noch größer. Wir könnten uns erst einmal fragen, was der Unterschied zwischen ‘von innen her’und ‘von außen her’ ist, also zwischen dem was ‘in’ der Materie und was ‘außerhalb’ von ihr ist. Wenn die für die Evolution verantwortliche Ursache selbst auch materiell ist, haben wir das Problem nicht gelöst, sondern nur um einen kleinen Schritt verschoben. Wenn die gemeinte Energie ‘von innen her’ nicht materiell ist, was ist sie dann? Der Unterschied zwischen ‘von innen her’ und ‘von außen her’ würde verschwinden, wenn es sich um eine immaterielle Energie handelte, die von der Materie getrennt ist. Logisch argumentierend müssen wir sagen, dass die Materie von der einen oder anderen Kraft angeregt wird, die nicht materiell ist, oder wenigstens nicht dieselbe physische Art hat. Sonst wäre die Materie das primum mobile, das ursprüngliche Element, die selbstgeschaffene oder unerschaffene letztendliche Ursache aller Dinge – mit einem Wort Gott.
Bewusstsein ist der Materie übergeordnet, denn alles, was wir über die Materie wissen, ist das, was wir mit unserem eigenen Bewusstsein erkennen. Das heißt also, dass wir von der Existenz von Bewusstsein ausgehen müssen, bevor wir uns überhaupt mit dieser Sache auseinandersetzen können. Es wurde zwar behauptet, Bewusstsein würde aus der Materie hervorgehen, die selbst ohne Bewusstsein ist. Mit dieser haltlosen Behauptung entzog man sich der schwierigen und unlöslichen Frage nach dem Ursprung des menschlichen Geistes oder Selbstbewusstseins, das die Tiere nicht aufweisen. Von der alten Vorstellung der materiellen Evolution und der Theorie ausgehend, der Mensch sei das Endprodukt der Entwicklung bestimmter Tierarten, kam man zu dieser Beweisführung. Aus was auch immer sich das menschliche Bewusstsein entwickelt hat – es muss größer gewesen sein als dieses Bewusstsein, ob wir es Materie oder Atom nennen, oder eine Monade oder einen Gott. In diesem Sinne mag es richtig sein, dass die Evolution durch die der Materie innewohnenden Kräfte hervorgebracht wird; aber das wäre dann nur eine andere Art, die Tatsache zum Ausdruck zu bringen, dass selbst dem kleinsten Atom das Gesamte potentiell innewohnt, was sich später aus ihm heraus entwickeln kann. Das bedeutet, dass das Atom ein Funke des Universalen Geistes ist – und das ist eine rein theosophische Lehre.
Einen wichtigen physischen Aspekt der menschlichen Anatomie, der damit engstens verbunden ist und ihn in hohem Maße von den Tieren unterscheidet, weist der Schädel auf. Aus Fundstücken fossiler Hominiden ergibt sich, dass beim Menschen, im Vergleich zu allen anderen Säugetierformen, eine bemerkenswerte plötzliche Vergrößerung des Schädels stattgefunden haben muss. Für diese Vergrößerung kann man keine biologische Erklärung vorbringen. Dass das Gehirn mehr als doppelt so groß ist wie zum Beispiel beim Gorilla, stellt eine rein menschliche Spezialisierung dar. Der bekannte Anthropologe, Dr. Loren Eiseley, schreibt über diese Frage in seinem Buch The Immense Journey (Random House, New York, 1946, S. 91):
„Wir haben viele Gründe für die Überzeugung, dass – von welcher Art die Kräfte auch in Bezug auf das menschliche Gehirn sein mögen – ein langer, langsamer Wettlauf zwischen verschiedenen menschlichen Gruppen oder zwischen unterschiedlichen Rassen, eine unerwartet kleine Übereinstimmung in den mentalen Fähigkeiten der Völker, wo auch immer, zur Folge gehabt hätte. Da muss etwas sein – ein anderer Faktor – der unserer wissenschaftlichen Aufmerksamkeit entgangen ist.“
An einem bestimmten Punkt der Evolution wurde in der gesamten Menschheit gleichzeitig das Denkvermögen zur Tätigkeit erweckt und es entstand Selbstbewusstsein und die Fähigkeit der Selbstreflexion. Dieses Ereignis, das mit dem ‘Hinabsteigen der Mānasaputras’ bereits in diesem Buch angedeutet wurde, stellt mit Gewissheit diesen ‘anderen Faktor’ dar, über den Dr. Eiseley spricht.
Wir möchten noch jemanden aus wissenschaftlichen Kreisen zu Worte kommen lassen, wodurch die Überzeugung mehr und mehr an Boden gewinnt, dass der wahre Mensch nicht Körper, sondern Geist ist. In Wraparound, (Dezember 1975, S. 5) schreibt Dr. Oliver Sacks, Neuropsychologe am Albert Einstein College of Medicine (Bronx, New York) und Autor mehrerer Bücher über menschliches Bewusstsein:
„Der gesamte Organismus ist eine funktionelle Einheit: Der Sitz unseres Selbstbewusstseins ist nicht nur der Kortex; wir sind mit unserem gesamten Selbst bewusst. … Man kann davon ausgehen, dass der Ursprung des Bewusstseins allein in uns selbst liegt. Unser Bewusstsein ist wie eine Flamme oder eine Quelle, die aus unendlichen Tiefen aufsteigt. Wir überbringen und übertragen, aber wir sind nicht die erste Ursache. Wir sind Trichter oder Gefäße für das, was hinter uns liegt. Letztendlich spiegeln wir die Natur wider, die uns schuf. Die Natur erwirbt durch uns Selbstbewusstsein.“
Das Alter des Menschen
Der Gedanke, der Mensch sei an sich schlecht und seine Erziehung sei nicht viel mehr als eine dünne Schale, ist tiefer verwurzelt, als allgemein angenommen wird. Diesem Gedanken zufolge ist der Mensch den ernsthaften Heimsuchungen des Lebens nicht gewachsen, wodurch sein ‘wahres Gesicht’ schnell ans Tageslicht tritt. Ob diese Meinung aus dem religiösen Glauben an den Sündenfall entsprungen ist oder aus der Überzeugung, dass der Mensch aus niedrigeren Wesen evolvierte, ist nicht von Bedeutung. Dass diese Meinung allerdings einen ungünstigen Einfluss auf das allgemeine Benehmen und Denken des Menschen ausgeübt hat, ist eine Tatsache.
Aber der Mensch hat das, was an ihm wertvoll ist und im tiefsten Kern seines Wesens wohnt, nie ganz verleugnen können. Außerdem hat jedes Volk große Menschen hervorgebracht, die mehr ihrer Intuition vertrauten als allgemein üblichen Meinungen und welche die Menschen in Wort und Tat stets an ihre wahre Herkunft und Bestimmung erinnerten.
Auch die Vorstellung, dass der Mensch ursprünglich zögernd und als Statist auf der Bühne erschien und erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit anfing, eine bedeutende Rolle zu spielen, gibt ein falsches Bild des großen Evolutionsdramas auf der Erde. Nach der Alten Weisheit war und ist der Mensch auf der Erde eine wichtige Erscheinung, mit der gesamten Verantwortung, die daraus resultiert – auch für die niederen Wesen, die in irgendeiner Weise in verschiedenen Perioden ihren Ursprung im menschlichen Stamm nahmen. In diesem Zusammenhang müssen wir erneut auf die falsche Annahme hinweisen, die Evolution habe sich entlang einer Linie vollzogen – von primitiven bis hin zu den kompliziertesten Formen. Eine logische Folge dieser Ansicht ist, dass die kompliziertesten Erscheinungen auch die jüngsten wären. Das beinhaltet außerdem, dass der heutige Mensch den gebildetsten und intellektuell und moralisch am weitesten entwickelten Menschentypus repräsentiert und dass die uns vorausgegangenen Völker umso weniger zivilisiert waren, je weiter wir in der Geschichte zurückgehen.
Hinsichtlich dieses Gedankens müssen wir bemerken, dass einige moderne Anthropologen anhand von Funden zu der Schlussfolgerung gelangt sind, dass man bezüglich der Abstammung des Menschen von Polygenese und nicht von Monogenese sprechen muss – also nicht von einer Entwicklung aus einem einzelnen Punkt. Das steht mit der archaischen Weisheitslehre in Übereinstimmung.
Die Menschheit bildet den Stamm, aus dem andere organische Formen zu verschiedenen Zeit hervorgingen. Das ist die theosophische Vorstellung, die jedoch nicht als Dogma akzeptiert werden muss, denn die ans Licht kommenden Tatsachen werden diese Lehre mehr und mehr bestätigen. Selbst wenn wir eine Lehre nicht blindlings akzeptieren und immer mit unserem eigenen Unterscheidungsvermögen die Bestätigung suchen müssen, ist es doch hilfreich und spart sehr viel Zeit, wenn wir Seitenwege vermeiden und von Anfang an über den Schlüssel verfügen. Alle Lehrer stellen Thesen auf, die dann zu beweisen sind; damit appellieren sie an die Vernunft und das Vertrauen ihrer Schüler, die bereit sind, diese Behauptungen vorläufig zu akzeptieren – bis die Zeit kommt, in der sie bestätigt werden können.
Die Forschungsergebnisse der Archäologie in Bezug auf den Ursprung weisen mehr auf die Richtigkeit der theosophischen Lehren hin, als auf die gängigen Theorien. Die Evolution verläuft eher zyklisch als in einer durchgehenden, geraden Linie. Aus Ausgrabungen ist ersichtlich, dass sich primitive Völker ihrer Art und Kultur nach von Völkern, die jetzt auf der Erde leben, nicht unterscheiden. Und neben solchen Primitiven gab es, sowohl in der Vergangenheit als auch heute, mächtige Zivilisationen. Die Menschheit ist in Rassen und in endlose kleinere Gruppierungen unterteilt; und von diesen befindet sich jede in einer speziellen Phase ihrer eigenen Rassenevolution. So finden wir heute auf der Erde Rassen, die aufsteigen, andere, die ihren Höhepunkt überschritten haben, während wieder andere im Begriff sind, sich zurückzuziehen.
Es ist nur wenige Jahrzehnte her, dass die Wissenschaft der Spezies Homo – das heißt den direkten Ahnen des jetzigen Menschen – ein Alter von höchstens 500 000 Jahren zugestand. Neue Funde fossiler Überreste brachten die Archäologen dazu, das Alter mit ungefähr 1,6 und später sogar mit 2,6 Millionen Jahren anzusetzen. Dabei blieb es nicht. Denn in den Jahren 1974 und 1975 wurden in Äthiopien und Tansania Funde gemacht, bei denen die betreffenden Forscher ein Alter von etwa 3,75 Millionen Jahren bestimmten.3
Die Schlüsse, die man aus diesen Funden zog, betrafen nicht nur das Alter der Menschen, deren Überreste man studierte, sondern auch deren einstige Lebensumstände. Das Bild des agressiven Wilden, das man sich meistens von unseren Ahnen machte, wurde durch das einer sozialen Gemeinschaft ersetzt, deren Mitglieder Intelligenz und gegenseitige Solidarität bewiesen. Was die Hominiden anbelangt – das ist die viel größere Kategorie aller Formen der menschlichen Ahnen und daher nicht nur der Spezies Homo Sapiens, über die wir gesprochen haben und die als unsere direkten Vorfahren betrachtet werden müssen –, musste man im Lauf der Zeit das Alter wesentlich erhöhen. Man ging von dem Gedanken aus, dass es ein gemeinsames Glied gegeben haben müsse, aus dem die Hominiden und die Affen hervorgegangen sind; und man meinte, dass die Trennung vor ungefähr sechs oder sieben Millionen Jahren stattgefunden haben müsse. Weitere Untersuchungen zeigten jedoch, dass einige Varianten echter Hominiden bereits vor 15, möglicherweise vor 20 oder mehr Millionen Jahren auf der Erde existierten. Die Spezies Homo erschien also viel später auf der Bühne – vor etwa 3 oder 4 Millionen Jahren; sie ist der direkte Urahne des heutigen physischen Menschen, der anatomisch und der Gehirnentwicklung gemäß uns in etwa entspricht. Hier müssen wir allerdings bemerken, dass nicht alle auf diesem Gebiet tätigen Gelehrten dieselben Auffassungen vertreten, weder in Bezug auf die Bedeutung der Funde noch auf deren Alter.
Die ganze Geschichte der kosmischen Evolution, so wie sie die archaische Weisheitslehre widerspiegelt, ist zu komplex, um hier tiefer erörtert zu werden; wir wiederholen deshalb, dass ein Planeten-Manvantara (die Dauer der Lebenszeit eines Planeten) aus sieben großen Zeitaltern besteht, die als Globenrunden bezeichnet werden. Gegenwärtig befinden wir uns in der vierten Runde.
In jeder Globenrunde gibt es sieben Wurzelrassen und wir sind jetzt in der fünften, die vor ungefähr 5 Millionen Jahren begann. Die erste Wurzelrasse erschien vor etwa 132 bis 150 Millionen Jahren. In seiner physischen Form erschien der Mensch vor 18 Millionen Jahren zum ersten Mal auf der Erde; aber vorher existierte er bereits in feinstofflicheren Formen, die astral oder ätherisch genannt werden.
Die Wurzelrassen sind in Unterrassen eingeteilt; und die Unterrassen ihrerseits sind wieder mehrfach unterteilt; die Zivilisationen der verschiedenen Rassen, die heute auf der Erde existieren, vertreten somit kleinere Äste.
Vererbung und Evolution
Die wissenschaftliche Erforschung der Evolution ist mit dem Studium der Vererbung und der Zellstruktur verwoben. Ersteres bezieht sich auf Tatsachen der Vererbung, wie sie durch statistische Untersuchungen an Menschen und bei der experimentellen Zucht von Tieren und Pflanzen festgestellt wurden. Die Zellbiologie beinhaltet das Studium von Zellen und ihrer Entwicklung. Eine vollständige Besprechung dieser Themen würde viele Bände erfordern; deshalb können wir hier nur eine Zusammenfassung der Hauptpunkte geben.
Im Lauf der Geschichte folgte eine Theorie der anderen, was an sich schon ein Ausdruck von Evolution ist, weil das ein Bild des Wachstums neuer Ideen unter dem sich ändernden Einfluss neuer Tatsachen ergibt. Frühere Theorien, die auf noch unvollständigeren Kenntnissen basierten, veränderten sich allmählich – und zwar mit den neu hinzugekommenen Erkenntnissen. Ein bekanntes Phänomen bei den meisten Untersuchungen ist, dass neue Fakten – anstatt alte Theorien zu festigen und dadurch die Untersuchungen zu vereinfachen – neue Perspektiven eröffnen. Dadurch wird das Problem immer komplexer. Die bedeutsamsten Fragen, nach deren Lösung gesucht wird, sind:
(1) Welchen Einfluss haben diese Untersuchungen auf die Evolutionstheorien? Unterstützen sie diese oder stehen sie dazu im Widerspruch? Man kann die allgemeine Antwort wohl erraten: Die Untersuchungen machen Anpassungen der Theorien notwendig, trotzdem wird oft mit aller Macht an den alten Theorien festgehalten.
(2) Neigt die Vererbung dazu, Arten beizubehalten oder treten neue Arten auf ? Allgemein kann hierzu gesagt werden, dass beide Phänomene nebeneinander existieren: Bestimmte Faktoren neigen dazu, erbliche Merkmale von Generation zu Generation weiterzugeben, und andere bringen Mutationen hervor.
(3) Ist es möglich, dass der erworbene Charakter an die Nachkommen weitergegeben werden kann? Diese Frage ist mit der nächsten eng verbunden.
(4) Sind Variationen bei der Vererbung dem erworbenen Charakter zuzuschreiben oder entstehen sie in den Mikroorganismen auf eine andere Weise ?
Wir wollen noch einmal bei den früheren Vorstellungen von der Evolution innehalten und der Frage nachgehen, welche Auswirkungen spätere Untersuchungen auf sie hatten. Es wurde die Meinung vertreten, dass neue Arten durch allmähliche, geringfügige Mutationen aus den alten Arten hervorgingen. Die neuen Arten gaben dann durch Vererbung ihre Merkmale weiter. Dieser sich über lange Zeitalter erstreckende Prozess resultierte in einer langsam fortschreitenden Evolution – von den einfachsten bis zu den kompliziertesten Formen. Dies erwies sich als eine zu simple und grobe Theorie. In diesem Zusammenhang kann man das Werk von Bateson als historisch wichtig betrachten. Er war Vorsitzender der Jahresversammlung der British Association for the Advancement of Science im Jahr 1914 in Toronto. Dort hielt er eine bemerkenswerte Ansprache, aus der hier einige Zitate folgen. Er unterschied zwischen einem Verbindungsglied und einer Kreuzung. Als Beispiel führte er zwei verwandte Pflanzensorten an: Melandrium rubrum (Tages-Kuckucksblume) und Melandrium Album (Abend-Kuckucksblume), die gleichzeitig vorkommen – zusammen mit weiteren Pflanzen, die eine Anzahl von zwischen den beiden liegenden Kreuzungen darstellen. Gewöhnlich werden diese als Zwischenstadien betrachtet, in Wirklichkeit aber sind sie nichts anderes als Kreuzungen zwischen den beiden Sorten. Bateson sagt:
Die Kenntnis der Vererbung beeinflusste unsere Ansichten über die Variationen derartig, dass einige sehr kompetente Personen sogar bestreiten, dass es Varianten in der früheren Bedeutung überhaupt gibt. Varianten werden als die Basis aller evolutionären Veränderungen betrachtet. Finden wir tatsächlich in der Welt um uns derartige Varianten, die den Glauben an eine gleichförmig fortschreitende Evolution rechtfertigen? Bis vor kurzem würden die meisten Menschen diese Frage zweifellos mit ‘Ja’ beantwortet haben.
Varianten werden dort angetroffen, wo sich eine Artenvielfalt derselben Art ungehindert kreuzen kann. Diese Spielarten besitzen jedoch mehr oder weniger die Charakteristika des ursprünglichen Typus, von dem sie alle abstammen. Dasselbe Ergebnis wird auch beim experimentellen Züchten erreicht. Worauf es ankommt ist, dass die Spielarten nicht durch das Hinzufügen neuer Merkmale entstehen, sondern durch den Verlust bestimmter Merkmale, die in ihrer Gesamtheit in der Elternpflanze vorhanden waren. Bateson weist auch auf die vielen Haushühnerrassen hin, die alle vom ursprünglichen ‘Gallus Ferrugineus’ abstammen. Diese zahmen Hühner sind keine Übergangsformen zwischen der einen und der anderen Rasse – wie die anfängliche Theorie lautete –, sondern sie sind Produkte des ursprünglichen wilden Huhns. Sie besitzen alle eine Anzahl von Faktoren, die in diesem ursprünglichen Tier vorhanden waren – und zwar in unterschiedlichem Ausmaß. Mit anderen Worten, die zahmen Rassen sind Seitenzweige des ursprünglichen Typus.
Der Name von Hugo de Vries ist mit der Mutations-Theorie verbunden. Seine Experimente bezüglich Vererbung bei Pflanzen brachten ihn zu der Schlussfolgerung, dass Veränderungen viel plötzlicher auftreten können, als vorher angenommen wurde. Die früheren Anhänger der Evolutionslehre meinten, dass Veränderungen nur schrittweise auftreten und sich summieren. Aber er entdeckte, dass aus Sämlingen derselben Pflanze einzelne Pflanzen hervorgingen, die sich nicht nur in geringem Maße, sondern manchmal auch gravierend voneinander unterschieden. In einzelnen Fällen konnte der Unterschied so auffallend sein, dass eine der Pflanzen mit Recht als eine vollständig neue Art betrachtet werden konnte. Solch eine plötzlich auftretende Varietät bezeichnet De Vries als eine Mutation.
Wir beschäftigen uns nun mit der Keimplasma-Theorie von Weismann. Die grundlegenden Vorstellungen dieser Theorie haben noch immer Gültigkeit, obschon spätere Untersuchungen der Zelle den Biologen eine andere Sicht bezüglich mancher Einzelheiten boten. Er war der Ansicht, dass in vielzelligen Organismen bestimmte, bei der Ernährung und anderen vitalen Funktionen eine Rolle spielende Zellen, die Struktur und Substanz des Körpers als individuelle Zellen aufbauen und dass sie auch als individuelle Zellen sterben. Andere Zellen wiederum sterben nicht in dieser Weise, sondern vermehren sich durch Teilung, wie im Fall einzelliger Organismen; sie werden von Generation zu Generation weitergegeben. Dies würde erklären, wie die Eigenschaften der Ureltern über Generationen hinweg aufrechterhalten werden und warum bei Züchtungen der Typus erhalten bleibt. Das lässt die Frage offen, ob diese weitervererbten Zellen durch die Umwelt beinflusst werden oder nicht; oder ob die Ursachen für eventuelle Veränderungen, denen sie unterworfen sind, in der Zelle selbst liegen. Durch ein weitergehendes Studium der Zelle mit Hilfe von Rasterelektronen-Mikroskopen sind eine Anzahl genetischer Faktoren erkannt worden. Für unseren Zweck ist jedoch die Feststellung ausreichend, dass einzelne Zellen mit dem Aufbau und der Ernährung des Körpers in Verbindung stehen und andere der Vererbung dienen.
Später stellte Professor Bateson fest, dass wir bei der Beobachtung der wunderbaren Wirkungsweisen der Zelle und der sie zusammensetzenden Teile Beobachtern eines Schöpfungsaktes gleichkämen. Andere behaupteten mit Bezug auf das Erscheinen der Elemente, es gäbe nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, wie diese sich verhalten würden. Die polare Struktur der Zelle, die in bestimmten Stadien wahrnehmbar ist, und die ausstrahlenden Linien, die den Kraftlinien eines Magneten ähnlich sind, deuten stark auf ein zielgerichtetes Handeln hin. In dieser Weise werden die Wissenschaftler durch die Tatsachen gezwungen, sich immer mehr der unvermeidlichen Wahrheit zu nähern, dass ein Mechanismus allein nichts erklärt, Leben und lebendige Wesen jedoch das Ganze bestimmen.
Diese Untersuchungen auf dem Gebiet der Vererbung und der Zellen zeigen uns, dass Veränderungen im Typus sich verhältnismäßig selten und plötzlich ergeben; und dass, gemäß der allgemeinen Regel, jeder Typus seine eigene Art hervorbringt und zeitlichen Veränderungen unterworfen ist, die eine Folge der Kreuzung und der Umwelt darstellen. Das stimmt mit dem Vorhergesagten bezüglich der verschiedenen Arten organischer Wesen überein, die ursprünglich aus Samen hervorgingen, die in einem sehr frühen Stadium ihrer Evolution vom menschlichen Stamm abgeworfenen wurden. Jeder dieser so abgeworfenen Samen verfolgte dann seine eigene unabhängige Evolution – in Übereinstimmung mit seinem speziellen Typus. Aber in jedem dieser evolvierenden Organismen verbirgt sich eine ‘Monade’, bzw. eine Tier- oder Pflanzenseele. Inzwischen entwickelt sie sich und sammelt Erfahrungen durch ihre Berührung mit der Außenwelt. Dadurch erwirbt sie neue Fähigkeiten; diese bleiben jedoch latent und kommen nicht zum Ausdruck, bis die Zeit gekommen ist, wo die äußeren Umstände es gestatten. Und dann tritt eine dieser ‘Mutationen’ oder plötzlichen Veränderungen auf. Das ist die unsichtbare Ursache, die diese Mutationen auslöst. Deshalb ist es leicht einzusehen, weshalb in bestimmten Perioden, wenn die Bedingungen auf der Erde es erlauben, bestimmte Arten sich zu monströsen und riesigen Formen entwickeln, die es heute nicht mehr gibt. Eidechsen verschiedener Form und Größe gibt es den Umständen entsprechend immer noch, die Dinosaurier des Jurazeitalters sind jedoch ausgestorben.
Vererbung geht üblicherweise als ein Prozess vor sich, durch den körperliche und psychische Eigenschaften und Neigungen der Eltern oder Ahnen auf die Nachkommen weitergegeben werden. Das bedeutet im Falle des Menschen, dass das zur Welt kommende Kind diese Eigenschaften und Merkmale erhält, ohne selbst irgendeinen Einfluss darauf ausüben zu können. Die Wissenschaft hat in den letzten Jahren bei der Lösung der Frage, auf welche Weise sich diese Übertragung vollzieht, große Fortschritte gemacht. Eingehende Untersuchungen der Zellstruktur haben zu der Entdeckung der Chromosomen, der Gene und DNS geführt, worin die Träger der Erbfaktoren gesucht werden müssen. Wenn wir auch die Genialität, mit der Gelehrte sich in der ganzen Welt mit diesem Studium beschäftigen, und ihre wichtigen Entdeckungen sehr bewundern – das Rätsel des Lebens und dessen wesentlicher Ursprung bleiben weit von einer Lösung entfernt.
Es ist verständlich und nichtsdestoweniger notwendig, an dieser Stelle anzumerken, dass die Wissenschaft sich bei ihrer Untersuchung mit den materiellen Aspekten der lebendigen Natur beschäftigt und es in den meisten Fällen ablehnt, dass der wahre Mensch ein spirituelles Wesen ist, das nicht bei seiner Geburt als ein neues Produkt entsteht, sondern eine sehr lange Vorgeschichte besitzt. Seine Anwesenheit auf der Erde in diesem Leben ist nur eine Phase seiner langen Pilgerfahrt. Vor dieser Existenz hat er als Mensch bereits viele Male auf der Erde gelebt, hat Erfahrungen gesammelt und an seinem Charakter gearbeitet. In diesem Leben erscheint er deshalb nicht als ein unbeschriebenes Blatt, er bringt vielmehr seinen eigenen Charakter mit, der das vorläufige Ergebnis seiner langen Vorexistenz ist. Auch wenn es richtig ist, dass bestimmte Eigenschaften und Neigungen, die er zeigt, ‘erblich’ sind – also von Eltern oder Ahnen auf ihn übertragen wurden –, sind diese Faktoren streng genommen nicht ursächlich. Das neue Wesen, das seinen eigenen Charakter mitbringt, ‘sucht’ entlang der dafür bestimmten Kanäle jenes Elternpaar, das ihm die Möglichkeiten bietet, im Anschluss an das bisher erreichte Stadium an seiner Evolution weiterzuarbeiten. Die Eltern verschaffen ihm die Umwelt, die Umstände und den materiellen Körper, den er benötigt. Jeder Mensch erbt deshalb sich selbst – seinen eigenen Charakter; und wenn uns diese ‘Erbschaft’ nicht gefällt, gibt es außer uns selbst nichts und niemanden, dem wir das vorwerfen könnten. Was wir in diesem Leben täglich tun, welche ‘Schätze’ wir für uns sammeln, wird bestimmen, was in der Zukunft unser Erbe sein wird. Dies alles ändert nichts an den Ergebnissen und der Bedeutung der fesselnden wissenschaftlichen Forschung. In Wirklichkeit wird noch ein Element hinzugefügt – nämlich der spirituelle Hintergrund, nicht nur des Menschen, sondern auch der Pflanzen und Tiere, in Wirklichkeit des gesamten geoffenbarten Universums in seiner Ehrfurcht einflößenden Verschiedenartigkeit der Formen.
Ist der Mensch die Krone der Evolution?
Es gibt keinen Hinweis in der Evolutionstheorie, dass der Mensch das Endprodukt der Evolution ist; vielleicht ist er die jüngste, aber nicht notwendigerweise die letzte Entwicklung. Wenn wir annehmen, der Mensch habe sich aus niedrigeren Arten durch einen bestimmten Prozess oder durch eine unbekannte Ursache entwickelt, dann können wir daraus mit Recht schließen, dass auf diese Weise ebenso Wesen hervorgebracht werden können, die weiter evolviert sind als der Mensch. Und wenn wir davon ausgehen, dass die menschliche Intelligenz sich aus einem sehr rudimentären Anfang entwickelt hat – welche Grenze können wir dann für die Möglichkeiten der Zukunft ziehen? Welche Höhe kann der menschliche Intellekt nicht erreichen? Wer kann wissen, welche glänzenden Fähigkeiten ein künftiges Wesen, das sich dann aus uns entwickelt haben wird, einmal haben wird? Wenn solche Spekulationen manchen Menschen als Unsinn erscheinen, kann man uns das nicht vorwerfen. Wir versuchen lediglich, die logischen Folgen der uns vorgebrachten Argumente zu zeigen. Wenn die gesamte existierende und beseelte Schöpfung aus einem kleinen Körnchen geleeartiger Substanz in einem Urmeer hervorgekommen ist, sehen wir keinen einzigen Grund, weshalb mit dem Fortschreiten der Zeit nicht noch viel mehr zum Vorschein kommen könnte.
Es ist tatsächlich wahr, dass sich das spirituelle Wesen – das sich jetzt in einem Vehikel, welches wir als den gewöhnlichen Menschen kennen, manifestiert – höhere Evolutionsstadien aneignet. Bei solchen höheren Stadien denken wir an Bezeichnungen wie Adepten, Meister der Weisheit, Eingeweihte, Götter, Planetengeister …; unsere Sprache ist darauf nicht eingestellt, deshalb klingen diese Wörter vielleicht vage.
Wenn wir unser eigenes Bewusstsein studieren, erkennen wir, dass in uns noch viel mehr vorhanden ist, als bisher entwickelt wurde. Es gibt keinen Grund, um den in dieser Richtung erreichbaren Möglichkeiten Grenzen zu setzen. Wie im Leben eines Kindes der Moment kommt, da sein Selbstbewusstsein – das Gefühl, ein Einzelwesen zu sein und die Fähigkeit, über die eigene Existenz nachzudenken –, zum ersten Mal zu dämmern beginnt, so erwartet uns vielleicht ein neues Erwachen zu einer noch vollständigeren Selbstwerdung. Wir werden dann durch die Tore der Einweihung gegangen sein und das ‘Himmelreich’ betreten haben. Die Kräfte in unserer Natur, denen wir jetzt noch unterworfen sind, werden uns nicht länger beherrschen. Und wenn wir dann Meister in unserem eigenen Haus geworden sind, werden wir über Kräfte außerhalb unseres Selbstes verfügen – in einer Weise, zu der wir jetzt nicht imstande sind. Wir werden dann im Besitz von dem sein, was wir ‘okkulte Kräfte’ nennen. Dies ist ein Schritt in einer höheren Evolution. Unsere bewusste Wahrnehmung wird dann nicht mehr von den Grenzen der materiellen Sinne begrenzt sein. Unsere Gedanken werden sich nicht mehr um das Selbst drehen, denn der Irrglaube des Sonderseins wird überwunden sein. Vielleicht wird ein materieller Körper für uns nicht länger erforderlich sein; und wir werden als Vehikel einen Körper benützen, der aus Materie in einem höheren Zustand gebildet wird.
Es ist jedoch wichtig zu bedenken, dass diese höhere Evolution nicht in der Zukunft stattfindet – davon ausgenommen sind jene Wesen, die dieses höhere Evolutionsstadium noch nicht erreicht haben. Denn die Evolution hat bereits in vergangenen Zyklen Wesen zu diesen höheren Stadien geführt. Und diese Wesen können wir mit Recht als unsere älteren Brüder bezeichnen. Es ist auch nicht richtig anzunehmen, es habe eine Zeit gegeben, in der nur niedere Tierarten existierten – gefolgt von einer Periode, in der die höheren Tiere auftraten; und noch später sei zum ersten Mal der Mensch erschienen. In der großen Evolutionsperiode, in der wir uns jetzt befinden und die wir im vorigen Kapitel als die vierte Globenrunde bezeichneten, haben die erwähnten Arten von Wesen gleichzeitig existiert – jede in ihrem eigenen Evolutionsstadium.
Die Entstehungsgeschichte des Menschen
In den vorigen Kapiteln haben wir über die Evolution als einen Prozess gesprochen, durch den der spirituelle Kern des Menschen oder jedes anderen Wesens sich in zunehmendem Maß manifestiert. Dazu benützt er ein äußeres Vehikel oder einen Körper, der dafür am geeignetsten ist. Daher ist Evolution nicht eine allmähliche Formveränderung durch die Vererbung von erworbenen Eigenschaften, sondern das Immer-mehr-zum-Ausdruck-Bringen von inhärenten Kräften und Fähigkeiten, was mit dem Gebrauch neuer, dafür geeigneter Körper verbunden ist. Wenn ein spiritueller Lebenskern oder eine Monade alle möglichen Erfahrungen gesammelt hat, die zu bestimmten Umständen und Körpern passen, und dadurch ihre inneren Kräfte entfaltet hat, so weit das unter diesen Bedingungen möglich ist, ist für die Monade die Zeit für neue Erfahrungen in Körpern anderer Art angebrochen. Diese Körper ermöglichen eine Weiterentwicklung.
Ein interessantes, engstens mit diesem Prozess der Verkörperung zusammenhängendes Phänomen ist das der Rekapitulation oder das biogenetische Gesetz. Die Entstehungsgeschichte des Menschen in einer neuen Inkarnation ist ein sehr allmählicher Prozess. Auf das Wachstum von der Empfängnis bis zur Geburt, das neun Monate erfordert, folgt das Heranwachsen des neugeborenen Babys zum Erwachsenen, der über alle intellektuellen und geistigen Fähigkeiten verfügt. Dieser Wachstumsprozess vom allerersten Beginn an bis zur vollständigen Entfaltung des Menschen ist in verkürzter Form eine Wiederholung der sehr langen Entwicklungsgeschichte der Menschheit; und das bezeichnet man als Rekapitulation. Je früher im Wachstum eines Embryos ein bestimmtes Kennzeichen auftritt, um so weiter müssen wir zurückgehen, um diese Eigenschaft in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit aufzuspüren. Später auftretende Eigenschaften und Kennzeichen wurden auch erst in einem späteren Stadium der Evolution entwickelt.
Das macht deutlich, dass aus dieser Tatsache bestimmte Schlussfolgerungen bezüglich der Abstammung des Menschen zu ziehen sind. Wir werden jetzt nicht näher darauf eingehen. Als ein erklärendes Beispiel mag hier ein Zitat aus Man in Evolution (S. 88) von G. de Purucker dienen:
… Eine Untersuchung des im Mutterschoße heranwachsenden Kindes zeigt, dass von der allerersten Periode an, da sein Fuß im embryonalen Wachstum gerade angedeutet wird, dieser genau die gleiche, einzigartige Gestalt erkennen lässt, die der Fuß des erwachsenen Menschen aufweist; und beachten Sie bitte ferner, dass sich diese Tatsache schon früh in der embryonalen Entwicklung zeigt. Daher muss er schon früh in der menschlichen Stammesentwicklung aufgetreten sein.
Ferner ist der Fuß des menschlichen Embryos niemals, zu keiner Zeit seines Wachstums, der Fuß eines Menschenaffen oder eines gewöhnlichen Affen; er ist ein typischer Menschenfuß von der Zeit seines ersten Erscheinens an – eine äußerst bedeutsame Tatsache, die zeigt, dass der menschliche Fuß ein spezifisch menschliches Merkmal darstellt und schon früh, vielleicht sogar sehr früh, in der menschlichen Stammesentwicklung erworben worden sein muss.
In diesem Zusammenhang verweisen wir auf das Kapitel Die Evolution des Menschen. Darin wird die theosophische Auffassung erläutert, dass der Mensch nicht vom Affen abstammt, sondern dass der Ursprung des Affen im menschlichen Stamm liegt; daher ist der Mensch viel älter. In diesem Zusammenhang ist vielleicht noch ein Zitat aus Man in Evolution (S. 97) interessant. Dort ist von einem Gorilla-Embryo die Rede, der – obschon er deutliche Züge eines Affen trägt – trotzdem menschlicher aussieht als seine Eltern. So ähnelt der Fuß zum Beispiel viel eher dem Fuß eines Menschen.
Es ist wohlbekannt, dass das kleine Affenkind im Allgemeinen und im Detail menschenähnlicher ist, als der erwachsene Menschenaffe. Mit fortschreitendem Wachstum weicht die Stirn zurück, das Maul wird noch tierischer, der Fuß wird immer mehr zur typischen Fuß-Hand des anthropoiden Stammes; und auch in vielerlei anderer Hinsicht, wie zum Beispiel bei dem vorspringenden Kieferknochen, bildet sich die typische Menschenaffenform heraus. …
Die Theosophie sagt, dass es sich beim menschenähnlichen Aussehen des Menschenaffen-Embryos um eine Umkehr zu einem früheren Typus einer längst vergangenen geologischen Epoche handelt, in Richtung auf die menschlichen Halbeltern der Vorfahren des gegenwärtigen Menschenaffen-Stammes. Und da der besondere anthropoide Erbstrom, der dem Keimplasma der Zelle innewohnt, aus welcher der Menschenaffe hervorgeht und sich zum erwachsenen Tier entwickelt – da dieser Erbstrom oder diese Erbanlage der Keimzelle sich Ausdruck zu verschaffen sucht –, so folgt er dabei notwendigerweise der einzigen für ihn offenen Richtung – seiner eigenen Richtung. Er erklimmt seinen eigenen vorväterlichen Stammbaum.
Es dauert viele Jahre, bis das Kind nach der Geburt seine Denkfähigkeiten entwickelt und sie vollständig benutzen kann. Daraus können wir schließen, dass dieser Prozess des Erwachens sich auch in der Menschheitsentwicklung in einem späteren Stadium vollzog. Die Menschheit hat deshalb lange Perioden durchgemacht, die man mit dem Zustand eines Kindes vergleichen kann – ein Zustand, in dem der Mensch zwar über einen hochentwickelten Instinkt und ein gewisses Bewusstsein verfügt, aber noch nicht die Fähigkeit eines Erwachsenen zu bewusstem Denken besitzt. Wie bereits früher erwähnt, wird dieses Erwachen des Selbstbewusstseins durch das Herabsteigen der Mānasaputras dargestellt, was auf eine andere Weise mit dem Inkarnieren unseres eigenen intellektuellen Selbstes in uns umschrieben werden kann.
In dem vorhergehenden Zitat kommt der Ausdruck ‘Umkehr’ oder ‘Atavismus’ vor, was im Allgemeinen bedeutet, dass in einer bestimmten Generation Kennzeichen zutage treten, die eine weit zurückliegende Generation aufwies, die in dazwischenliegenden Generationen jedoch nicht auftraten. Die Ursache liegt in der Tatsache, dass der Mensch alle niedrigeren Formen von Organismen in seiner Evolution durchschritt – tierische, pflanzliche und andere. Deshalb bewahrt er in sich Rudimente all dieser verschiedenen Arten in sich. Eine rein mechanische Erklärung diesbezüglich ist vollkommen unbefriedigend, denn dieses sehr umfangreiche Potential müsste in einem mikroskopisch kleinen, materiellen Teilchen enthalten sein. Dieses Teilchen ist jedoch nur auf der materiellen Ebene mikroskopisch erkennbar. Auf anderen Ebenen der Materie – nicht weniger real, auch wenn für die materiellen Sinne nicht wahrnehmbar – ist es kein mikroskopisch kleines Pünktchen. Wir müssen den Gedanken akzeptieren, dass es andere Zustände von Materie gibt, die feinere Strukturen als die physische Materie aufweisen. Die feinstoffliche Materie kann als Vorratskammer dieser latenten Eindrücke dienen und sie zu bestimmten Zeiten zum Vorschein bringen.
Man könnte Atavismus als eine Art von Gedächtnis umschreiben; irgendwo in seinem Organismus führt der Mensch alle Erfahrungen aus der Vergangenheit in Form von gespeicherten Erinnerungen mit sich, die unter geeigneten Bedingungen reproduziert werden können. Ist das merkwürdiger als die Tatsache, dass die Stimme eines Menschen auf einer Schallplatte oder einem Tonband für unbestimmte Zeit gespeichert und Zuhörern gewissenhaft reproduziert werden kann, die heute vielleicht noch nicht einmal geboren sind? Wir wiederholen zum Schluss dieses Kapitels, dass jede Monade – sei es in der Pflanze, im Tier oder sogar im Atom eines Minerals – ihren Ursprung in der menschlichen Art hat und dazu neigt, dorthin zurückzukehren.
„Jede Form auf der Erde und jedes Stäubchen (Atom) im Raum strebt in seinen Bemühungen nach Selbst-Bildung danach, dem Vorbild zu folgen, das ihm im ‘HIMMLISCHEN MENSCHEN’ vorliegt. … Seine (des Atoms) Involution und Evolution, sein äußeres und inneres Wachstum und seine Entwicklung haben alle ein und dasselbe Ziel – den Menschen. …“
– H. P. BLAVATSKY: The Secret Doctrine, I, S. 183
Involution und Evolution
Wie bereits gesagt IST Evolution in ihrem gewöhnlichen Sinn ein dualer Prozess. Er beinhaltet, dass der Geist oder die Lebenskraft in etwas anderes eintritt, was dadurch wächst. Dieses Wachstum ist Evolution; und der Eintritt dieses Geistes oder dieser Lebenskraft ist die Involution. Die Involution des Geistes in die Materie verursacht somit deren Evolution. Die Involution des Spirituellen in diesem Körper verursacht sein Wachstum. Die Involution des Lebens in einen Organismus verursacht dessen Evolution.
Im normalen Sprachgebrauch wird das Wort ‘Evolution’ also in zwei verschiedenen Bedeutungen angewandt: (1) um den ganzen Prozess zu bezeichnen; (2) um eine Seite des Prozesses zu bezeichnen, dessen andere Seite die Involution ist. Da die doppelte Anwendung des Wortes ‘Evolution’ eine Gewohnheit geworden ist, müssen wir auf der Hut sein. Es ist klar, dass der Geist in die Materie involviert – mit dem Ziel, die Materie allmählich zur Evolution zu bewegen, damit sie mehr und mehr die Eigenschaften des Geistes zum Ausdruck bringt. Die Evolution ist also ein fortschreitender Prozess, der jedoch zyklisch verläuft. Wenn ein Zyklus vollendet ist, beginnt ein neuer auf einer etwas höheren Ebene. Es ist auch klar, dass es auf halbem Wege des Zyklus einen Punkt geben muss, an dem Geist und Materie im Gleichgewicht sind. Der Prozess kann wie ein Kreis dargestellt werden, dessen höchster Punkt als Anfang und Ende betrachtet wird. Der Punkt an der Unterseite – auf halbem Wege, dem Beginn und Ende des Kreises genau gegenüber – steht für ein Evolutionsstadium, in dem die Involution des Geistes in die Materie so weit vorangekommen ist, dass die Eigenschaften von beiden in gleichem Verhältnis zueinander stehen. Bei dieser kreisförmigen Art der Darstellung verläuft die Evolution auf der linken Seite des Kreisbogens abwärts und auf der rechten Seite aufwärts. Die linke Seite des Kreises wird als der absteigende und die rechte Seite als der aufsteigende Bogen bezeichnet. Während des Evolutionsprozesses entlang des absteigenden Bogens erfolgt der Übergang vom Spirituellen zum Materiellen – bis die Grenze der Materialität den niedersten Punkt erreicht hat. Dann beginnt der aufsteigende Bogen – mit dem Übergang vom Materiellen zum Spirituellen. Aber wir müssen im Auge behalten, dass der gesamte Prozess dauernd fortschreitet. Dieselbe Kraft, die verursacht, dass der Geist in die Materie ‘hinabsteigt’, verursacht auch den ‘Aufstieg’ der Materie zum Geist. Das eine Stadium ist eine Fortsetzung des anderen.
In der archaischen Lehre wird die gesamte Manifestationsperiode einer Planetenkette als ein Planeten-Manvantara bezeichnet. Dieses Manvantara wird in sieben Runden unterteilt.4 Auf jedem Globus der Erdkette durchläuft die menschliche Lebenswoge ihre Entwicklung ihrerseits in sieben Wurzelrassen. Wir befinden uns jetzt in der fünften Wurzelrasse der vierten Runde. Da die vierte Runde die mitlere von sieben ist, wird deutlich, dass wir den tiefsten Punkt der Materialisierung ein wenig überschritten haben und uns auf dem aufsteigenden Bogen der Evolution befinden. Wir wenden uns vom Materiellen ab und bewegen uns dem Spirituellen zu. In früheren Wurzelrassen folgte die Menschheit auf dem absteigenden Bogen dem Weg in die Materie; ihr Weg zu Selbstwerdung bestand darin, sich mehr und mehr in der Materie zum Ausdruck zu bringen. Unser jetziger Weg ist jedoch ein anderer, weil wir den Punkt in der Mitte des Kreisumfangs überschritten haben. Wir können also verstehen, dass das, was für die Menschheit in der einen Periode richtig war, in einer anderen Periode verkehrt sein kann. Wenn wir jetzt weiterhin nach dem Materiellen streben, würden wir uns gegen den Lauf der Evolution stellen.
Bis jetzt haben wir über die Involution des Geistes in die Materie und die daraus resultierende Evolution der Materie in spirituellere Formen gesprochen. Diese Aussage diente lediglich der Verdeutlichung. Eine weitere Erklärung ist nötig, denn es könnte scheinen, Geist und Materie wären zwei verschiedene, voneinander unabhängige Dinge; das ist nicht der Fall. Es gibt nur EIN universales Leben, das sich in den beiden Aspekten manifestiert, die wir Geist und Materie nennen. Aber diese beiden Aspekte bestehen nur, weil der eine der Gegenpol des anderen ist. Ein bekanntes Phänomen aus der Physik kann das deutlich machen: Nehmen wir an, dass wir die Eigenschaften einer Flüssigkeit und eines festen Stoffes vergleichen. Wir können die Flüssigkeit ‘Geist’ und den festen Stoff ‘Materie’ nennen. Würden wir ein Gas und eine Flüssigkeit nehmen, so würde das Gas für den ‘Geist’ stehen und im Gegensatz zum Gas die Flüssigkeit die ‘Materie’ repräsentieren. Was also auf der einen Ebene Geist ist, kann auf der darauf folgenden höheren Ebene Materie sein. Geist und Materie sind nicht zwei verschiedene Dinge, sondern nur zwei verschiedene Aspekte ein und derselben Sache. Anstatt zu sagen, dass Geist in die Materie absteigt, ist es deshalb besser zu sagen, dass die eine Essenz allmählich materieller wird und dann später mehr und mehr spirituell – bis der Evolutionszyklus vollendet ist.
Schluss
Wir haben nunmehr einen Eindruck von den Hauptzügen dieses umfangreichen Themas vermittelt; und haben versucht, die Gesetze aufzuzeigen, die im Universum Veränderung und Wachstum überwachen – nicht nur im materiellen Universum, sondern auch in all den unsichtbaren Ebenen, die sich auf Geist und Denken beziehen. Die Evolution ist ein bewusstes, zielgerichtetes Geschehen; und sie ist das Werk von Lebewesen. In letzter Instanz besteht das Universum ausschließlich aus Lebewesen, die alle wachsen und evolvieren. Solch eine Vision macht unvermeidlich den gesamten Prozess außergewöhnlich kompliziert; ihn vollständig zu verstehen, übersteigt momentan unser Fassungsvermögen. Der kluge Schüler sollte sich dadurch nicht entmutigen lassen, denn er ist sich bewusst, dass die Entwicklung seiner eigenen Fähigkeiten ein allmählicher Vorgang ist. Das Wissen um die unbegrenzten Möglichkeiten seiner Evolution gibt ihm die Sicherheit, dass das, was heute im Dunkeln liegt, morgen vielleicht verstanden wird.
Anhang
Anatomische Beweise für den ursprünglichen Charakter des menschlichen Stammes, entnommen aus Man in Evolution, Kapitel 7, S. 81 ff, von G.de Purucker, der diese Informationen hauptsächlich von Dr. Wood Jones übernahm, dem damaligen Professor für Anatomie an der Universität von Manchester:
(1) … Die Knochen des menschlichen Schädels sind an der Schädelbasis und an den Seiten der Gehirnkapsel in einer Weise verbunden, wie sie für primitive Säugetierformen charakteristisch ist; aber sie zeigen einen Gegensatz, einen sehr deutlichen Gegensatz, zur Anordnung der gleichen Knochen bei den Menschenaffen und den gewöhnlichen Affen. …
(2) Die Nasenknochen sind beim Menschen in ihrer Einfachheit außergewöhnlich primitiv. Im Fall der Affen und Menschenaffen kommen diese Tiere in dieser primitiven Einfachheit dem Menschen überhaupt nicht nahe, … .
(3) Der primitive Bau des menschlichen Schädels zeigt sich ebenso auch in einer Anzahl von Zügen des Gesichtes. Professor Wood Jones sagt in einer Abhandlung The Problem of Man’s Ancestry (S. 31):
Der Bau der Rückwand der Augenhöhle, die ‘metopische’ Naht, die Gestalt des Jochbeines, die Beschaffenheit des inneren pterigoiden (=Flügel) Gaumenknochens, die Zähne etc. – alles erzählt dieselbe Geschichte, nämlich dass der menschliche Schädel nach einem bemerkenswert primitiven Säugetiertypus gebaut ist, von dem sich bis zu einem gewissen Grad alle Affen und Menschenaffen entfernt haben.
(4) Der gleiche, in seinem Fach berühmte Anatom erklärt:
Das menschliche Skelett, besonders in seinen Variationen, zeigt genau den gleichen Zustand [eines primitiven einfachen Säugetiertypus].
(5) Ein anderes Zitat aus derselben Quelle:
Bezüglich der Muskeln zeichnet sich der Mensch wunderbar durch die Bewahrung primitiver Merkmale aus, die sich bei den übrigen Primaten verloren haben.
(6) Die menschliche Zunge ist ihrem Typus nach ebenfalls sehr primitiv. Die Zunge des Schimpansen gleicht der des Menschen in gewisser Hinsicht, jedoch ist die menschliche Zunge weit primitiver als diejenige irgendeines Affen oder Menschenaffen, … .
(7) Der Wurmfortsatz des Menschen ist dem des Marsupial oder Beuteltieres Australiens merkwürdig ähnlich. Aber er ist sehr verschieden von dem der Affen und Menschenaffen. …
(8) Die großen, aus dem Aortabogen entspringenden Arterien sind beim Menschen von der gleichen Zahl, von der gleichen Art und in der gleichen Anordnung gelagert wie bei … dem Ornithorhynchos anatinus, dem Schnabeltier Australiens.
(9) Die Premaxilla oder der Zwischenkieferknochen des Menschen, das heißt jener Knochen, der die oberen Schneidezähne trägt, ist beim Menschen kein getrennter Bestandteil mehr, wenn er je so existierte. Dagegen zeigt bei den Menschenaffen und den gewöhnlichen Affen sowie bei allen anderen Säugetieren dieser Zwischenkieferknochen an der Oberfläche Nahtlinien, die so seine Verbindung mit dem Oberkieferknochen andeuten.
Fußnoten
1. Herausgegeben von Little, Brown & Co. Boston, 1973, S. 344 [back]
2. Aus seinem Buch: Niet van de Apen, übersetzt aus dem Finnischen. Herausgeber Wereldvenster 1972, S. 138 [back]
3. Die archäologischen Forschungen befinden sich in einer ständigen Entwicklung. Michael A. Cremo und Richard L. Thompson fassen in ihrem Buch Verbotene Archäologie (Bettendorf’sche Verlagsanstalt, ISBN 3-88498-070-X) zusammen: „ … bleibt die Schlussfolgerung, dass der Gesamtbefund (Fossilien und Artefakte eingeschlossen) sich bestens mit der Ansicht vereinbaren lässt, dass anatomisch moderne Menschen und andere Primaten seit mehreren zehn Millionen Jahren nebeneinander gelebt haben“. [back]
4. Ein Planet besteht nach der theosophischen Tradition aus sieben Globen. Diese Globen werden in sieben Runden jeweils siebenmal von der menschlichen Lebenswoge besucht. D.Ü. [back]
Band 4: Die siebenfältige Konstitution des Menschen
Leonie L. Wriht
![Band 4: Die siebenfältige Konstitution des Menschen](https://theosophie.info/wp-content/uploads/2024/11/TP04-300x300.jpg)
In den alten Zeiten, als die Welt große Zivilisationen kannte, bildete die von uns heutzutage als Psychologie bezeichnete Wissenschaft von der Seele einen Bestandteil des in den Mysterienschulen unterrichteten Wissens, welche zu diesen Zeiten die Hüter einer heiligen Wissenschaft waren. Dieses Wissen umfasste Lehren über das Leben, den Tod, den Menschen und das Universum, Lehren religiöser, philosophischer und wissenschaftlicher Art.
Unsere heutige Wissenschaft hat in den vergangenen hundert Jahren in technischer Hinsicht gewaltige Fortschritte gemacht, auch wenn wir hinzufügen müssen, dass wir nicht wissen, welche Höhen die Wissenschaften der früheren Zivilisationen, die jetzt vom Erdboden verschwunden sind, in dieser Hinsicht erreicht hatten.
Aber im Allgemeinen können wir sagen, dass unsere heutigen Religionen, Philosophien und Wissenschaften – im geistigen Sinne – nur vage Widerspiegelungen der archaischen Kenntnisse der Mysterienschulen darstellen.
Dieses alte System war früher in der ganzen Welt bekannt und wird heute mit verschiedenen Bezeichnungen angedeutet, wie z.B. Weisheitsreligion, Geheimlehre, Esoterische Tradition, archaische Weisheit oder Theosophie. Beweise dafür kann man durch ein vergleichendes Studium der fundamentalen Lehren und der Symbolik aller alten Weltreligionen finden, so auch in der Bibel. Dasselbe trifft auch auf die ehemaligen großen Philosophien zu. In diesem Zusammenhang können wir Pythagoras mit seiner esoterischen Schule in Krotona, Platon mit seiner Akademie in Athen und die Stoiker anführen, zu denen der berühmte Marcus Aurelius zählt. Trotz der verschiedenen Formen ihrer Systeme zeigt sich deutlich, dass sie Lehrer derselben Weisheitsreligion waren. Wer sich dafür interessiert, kann auch in den über die ganze Erde verstreuten Überresten Beweise für das archaische Wissen finden.
Eine der bedeutendsten Lehren dieser Mysterienschulen war die von der siebenfältigen Beschaffenheit des geoffenbarten Universums und des Menschen als dessen Kind. Laut den theosophischen Lehren gründen alle Prozesse der ‘Schöpfung’ auf Zahlen. Die Sieben ist dabei eine Schlüsselzahl. Sie stellt den Grundstein der gesamten Evolution dar, sowohl der materiellen als auch der spirituellen. Wir kennen z.B. die sieben Schichten der menschlichen Haut, die sieben Töne unserer Tonleiter, die sieben Farben des Spektrums, die sieben Schöpfungstage aus der Genesis, die sieben Tage der Woche und so weiter. Es ließen sich noch viele Beispiele dieser siebenfachen Einteilung finden; und es ist nur natürlich, wenn wir von der siebenfältigen Konstitution des Menschen sprechen.
Theosophische Perspektiven
Band 04: Die siebenfältige Konstitution des Menschen
Frei überarbeitet nach Leoline L. Wright
© 2000 Theosophischer Verlag der Stiftung der Theosophischen Gesellschaft Pasadena, Eberdingen
Einleitung
In den alten Zeiten, als die Welt grosse Zivilisationen kannte, bildete die von uns heutzutage als Psychologie bezeichnete Wissenschaft von der Seele einen Bestandteil des in den Mysterienschulen unterrichteten Wissens, welche zu diesen Zeiten die Hüter einer heiligen Wissenschaft waren. Dieses Wissen umfasste Lehren über das Leben, den Tod, den Menschen und das Universum, Lehren religiöser, philosophischer und wissenschaftlicher Art.
Unsere heutige Wissenschaft hat in den vergangenen hundert Jahren in technischer Hinsicht gewaltige Fortschritte gemacht, auch wenn wir hinzufügen müssen, dass wir nicht wissen, welche Höhen die Wissenschaften der früheren Zivilisationen, die jetzt vom Erdboden verschwunden sind, in dieser Hinsicht erreicht hatten.
Aber im Allgemeinen können wir sagen, dass unsere heutigen Religionen, Philosophien und Wissenschaften – im geistigen Sinne – nur vage Widerspiegelungen der archaischen Kenntnisse der Mysterienschulen darstellen.
Dieses alte System war früher in der ganzen Welt bekannt und wird heute mit verschiedenen Bezeichnungen angedeutet, wie z. B. Weisheitsreligion, Geheimlehre, Esoterische Tradition, archaische Weisheit oder Theosophie. Beweise dafür kann man durch ein vergleichendes Studium der fundamentalen Lehren und der Symbolik aller alten Weltreligionen finden, so auch in der Bibel. Dasselbe trifft auch auf die ehemaligen großen Philosophien zu. In diesem Zusammenhang können wir Pythagoras mit seiner esoterischen Schule in Krotona, Platon mit seiner Akademie in Athen und die Stoiker anführen, zu denen der berühmte Marcus Aurelius zählt. Trotz der verschiedenen Formen ihrer Systeme zeigt sich deutlich, dass sie Lehrer derselben Weisheitsreligion waren. Wer sich dafür interessiert, kann auch in den über die ganze Erde verstreuten Überresten Beweise für das archaische Wissen finden.
Eine der bedeutendsten Lehren dieser Mysterienschulen war die von der siebenfältigen Beschaffenheit des geoffenbarten Universums und des Menschen als dessen Kind. Laut den theosophischen Lehren gründen alle Prozesse der ‘Schöpfung’ auf Zahlen. Die Sieben ist dabei eine Schlüsselzahl. Sie stellt den Grundstein der gesamten Evolution dar, sowohl der materiellen als auch der spirituellen. Wir kennen z. B. die sieben Schichten der menschlichen Haut, die sieben Töne unserer Tonleiter, die sieben Farben des Spektrums, die sieben Schöpfungstage aus der Genesis, die sieben Tage der Woche und so weiter. Es liesen sich noch viele Beispiele dieser siebenfachen Einteilung finden; und es ist nur natürlich, wenn wir von der siebenfältigen Konstitution des Menschen sprechen.
In der Bibel lesen wir, dass Paulus den Menschen in drei Elemente einteilt: in Körper, Seele und Geist. Dies stellt eine Vereinfachung der siebenfältigen Einteilung dar, was auch im Folgenden erläutert wird. Paulus war ein Initiierter der Mysterienschulen der alten Weisheitsreligion, und er kannte das dort gelehrte vollständigere System. Es war und ist aber einem in die Mysterien Initiierten nicht erlaubt, alles zu veröffentlichen.
Obschon die christliche Theologie diese Dreifaltigkeit akzeptiert, sagt sie nur wenig über das Wesen der Seele und den Unterschied zwischen Seele und Geist. Auch in der Psychologie, die doch die Wissenschaft der Seele ist, werden hauptsächlich unsere physiologischen mentalen Tätigkeiten, unsere Emotionen, Ängste, die Triebe der leidenschaftlichen Natur usw. studiert, während den wahren geistigen Aspekten des Menschen zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dabei bilden diese den zentralen Kern und die Quelle seines Wesens. Bei manchen großen Psychologen, wie zum Beispiel bei Professor Jung, kann eine Änderung der Ansichten bemerkt werden. Sie entdeckten, dass – solange man die menschliche Seele nur als einen Komplex halb-physiologischer Reaktionen betrachtet – dies bei weitem nicht das ganze Gebiet des inneren Lebens des Menschen umfasst. Allmählich sickert die Erkenntnis durch, dass dieser höhere Aspekt des menschlichen Bewusstseins eine weitaus größere Bedeutung hat.
Die Monade
Damit wir die zusammengesetzte Natur des Menschen und seine sieben Prinzipien erklären können, muss als erstes eine kurze Skizze davon gegeben werden, was die Theosophie über die Evolution zu sagen hat.
Nach der Weisheitsreligion bedeutet Evolution ‘sich Entfalten’, ‘sich Entwickeln’; mit anderen Worten, es ist ein Prozess, in dem Qualitäten oder Eigenschaften, die latent und unsichtbar in der inneren Natur eines jeden Wesens verborgen liegen, in zunehmendem Maße zur Offenbarung kommen und tätig werden. Wenn ein Samen noch nicht gekeimt hat, sind seine Eigenschaften noch unsichtbar und nur latent vorhanden. Aber wenn die Zeit und die Umstände geeignet sind, beginnen die latenten Eigenschaften sich zu entwickeln und zu entfalten; und sie werden sichtbar. So bringt z. B. eine Eichel zuerst einen zarten Sprössling zum Vorschein und wird schließlich zu einer hoch gewachsenen, majestätischen Eiche.
Alle Organismen, das heißt alle Lebewesen – Pflanzen, Tiere, Menschen – wachsen aus einem Samen. Bei den Menschen und den meisten Tieren sind diese Samen so klein, dass man sie mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmen kann. Und trotzdem kann jede dieser äußerst kleinen vitalen Zellen zu einem 1,80 Meter großen Menschen mit all seinen komplexen Fähigkeiten oder zu einem riesigen Elefanten mit seinen hochspezialisierten Organen heranwachsen.
Wie ist es möglich, dass ein mit dem bloßen Auge nicht sichtbarer Same – auf magisch anmutende Weise – z. B. zu einem genialen Menschen, zu einem großen Musiker oder Erfinder heranwächst? Warum liegt dieses Gesetz der Entwicklung von innen nach außen, vom Unsichtbaren zum Sichtbaren, der Evolution zugrunde? Das rührt daher, dass dem Herzen eines jeden Samens ein Element oder Prinzip innewohnt, das wir die lebende ‘Geist-Seele’ nennen. Diese ‘Geist-Seele’ ist ein Funken der universalen Geist-Seele und wird in modernen theosophischen Schriften als ‘Ātman-Buddhi’ bezeichnet. Durch den Drang dieser unsichtbaren Geist-Seele nach Selbstausdruck beginnt der Kern eines Organismus sich auszudehnen und entfaltet seine eigenen Kräfte durch die Entwicklung von Fähigkeiten und Funktionen – von innen nach außen. Natürlich wird dieser Organismus durch den Einfluss der Umgebung und des Milieus genährt und unterstützt. Wäre jedoch dieser lebendige, spirituelle Drang nicht in dem Kern vorhanden, würde die Saat nicht aufgehen und keine Früchte tragen. Tote Saat wächst nicht, wie günstig die Lebensbedingungen und das Milieu auch sein mögen. Entdeckungen jüngeren Datums auf dem Gebiet der Archäologie und der Anthropologie haben dazu beigetragen, dass die ultramoderne Wissenschaft ihre Evolutionstheorien nicht länger auf die sichtbaren und äußeren Formen der Natur beschränkt. In diesem Zusammenhang kann man ohne weiteres davon ausgehen, dass weitere wissenschaftliche Untersuchungen auf dem Gebiet der Evolution und der Psychologie sowie der Parapsychologie allmählich zu einer Bestätigung der diesbezüglichen theosophischen Lehren führen werden. Denn nicht nur der Körper, sondern auch der Verstand und die Seele eines Wesens sind jeweils einem eigenen Evolutionsprozess unterworfen. Wenn die Evolution ein Naturgesetz ist, bleibt von der Wirksamkeit dieses Gesetzes nichts ausgeschlossen. In jedem Partikel der Materie ist ein Funke des einen, universalen, unvergänglichen LEBENS eingeschlossen. Dieser Funke wird in der Theosophie die Monade genannt. ‘Monade’ ist ein Wort, das dem Griechischen entlehnt wurde. Es bezeichnet eine Einheit, eine Unteilbarkeit. Diese Monade ist ein Punkt, ein Zentrum vollständigen, individualisierten, nicht zerstörbaren Bewusstseins, das, wie bereits gesagt, seinen Ursprung im zentralen universalen LEBEN hat. Solch eine Monade lebt im Kern eines jeden Organismus, vom Atom bis zum Stern.
Aber diese Monaden befinden sich auf sehr unterschiedlichen Stufen der Evolution. Beispielsweise ist die Monade eines Atoms aus dem Mineralreich weit weniger evolviert oder entfaltet als eine Monade, die auf ihrer aufsteigenden evolutionären Reise der Selbstentwicklung das Pflanzen- oder Tierreich erreicht hat. Die Monade im Zentrum eines Menschen ist unermesslich höher entwickelt als die beiden zuletzt genannten Reiche. Sie hat nach äonenlanger, immer weiter fortschreitender Selbstentwicklung sämtliche Stadien der Materie in den niederen Naturreichen durchwandert und ist schließlich an dem Punkt angelangt, wo sie ihre eigenen schlummernden intellektuellen und spirituellen Fähigkeiten bis zu einem so hohen Grade entwickelt hat, dass sie sich als ein menschliches Wesen offenbaren kann.1
Dem Kern eines jeden physischen Atoms wohnt eine Monade inne. Das physische Atom ist der äußere Körper oder das Vehikel, dessen sich die Monade bedient und mittels dessen sie sich zum Ausdruck bringt. Wenn die Monade ein chemisches Atom beseelt, beginnt sie ihre Reise am Fuße der evolutionären Leiter. Und sie wandert über unzählige Zeitalter hinweg von einem Naturreich zum nächsten und folgt dabei dem Pfad, der sie in immer höhere Stadien der Evolution führt.
Wir können diesen Prozess teilweise nachvollziehen, wenn wir das Wachstum einer Pflanze beobachen. Hinter, über oder in jeder Pflanze befindet sich das, was wir eine ‘Pflanzen-Monade’ nennen könnten, mit anderen Worten eine spirituelle Monade, die ihre evolutionäre Reise durch das Pflanzenreich unternimmt. Ein kleiner Same wird in die Erde gelegt. Sobald die richtigen Umstände eintreten, ‘erwacht’ die schlummernde oder latente Energie, die darin eingeschlossen liegt; und ein Prozess beginnt, in dem der Same aus der Erde heraus ein Pflanzen-Vehikel für sich selbst aufbaut. In ähnlicher Weise formt die Monade für sich selbst immer höhere Vehikel, während sie durch das Elemental-, Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich aufwärts schreitet, um schließlich in menschlichem Gewand zur Blüte zu kommen.
Es sind die Monaden, die durch ihre Tätigkeit nicht nur die Evolution hervorbringen, sondern auch selbst das Material der Evolution bilden. Die Monaden von hohem, mittlerem und niedrigem Entwicklungsgrad beseelen und erbauen alle für uns sichtbaren und unsichtbaren Manifestationen von Leben – spiritueller, intellektueller, psychischer und physischer Art. Sie folgen dabei dem spirituellen Drang, der im Herzen einer jeden Monade existiert, dem ursprünglich in der zentralen universalen Quelle des Lebens ausgelösten Drang.
Diese Monaden formen durch ihren inneren Lebensdrang, ihre Aktivitäten und die sich allmählich entfaltenden Wesensmerkmale die unsichtbaren Teile der Natur – die unsichtbare Welt, die von unvorstellbar größerem Umfang und Ausmaß ist, als die sichtbare. Hier, in diesen inneren Reichen, wirken die unzähligen Scharen unsichtbarer Monaden, die also die Ursache der sichtbaren Evolution sind.
Bevor wir zur Betrachtung des Menschen und seiner siebenfältigen Konstitution übergehen, müssen wir folgende Frage beantworten: ‘Worin liegt der Zweck dieser ganzen monadischen Evolution von einem Naturreich ins andere, von einer Ebene zur anderen?’ Die Antwort lautet wie folgt: Jede große solare Evolutionsperiode wird in den theosophischen Lehren als ein Manvantara bezeichnet. In dieser solaren Periode, oder dem Manvantara, tritt die Monade den Anfang ihrer Reise als ein nicht-selbstbewusster Gottesfunke an. Und das Ziel ihrer Reise durch alle Lebensformen in diesem solaren Manvatara ist, dass sie zu einem vollständig selbstbewussten, göttlichen Wesen heranreift. Wenn das Ende dieser solaren Periode kommt, wird eine Monade, die ihre Evolution erfolgreich vollendet hat, Kenntnisse aus eigener Erfahrung über sämtliche Lebensformen besitzen – sie wird in der Tat all diese Lebensformen in diesem Manvantara gewesen sein. Sie wird sich am Ende mit Hilfe von höher evolvierten Wesen die Fähigkeit angeeignet haben, selbstbewusst all diese Erfahrungen zu verstehen, zu assimilieren und zu benutzen. So wird sie in dem Manvantara, das sie gerade durchlief, ein selbstbewusster Gott, ein Meister der Weisheit und des Lebens. In einem nachfolgenden solaren Manvantara wird die Monade ihre Erfahrungen fortsetzen, um noch höhere Stufen der Evolution und des Wissens zu erreichen.
Die Monade im Innersten eines jeden von uns ist bereits weit auf ihrem Weg vorangekommen, ein solcher selbstbewusster Gott zu werden. Und das bedeutet natürlich, dass wir alle, die wir in Wirklichkeit – auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind – unsere eigene Monade sind, dazu bestimmt sind, am Ende des Sonnenmanvantaras, das wir jetzt durchlaufen, als herangereifte, alles verstehende Götter hervorzugehen.
Einer der schönsten Aspekte dieser Lehre ist, dass wir, indem wir diese evolutionäre Leiter des Seins hinaufsteigen, die evolutionären Möglichkeiten sämtlicher Atome und Wesen wachrufen und stimulieren, mit denen wir auf allen Erfahrungsebenen in Berührung kommen. Es ist ein Gesetz des Universums – mit anderen Worten, es ist im Wesen aller Dinge eingeschlossen –, dass wir selbst nicht höher steigen können, ohne alle anderen mehr oder weniger mitzuziehen.
Was das hinsichtlich unserer moralischen Verantwortung bedeutet, darüber sollten wir uns alle Gedanken machen.
Die höhere Triade
Der Mensch selbst ist nicht nur eine Monade, die sich eines materiellen Körpers bedient. Er ist das Produkt verschiedener Evolutionslinien, vereint in der zusammengesetzten Natur, die uns allen so vertraut ist. Eine Monade könnte unmöglich direkt durch einen menschlichen Körper wirken. Die Monade ist reines Geist-Bewusstsein, der Körper aber aus grober Materie gebildet, die zu dicht und zu träge ist, um der Monade direkt als Arbeitsfeld dienen zu können. Sie würde den Körper sozusagen verzehren, ebenso wie elektrischer Strom den Körper vernichten kann. Deshalb sind vermittelnde Elemente zwischen der Monade und dem Körper notwendig. Diese Elemente müssen von einer ätherischeren und spirituell empfindlicheren Natur sein als die physische Materie, da sie als ‘Transformatoren’ fungieren müssen. Sie müssen die spirituellen Energien der Monade umsetzen und in den materiellen Organismus leiten. Dann kann die leitende Kraft der Monade durch die Erfahrungen in der menschlichen Existenz unsere Evolution beseelen und regeln. Man muss ebenso bedenken, dass die Monade, die durch einen Menschen wirkt, unendlich viel weiter evolviert und mächtiger ist als die verhältnismäßig unentwickelte Monade, die sich zum Beispiel in Form eines Atoms in einer Pflanze zum Ausdruck bringt.
Das Denken stellt eine dieser ätherischeren Formen der Energiesubstanz dar, welche die Monade als Vehikel benutzt, um ihre Energien auf unser irdisches Gebiet zu transformieren. Das Denken ist eine ganz bestimmte Linie, entlang derer sich die menschliche Evolution vollzieht. Unser Denkvermögen entwickelt sich fortwährend entlang seiner eigenen Linien, während unser Körper nach seinem speziellen Muster wächst und sich entwickelt. Die Evolution unseres Denkens vollzieht sich parallel zur geistigen Evolution der Monade ‘darüber’ und auch parallel zur Evolution des Körpers und seiner vitalen Energien ‘darunter’. Das Denkvermögen ist das Bindeglied zwischen Körper und Monade.
Das war es, was der Apostel Paulus meinte, als er die Natur des Menschen in Körper, Seele und Geist einteilte. Die Seele ist das Bindeglied in der Konstitution des Menschen; und eine der wichtigsten Funktionen dieser Seele oder dieses vermittelnden Teils unseres Wesens ist unter anderem die des Verstandes oder des Intellekts, der seinerseits auch wieder höhere und niedere Aspekte hat.
Alles, was wir als Menschen sind, verdanken wir letztlich der monadischen Essenz, die das Innerste einschließt. Unsere spirituelle Intelligenz, unsere Instinkte für edles Denken, für freundliches und brüderliches Handeln, die Impulse des Mitleids, die unser Herz erfüllen, die Liebe, die uns so ziert, die erhabensten Intuitionen, derer unsere Natur fähig ist – alles das leitet sich von der Monade ab und findet dort seine Wurzeln. …
Nun ist die Seele, ebenso wie die Monade, in Wirklichkeit eine zusammengesetzte Wesenheit. Sie ist lediglich die einkleidende oder psychomentale Hülle einer Monade, die durch jene besondere Phase ihrer immerwährenden Wanderschaft in bestimmter Zeit und durch den hierarchischen Raum geht. Die Ausdrucksform dieser Monade auf irgendeiner Ebene ist eine Seele. Die Seele wirkt ihrerseits durch ihr eigenes, ätherisches oder physisches Vehikel.
– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, II:57/58
Woher stammen diese Elemente im Menschen? Wie bereits erklärt, hat die Monade ihren Ursprung im universalen kosmischen Leben oder dem allgegenwärtigen Geist und ist seine Emanation. In einem gewissen Sinn ist der Mensch sein unsterbliches Wurzelprinzip selbst. Aber was ist der Ursprung des Denkvermögens?
Das Denkvermögen ist in der Monade latent als Prinzip vorhanden. Da die Monade dem zentralen Feuer des kosmischen Geistes entspringt, das alle Dinge in sich enthält, bewahrt sie in sich selbst alle Möglichkeiten. Jeder Teil enthält in der Potenz alles, was das Ganze enthält. Ein Funke hat dieselbe Natur wie die Flamme, aus der er entstand. Ein Tropfen des Ozeans ist im Kleinen all das, was der Ozean ist. Hieraus folgt, dass jede Monade, als Teil des kosmischen Ganzen, alle Elemente, Potenzen und Möglichkeiten in sich enthält, welche die Evolution während der Lebensdauer unseres Universums zur Entwicklung bringen kann. Aber zu Beginn dieser universalen Lebensperiode sind die genannten Potenzen lediglich latent vorhanden; oder sie befinden sich in einem schlummernden, unentwickelten Zustand. Während die Äonen verstreichen und die Monade ihre evolutionäre Pilgerfahrt fortsetzt und sich aus den unsichtbaren spirituellen und ursächlichen Welten ‘nach außen’ in die sichtbare Welt der Formen und Folgen begibt, werden die latenten Potenziale – mineralische, pflanzliche und tierische – allmählich entfaltet und entwickelt. Schließlich kommt der Zeitpunkt, an dem die Monade das Stadium erreicht hat, in dem sie sich in das Kleid des Menschseins hüllen kann. Alle niedrigeren Fähigkeiten sind vollkommen entwickelt und jetzt ist der Punkt für die Evolution entlang der mentalen und intellektuellen Linien erreicht.
Vor Millonen von Jahren unserer Evolution fand das statt, was H. P. Blavatsky in der Geheimlehre als die Inkarnation der Mānasaputras bezeichnet. Wie bereits erklärt, steht die Monade weit über der menschlichen Ebene – zu hoch sogar, um in der Konstitution des Menschen das intellektuelle Prinzip zur Tätigkeit erwecken zu können. Das war der Grund, weshalb das manasische oder denkende Prinzip anfangs noch immer ‘schlief’. Dieser Umstand wird von W. Q. Judge in seinem Buch Das Meer der Theosophie folgendermaßen erklärt:
Die Evolution entwickelte die niederen Prinzipien und schuf schließlich die Gestalt des Menschen, mit einem Gehirn, das eine bessere und größere Kapazität aufwies als die jeden anderen Tieres. Dieser menschenförmige Mensch war jedoch noch kein denkender Mensch. Er benötigte das fünfte Prinzip, das Denkvermögen, das Wahrnehmungsvermögen, damit er die volle Trennung vom Tierreich herbeiführen und die Fähigkeit des Selbstbewusstseins erlangen konnte.
– S. 74
Der Intellekt des Wesens, das in diesem Moment beinahe ein Mensch war und von seiner Monade überschattet wurde, hatte deshalb einen Funken, einen Impuls nötig, um zu erwachen und sich seiner selbst bewusst zu werden.
Dieser ‘Funke’ oder erweckende Impuls wurde jenen evolvierten menschlichen Vehikeln der Monade von den ‘Söhnen des universalen Denkens’ überbracht. Sie werden in der Esoterischen Tradition die Mānasaputras oder die ‘Söhne des Denkens’ genannt. Diese Wesen, die Mānasaputras, bilden eine Hierarchie, Reihe oder Klasse von spirituellen Wesenheiten. Sie vollendeten ihre intellektuelle Evolution in einem längst vergangenen Zyklus. Die höchsten dieser Mānasaputras sind deshalb in ihrer Evolution so weit vorangeschritten, dass sie den Status von kosmischen Göttern erreicht haben. Sie sind große Bewusst-Seine, welche die Hierarchie des intellektuellen Selbstbewusstseins in unserem Universum bilden und darstellen. Als große Hierarchie oder Gruppe sind sie Mahat oder das universale Denkvermögen, gemäß H. P. Blavatskys Bezeichnung in der Geheimlehre.
Es waren die Mānasaputras oder die Söhne des kosmischen Denkens, die sozusagen den Funken, den schöpferischen Impuls überbrachten, der das Denkvermögen im menschlichen Vehikel erweckte, das inzwischen von der Monade für diesen Zweck entwickelt worden war. Dies erinnert an die bekannte griechische Legende von Prometheus, der das Feuer der Götter stahl und es den Menschen brachte. Daraufhin wurde er von Zeus zur Strafe an einen Felsen gekettet.
Dieser Prozess hat etwas mit dem Anzünden einer Kerze gemeinsam. Es kann keine Flamme entstehen, wenn der Brennstoff nicht so vorbereitet wurde, dass man die Kerze anzünden kann. Beim ‘Entflammen’ des Denkvermögens im evolvierten menschlichen Vehikel könnte man den Menschen mit einer Kerze vergleichen. Er hatte ein psychologisches Vehikel oder Instrument, das von der Monade entwickelt worden war, die ihn in langen Äonen überschattete. Auch die Naturkräfte trugen dazu bei, dass – als die Zeit reif war – der kreative ‘Lichtblitz’ durch die Mānasaputras gegeben werden konnte, um eine Flamme auflodern zu lassen, die nie mehr ausgelöscht werden kann. So wurde das, was nur der Form nach ein Mensch war, jetzt wirklich zu Manas, dem Denker. Und dieses denkende Prinzip verband die Monade mehr oder weniger direkt mit der tierischen Natur, wodurch die Evolution des Menschen enorm beschleunigt wurde.
Wie bereits gesagt wurde der Mensch zum wirklichen Menschen. Aber wodurch unterscheidet sich der Mensch vom Tier? Durch die Vernunft, das Vermögen zu denken, zu argumentieren und zu planen. Der Mensch wird nicht wie das Tier lediglich durch den Instinkt geleitet. Er ist selbstbewusst. Das Ego ist in ihm stark entwickelt, der Teil, der erkennt: ‘Ich bin ich und niemand anders. Ich bin ich selbst, nicht meine Umgebung. Ich bin getrennt von allen anderen Dingen. Ich bin imstande, diese anderen Dinge zu beeinflussen und sie meinen eigenen Zielen unterzuordnen und kann so meine Umgebung kontrollieren. So kann ich meiner Bestimmung die Form geben, die am besten zu mir passt.’
Nur der Mensch verfügt über die Kraft des selbstbewuss-ten, freien Willens. Er hat die Fähigkeit, frei zu wählen. Und diese Fähigkeit resultiert aus dem Manas, dem Ego, dem selbstbewussten Denker, den die Mānasaputras in ihm erweckten. Wenn das aber so ist, woher kommt es, dass der Mensch, zumindest gegenwärtig, die Kraft seines freien Willens über sich selbst und sein Schicksal nicht besser zum Ausdruck bringen kann? Die Widerstände, die einem freieren Gebrauch unseres Willens im Wege stehen, sind karmischer Natur und also eine Folge unseres eigenen Handelns in der Vergangenheit. Wir werden in der Ausübung unseres freien Willens nur scheinbar durch äußere Einflüsse behindert. Tatsächlich sind wir selbst und die Folgen unseres Handelns die Ursache dafür.
Die Kenntnis des karmischen Gesetzes kann wesentlich dazu beitragen, das Problem zu lösen. Manas, das Denkprinzip, ist in seinen höheren Aspekten ein Teil von dem, was wir die ‘Höhere Triade’ im Menschen nennen. Aber bevor wir mit dem Studium der beiden weiteren Prinzipien beginnen, die zu dieser höheren Triade gehören, betrachten wir zunächst einmal die gesamte zusammengesetzte Konstitution des Menschen.
Für die Beschreibung der verschiedenen Aspekte unserer siebenfachen Konstitution werden Sanskritausdrücke benützt. Dies ist notwendig, weil in den modernen Sprachen keine geeigneten Ausdrücke zur Verfügung stehen. Die westliche Wissenschaft, Religion und Philosophie haben die Kenntnis der metaphysischen und spirituellen Tatsachen des Seins seit so langer Zeit vergessen, dass die Bezeichnungen für diese höheren und niederen Bewusstseinszustände sich nicht entwickelten. Im Osten jedoch wurde die geheime Wissenschaft oder Esoterische Tradition am Leben erhalten. Deshalb gibt es im Sanskrit alle korrekten und notwendigen Bezeichnungen, um die sieben Prinzipien der menschlichen Konstitution auf einfache Art verständlich zu machen. Ein anderer Grund für die Verwendung des Sanskrit besteht darin, dass wir die Worte international verwenden können und sich dadurch lange Beschreibungen vermeiden lassen. Im folgenden Diagramm deuten die Klammern auf die gegenseitigen Zusammenhänge und einige Wechselbeziehungen hin.
Höhere Triade | { | Ātman Universales Selbst |
} | Die Monade |
Buddhi Spirituelles Selbst |
||||
Manas Denkvermögen |
} | Persönlichkeit | ||
Niedere Vierheit | { | Kāma Wunschprinzip |
||
Prāṇa Lebensprinzip |
||||
Linga-Śarīra Astralkörper |
||||
Sthūla-Śarīra Physischer Körper |
Aus diesem Diagramm können wir ersehen, dass das, was wir die Monade genannt haben, zweifältig ist – zusammengesetzt aus zwei Prinzipien, Ātman und Buddhi. Und trotzdem haben wir immer von der Monade als von einer Einheit von Bewusstsein gesprochen. Wenn man aber einmal begreift, was diese zwei Prinzipien sind, wird man auch ihre untrennbare Existenz in der menschlichen Evolution verstehen.
Das Sanskritwort Ātman bedeutet Selbst. Jedes Wesen, wie klein oder groß auch immer, ist ein Selbst. All diese vielen Myriaden von Selbsten sind aus dem einen kosmischen Selbst hervorgegangen, dem universalen Ātman oder dem kosmischen Leben, so wie Funken einer Flamme entspringen. Es gibt ein Selbst oder◊√ Ātman unseres Universums; diesem Ātman entnahm das lebenspendende Bewusstsein unseres Sonnensystems sein individuelles Ātman; und so immer weiter, die majestätische Leiter der evolvierenden Wesen hinab, bis wir zum Menschen kommen. Aus dem Ātman des Menschen sind die Funken aller Wesen in den unter uns stehenden Reichen entsprungen, auch die der Atome, Elektronen und Elementale, monadische Selbste, die letzten Endes auf das universale Ātman oder auf das Selbst des Universums zurückgehen.
An der Wurzel des Wesens des Menschen wohnt sein Ātman, das ICH BIN, sein Selbst – die Erkenntnis, dass er existiert, dass er lebt. Diese Empfindung des ICH BIN ist universal. Sie ist bei allen Wesen gleich. Sie ist universal in allem, was ist, weil das innerste spirituelle Bewusstsein eines jeden Organismus ein integraler Teil des universalen Selbstes oder Ātman ist, so wie der Tropfen ein integraler Teil des allumfassenden Ozeans ist. Jeder Tropfen ist dem Wesen und der Zusammensetzung nach jedem anderen Tropfen und dem Ozean selbst gleich.
Dieses ICH BIN ist für den Suchenden manchmal schwer zu verstehen, wenn er noch niemals darüber nachgedacht hat. Wir sind alle vertraut mit dem Ego, das eigentlich alles vergegenwärtigt, was wir von uns selbst wissen. Wir sind sozusagen durchdrungen von dem Bewusstsein, dass wir anders sind als all die anderen. Wir können vielleicht eine Ahnung davon haben, was gemeint ist, wenn wir ein sehr kleines Kind betrachten. Oder wir können es in uns selbst erfahren, wenn wir am Morgen erwachen, wenn wir uns bewusst sind, dass wir leben und uns behaglich fühlen, aber noch nicht auf die schwierigen Seiten des täglichen Lebens eingestellt sind.
Ātman, das Bewusstsein von ICH BIN in jedem von uns, ist universal und deshalb anders als das Ego oder Manas, dem die Empfindung ‘Ich bin ich’ entspringt. Dieses Ego-Bewusstsein ist in jedem Menschen verschieden, während, wie gesagt, das reine Selbstbewusstsein, die Empfindung zu leben und tätig zu sein, in allen Geschöpfen gleich ist – und zwar sowohl in menschlichen als auch in anderen Wesen. Wenn einmal dieses ‘Selbstbewusstsein’, das universalen Ursprungs ist und die Grundlage eines jeden Wesens bildet, allgemein akzeptiert wird, wird das zu wahrer spiritueller Bruderschaft führen und unsere höchsten, spirituellen Fähigkeiten zur Entfaltung bringen.
Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass Ātman, das Herz der Monade, zu weit über der menschlichen Ebene liegt, um hier direkt wirken zu können. Deshalb ist das erste Vehikel oder Gewand, womit er sich bekleidet, Buddhi. Das Wort Buddhi enthält den Gedanken des Erwachens. Die buddhische Fähigkeit im Menschen führt zu Erkenntnis, zum Schauen ‘in’ die Dinge, weil sie ihn erweckt oder sich seiner selbst bewusst macht. Etwas davon kann man bei all denjenigen beobachten, die sich allgemein um das Wohlergehen der Menschheit kümmern, die für die oft erschreckenden Umstände, in denen sich die Menschen manchmal noch befinden, ein Auge haben, und die nicht nur für ihre eigenen Belange leben. Der Mensch, der angefangen hat nachzudenken, der Fragen stellt und begonnen hat zu suchen, erwacht, besonders wenn sein Interesse für seine eigenen Probleme sich unaufhaltsam in das Interesse für die Probleme anderer verwandelt.
Buddhi als Prinzip in uns ist spirituelles Bewusstsein auf der höchsten Ebene, das auf der menschlichen Evolutionsleiter existiert. Vom universalen Standpunkt Ātmans aus betrachtet, ist Buddhi ein Gewand, ein Schleier oder Vehikel, das aus einer ursprünglichen Substanz besteht. Aber diese ‘Substanz’ ist dem Göttlichen so ähnlich, dass sie – mit unserem verhältnismäßig groben Denkvermögen betrachtet – reines Bewusstsein ist. Deshalb können wir Buddhi als spirituelles Bewusstsein umschreiben.
Im Okkulten Wörterbuch erklärt Dr. de Purucker dieses Prinzip folgendermaßen:
Buddhi ist das Prinzip oder Organ im Menschen, das ihm spirituelles Bewusstsein verleiht. Es bildet den Träger für den höchsten Teil des Menschen – für Ātman. Buddhi ist eine Fähigkeit im Menschen, die sich als Verstehen, Urteilsvermögen und Unterscheidungskraft äußert, und bildet einen untrennbaren Schleier, ein untrennbares Gewand des Ātman.
– S. 35
Der Gebrauch des Wortes ‘untrennbar’ erklärt, weshalb wir von unserem Standpunkt aus gesehen von der Monade als von einer Einheit sprechen können.
Buddhi ‘transformiert’ die Energien von Ātman und leitet sie weiter zu Manas, dem Ego. Vom Standpunkt des Ego ist Buddhi tatsächlich ein universales Prinzip. Sie ist deshalb der Sitz oder das Organ der unpersönlichen Liebe, ‘der Liebe zu allen Wesen’, die göttlich ist. Und in demselben Sinn ist Buddhi der Ursprung des menschlichen Gewissens, sein Gefühl für Rechtschaffenheit und Pflicht. Das Gewissen wurzelt in unserem Pflichtgefühl gegenüber anderen. Es ist gleichzeitig eine Empfidung für das, was richtig ist. Das Richtige ist das Universale – das, was ein jeder tun müsste, um in Übereinstimmung mit dem spirituellen Gesetz und der spirituellen Ordnung zu handeln. Das Ego ist eigensinnig – sucht sich selbst und geht seinen eigenen Weg. Buddhi befähigt uns dazu, unsere egoistischen Gefühle und Taten dem universalen Guten unterzuordnen.
Ein Studium der höheren Triade mit ihren verschiedenen Aspekten und ihrer tatsächlichen Verbindung zu unseren täglichen Problemen wäre ein ungemein wichtiger Beitrag zur Psychologie. Denn die alte Weisheit lehrt uns, wie wir die fast unbegrenzten spirituellen Kräfte, die in dieser höheren Triade existieren, finden und verwirklichen können. Sie zeigt uns, wie wir lernen können, mit diesen Kräften unsere niedere, tierische, selbstsüchtige Natur zu beherrschen, etwas, was viel nützlicher und inspirierender ist, als sich in der ‘Libido’ und anderen Nebenpfaden in den Tiefen der menschlichen Natur auszuleben. Und in dem Maße, in dem man sich in dieses Studium vertieft, lernt man den wesentlichen und wichtigen Unterschied zwischen dem spirituellen und dem persönlichen Willen kennen – eine Erkenntnis, die von unschätzbarem Wert ist. Hierauf werden wir noch näher eingehen.
Die niedere Vierheit
Die bisherigen Ausführungen betrafen die Prinzipien Ātman und Buddhi, sowie Manas, das Ego. Es folgt eine nähere Betrachtung der Seite der menschlichen Natur, mit der wir vertrauter sind – den Prinzipien, aus denen unsere niedere Vierheit zusammengesetzt ist. Diese ‘Niedere Vierheit’ besteht aus den vier Prinzipien Kāma (Wunschprinzip), Prāṇa (Lebenskraft), Linga-Śarīra (Astralkörper) und Sthūla-Śarīra (Physischer Körper). Diese vier bilden zusammen das Vehikel, worin das Ego, überschattet und geführt von Ātman-Buddhi, sich auf der Erde wiederverkörpert – oder reinkarniert.2
Kāma (Wunschprinzip)
Das Sanskritwort Kāma bedeutet Verlangen. Der erste Eindruck könnte sein, dass Kāma zu den niedersten menschlichen Eigenschaften gehört, aber das ist nicht notwendigerweise der Fall.
Kāma ist die antreibende Kraft in der Konstitution des Menschen. An sich ist sie farblos, weder gut noch schlecht. Erst der Gebrauch, den das Denkprinzip und die Seele davon machen, bestimmen die Qualität. Kāma ist der Sitz der lebendigen elektrischen Impulse, Wünsche und Bestrebungen von ihrer Energieseite aus gesehen. Gewöhnlich jedoch, obwohl es göttliches und infernalisches Kāma gibt, wird dieses Wort fast ausschließlich und zu Unrecht oft nur auf üble Begierden beschränkt.
– G. DE PURUCKER: Okkultes Wörterbuch, S. 76
In der Bhagavad-Gītā sagt Krishna, der das personifizierte Selbst des Kosmos ist, zu seinem Schüler Arjuna:
… in allen Geschöpfen bin ich das durch Moral gelenkte Verlangen …
– VII:11
Beim Durchschnittsmenschen beschränkt sich die Begierde üblicherweise auf rein persönliche Interessen, und sie ist dann auch nicht von besonders erhabener Art. Wir können die Reichweite dieses Prinzips einigermaßen verstehen, wenn wir einen Vergleich zwischen dem Verlangen von Jesus oder Buddha anstellen, die sich den Nöten der Welt in Mitleid widmeten, und den Begierden eines ‘Gangsters’. Diese Beispiele stellen selbstverständlich extreme Aspekte des menschlichen kāmischen Prinzips dar.
Beim Durchschnittsmenschen sind die Begierden weder besonders hoch, noch sehr niedrig entwickelt. Es ist das Werk der Evolution, die uns durch viele Zyklen der Erfahrung lehrt, die Qualität unserer Begierden anzuheben, denn diese Begierden haben selbstverständlich großen Einfluss auf die Entwicklung des Charakters und dadurch auch auf die Evolution. Leider nutzen wir aus Unwissenheit und Selbstsucht die vitalen Kräfte der Begierde und des Willens zu oft zugunsten des eigenen Vorteils, ohne die Rechte und das Wohlergehen anderer zu beachten. Damit schaffen wir Disharmonie, und früher oder später müssen wir die Folgen daraus erleiden. Da unser Universum auf dem Fundament der Ethik basiert, lernen wir meistens durch Leiden.
Prāṇa (Lebenskraft)
Prāṇa bedeutet Lebensprinzip – Vitalität. Es bildet das psycho-elektrische Feld, das sozusagen vom Organismus begrenzt wird, so wie die Luft in der Lunge. Prāṇa erhält die astral-physischen Organismen aller Wesen am Leben und lässt sie wachsen. Es durchdringt den Astralkörper und den physischen Körper – von der Geburt an bis zum Tod – fortwährend mit neuen Strömen vital-magnetischer Energien.
Der Tod eines Organismus wird an erster Stelle durch den andauernden Verschleiß durch die prāṇischen Energien verursacht, die ihn durchströmen und am Ende seine Zerstörung bewirken. Sowohl der Tod als auch der Schlaf werden nicht durch einen Mangel an Lebenskraft, sondern durch deren Überschuss verursacht.
Tatsächlich ist es so, dass nicht ein Mangel an Vitalität den physischen Tod und seinen Zwillingsbruder, den Schlaf, verursacht, sondern vielmehr ein Überschuss an prāṇischer Aktivität. …
Es wurde oft gesagt, dass jedes Individuum einen bestimmten begrenzten Vorrat an Vitalität besitzt, und dass, wenn dieser erschöpft ist, der Mensch sterben muss. Gemeint ist, dass der vital-astral-physische Organismus als eine zusammengesetzte Wesenheit nicht nur eine gewisse Widerstandskraft gegenüber den Strömen des prāṇischen Lebens, die durch ihn fließen, besitzt, sondern er hat auch seine eigene kohäsive Kraft, die aus den Prāṇas der einzelnen Moleküle und Atome stammt, die in ihrer Vereinigung den Körper bilden. …
… In der Tat beruht der Tod, der durch ein Übermaß an Vitalität verursacht wird, und ebenso das In-den-Schlaf-fallen des Menschen auf der Tatsache, dass die Lebensatome des Körpers einen Punkt erreicht haben, wo deren Widerstand dahinschwindet oder abnimmt wie im Schlaf. Daher kommt es, dass die Lebensatome in einem Moment als Erbauer oder Erhalter und in einem anderen als Zerstörer – in einem gewissen Sinn sogar als Erneuerer – funktionieren.
– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, III: S. 92, 93
Linga Śarīra (Astralkörper)
Der Astralkörper ist der Modellkörper oder das Muster, nach dem der materielle Körper gebildet wird. Er ist eine Art Matrize oder Gussform aus ätherischem Stoff, worin die Atome des materiellen Körpers ihren Platz finden. Üblicherweise wird er heute Astralkörper genannt.
Dies ist der allgemein gebräuchliche Ausdruck für den ‘Modellkörper’, den Linga-Śarīra. Er ist nur wenig feinstofflicher als der physische Körper und bildet in der Tat das Modell oder Gerüst, um das herum der physische Körper aufgebaut ist und aus dem der physische Körper in gewissem Sinn hervorgeht, entsprechend dem Wachstumsprozess. Er ist der Träger des Prāṇa oder der Lebenskraft und enthält daher auch alle Kräfte, die mittels des prāṇischen Stroms von den höheren Teilen der menschlichen Konstitution herabfließen. Der Astralkörper geht zeitlich dem physischen Körper voraus und bildet das Muster, nach dem der physische Körper aufs genaueste, Atom für Atom, geformt wird. In einer Hinsicht kann man den physischen Körper eine Ausscheidung, Ablagerung oder einen Niederschlag des Astralkörpers nennen. Der Astralkörper ist in gleicher Weise seinerseits nur ein Niederschlag des Aurischen Eies.
– G. DE PURUCKER, Okkultes Wörterbuch , S. 17
Dieses astrale Modell, das sozusagen von Prāṇa durchströmt wird, erhält unsere physische Identität. Die Wissenschaft hat erkannt, dass die den physischen Körper bildende Materie etwa alle sieben Jahre völlig ausgetauscht wird. Jeden Tag verlieren wir Atome, die durch andere ersetzt werden. Deshalb sind wir heute in materiellem Sinne andere Wesen als vor etwa zehn Jahren. Woher kommt es, dass ein Körper trotz dieses niemals versiegenden, ein Leben lang andauernden Stroms von aus- und eingehenden Atomen dennoch seine eigenen charakteristischen Strukturen behält? Dieses Wunder geht auf die Funktionen des Modellkörpers zurück, der innerhalb des materiellen Körpers existiert und der – Molekül um Molekül und Zelle um Zelle – seine Form bewahrt, wodurch sogar Narben, Missbildungen oder Falten bestehen bleiben. Er steuert die physische Materie, indem er die Zellen und Nervensysteme kontrolliert und jedem Element den ihm entsprechenden Platz zuweist. Er ist ein feinstofflicheres Ebenbild des physischen Körpers, zumindest von seiner äußeren Form her.
Einen weiteren Aspekt hebt W. Q. Judge hervor:
Der Astralkörper trägt die wirklichen Organe der äußeren Sinneswerkzeuge in sich. In ihm liegen die Kräfte des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und der Tastsinn. …
– Das Meer der Theosophie, S. 61
… Bei einem Menschen jedoch, der immer noch sein Bein fühlt, das ihm chirurgisch entfernt wurde, oder seine amputierten Finger noch spürt, liegt dies daran, dass die Astralglieder durch die Operation nicht betroffen wurden. Der Betroffene hat daher das Gefühl, diese Glieder befänden sich noch immer am Körper. Messer und Säuren können das Astralmodell nicht verletzen. In den ersten Stadien seines Wachstums können Gedanken und Vorstellungen jedoch wie Säuren und geschliffener Stahl wirken.
– Ebenda, S. 60
Der Astralkörper oder Linga-Śarīra besteht aus astraler Materie oder Substanz, die zum Astrallicht – oder zu Ākāśa gehört, dem dafür in der Theosphie verwendeten technischen Ausdruck. Ākāśa ist, wie alles andere auch, von siebenfältiger Natur. Seine höchsten oder innersten Ebenen sind die Heimat unserer höheren Prinzipien. Seine niederen und gröberen Bereiche umgeben und durchdringen unsere Erde, und wir nennen diesen Bereich das Astrallicht. Wir können das Astrallicht nicht sehen, weil wir die dazu notwendigen astralen Sinnesorgane nicht entwickelt haben.
Medien oder Hellseher können einen schwachen Schimmer davon wahrnehmen. Dieser sternenhaften Lichtausstrahlung verdankt es seinen Namen ‘astral’. Sensitive Menschen haben die astralen Sinne teilweise entwickelt. Aber die sogenannten Visionen der Hellseher stellen nur selten mehr dar als einen flüchtigen Blick in die niederen Bereiche des Astrallichtes. Diese Bereiche sind der Erde am nächsten und umgeben sie. Sie enthalten ein Chaos von Bildern und Einflüssen, die durch unbeherrschte und oft negative Emotionen, Gedanken und Begierden der Menschen auf und in der astralen Materie erregt werden. Daher sind diese ‘Visionen’ nicht nur trügerisch, sondern im Allgemeinen auch gefährlich.
Im Augenblick des Todes, wenn die Geist-Seele alle niederen Prinzipien ‘loslässt’, beginnen diese zu zerfallen. Der Astralkörper trennt sich dann vom physischen Körper, aber er verlässt ihn nicht, weil beide zusammen gehören. Und in dem Maße, wie der physische Körper zerfällt, geht auch der Astralkörper langsam in Auflösung über.
Das menschliche Leben auf Erden ist nur eine Station auf der Reise eines sich ständig entfaltenden bewussten Ego, des sich wiederverkörpernden Ego durch die physische Sphäre, und der Tod ist lediglich die Fortsetzung dieser Reise aus der Sphäre des irdischen Daseins in eine andere. Der physische Tod wird zu einem sehr großen Teil dadurch herbeigeführt, dass das sich entfaltende Feld des menschlichen Bewusstseins sich über das Fassungsvermögen des Körpers hinaus ausbreitet, der dieses Bewusstsein enthält. Der Körper fühlt dann die dieserart auf ihn ausgeübte Beanspruchung und altert allmählich, um schließlich wie ein abgetragenes Gewand beiseite gelegt zu werden. Kurze Zeit bevor das Ende eintritt, fangen die inneren Prinzipien der niederen Vierheit an, sich auf ihren eigenen Ebenen zu trennen, und der Körper antwortet automatisch auf diese beginnende Trennung. Dadurch tritt der physische Verfall des Alters ein. Dieser Punkt ist von großer Bedeutung, denn er zeigt, dass nicht der physische Tod die Auflösung der Verbindung der niederen Element-Prinzipien verursacht. Im Gegenteil, der Körper stirbt, weil diese niederen unsichtbaren Kräfte, Substanzen und Energien – insgesamt gesehen, das innere und kausale Leben der menschlichen Vierheit – bereits begonnen haben, sich zu trennen, und der physische Körper sich mit der Zeit natürlich und unvermeidlich anschließt.
– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, III:91
Sthūla-Śarīra (Physischer Körper)
Hinsichtlich des physischen Körpers, oder Sthūla-Śarīra, gibt es einige interessante Tatsachen, welche von der Theosophie immer gelehrt wurden, die aber auch der Wissenschaft nicht verborgen blieben. Eine dieser Tatsachen besteht darin, dass die physische Materie größtenteils aus ‘Löchern’ besteht. Würden wir die gesamte unseren scheinbar festen Körper aufbauende Materie zu einer kompakten Masse komprimieren, wäre er nicht größer als ein Stecknadelkopf!
Der Körper ist also, obschon er richtig Sthūla-Śarīra oder der ‘grobe Körper’ genannt wird, in Wirklichkeit schaumartig – leerer Raum, ungefähr wie ein Schwamm. Dies ist eines der vielen Paradoxa oder scheinbaren Gegensätze, denen wir überall in der Natur begegnen und die das Studium ihrer Prozesse so interessant machen. Je gröber eine Substanz scheint, desto schaumartiger ist sie in Wirklichkeit, und deshalb ist sie um so illusorischer.
Daraus folgt, dass die wirklichen Dinge, die unvergänglichen Dinge, für unsere Sinne nicht wahrnehmbar sind. Wir sehen nicht einmal die physische Materie, sondern nur den Teil des Lichtspektrums, das die Körper nicht absorbieren sondern reflektieren und sie so unserem physischen Auge sichtbar machen.
Der physische Körper illustriert noch eine andere fundamentale spirituelle Tatsache im Kosmos. Er ist ein geeignetes Beispiel für das Gesetz der Analogie: „Wie oben – so unten“. Mit anderen Worten, der materielle Körper, der – was seine Substanz, seinen Bau und seine Wirkungen anbelangt – dem universalen, kosmischen Leben entspringt, ist selbst ein Miniatur-Universum. Darum kann die Kenntnis der in den physischen Körpern stattfindenden Prozesse die unsichtbaren, spirituellen Welten im Lichte der archaischen Lehren der Theosophie entschleiern und illustrieren. H. P. Blavatsky sagt darüber:
Analogie ist das leitende Gesetz in der Natur, der einzig wahre Ariadnefaden, welcher uns durch die unentwirrbaren Pfade ihres Reiches zu ihren ersten und letzten Geheimnissen führen kann.
– The Secret Doctrine, II:153
Wenn wir die Funktion des Nervensystems und des Blutkreislaufes betrachten, den atomaren Aufbau der Zellen und viele andere Tatsachen, verschafft uns das Gesetz der Analogie einen wundervollen Schlüssel zum besseren Verständnis der tieferen Lehren über den Bau und die Wirkungen der unsichtbaren und ursächlichen Welten. Es mag so scheinen, als ob der Körper ein großes Hemmnis für spirituelle Erfahrung wäre, aber wenn er den Platz bekommt, der ihm zusteht, und wenn er in intelligenter Weise beherrscht und gebraucht wird, kann er seine fundamentale Rolle in unserer Evolution wahrnehmen. Der Körper passt genau zum gegenwärtigen Evolutionsstadium und verschafft uns die Gelegenheit, im menschlichen Leben täglich wichtige Lektionen der Erfahrung und Entwicklung durchzumachen. Die Beziehung zwischen physischem Körper und unserer Evolution kann man von zwei Seiten betrachten:
1) Er ist der Mittler zwischen den geistig-spirituellen Prinzipien und der physischen Ebene der Natur, in deren Bereichen wir die notwendigen Erfahrungen machen können und die daraus resultierende Entwicklung schöpfen. Ohne die vollständige Kenntnis der Natur in göttlicher, spiritueller, mentaler, emotionaler, vitaler, astraler und physischer Hinsicht könnte der Mensch niemals die vollständige Evolution all seiner Fähigkeiten erreichen.
2) Der physische Körper ermöglicht es dem eigentlichen Menschen, der menschlichen Monade, sich mit der ganzen Welt, mit allen anderen auf ihr befindlichen Geschöpfen, physisch, psychisch und mental auszutauschen. Dabei beeinflusst der eigentliche Mensch natürlich auch unmittelbar die physischen Atome des eigenen Körpers. Und dieser dynamische Einfluss unterstützt oder behindert unbewusst die Evolution der gesamten Schöpfung, und ganz besonders die der Lebensatome seines eigenen Körpers. Wir dürfen nicht vergessen, dass im Herzen eines jeden Atoms eine Geist-Seele oder Monade wohnt, die ihren Drang zur Entfaltung und zum Wachstum durch dieses Atom zum Ausdruck bringt. Die Auswirkungen des Willens und des Verlangens des Menschen auf diese sich entwickelnden Lebensatome sind ungeheuer groß und gerade darum haben wir eine besondere Verantwortung für unseren physischen Körper.
Kāma-Manas – die Persönlichkeit
Unser alltägliches Selbst, mit dem wir leben und von dem wir glauben, dass wir es durch und durch kennen, nennt man die Persönlichkeit. Aber gerade von diesem Element der Persönlichkeit wissen wir so wenig. Und dies gilt nicht nur für den gewöhnlichen Menschen, sondern auch für viele Gelehrte. Denn einige der populärsten Erklärungen der psychologischen Natur des Menschen gründen auf den Untersuchungen der niederen physiologischen Seite der menschlichen Psyche oder Seele.
Das ganze Drama des menschlichen Lebens, das im Kampf der Kräfte des Guten und Bösen in uns zum Ausdruck kommt, rankt um die Persönlichkeit. Woher kommt das? Die Antwort zeigt sich in dem Diagramm auf Seite 25. Es rührt daher, dass die Persönlichkeit dual, zweifältig, ist. Sie ist eine Zusammensetzung, die sich aus der Tatsache ergibt, dass das Denkprinzip, das denkende Ego, sich mit Kāma vermischt, unseren Wünschen und Leidenschaften. Kāma ist oft egoistisch und leidenschaftlich beschaffen. Aber dennoch kommt im Leben fast eines jeden Menschen auch höheres Kāma zum Ausdruck, und zwar dann, wenn nicht nur die persönlichen Interessen für das Verhalten und Denken maßgebend sind, sondern der Wunsch nach Linderung der menschlichen Nöte anderer an erster Stelle steht.
Kāma-Manas oder die Persönlichkeit ist das Instrument, das Vehikel, mittels dessen die Monade mit ihren spirituellen, vorwärtstreibenden Einflüssen und Energien sozusagen eine Art von ‘Fernsteuerung’ zustandebringt. Jegliche Evolution wird von dem anspornenden Einfluss und den aus der Monade stammenden Energien, die sich durch unsere weniger spirituellen Prinzipien nach unten oder nach außen ausgießen, verursacht. Sollte die Monade sich zurückziehen, wie es beim Tod geschieht, dann zerfallen die niederen Prinzipien der Konstitution und der Mensch zieht sich von der irdischen Bühne zurück.
Die sich in unserer Persönlichkeit manifestierenden Wünsche und Leidenschaften –unser kāmisches Prinzip oder unsere tierische Natur – wurden auf unserer Reise oder Pilgerschaft durch die niederen Reiche der Natur gebildet und entwickelt. Wenn wir auf der Erde reinkarnieren, Leben auf Leben, bringt sich auch dieses kāmische Prinzip wieder zum Ausdruck. Auf der anderen Seite steht unser Denkvermögen, das sich durch Äonen hindurch entwickelte und schließlich von den Mānasaputras zur Tätigkeit erweckt wurde. Aus ihm entwickeln wir Fähigkeiten wie Intuition, Willenskraft, Vorstellungskraft, Vernunft, den schöpferischen Intellekt und dergleichen, während sich gleichzeitig auch die Instinkte und Begierden des tierischen oder kāmischen Selbstes weiter entfalten. Sie entwickeln sich gerade deshalb weiter, weil sie auf dynamische Weise mit Manas verbunden sind. So sind sie heute stark in uns, auf uns selbst gerichtet und erheben ihre eigenen Forderungen. Das ist die Wurzel des seit der Erweckung des Denkprinzips tobenden Krieges zwischen den spirituellen und den tierischen Kräften in unserer Natur, wie es in so treffender Weise in der Bhagavad-Gītā zum Ausdruck gebracht wird. Das niedere, kāma-manasische Selbst treibt immer zu Leidenschaft, Kampf und Egoismus an. Das höhere manasische Ego, inspiriert durch Ātman-Buddhi, strebt durch zahllose Inkarnationen hindurch allmählich eine spirituelle Herrschaft an.
Auf diese Weise werden die niederen und materiellen Prinzipien zur Selbstentfaltung inspiriert oder angespornt und allmählich von materiellen in spirituelle Energien transformiert und weiterentwickelt. Denn das Ziel des Lebens und das Bestreben der Evolution ist es, das Sterbliche zum Unsterblichen anzuheben.
So erkennen wir, dass in unserem gegenwärtigen Evolutionsstadium die Natur des Menschen sozusagen zwischen dem Nachgeben und dem Beherrschen des Selbstes schwankt, zwischen dem Tierischen und dem Göttlichen in der menschlichen Natur. Und dieser Zustand des Individuums spiegelt sich selbstverständlich in der großen Masse wider. Der gegenwärtige Zustand unserer Welt veranschaulicht diese Situation deutlich. Einerseits werden die Völker durch Ideale des Friedens, internationale Bruderschaft und Zusammenarbeit getrieben und andererseits spielen Habgier, Unwissenheit und die laute Stimme selbstsüchtiger nationaler Interessen eine große Rolle. Gerade diese Umstände wurden von den großen Lehrern vorhergesehen, den Mahātmas, die mit Hilfe von H. P. Blavatsky die Theosophische Gesellschaft gründeten. Zur gleichen Zeit schenkten sie uns aufs Neue das Wissen, das die Geist-Seele befähigen wird, durch die höhere Natur des Menschen zu wirken, um den letztendlichen Sieg über Selbstsucht und Hass zu erringen. Die unpersönliche Liebe bringt die Genesung von allem Übel, sowohl im persönlichen Leben als auch in jeder Gemeinschaft. Mit ‘unpersönlich’ ist die selbst-vergessende Liebe gemeint.
Aber sie ist noch mehr, denn sie bedeutet Liebe für alle Wesen, wie niedrig oder wie erhaben sie auch sein mögen, ob sie uns feindselig gesinnt sind oder ob sie unseren Herzen nahestehen. Indem wir Kāma-Manas überwinden und zum Schweigen bringen – die auf uns selbst gerichtete, anspruchsvolle Persönlichkeit – entwickeln wir Verständnis, Liebe und Wissen, was uns Glück und Frieden bringt. Durch eine liebevolle Haltung werden wir besser verstehen und verzeihen und Irritation, Kritik und Verbitterung werden von uns abfallen. Was auch immer geschehen mag, wir werden einen anderen niemals belästigen oder uns herzlos benehmen, sondern stets versuchen zu helfen. Schließlich werden wir beginnen, unsere Feinde zu verstehen und ihnen zu verzeihen – was das höchste Glück bedeutet. Indem wir unsere Sympathien allmählich ausbreiten, reicht unsere Liebe weiter und umfasst nicht nur unser eigenes Land, sondern alle Völker, und so werden wir schließlich zu einer Kraft des Guten in der Welt.
In der höheren Natur des Menschen liegen tatsächlich wunderbare Kräfte verborgen – schöpferische Kräfte, wovon wir auch heute schon einen schwachen Schimmer in der intuitiven Vorstellungskraft und einem beherrschten Willen wahrnehmen. Wir erkennen sie auch in den selbstlosen Impulsen im Inneren unseres Herzens – Impulse, die uns zu großartigen humanitären Aufgaben anspornen – sowie in all den Träumen, den Visionen und dem Drang zum Spirituellen, der jetzt schon beginnt, sich in der menschlichen Rasse zu entfalten. Aber diese Samen, die zu wunderbaren Fähigkeiten heranwachsen müssen, werden und können nicht keimen, solange unsere ganze Aufmerksamkeit und all unsere Wünsche ausschließlich sachlichen Interessen, egoistischem Vergnügen und dem Versuch gewidmet sind, alle anderen zu übertrumpfen oder jemanden auszustechen. Selbstverständlich erwartet keiner, dass wir die notwendigen materiellen Interessen vernachlässigen oder ihnen entsagen; aber durch unsere innere Einstellung, etwas ändern zu wollen, können wir jede Chance nutzen, um denjenigen Aspekt Kāmas zu fördern, den wir als göttliche Begierde bezeichnen.
Der Wunsch, unsere Familie oder unsere Freunde selbstlos zu unterstützen, das Allgemeinwohl zu fördern und jenen zu helfen, die sich in Schwierigkeiten befinden oder in Not geraten sind – dieser Wunsch entspringt der spirituellen Monade im Menschen, Ātman-Buddhi. Ihr Licht wird allmählich die dunkle Seite des kāmischen Prinzips erhellen; das göttliche Kāma wird aktiv werden und das niedere Manas wird sich dereinst mit ihm vereinigen. Die Dualität wird überwunden und die zwei werden zu einem perfekten Vehikel verschmelzen, einer leuchtenden Persönlichkeit, durch die die spirituelle Monade, unser innerer Gott, seine Energien in unser menschliches Herz ausschütten kann.
Der Mensch – das Kind eines siebenfältigen Universums
Das Universum selbst hat eine siebenfältige Konstitution. Eine der wichtigsten Lehren der Theosophie ist die Erkenntnis, dass das, was wir vom wirklichen Universum wahrnehmen, nicht mehr als sein Äußeres oder sein stofflicher Aspekt ist. Die übrigen sechs Aspekte sind unsichtbar für uns. Ihre Materie ist von ätherischerer Art als die uns vertraute, mit höheren und feineren Schwingungszahlen. Wir können sie nicht wahrnehmen, weil wir die dafür notwendigen ätherischen Sinne oder feineren Wahrnehmungsorgane nicht entwickelt haben. Deshalb sind sechs Siebtel des großen Organismus von Mutter Natur für uns immer noch verborgen. Auch in der Struktur des Lichts gibt es Bereiche – wie Ultraviolett auf der einen und Infrarot auf der anderen Seite –, deren Frequenzen entweder zu hoch oder zu niedrig sind, um durch unser Sehvermögen wahrgenommen zu werden. Aber trotzdem haben sie einen großen Einfluss auf unsere Gesundheit und auf andere Bereiche in der Welt der materiellen Ursachen. Die Tatsache, dass alle Dinge durch innere, unsichtbare Kräfte und Impulse angetrieben werden, können wir sogar in der physischen Welt um uns herum erkennen. Ist das Leben und Wachstum einer Blume oder eines Baumes – die mit der Verteilung von Säften und Farbveränderungen usw. einhergehen – für uns nicht ebenso unsichtbar, abgesehen von den äußeren Wirkungen? Und wird ein Stein nicht durch die Kräfte von Anziehung und Abstoßung der Atome und Elektronen zusammengehalten, welche die unsichtbare Seite seiner Struktur bilden? Diese Tatsache, dass das physische und äußere Wesen sozusagen ‘von innen in Gang gehalten wird’, können wir ein Gesetz nennen, weil es überall in der Natur herrscht.
Diese inneren und unsichtbaren Reiche sind die ursächlichen oder schöpferischen Welten. Aus ihnen geht das physische Universum hervor. Die Natur, so wie wir sie um uns herum wahrnehmen, ist nur der physische Organismus in all seinen Aspekten, durch den die inneren Reiche der schöpferischen Evolution wirken. Aber die Natur ist viel mehr. Sie sollte eigentlich die Universalnatur genannt werden, die folgendermaßen definiert ist:
… die „Universalnatur“ . . . beinhaltet die spirituelle und materielle Natur mit all den zahllosen hierarchischen Ebenen, die dazwischen liegen, einschließlich den sichtbaren und unsichtbaren Welten, den göttlichen, spirituellen, intellektuellen, ätherischen, astralen und physischen Wesen.
– G. DE PURUCKER:The Esoteric Tradition, I:4.
Das Vorhergehende wird mit der Hilfe eines uns vertrauten Beispiels leichter verständlich. Denken wir an diejenigen, die uns am liebsten und teuersten sind. Was wir von ihnen sehen können, ist ihre physische Erscheinung, sowie ihr Tun und Lassen. Aber das ist der unwichtigste Aspekt dessen, was sie uns bedeuten. Es ist ihr komplexes inneres Selbst, das wir lieben. Wir lieben sie, weil ihr Intellekt, ihr Temperament oder ihre moralische Haltung uns fesselt. Dies alles zusammen macht den Menschen aus. Jemand, der uns bei einer ersten Bekanntschaft in körperlicher Hinsicht hässlich erschien, kann uns durch seinen noblen und menschenfreundlichen Charakter schließlich den Eindruck der Schönheit vermitteln. Und ein anderer, der uns anfangs durch äußerliche Schönheit fesselte, kann uns am Ende zuwider sein, wenn wir feststellen müssen, dass er oder sie von egoistischer und grausamer Natur ist. So ist es auch mit der Welt um uns herum. Sie besteht aus inneren Kräften und unsichtbaren schöpferischen Energien, welche die Realität bilden und deren physische Natur nichts weiter ist als das Äußerliche oder die Form.
Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen den unsichtbaren sechs Teilen der Konstitution eines Menschen und den unsichtbaren sechs Teilen der Konstitution der Natur. In beiden Fällen ist der physische Aspekt der niederste oder das siebte Prinzip – der Körper oder Sthūla-Śarīra. Genau wie wir unseren Körper der Erde entnehmen und unsere Vitalität indirekt von der physischen Sonne erhalten, entnehmen wir unsere unsichtbaren sechs Prinzipien den unsichtbaren sechs Prinzipien der Universalnatur.
‘Aber’, wird jemand vielleicht einwenden, ‘vorher wurde gesagt, dass wir all unsere Prinzipien von der Monade herleiten. Die Monade, sagten Sie uns, bringt Buddhi hervor, ihre Hülle oder ihr Kleid spirituell-intellektueller Substanz. Dann erzeugt Buddhi Manas, Manas entfaltet Kāma, und so weiter nach unten, entlang der siebenfältigen Leiter des Seins. Und nun sollte der Mensch seine Prinzipien von den sieben Prinzipien der Natur herleiten? Liegt hier nicht ein Widerspruch?’
Dies ist nicht der Fall, denn es verhält sich genauso wie beim Menschen. Was hat den größten Einfluss auf die Entwicklung des Menschen – sein angeborener Charakter oder das Milieu, in dem er geboren wurde? Am Ende müssen wir zugeben, dass – obschon die Umgebung von sehr großer Bedeutung ist – tatsächlich der Charakter als gestaltende Kraft maßgebend ist. Wäre es anders, so könnte es niemals vorkommen, dass Menschen, die in Armut oder in Elendsvierteln geboren wurden, sich zu den Spitzen des Erfolgs hocharbeiten. Der bekannte Ausdruck vom ‘Self-made-man’ verdankt seine Herkunft der Tatsache, dass die wirklich führende Kraft im Leben eines Menschen in ihm selbst liegt. Wenn diese Kraft stark genug ist, kann sie durch die Umgebung nicht ausgeschaltet werden.
Unsere eigenen charakteristischen Prinzipien entspringen unserer spirituellen Individualität, der Monade. Aber diese Prinzipien unterliegen selbstverständlich auch dem Einfluss der Prinzipien der Natur. Eine Eichel kann nur eine Eiche erzeugen. Aber die Eichel wird genährt durch Wasser, Luft und durch chemische Bestandteile des Bodens. Später nimmt sie für den Aufbau der Zellen und die Produktion von Farbe in den Blättern und Blüten die Sonnenvitalität in sich auf. Auch der Mensch, der göttliche Same des Universums, entzieht seine Nahrung den ihn umgebenden sieben Prinzipien der Natur. Der Astralkörper kann nicht von der Erde ernährt werden, sondern nur von seinen eigenen Elementen, die in den niedersten astralen Ebenen enthalten sind. So ist es entlang der ganzen Lebensleiter. Jedes Prinzip entnimmt das, wovon es erhalten wird, den entsprechenden Ebenen der unsichtbaren sechs höheren Prinzipien der Natur.
All unsere Prinzipien sind zweifältig. Nicht zweifältig in dem Sinne, dass sie aus zwei Teilen bestehen, wie eine Dose mit Deckel, sondern aus zwei Teilen, die auf die gleiche Art und Weise funktionieren wie eine elektrische Ladung, die einen positiven und einen negativen Pol hat. Jedes Prinzip hat eine energetische, das heißt eine positive Bewusstseinsseite und eine substantielle oder negative Seite. Durch letztere ist das Bewusstsein, das seine Existenz der Monade entnimmt, imstande, in den niederen Bereichen des Seins zu wirken. Die Bewusstseinsseite ist spirituelle Elektrizität, die der Lebenskraft der Monade entnommen wird. Die materielle Seite wird durch die magnetische Anziehung dieser Lebenskraft hervorgebracht – aus dem Reservoir der Lebensatome von den entsprechenden Prinzipien in der siebenfachen Natur.
Wir müssen auch bedenken, dass die Monade selbst ein wesentlicher Teil der integralen Natur ist. Sie ist eine Emanation oder Ausstrahlung des Wurzel-Bewusstseins unseres Universums, des kosmischen Selbstes, und sie bringt ihre homogene Energie durch ihr unmittelbares Vehikel, Buddhi, zum Ausdruck. So wie wir unsere physische Energie indirekt der Sonne entnehmen, so entnehmen wir unser spirituelles Leben indirekt über die Monade den spirituellen Energien der Universalnatur. Hier könnte man noch hinzufügen, dass die Sonne und alle Planeten ebenfalls siebenfältig sind.
Dieses Thema ist eines der fesselndsten aller theosophischen Lehren und ist aufs engste mit der großartigen Bestimmung des Menschen und seinen Erfahrungen und Abenteuern in den inneren Welten verknüpft. Aber es würde uns zu weit führen, wenn wir dieses Thema hier ausführlich behandeln würden. Hierzu verweisen wir den Leser auf die weiterführende theosophische Lieteratur.
Eine neue Psychologie auf der Grundlage einer sehr alten Lehre
Der Wert einer jeden Idee zeigt sich in ihrer praktischen Anwendbarkeit bei Schwierigkeiten im menschlichen Leben. Kann sie uns helfen, den Charakter zu entwickeln und zu stärken? Liefert sie einen Beitrag zu befriedigenderen menschlichen Verhältnissen, indem sie das Verständnis für unseren Mitmenschen erweitert und es dadurch ermöglicht, ihm zu helfen? Ermöglicht sie es uns, eine Situation besser zu beherrschen und unser Schicksal zu lenken? Für eine gesunde und brauchbare Psychologie ist das Wissen von und die Einsicht in die zusammengesetzte Natur eines Menschen die erste Voraussetzung.
Die Psychologie ist eine der populärsten Themen unserer Zeit. Nicht nur für Fachleute, sondern auch für die Gesellschaft im Allgemeinen ist es offensichtlich, wie groß ihre Bedeutung und ihr Einfluss in der Praxis des täglichen Lebens ist. Ausdrücke wie ‘Verkaufspsychologie’, ‘Massenpsychologie’ usw. sind klare Hinweise darauf, welche Bedeutung den Kenntnissen von den Grundprinzipien der menschlichen Natur zugemessen wird, um auf einem bestimmten Gebiet Erfolge zu erzielen. Der Gebrauch von kommerziellen und politischen Wahlparolen vielerlei Art, mit der Absicht, damit einen Kunden- oder Konsumentenkreis zu schaffen, kann hier als Beispiel dienen.
Würde ein Mensch sich nur einen Tag lang gut beobachten, dann würde er über die Vielfalt von Stimmungen, Trieben und Charakterneigungen staunen, die in all seinen Gedanken und Handlungen ans Licht kommen. Und es würde ihn gleichfalls wundern, dass er so furchtbar wenig von dem weiß, was in seinem Innersten vorgeht. Er würde sich bewusst werden, dass er fast ganz und gar der Willkür des sich fortwährend ändernden Bewusstseinsstroms ausgeliefert ist, auf dem er sich in mehr oder weniger heikler Weise treiben lässt – heikel, weil er in Unkenntnis über die Ursache oder die Bedeutung dieser Widersprüchlichkeiten in ihm selbst ist.
Dass wir zusammengesetzte Wesen sind, wird aus der beinahe vollständigen Diskontinuität der menschlichen Natur ersichtlich. Damit ist gemeint, dass der Durchschnittsmensch nicht imstande ist, über einen längeren Zeitraum eine Linie des Denkens, Fühlens und Wollens anhaltend zu verfolgen. Das deutet darauf hin, dass in seiner Konstitution mehrere widersprüchliche Elemente vorhanden sind. Diese Elemente hindern ihn daran, denselben Gedankengang oder die gleiche Gemütsverfassung über einen längeren Zeitraum beizubehalten. Es ist also verständlich, dass, wenn wir diese widersprüchlichen Elemente nicht kontrollieren können – sie nicht miteinander in Harmonie zu bringen und nicht zu lenken lernen – sie in unserem Leben immer eine wilde und ungestüme Rolle spielen werden. Aber müssen wir, um sie bezwingen zu können, nicht erst wissen, welcher Art sie sind und woher sie kommen?
Wie können wir Einblick in unsere psychische Natur gewinnen und den wirkenden Kräften Richtung geben? Hier, in dieser zweifältigen Persönlichkeit, wird der Kampf um die Evolution des menschlichen Wesens zu etwas Höherem ausgetragen. Es ist der Kampf zwischen dem Persönlichen und dem Göttlichen. Er wogt hin und her, und einmal wird die Persönlichkeit durch ihre Verbundenheit mit Kāma herabgezogen, aber dann wieder durch ihre Vereinigung mit dem höheren Manas angehoben und geläutert.
H. P. Blavatsky liefert in The Key to Theosophy [Der Schlüssel zur Theosophie] eine sehr klare und vollständige Analyse dieser dualistischen Psychologie der menschlichen Natur. Sie spricht von den Strahlen des göttlichen Denkens, die, wenn sie begrenzt werden oder inkarniert sind, als individualisierte Wesenheiten duale Eigenschaften annehmen, und zwar:
(a) … die ihnen innewohnende, essentielle Charakteristik des nach dem Himmlischen strebenden Denkvermögens (dem höheren Manas), und b) die menschliche Eigenschaft des Denkens oder des von der Vernunft beherrschten tierhaften Überlegens mit der Überlegenheit des menschlichen Gehirns, das zu Kāma tendierende niedere Manas.
– S. 184
Wir müssen diese beiden Elemente anhand des täglichen Lebens in uns selbst kennenlernen. Wir müssen lernen, wie wir die beiden durch ihre Tätigkeit in der Praxis voneinander unterscheiden und das höhere Manas in uns entwickeln können und in welcher Weise wir seinen niederen kāma-manasischen Aspekt in ein Instrument oder Vehikel umwandeln können, das vom höheren Manas benutzt werden kann. Solange wir diese Kenntnis nicht besitzen und nicht selbstbewusst anwenden können, sind wir nicht nur der Willkür unserer Gemütsverfassungen und Schwächen ausgeliefert, sondern wir werden auch auf die Stimmungen und Schwächen anderer Leute falsch reagieren.
Selbstbewusstsein bedeutet Selbsterkenntnis. Manas als der Denker hat die Fähigkeit, sich seiner selbst als eines einzelnen individuellen Wesens bewusst zu sein, das sich durch Charakter und Eigenschaften von allen anderen Wesen unterscheidet. Daraus folgt wiederum, dass wir uns unserer Beziehung zu unserer Umgebung und zu den anderen bewusst sind – was uns die anderen bedeuten und wie wir reagieren sollten.
Mit dem Selbstbewusstsein taucht zum ersten Mal der freie Wille des Menschen auf. Durch das Erkennen seiner selbst wird er sich seiner Fähigkeit bewusst, sich entwickeln zu können und seine Umstände und Beziehungen zu nutzen, um seine eigenen Wünsche und Ziele zu verwirklichen. Hier, in diesem Bereich des Selbstbewusstseins, vollzieht sich der Kampf der Dualität unserer Natur. Wenn wir das einmal erkannt haben, können wir unseren Willen entweder für die egoistischen, persönlichen Zwecke unserer niederen Natur nutzen, oder ihn dem schweigenden, aber niemals verstummenden Ruf unseres höheren Manas unterordnen. Der Kampf der menschlichen Evolution konzentriert sich auf diesen Punkt.
In dem Maße, in dem der Mensch vorwärtsschreitet, lernt er, seine niedere kāmische Natur zu beherrschen und sie in den Dienst des höheren Manas zu stellen. Sollte ihm das nicht gelingen, bedeutet dies einen Rückschritt. Wenn er seinen selbstbewussten freien Willen dazu benutzt, andere zu schädigen oder lediglich sich selbst zu begünstigen, dann schafft er Karma, das Leiden und Misserfolg mit sich bringt. Dennoch bieten ihm gerade diese Leiden und diese Misserfolge die Chance, zu lernen und sich allmählich zu entwickeln. Schließlich erlangt die Persönlichkeit nach vielen Leben die Erkenntnis, dass sie nur Frieden und Glück erwerben kann, indem sie sich mit dem höheren Manas verbindet.
Erst wenn wir diesen Punkt erreichen, lernen wir wahre Freiheit kennen. Das Wissen um die von der Theosophie gelehrte spirituelle Psychologie bringt uns zu der Überzeugung, dass der Wille erst wirklich frei sein wird, wenn er dem Wohlergehen anderer untergeordnet wird. Ein Mensch, dessen Handlungen aus egoistischen, animalischen Instinkten resultieren, ist ausschließlich auf sich selbst fixiert. Er leidet, weil er sich der Furcht, dem Neid und mancherlei Formen der persönlichen Frustrationen aussetzt – und sich dabei lediglich einbildet, frei zu sein.
In dem Maße, wie wir unseren freien Willen bewusst ausüben und auf das Wohlbefinden anderer richten, erfahren wir eine Erweiterung unseres Horizontes. Denn diese Geisteshaltung bedeutet, dass wir die Persönlichkeit auf das Licht und die Kraft des höheren Manas richten, wodurch wir unsere ganze niedere Natur dem Göttlichen unterstellen. Der Grund dafür liegt in der Natur von Buddhi und Ātman. Wie bereits erklärt, ist Ātman der Strahl des kosmischen Universalen Selbstes, das im tiefsten Innern eines jeden von uns wohnt. Es ist in uns allen identisch und deshalb die Grundlage der Universalen Bruderschaft. Ātman ist reines, göttliches Bewusstsein, das eins ist mit der universalen Quelle, aus der es entspringt.
Buddhi ist das göttliche Vehikel des Universalen Bewusstseins. Es ist eine Emanation von Ātman und deshalb besitzt Buddhi etwas von der universalen Natur Ātmans. In dem buddhischen Prinzip liegen alle Universalkräfte Ātmans eingeschlossen – unpersönliche Liebe für alle Geschöpfe, Genialität in ihrer höchsten und göttlichsten Form und Intelligenz in ihrer glänzendsten und abstraktesten Kraft.
Wenn wir darüber nachdenken, verstehen wir, dass – wenn jemand sich stärker dem höheren Manas zuwendet und auf seine Gebote der Liebe, des Erbarmens und der Hingabe zum Universalen und Wirklichen hört – er sich selbst unter den Einfluss der beseelenden Kraft des buddhischen Glanzes stellt. Diese buddhische Herrlichkeit strahlt wie eine göttliche Gegenwärtigkeit über die Natur und Tätigkeiten des höheren Manas aus. Dieses Licht ist immer anwesend. Unsere Persönlichkeit ist jedoch so oft von einem dichten Nebel der Selbstsucht und kleinlichen Eigeninteressen verdunkelt, dass die reinen Strahlen dieses buddhischen Glanzes nicht bis in das Bewusstsein vordringen können.
Aber wenn diese Nebel durch freiwillige Selbstdisziplin vertrieben werden, kann Manas sich ungehindert Buddhi zuwenden. Es wird nicht länger völlig von dem Versuch in Anspruch genommen, die ablenkenden Kämpfe von Kāma-Manas zu kontrollieren. Wenn dieser glückliche Moment gekommen ist, wird die buddhische Kraft der unpersönlichen Liebe – die Anregung des göttlichen und schaffenden Intellekts – den ganzen niederen Menschen beseelen. Unvermutete Fähigkeiten und Kräfte werden in der bislang beschränkten Persönlichkeit zur Entfaltung kommen. Fast täglich werden Friede und Glück zunehmen, ebenso wie die Fähigkeit, den Mitmenschen zu helfen und eine Stütze zu sein. Das ist der Grund, weshalb Rechtschaffenheit und Selbstlosigkeit sich buchstäblich und wahrhaftig selbst belohnen. Aus demselben Grund kann die Ausübung von Bruderschaft und die spirituelle Disziplinierung des menschlichen Willens zu einer großartigen Erweiterung des Bewusstseins führen. Die Menschen, die in dem erhabenen Licht des buddhischen Glanzes leben, sind auf dem Wege, zu Göttern in Menschengestalt zu werden. Vergleicht man dieses System der wahren spirituellen Psychologie mit anderen Systemen, dann zeigt sich schnell, wieviel tiefer der Einblick ist, den wir durch die spirituelle Psychologie von uns selbst bekommen können und wieviel mehr Licht sie auf die uns umgebende komplizierte Welt der Menschen wirft.
Der nächste Abschnitt, den wir den Fundamentals of the Esoteric Philosophy (S. 151) von G. de Purucker entnehmen, kann in diesem Zusammenhang aufschlussreich sein. Er sagt, dass das Wort Psychologie
… in unserer Zeit und in den Kreisen der westlichen Wissenschaft gewöhnlich benutzt wird, um ein mehr oder weniger dunkles, zum größten Teil von Zweifeln und Hypothesen getrübtes Studium anzudeuten, das auf Annahmen beruht, die wenig mehr sind als eine Art mentaler Physiologie, praktisch nicht mehr als das Wirken des Gehirn-Verstandes in dem niederen astral-psychischen Apparat des menschlichen Denkvermögens. Aber in unserer Philosophie wird, wie wir wissen, das Wort Psychologie als etwas ganz anderes und in edlerer Bedeutung angewandt: Wir könnten es Pneumatologie oder die Wissenschaft vom Studium des Geistes nennen, weil alle inneren Fähigkeiten und Kräfte des Menschen letzten Endes dem Geist entspringen. Doch da dieses Wort Pneumatologie ungebräuchlich ist und Verwirrung stiften könnte, bleiben wir bei dem Wort Psychologie. Wir meinen damit das Studium des inneren Menschen, das Untereinanderverbundensein seiner Prinzipien oder Energie- und Kraftzentren – das, was der Mensch in seinem Inneren in Wirklichkeit ist.
Die Theosophie bietet dieses psychologische System mit der Gewissheit und in dem Bewusstsein an, dass der Mensch – der es auf sich selbst und die Probleme des täglichen Lebens anwendet – seinen höchsten praktischen Wert entdecken wird. Es ist kein neues System. Es wurde vor vielen Jahrhunderten auf den immer existierenden und unveränderlichen Gesetzen des Universums gegründet, wovon wir Menschen – unsere Natur, Probleme und Evolution – ein untrennbarer Teil sind. Es ist ein System, das nicht auf Experimenten beruht. Es wurde von den ‘Sehern und Weisen der Jahrhunderte’ entwickelt, erprobt und so unfehlbar gemacht, wie es auf dieser Welt nur möglich ist. G. de Purucker sagt:
Die wahren Seher aber, die großen Lehrer der Menschheit, sind zuverlässige und relativ unfehlbare Führer, sofern ihre eigenen erwachten spirituellen und intellektuellen Fähigkeiten und Eigenschaften ausreichen, denn sie sind auf zwei Wegen oder Weisen in die tiefsten Geheimnisse des Geistes und der Materie vorgedrungen. Danach haben sie für ihre weniger evolvierten Gefährten des Menschengeschlechts ihr relativ unfehlbares Wissen aufgezeichnet. Die eine Weise ihres Vordringens war die Untersuchung der unauslöschlichen Aufzeichnungen des Astrallichts, welche die Darstellung der gesamten Evolution vom ersten Aufdämmern der Zeiten an enthalten. Die zweite geschieht durch Einweihung, durch die man, zumindest in den höchsten Einweihungen, dem eigenen inneren Gott gegenübertritt. … Göttliche Weisheit und alles nur mögliche menschliche Wissen sind im Bewusstsein der inneren Göttlichkeit eingehüllt. …
Es gibt also zwei Quellen der großen Kraft und Weisheit der Seher und Weisen oder höheren Mahātmas: Erstere kommt aus dem Inneren, aus der inneren Kraft und Weisheit, die während vergangener Zeitalter in vielen früheren menschlichen Inkarnationen in verschiedenen Teilen der Welt gewonnen wurde, wodurch das menschliche Ego zur selbsterkennenden Einheit mit dem inneren Gott erweckt wird. Zweitens von ‘außen’ her, wenn man so sagen darf – obwohl das Wort ‘außen’ strenger Kritik ausgesetzt ist –, durch Einweihung, verbunden mit einem sich ständig erweiternden Grad der Empfänglichkeit als Mitglied der großen Bruderschaft hoher Eingeweihter. So kommt es, dass die geheimsten Mysterien der Natur jenen in zunehmendem Maße enthüllt werden, die einmal den Zustand und die spirituelle Stufe der Mahātmas erreicht haben.’
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 1041-2
Das einzig Neue an diesem sehr alten System ist seine heutige Formulierung in menschlicher Sprache mit einigen notwendigen Anpassungen an die zeitgemäße Ausdrucksweise. Es gründet heute, wie schon seit jeher, auf der Existenz des kosmischen Gesetzes, das den Menschen, wie auch das ihn umgebende Universum, als ein siebenfältiges Wesen offenbart. Ferner zeigt dieses System uns den einzigen Weg zum Glück – Harmonie in Denken, Wort und Tat, mit dem universalen Herzen der unpersönlichen Liebe, in dem wir alle spirituell leben, uns bewegen und unser Dasein haben.
Fußnoten
1. Dieser Vorgang ist deshalb spiritueller Art. Der Unterschied zwischen diesem Vorgang und den materialistischen, darwinistischen Evolutionstheorien wird in Man in Evolution von G. de Purucker umfassend erläutert. [back]
2. Siehe Band 2 dieser Reihe: Reinkarnation. [back]
Band 3: Karma
Gertrude W. van Pelt
![Band 3: Karma](https://theosophie.info/wp-content/uploads/2024/11/TP03-300x300.jpg)
Die Lehre von Karma ist eine der Grundlehren der Theosophie. Sie lehrt uns, den Sinn des menschlichen Lebens mit seinen scheinbaren Ungerechtigkeiten zu erklären und reicht uns den Schlüssel zur Lösung vieler Lebensrätsel. Karma ist ein Sanskritwort, das ‘Handlung’ bedeutet. Es hat dieselbe Bedeutung wie das Gesetz von Ursache und Wirkung. Es ist das Gesetz der nimmer versagenden Gerechtigkeit, dessen Wirkung sich vom kleinsten denkbaren Teilchen bis hin zum unvorstellbaren, ausgedehnten kosmischen Raum erstreckt und schließt alles ein, was sich darin befindet.
Im Neuen Testament finden wir in den bekannten Worten des Paulus in seinem Brief an die Galater, VI, 7: ‘Denn was ein Mensch sät, das wird er auch ernten.’ Obschon dieser Gedanke des großen christlichen Apostels und Eingeweihten deutlich genug ist, hat man im allgemeinen die tiefe Bedeutung der Formulierung des Gesetzes der ethischen Gerechtigkeit übersehen und es nicht als Grundlage für menschliches Verhalten auf gedanklicher und spiritueller Ebene akzeptiert.
Auf der physischen Ebene dagegen erkennt man das Gesetz von Aktion und Reaktion als selbstverständlich an und betrachtet es unbewusst als unfehlbar. Das Leben würde unmöglich werden, wenn wir uns nicht darauf verlassen könnten, dass gewisse Handlungen die dazugehörigen Folgen hervorrufen. Überall sehen wir die Gesetzmäßigkeit und Ordnung sowie die fortwährende Wiederherstellung eines gestörten Gleichgewichts. Auf dem gesamten Gebiet der äußeren Natur ist dieses Gesetz wahrnehmbar, wie jede Handlung logische Folgen nach sich zieht, aber trotzdem hat ganz besonders die westliche Welt die universale Wirkung dieses Gesetzes nicht erkannt. Wir haben nicht verstanden, dass unser eigenes Leben von diesem Gesetz beherrscht wird.
Um ein umfassendes Bild vom Begriff Karma zu bekommen, ist es notwendig zu verstehen, dass der Kosmos, das Universum, eine Einheit ist, ein Organismus – der aus einer unendlichen Anzahl kleinerer Organismen zusammengesetzt ist. All die vielen Organismen existieren in einer unvorstellbaren Vielfalt von Bewusstseins- und Entwicklungsgraden, die alle von dem Einen Bewusstsein, das alles umfasst und in allem anwesend ist, zu einem Ganzen vereint werden.
Dass das Gesetz von Aktion und Reaktion, von Ursache und Wirkung, sich in dem begrenzten Bereich der lediglich materiellen Existenz so deutlich zeigt, ist nur ein oberflächlicher Beweis für das Wirken Karmas in den inneren, spirituellen und kausalen Bereichen. Normalerweise nehmen wir lediglich in der materiellen Welt wahr, dass Aktion und Reaktion dieselben Kräfte sind, aber das Auge des spirituellen Sehers erblickt hinter der materiellen Fassade dasselbe Gesetz, das dann eine viel dynamischere Wirkung hat. In ihrem Buch The Key to Theosophy [Der Schlüssel zur Theosophie] schreibt H. P. Blavatsky folgendermaßen über Karma: “… das Grundgesetz im Universum, die Quelle, der Ursprung, die Basis aller anderen Gesetze, die in der Natur existieren. Karma ist das niemals irrende Gesetz, das auf den physischen, mentalen und spirituellen Ebenen des Seins die Wirkung der Ursache ausgleicht. Da vom Größten bis zum Kleinsten keine Ursache ohne entsprechende Wirkung bleibt, von einer kosmischen Störung bis hin zur Bewegung einer Hand, und da Gleiches Gleiches bewirkt, ist Karma das unsichtbare und unbekannte Gesetz, das jede Folge weise, intelligent und gerecht an ihre Ursache anpasst und zum Verursacher zurückführt.’
– Der Schlüssel zur Theosophie, S. 201
Theosophische Perspektiven
Band 3: Karma – Das Gesetz von Ursache und Wirkung
Frei überarbeitet nach Gertrude W. van Pelt
© 2000 Theosophischer Verlag der Stiftung der Theosophischen Gesellschaft Pasadena, Eberdingen
Der Weg des Wachstums ist kein schwieriger Weg. Er wird ein ‘steiler und dorniger Pfad’ genannt, der es aber nur so für den egoistischen, habgierigen, leidenschaftlichen, niederen Menschen ist. Der Weg des Geistes ist der Weg des Lichts, des Friedens, der Hoffnung. Er ist der Weg zur Sonne. Es ist ein wunderbares Gefühl, daß wir göttlichen Ursprungs sind und unsere Bestimmung in unseren Händen halten, daß im Herzen von uns allen ein Gott lebt, und daß wir die mystische Lebensleiter höher und höher klettern können. Dabei erweitern wir ständig unser Bewußtsein und das Gebiet unserer Tätigkeiten von einem Planeten zu einem Sonnensystem, von einem Sonnensystem zu einer Galaxie, von einer Galaxie zu einem Universum und von einem Universum zu anderen Kombinationen von Universen. Wir wachsen stets und erweitern endlos unser Bewußtsein, unsere Kraft, Weisheit und Liebe.
– Gottfried von Purucker, Quelle des Okkultismus, Band 3, S. 80 f.
Einleitung
Die Lehre von Karma ist eine der Grundlehren der Theosophie. Sie lehrt uns, den Sinn des menschlichen Lebens mit seinen scheinbaren Ungerechtigkeiten zu erklären und reicht uns den Schlüssel zur Lösung vieler Lebensrätsel. Karma ist ein Sanskritwort, das ‘Handlung’ bedeutet. Es hat dieselbe Bedeutung wie das Gesetz von Ursache und Wirkung. Es ist das Gesetz der nimmer versagenden Gerechtigkeit, dessen Wirkung sich vom kleinsten denkbaren Teilchen bis hin zum unvorstellbaren, ausgedehnten kosmischen Raum erstreckt und schließt alles ein, was sich darin befindet. Karma ist ein Begriff, dem wir heutzutage in der Literatur häufig begegnen; er wird oftmals in Filmen und Theaterstücken verwendet und nicht selten ist er Diskussionsgegenstand in Rundfunk und Fernsehen.
Im Neuen Testament finden wir in den bekannten Worten des Paulus in seinem Brief an die Galater, VI, 7: ‘Denn was ein Mensch sät, das wird er auch ernten.’ Obschon dieser Gedanke des großen christlichen Apostels und Eingeweihten deutlich genug ist, hat man im allgemeinen die tiefe Bedeutung der Formulierung des Gesetzes der ethischen Gerechtigkeit übersehen und es nicht als Grundlage für menschliches Verhalten auf gedanklicher und spiritueller Ebene akzeptiert. Auf der physischen Ebene dagegen erkennt man das Gesetz von Aktion und Reaktion als selbstverständlich an und betrachtet es unbewußt als unfehlbar. Das Leben würde unmöglich werden, wenn wir uns nicht darauf verlassen könnten, daß gewisse Handlungen die dazugehörigen Folgen hervorrufen. Überall sehen wir die Gesetzmäßigkeit und Ordnung sowie die fortwährende Wiederherstellung eines gestörten Gleichgewichts. Auf dem gesamten Gebiet der äußeren Natur ist dieses Gesetz wahrnehmbar, wie jede Handlung logische Folgen nach sich zieht, aber trotzdem hat ganz besonders die westliche Welt die universale Wirkung dieses Gesetzes nicht erkannt. Wir haben nicht verstanden, daß unser eigenes Leben von diesem Gesetz beherrscht wird.
Bei wissenschaftlichen Untersuchungen wurde auf der physischen Ebene der Zusammenhang von Ursache und Wirkung mit äußerster Sorgfalt erfaßt; das Studium dieser Gesetzmäßigkeit ermöglichte es, daß wir bestimmte Resultate voraussehen und uns unbedingt darauf verlassen können. Durch genaue Beobachtungen der Transformationen in der Natur, wobei über jedes, auch das kleinste Energieteilchen, Rechenschaft abgelegt werden mußte, kam man zu der Formulierung des ‘Energieerhaltungssatzes’. Wenn dieser auch nur teilweise richtig ist, bedeutet das, daß die materielle Welt von einem zuverlässigen Gesetz regiert wird. Aber jenseits der Grenzlinie, die von unseren normalen stofflichen Sinnen nicht überschritten werden kann, herrscht angeblich das Chaos, blinder Zufall, und man bedient sich für die Beschreibung dieser Zustände Begriffen wie ‘ein zufälliges Zusammentreffen von Atomen’. Schließlich kam man zu der sonderbaren Schlußfolgerung, daß der menschliche Verstand, der die materiellen Reaktionen so sorgfältig beobachtet und zu verstehen versucht, selbst nichts anderes ist als ein Produkt von dem, was er studiert!
Aber dieser Alptraum gehört zum größten Teil der Vergangenheit an, denn manche prominente Wissenschaftler haben bereits erklärt, daß das Grundprinzip im All eher ‘Geist-Substanz’ oder Bewußtsein ist und weniger Materie.1 Weil dem Menschen eine wirkliche Lebensphilosophie fehlt, wurden nur die Wirkungen untersucht, und man versuchte, mit ihrer Hilfe Rückschlüsse auf die Ursachen zu ziehen, was eine schwierige, ja fast unmögliche Aufgabe ist. Um die Wirkungen, die wir in der Welt auf allen Ebenen wahrnehmen, richtig interpretieren zu können, müssen wir die Ursachen kennenlernen.
Um ein richtiges Bild vom Begriff Karma zu bekommen, ist es notwendig zu verstehen, daß der Kosmos, das Universum, eine Einheit ist, ein Organismus – der aus einer unendlichen Anzahl kleinerer Organismen zusammengesetzt ist. All die vielen Organismen existieren in einer unvorstellbaren Vielfalt von Bewußtseins- und Entwicklungsgraden, die alle von dem Einen Bewußtsein, das alles umfaßt und in allem anwesend ist, zu einem Ganzen vereint werden. Dieser erhabene Gedanke wird durch den Menschen veranschaulicht, der selbst ein Universum darstellt, einen Kosmos im kleinen. Ist er nicht aus einer beinahe unendlich großen Zahl von Lebens- oder Bewußtseinszentren zusammengesetzt – Atomen, Molekülen, Zellen, Organen, Nervenknoten und so weiter – worüber das Bewußtsein des Menschen steht, das alle Teile durchdringt, vereint und leitet? Und so, wie eine Wunde am kleinen Finger vom ganzen Körper gespürt wird, so hat ein Gedanke des Hasses oder eine schmerzliche mentale Erfahrung ihre Wirkung auf den größeren kosmischen Organismus. Daß das Gesetz von Aktion und Reaktion, von Ursache und Wirkung, sich in dem begrenzten Bereich der lediglich materiellen Existenz so deutlich zeigt, ist nur ein oberflächlicher Beweis für das Wirken Karmas in den inneren, spirituellen und kausalen Bereichen. Normalerweise nehmen wir lediglich in der materiellen Welt wahr, daß Aktion und Reaktion dieselben Kräfte sind, aber das Auge des spirituellen Sehers erblickt hinter der materiellen Fassade dasselbe Gesetz, das dann eine viel dynamischere Wirkung hat. In ihrem Buch The Key to Theosophie [Der Schlüssel zur Theosophie] schreibt H. P. Blavatsky folgendermaßen über Karma:
“… das Grundgesetz im Universum, die Quelle, der Ursprung, die Basis aller anderen Gesetze, die in der Natur existieren. Karma ist das niemals irrende Gesetz, das auf den physischen, mentalen und spirituellen Ebenen des Seins die Wirkung der Ursache ausgleicht. Da vom Größten bis zum Kleinsten keine Ursache ohne entsprechende Wirkung bleibt, von einer kosmischen Störung bis hin zur Bewegung einer Hand, und da Gleiches Gleiches bewirkt, ist Karma das unsichtbare und unbekannte Gesetz, das jede Folge weise, intelligent und gerecht an ihre Ursache anpaßt und zum Verursacher zurückführt.’
–Der Schlüssel zur Theosophie, S. 201 [Übersetzung aus dem Englischen]
Hieraus geht deutlich hervor, daß Karma ein Grundgesetz des Universums ist, weil jedes Wesen ein Teil davon ist. Jeder Gedanke und jede Handlung beeinflussen jedes andere Wesen, je nach dem Ausmaß der verwendeten Energie, was unvermeidlich Rückwirkungen auf denjenigen hat, der den Gedanken aussandte oder die Handlung ausführte.
Auch eine Tat, die nur erwogen, aus einem beliebigen Grund aber nicht ausgeführt wird, hat ihre Wirkung, denn Gedanken und Begierden sind Energien, die um so realer und stärker werden, je näher sie der Verwirklichung kommen. Wenn jemand einem anderen Menschen gegenüber Gefühle des Hasses und böse Pläne hegt, und sie dann – aus welchem Grund auch immer – nicht ausführt, so wendet der dunkle Strom sich gegen seinen Erzeuger, welcher die auf das Böse gerichtete Energie erzeugt hat. Es ist klar, daß diese Kraft – zwar in materieller Hinsicht ohne Wirkung – jedoch in der Natur des Erzeugers wie ein Gift wirkt und seinen Charakter nachteilig beeinflußt. Der Prozeß, der dafür notwendig ist, den angerichteten Schaden wieder gutzumachen, wird gewiß schmerzhaft sein.
Die Lehre der Reinkarnation steht hiermit in engem Zusammenhang. Sie hat die Wiedergeburt des spirituellen Teils des Menschen auf der Erde zum Inhalt. Bei jeder neuen Geburt oder Reinkarnation bekommt der Mensch einen neuen Körper, der das karmische Resultat der Gedanken und Handlungen des vorausgegangenen Lebens ist.2 Das gleiche gilt für seine Umgebung und die Umstände, in welche er hineingeboren wird. Sie sind die unvermeidliche Folge von dem, wonach er sich sehnte, wofür er arbeitete und worin er versagte. Indem er in Leben um Leben auf der Erde die Folgen dessen erfährt, was er selbst in der Vergangenheit verursachte, lernt er allmählich seine Kräfte und Fähigkeiten zu beherrschen und zu entwickeln, und beginnt, sein eigenes Schicksal neu zu gestalten – er nimmt seine Evolution in die eigene Hand. Dieser Vorgang hat die selbstgesteuerte Evolution zur Folge. Sie wäre nicht vorstellbar, wenn wir, was unseren Charakter und unsere Umgebung anbelangt, nicht das ernten würden, was wir an Gedanken, Wünschen und Taten in vorigen Leben gesät haben. Man pflückt keine ‘Trauben von Dornen oder Feigen von Disteln’, und man sät auch nicht an der einen Stelle und erntet an einer anderen. In einem zukünftigen Leben auf der Erde werden diejenigen, die Bande der Liebe oder des Hasses miteinander geschmiedet haben, sich wieder begegnen und die Gelegenheit bekommen, wiedergutzumachen, was eventuell verbrochen wurde. Denn der Haß ist eine ebenso dynamische und magnetische Kraft wie auch die Liebe. Welche Energien auch immer in Bewegung gesetzt werden, eines Tages werden sie ihre Auswirkung haben und das Gleichgewicht oder die Harmonie wiederherstellen. Wir ahnen kaum, mit welchen dynamischen Kräften wir in diesem magnetischen Ozean des Lebens, worin wir uns befinden, spielen. Aktion und Reaktion, Ursache und Wirkung, Energie und was daraus hervorgeht, bringen nicht nur in der äußerlichen Welt der materiellen Wirkungen Gleichgewicht, sondern auch in den inneren, spirituellen und kausalen Welten, in welchen moralische und ethische Kräfte mit mathematischer Genauigkeit wirken. Diese majestätische Lehre von Karma, dieses barmherzige Gesetz, ist unser Lehrer, unser Freund und unser Retter.
Ist Karma eine blinde Kraft?
Es wurde bereits gesagt, daß wir das Universum als eine organische Einheit betrachten müssen, wenn wir Karma verstehen wollen. Wenn dies nicht der Fall wäre, dann könnten seine unterschiedlichen Bestandteile sich nicht gegenseitig beeinflussen. Nehmen wir als Beispiel wieder den menschlichen Körper. Darin zirkulieren durch ein System von Nerven, Blutgefäßen und anderen Wegen elektro-vitale Kräfte, welche jedes Organ, jede Zelle und jedes Atom miteinander verbinden. Ein Fuß rutscht aus, und sofort arbeiten die Muskeln, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Wenn etwas ins Auge gerät, schließt es sich sofort. Die Reaktion ist perfekt, weil der Körper ein gesamter Organismus ist. Es ist wichtig, sich dessen bewußt zu sein, daß jede Zelle in diesem Organismus ein individuelles Leben ist, das von einem höheren Zentrum beherrscht wird. Im Fall eines Muskels arbeiten beispielsweise seine sämtlichen Zellen zusammen, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzeugen, nämlich die Kontraktion oder die Muskelkraft, und das trifft auch für die Organe zu. So stehen die Zellen stufenweise unter der Kontrolle eines stets höher entwickelten Zentrums bis hinauf zum Gehirn und durch dieses Organ bis hin zu einem unsichtbaren Intelligenzzentrum, das alle Funktionen dieses wunderbaren Organismus vereint und koordiniert und zu einem Organismus macht. Der Körper selbst ist wieder Teil eines größeren Organismus, des Organismus, den alle Menschen gemeinsam bilden. Sie formen zusammen die Menschheit. Darüber befinden sich zahllose Scharen von Wesen in steigendem Entwicklungsgrad, die alle miteinander verbunden sind, die Verantwortung tragen für die unter ihnen stehenden Scharen und wiederum selbst von den höheren Graden unterstützt werden. Über dem Menschen befinden sich Wesen, die zu den Göttern hinaufreichen und noch höher, Super-Götter, Planetengeister, Herrscher über Sonnensysteme und darüber wieder andere, die Gruppen von Sonnensystemen zusammenhalten; immer höher bis zu einem Herrscher über das Universum und noch weiter aufwärts bis zu TAT, dem UNBEKANNTEN, das hinter allen Manifestationen steht. All diese unendlichen Abstufungen von Wesen sind durch Lebensströme verbunden, wie ein Nervensystem, wohindurch sich unentwegt die Lebenskräfte bewegen. Und dieses mächtige Wesen erfüllt den gesamten Raum, ist praktisch der Raum selbst. Wir können auch sagen, daß der Raum aus bewußten Wesen unendlicher Vielfalt besteht, die alle miteinander verwoben und voneinander abhängig sind.
Diese Gedanken werden vielleicht von vielen Menschen, die nicht damit vertraut sind, als fremd empfunden, aber wenn wir intensiv darüber nachdenken, wird uns allmählich klar, daß das Universum nie zusammenhalten könnte, wenn es keine organische Einheit wäre. Chaos würde unter den Himmelskörpern herrschen – die in einem Ozean von Ether zu treiben scheinen, gäbe es nicht die erhabene Ordnung und Harmonie, auf die wir uns verlassen und der wir vertrauen, Körper, welche tatsächlich göttliche Wesen sind. In der Tat ist das Universum das, was auch der Name besagt, eine Einheit – und genau das meinen wir, wenn wir sagen, daß Bruderschaft eine Tatsache in der Natur ist. Diese Identität von Ursprung und Charakter, dieses ‘Eine im Vielen’ und ‘das Viele im Einen’ macht die Wechselwirkung zwischen all den Teilen des großen Ganzen nicht nur möglich, sondern unvermeidlich.
G. de Purucker drückt dies in seinen Fundamentals of Esoteric Philosophy, S. 35 (engl.) folgendermaßen aus:
‘Wenn der Mensch erkennt, daß er mit allem eins ist, was ist, innerlich und äußerlich, hoch und niedrig; daß er eins mit ihnen ist, nicht nur wie die Mitglieder einer Gemeinschaft eins sind, nicht nur wie die Einzelwesen einer Armee eins sind, sondern wie die Moleküle unseres eigenen Fleisches, wie die Atome der Moleküle, wie die Elektronen der Atome eine Einheit bilden – nicht nur eine Verbindung, sondern eine spirituelle Einheit – dann sieht er die Wahrheit.’
Wir sehen, daß gegenseitige Abhängigkeit ein fundamentales Prinzip im Universum ist, und wir werden entdecken, daß dieses Grundprinzip in allen Einzelteilen des universalen Organismus wirksam ist. Wir haben dies am menschlichen Körper gezeigt. Das Atom, das Sonnensystem, die Milchstraße, alle zeigen in ihrer Struktur und ihren Wirkungen die fundamentale Wirklichkeit von Harmonie und gegenseitiger Abhängigkeit als dem zugrundeliegenden und regulierenden Prinzip in allem Leben auf. Jede Handlung, jede Anstrengung, sei diese physisch, mental oder moralisch, hat ihren gebührenden Einfluß auf diese fundamentale Harmonie, auf dieses Gleichgewicht und diese gegenseitige Abhängigkeit. Selbstsüchtige Gedanken oder Taten stören die Harmonie und verursachen Leiden in der nahen oder fernen Zukunft. Die Enttäuschungen, die wir im Leben erleiden und der Kampf, den wir führen müssen, und zwar oft unter ungünstigen Verhältnissen, sind die direkte Folge unseres Handelns in diesem oder einem vorigen Leben.
Über die Frage, warum es Leiden gibt, haben wir alle unterschiedliche Vorstellungen; die Natur kennt jedoch keine wohltätigere Methode, uns auf unsere Begrenzungen aufmerksam zu machen oder auf das Unrecht, das wir begehen, als daß sie uns ermöglicht, die genauen Wirkungen unserer törichten und selbstsüchtigen Handlungen zu erleiden – wie wir auch bis zum letzten Jota und i-Tüpfelchen aus den Resultaten jedes wirklich uneigennützigen Gedankens und jeder wirklich selbstlosen Tat Nutzen ziehen. Dieser ganze Regulierungsvorgang charakterisiert die selbstlose Seite der Natur, die ebenso unpersönlich handelt und reagiert wie Sonne und Regen.
Das unsterbliche Element in uns ist die Quelle unserer höchsten Inspiration und Stärke, denn es birgt die Weisheit und Erkenntnis unserer gesamten Vergangenheit in sich, die unzerstörbare Aufzeichnung unserer Leiden und Inspirationen, unserer Hoffnungen und Träume. Es registriert all unsere Gedanken und Handlungen – und diesen Ursachen, die heute, gestern und in vergangenen Leben erzeugt wurden, entspringen die Wirkungen.
Für das kosmische Buch des Schicksals existiert daher kein schriftführender Engel, der göttlichen Lohn oder höllische Bestrafung zuteilte. Der Mensch selbst ist es, der seine Vergangenheit eingeschrieben hat, der seine Gegenwart lesen und deuten muß und dabei seine Zukunft gestaltet.
– JAMES A. LONG, Bewußtsein ohne Grenzen, S. 18-19
Zwar wird über Karma gesprochen wie über ein Gesetz, es gibt aber keinen Gesetzgeber, kein beherrschendes Wesen, das dieses oder jenes Dekret erläßt. Vielmehr ist Karma eine Eigenschaft, welche der Natur der Dinge innewohnt. Die alte Lehre besagt, daß jede Handlung das Ergebnis einer früheren Ursache ist und selbst wieder die Ursache für eine zukünftige Handlung wird, und so weiter. Diese dauernde Bewegung ist nicht das Resultat von blinden Kräften, sondern ein lebendiger Strom von Veränderungen, die ihren Ursprung in Gedanken, Taten, Emotionen und Gefühlen haben, in Bestrebungen und Begierden aus all den Leben, die zusammen das Universum bilden und es sind.
Wir wiederholen, es gibt keinen Gesetzgeber und dennoch könnten wir sagen, daß es karmische Vermittler gibt. Wer sind sie? Es sind die großen und weisen Wesen, die bewußt ihren Platz im Universum gefunden haben; die so weit evolviert sind, daß man sie in Bezug auf eine bestimmte Stufe oder Ebene als vollkommen bezeichnen kann, und die darum auf dieser Ebene in Harmonie mit dem Universalgesetz arbeiten. Über ihnen gibt es wieder andere und so geht es weiter, ad infinitum.
Es ist selbstverständlich, daß es in diesem geordneten, komplizierten Universum einen Plan gibt, einen Sinn, und daß jede Einheit, die ihr Dasein im Universum hat, ein Teil des Planes ist. Wenn also die Harmonie irgendwo von unentwickelten, lernenden Wesen gestört wird, wirkt eine alles überragende Kraft, die sich der Wiederherstellung der Harmonie widmet. Die Wirkung Karmas ist immer darauf ausgerichtet, die Harmonie wiederherzustellen, aber weil jede Veränderung aus dem Bewußtsein hervorgeht und das Universum nichts anderes ist als verkörpertes Bewußtsein, werden die karmischen Begleichungen letzten Endes von bewußten Wesen hervorgebracht, die auf ihrer Tätigkeitsebene die Gerechtigkeit verkörpern. Der Herrscher über einen Planeten zum Beispiel erfüllt diese Rolle, weil er die Stufe in der Evolution erreicht hat, wo er absolute Kenntnis von allem besitzt, was zu diesem Planeten gehört. Verglichen mit einer höheren Ebene ist er ein Lehrling, aber für die Ebene unter ihm ist er vollkommen. Sein Wissen von dieser Ebene ist eine Art Intuition oder sofortige Einsicht und seine Führung muß mit der Gerechtigkeit und dem göttlichen Plan übereinstimmen. Man sagt, daß die Götter niemals in Karma eingreifen. Sie könnten es auch nicht. Lernende Wesen müssen die Freiheit haben, ihr eigenes Schicksal zu gestalten, was bedeutet, daß ihre Fehler auf sie selbst zurückfallen, denn nur auf diese Weise können sie lernen. Die Menschen bestimmen ihr Schicksal selbst, indem sie aus den verschiedenen Alternativen, die das Leben bietet, wählen, während karmische Vermittler das ausführen, wozu der Mensch sich entschieden hat.
Diejenigen aber, die zu einer höheren Ebene gehören, führen, beschützen und helfen ihren jüngeren Brüdern bei ihrer Evolution. Auf der langen Lebensleiter steht der Höhere zum Niedrigeren wie Eltern zu ihrem Kind. Sie leben, um zu inspirieren, um ihren Nachkömmlingen zu dienen, und in späteren höheren Stadien der Evolution der Menschheit wird diese Verwandtschaft erkannt werden. Selbst die Mahatmas, obgleich sie unterhalb der Ebene der Götter stehen und daher noch Menschen sind, sind im Vergleich zu uns vollkommen. Sie wenden sich nach uns um, um uns zu helfen, wir sind uns dessen ebensowenig bewußt, wie das Kleinkind der wachsamen Fürsorge der Mutter. So wird das Universum durch ein Netz des Mitleids zusammengehalten.
Könntest du göttliches MITLEID austilgen? Mitleid ist kein Attribut. ES ist das GESETZ der Gesetze – ist ewige Harmonie, ALAYAS SELBST; eine uferlose, universale Essenz, das Licht immerwährenden Rechts, die Folgerichtigkeit aller Dinge, das GESETZ ewiger Liebe. Je mehr du eins mit ihm wirst, je mehr du in seinem Sein aufgehst, je mehr sich deine Seele mit dem was ist vereinigt, desto mehr wirst du selbst ABSOLUTES MITLEID werden.
– H. P. BLAVATSKY, Die Stimme der Stille, S. 93
Wir sind unser eigenes Karma
Säe eine Tat, und du wirst eine Gewohnheit ernten. Säe eine Gewohnheit, und du wirst ein Schicksal ernten, weil Gewohnheiten den Charakter aufbauen. Dies ist die Reihenfolge: eine Tat, eine Gewohnheit, ein Charakter, ein Schicksal. Du bist der Schöpfer deiner selbst. Wozu du dich jetzt machst, das wirst du in der Zukunft sein. Was du jetzt bist, eben dazu hast du dich in der Vergangenheit gemacht. Was du säst, das wirst du ernten.
– G. DE PURUCKER, Goldene Regeln der Esoterik, S. 114
Es ist eine der Lehren der Weisheitsreligion, daß jedes Atom, da es ein untrennbarer Teil des Universums ist, in sich selbst alle Entwicklungsmöglichkeiten dieses Universums birgt, ebenso wie im Samenkorn der zukünftige Baum eingeschlossen ist. Daher wird jedes Atom mit der Zeit ein Mensch werden, danach ein Gott, dann wird es noch höhere Stufen des göttlichen Lebens erreichen.
Es ist klar, daß im Falle des Menschen diese Möglichkeiten bis zum menschlichen Stadium entwickelt sind, wo die Verantwortung für das Schaffen des persönlichen Karmas beginnt. Von diesem Punkt an wird der mit Verstand begabte Mensch sein eigenes Schicksal bestimmen. In jener frühen Phase, bevor die Menschheit die lange Pilgerfahrt zu einer höheren Ebene begonnen hatte, wurde sie über das Ziel des Lebens von großen Lehrern unterrichtet. Seitdem hat der Mensch viele Male in unterschiedlichen Rassen und Zivilisationen gelebt. Niemals fehlten ihm Hilfe oder Licht, um den Weg zu finden. Er kann auf die Stimme seines Gewissens hören; die Folgen seiner guten und schlechten Taten sind die Lektionen für die Zukunft; er besitzt Verstand, um die Dinge zu interpretieren und einen freien Willen, um zu wählen. Deshalb kann man sagen, daß der Mensch sich selbst geschaffen hat und sein eigenes Karma ist.
Das zuletzt Gesagte beinhaltet, daß jede Tat und jeder Gedanke den Charakter verändert. Wir verändern uns fortwährend. Nichts bleibt auch nur für einen Moment gleich, so daß der Mensch deshalb fortwährend das Resultat, die Frucht von all seinen Gedanken, Emotionen und Handlungen ist, je nachdem, ob er seinen Willen gebraucht oder nicht. Er ist stets sein eigener Biograph, er ist der große Künstler, der die Werkzeuge für das Schmieden seiner Zukunft in seinen eigenen Händen hält, und er muß diese gerade so lange gebrauchen, bis das Äußere zu einem würdevollen Tempel für den inneren Gott wird. Das Leben ist in der Tat eine große Kunst.
Jeder Augenblick kann daher als ein neuer Anfang betrachtet werden, und es ist klar, daß man sich nur von dem Punkt an, den man erreicht hat, weiterentwickeln oder wachsen kann. Ganz gleich, welche Kraft oder Anschauung wir erworben haben, sie kann uns nicht mehr genommen werden, und was wir uns an überflüssigem Ballast, verkehrten Gewohnheiten oder minderwertigen Eigenschaften anerzogen haben, kann nur durch den Einsatz des Willens wieder verschwinden. Diese Eigenschaften wurden zu einem Teil von uns und keine von außen kommende Kraft kann sie durch magische Mittel aus dem Charakter verbannen. Aber die Helfer der Menschheit versuchten in jedem Zeitalter, den Kämpfer im Herzen eines jeden vom Weg abgekommenen Pilgers zu erwecken. Wenn dieses Erwachen stattfindet, ändert sich der Einfluß von Karma. Man lenkt seine Aufmerksamkeit auf ein anderes Lebensziel, so daß sich allmählich konstruktive Kräfte entwickeln, welche die alten zerstörerischen Kräfte verwandeln.
Wir müssen den bereits erweckten Kräften entgegentreten, aber wir sind dann in der Lage, dies mit Mut und Verständnis zu tun, ausgestattet mit einer neuen Rüstung, welche sie nicht durchdringen können, und die vielleicht eine gleich starke, entgegengesetzt gerichtete Kraft besitzt, welche die negativen Kräfte neutralisiert. Labile Charaktere bieten Karma einen schwachen Brennpunkt. Sie nehmen die Dinge leicht, lassen sich auf dem Lebensstrom treiben, genießen und leiden, ohne nach dem Warum zu fragen und verlassen ihren Körper ebenso, wie sie in ihn eintraten.
Aber das geht nicht immer so weiter. In jedem Menschenleben ereignen sich Dinge, manchmal nur kleine Ereignisse, die wachrütteln, meistens Dinge, die Kummer und Schmerz verursachen und die wir zur dunklen Seite des Lebens rechnen. Wenn wir sie nicht allein als etwas Negatives erdulden, sondern sie so akzeptieren wie sie sich ereignen und versuchen, aus allen Umständen das Beste zu machen, werden wir lernen und wachsen. Anstatt die Dinge passiv zu betrachten, erachten wir dann alles, was uns widerfährt, als ein Mittel, um auf dem Weg, den wir alle gehen müssen, einen Schritt vorwärts zu tun. Es reizt uns zur Aktivität, und wenn wir uns nicht wehren oder uns willenlos führen lassen, sondern mit der Natur zusammenarbeiten, die versucht, uns zur Entwicklung anzuspornen, dann geben wir unserem Leben eine Wendung, die Aussicht auf eine größere Zukunft bietet. Die Vergangenheit entscheidet über zukünftige Ereignisse. Möglicherweise werden sie uns ein Gefühl der Freiheit bringen, tiefere Sympathien, neue Freunde und neue Gelegenheiten; vielleicht aber werden Unglück, Leiden oder Feinde aus der geheimnisvollen Vergangenheit hervorgerufen; denn keiner von uns konnte Zusammenstöße mit dem Gesetz vermeiden. Doch das alles dient nur dazu, den Weg frei zu machen. Eines Tages wird diese selbstgeleitete Evolution zu großer Freiheit, zu wunderbaren Möglichkeiten und der Freundschaft mit jenen Großen führen, die gesiegt haben.
Wir stehen fortwährend am Rande großer Möglichkeiten und entscheidender Momente; aber anstatt diese Gelegenheiten zu ergreifen und zu einer tieferen Einsicht und zu einem erweiterten spirituellen Leben voranzuschreiten, schrecken wir zurück, zögern wir aus Scheu – und so verlieren wir sie alle. Die Gegenwart ist ein außergewöhnlicher Zyklus, und wir werden den gegenwärtigen Gelegenheiten in diesem Leben niemals wieder begegnen …
Fürchten Sie nichts, denn jeder erneute Versuch erhebt alle früheren Fehlschläge zu Lektionen, alle Sünden zu Erfahrungen. Verstehen Sie mich richtig, wenn ich sage, daß sich im Lichte eines erneuten Versuchs das Karma Ihrer ganzen Vergangenheit ändert; es stellt keine Bedrohung mehr dar. Vor dem Auge der Seele ist es der Übergang von der Ebene der Buße zu der des Lernens. Es steht da als ein Denkmal, als Erinnerung an frühere Schwächen und als Warnung vor künftigem Versagen.
Fürchten Sie daher nichts für sich selbst; Sie stehen hinter dem Schild Ihres erneuten Bestrebens, auch wenn Sie hundertmal versagten. Versuchen Sie allmählich treu zu werden, mit keinem anderen Motiv, als daß auch andere treu sein werden. Fürchten Sie nur, in Ihrer Pflicht gegenüber anderen zu versagen, und selbst dann soll Ihre Sorge den anderen gelten, und nicht Ihnen selbst.
– KATHERINE TINGLEY, Theosophy, The Path of the Mystic, S. 68/9, überarbeitete Auflage 1977.
Manchmal offenbart früheres Karma sich in physischen Krankheiten. Es äußert sich sogar bei Kindern, die mit einer bestimmten Krankheit oder körperlichen Gebrechen zur Welt kommen. Die Verfasser des Neuen Testaments haben diese Tatsache erkannt, was man aus der Frage im Johannesevangelium (Joh. IX, 2) entnehmen kann: ‘Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren ist?’
G. de Purucker sagte folgendes, als er über Krankheit sprach:
Sowohl Gesundheit als auch Krankheit sind die karmischen Folgen der Wesenszüge und der Neigungen, die wir den Lebensatomen aufgeprägt haben, welche die verschiedenen Hüllen zusammensetzen, in denen wir, die menschlichen Egos, während des Erdenlebens eingekleidet sind. Sie sind ihnen durch unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere Wünsche und unsere Gewohnheiten eingeprägt.
Zu behaupten, daß Selbstsucht die Ursache aller Krankheit sei, ist eine zu allgemeine Feststellung. Genauer gesagt ist es jene Form der Selbstsucht, die man Leidenschaft nennt – unbesiegte heftige Leidenschaft, wie Haß, Zorn, Lust, etc –, welche die sich auswirkende Ursache der Krankheit ist, ob bewußt oder unbewußt. Jede derartige mentale oder physische Leidenschaft erschüttert die niedrige Konstitution des Menschen. Sie entschlüpft der führenden Kontrolle seines höheren Wesensteils, ändert die Richtung der prānischen Lebensströme, indem sie sie hier und da verdichtet oder verdünnt. Sie stört daher das normale ruhige Wirken der Natur, das in diesem Zusammenhang Gesundheit bedeutet. Selbstsucht ist in der Tat nicht nur die Wurzel der meisten Krankheiten, sondern auch der meisten üblen Taten, und beide werden ursprünglich nicht durch unbesiegbare, sondern durch unbesiegte Leidenschaften verursacht.
Die Symptome der Krankheit, die nur zu häufig für die Krankheit selbst gehalten werden, sind nicht selten die Bemühungen der Gesundheitskräfte, das Gift aus dem Körper hinauszuschaffen. Eine Krankheit sollte als ein Reinigungsprozeß verstanden werden, weil das Ende eine Reinigung sein wird. Sie sollte ruhig und mit Verständnis für die Situation willkommen geheißen werden, ohne jegliche Furcht oder einen Versuch, den Vorgang zu komplizieren oder zu hindern. Aber viele Leute glauben, daß man eine Krankheit heilt, indem man sie zurückdämmt und die Tore gegen ihren Ausbruch aus dem System verschließt. Ein solches Zurückdämmen erlaubt es jedoch den Wurzeln der Krankheit, festeren Halt zu finden, sich auszubreiten und Energie zu sammeln, so daß, wenn sie wiedererscheint – sie wird dies unvermeidlich tun, denn ihre Wurzeln sind noch nicht entfernt worden –, ihre Reaktion auf den Körper weit heftiger sein wird, als es der Fall wäre, wenn man der Krankheit erlaubt hätte, ihren natürlichen Lauf zu nehmen.
Dies alles hat eine ethische Seite, die noch nicht genügend berührt worden ist. In vielen Fällen können Krankheiten eine vom Himmel gesandte Wohltat sein: sie heilen Egoismus, sie lehren Geduld und führen zu der Erkenntnis, daß es wichtig ist, richtig zu leben. Wenn wir mit unseren unbeherrschten Emotionen Körper besäßen, die nicht krank werden könnten, dann wäre es sehr wohl möglich, daß sie durch Exzesse geschwächt und getötet werden könnten. Krankheiten sind eigentlich Warnungen, damit wir unsere Gedanken verbessern und in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen leben.
In der Medizin begann weltweit in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein neuer Zyklus: Man verabreichte den Menschen nicht mehr länger Arzneien, bis sie mit einem kräftigen Schluck von diesem oder jenem Trunk starben. Die Doktoren begannen zu erkennen, daß es die Natur ist, die heilt, und daß der weise Arzt viel eher führend und ausgleichend wirken sollte, als Arzneien zu verteilen. Trotzdem sind Krankheiten im akuten Stadium oft tödlich, weil das Wissen der Ärzte immer noch unvollkommen ist. Die Krankheiten verlaufen für das menschliche System zu rasch, um der Belastung widerstehen zu können, aber andererseits werden die medizinischen Fachleute der fernen Zukunft sehr gut verstehen, was Krankheiten sind, und die Methoden kennen, sie zu heilen – und wie sie zu verhüten sind. Sie werden eine Krankheit derart behutsam herausleiten, daß sie zu verschwinden scheint, während sie sich in Wirklichkeit manifestiert, geradeso, wie der Körper sich heute oftmals von einer Krankheit durch seine eigenen, nicht unterstützten Kräfte befreit.
Wir müssen im Gedächtnis behalten, daß alles, was einem Menschen geschieht, das Wirken Karmas ist, und daß Krankheiten die Folge von disharmonischen Gedanken und Emotionen in diesem oder in einem vergangenen Leben sind, die sich jetzt durch den Körper auswirken. Genauer ausgedrückt, alle Krankheiten werden durch die Mitwirkung von Elementalen herbeigeführt. Dies ist die alte Lehre und daran glaubte die ganze Welt, bis der Westen in seiner erhabenen Weisheit begann, diese allgemein übereinstimmende Ansicht der menschlichen Rasse als Aberglauben zu betrachten.
Im Neuen Testament werden Krankheiten der Tätigkeit von Teufeln oder Dämonen zugeschrieben – ein grotesker Übersetzungsfehler. Es sind fehlerhafte Übersetzungen, die aus einem Mißverständnis dessen entstanden, was die frühen christlichen Schreiber sagen wollten, als sie diese Traktate schrieben. Diese Daimonia, wie das griechische Wort lautet, stellen lediglich die niedrigste Ordnung belebter und empfindender Kreaturen dar – in der Theosophie gewöhnlich Elementale genannt –, welche die unterste Stufe der hierarchischen Leiter bilden. Ihre höchste Stufe ist der Zustand sowohl der spirituellen Existenz als auch einer wirklichen, von den Göttern bewohnten Welt. Zwischen einem Elemental und einem Gott besteht ein großer Unterschied im evolutionären Fortschritt. Im innersten Wesen oder Ursprung gibt es jedoch keinen Unterschied. Der Mensch nimmt auf dieser Lebensleiter eine Zwischenstufe ein.
Alle Krankheiten, von der Epilepsie oder dem Krebs bis zu einer gewöhnlichen Erkältung, von der Tuberkulose bis zu Zahnschmerzen, vom Rheumatismus bis zu einer anderen physischen Unpäßlichkeit, werden daher durch Elementale herbeigeführt, die als Instrumente des karmischen Gesetzes wirken. Dasselbe gilt auch für Geisteskrankheiten: ein Wutausbruch, eine üble Laune, eine anhaltende Melancholie und die Manien verschiedenster Art sind dem Ursprung nach alle elemental. Die Mordlust ist ein passendes Beispiel: Ihrem Wesen nach ist sie so grausam wie unmenschlich – sie ist elemental. In diesem Fall besitzt ein Elemental die Herrschaft über den menschlichen Tempel und hat für den Augenblick seinen rechtmäßigen menschlichen Bewohner verdrängt. Ein derartiger Zustand tritt durch Schwäche und Nachgiebigkeit sich selbst gegenüber ein.
Es gibt aber ein sicheres Schutzmittel gegen alle Krankheiten, das sowohl physiologische als auch psychologische Eigenschaften besitzt, und das ist die Ausübung der uralten Tugenden …
Da die Krankheiten die karmische Auswirkung vergangener Irrtümer der Lebensführung, des unharmonischen Arbeitens mit der Natur sind, ist der Weg zur Gesundung das Arbeiten mit der Natur. Und dies ist möglich, weil wir ein wesentlicher Teil von ihr sind. Alle Weisen und Seher haben diesen Weg gelehrt. Die Methode wurde in jeder großen Religion und Philosophie immer wieder zum Ausdruck gebracht. Aber kein wahrer Weiser oder Adept greift jemals in das karmische Gesetz ein, denn sie sind die Diener dieses Gesetzes und offenbaren es durch ihr Handeln unter den Menschen. In gewissem Sinne sind sie auch diejenigen, welche das karmische Gesetz ans Licht bringen, denn dadurch wird ein natürliches Gleichgewicht erreicht und die Evolution beschleunigt. Daher sind sie Heiler der Menschenseelen. Heile die Seele und du heilst den Körper …
– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, Bd. 2, S.215-223
Jede Disharmonie sucht sich gemäß den normalen Prozessen der Natur ihren Weg nach außen, an die Oberfläche. Manchmal beobachten wir bei uns selbst oder bei anderen eine Reihe größerer oder kleinerer Unglücke, die gewöhnlich dem Mißgeschick zugeschrieben werden. Ein anderes Mal ändert Fortuna ihre Taktik, und alles was wir unternehmen, gelingt uns. Das kann bedeuten, daß das, was wir schlechtes Karma nennen, aufgearbeitet ist. Aber im Grunde ist es nur dann schlecht, wenn wir die Lektion nicht gelernt haben und unser Leben weiterhin ziellos und inkonsequent führen, so daß ‘Mißgeschick’ und ‘Glück’ sich abwechseln. Wenn wir uns darüber im Klaren wären, daß wir selbst das Resultat dessen sind, was wir dachten, fühlten oder taten, sowohl in diesem als auch in früheren Leben, daß wir durch unsere Gedanken und Taten das Gewebe des Charakters selbst veränderen – ein Charakter, der oft Unglück herausforderte – würden wir Selbstbeherrschung, Freundlichkeit und Zusammenarbeit erlernen und zu einer wohltätigen Kraft in der Natur werden.
Die menschliche Natur ist sehr komplex, und die Folgen von Disharmonie werden natürlich durch die Kanäle zum Ausdruck kommen, in denen die Störung entstand. Das ganze Thema ist in seiner Auswirkung sehr kompliziert, doch im Prinzip einfach, es wäre im heutigen Stadium unserer Evolution sinnlos, den Details nachzugehen. Manchmal erkennen wir bei ein und derselben Person einen mißgebildeten Körper, dazu einen feinen Geist und einen sonnigen Charakter; oder einen robusten Körper, der einen verworrenen Geist und einen selbstsüchtigen Charakter beherbergt. Im ersten Fall sind die Krankheitserreger dabei, sich auszuwirken, während sie im zweiten Beispiel eingepflanzt werden, auch wenn die physischen Kräfte in dieser Inkarnation stark genug sind, ihnen zu widerstehen. Oft sehen wir, daß jemand mit einem guten, reinen und sympathischen Charakter angestrengt für andere arbeitet, seinen Körper aber vernachlässigt. In einem solchen Fall scheint es so, daß Karma auf der physischen Ebene beginnt und endet, wenn es auch immer eine Reaktion von der einen zur anderen Ebene geben muß. Es ist auch möglich, daß man seine Energie so stark auf die eigene Gesundheit konzentriert, daß man die Leiden der Mitmenschen übersieht. Solche Menschen haben vielleicht zeitweilig einen sehr kräftigen Körper, aber um welchen Preis! Überall herrscht Gesetzmäßigkeit. Wir erhalten das, wonach wir uns sehnen. Die unendlichen Möglichkeiten des Universums liegen vor uns, aber nur der, dessen Ton mit dem über alles herrschenden Gesetz des Mitleids harmonisch ist, kann den Sieg davontragen.
Wenn am Ende dieses große Ziel erreicht ist, dann, so heißt es, erhebt sich der Mensch über Karma. Karma wirkt immer und überall, aber wenn wir uns nicht länger gegen die großen Strömungen des Universums wehren, empfinden wir keine Reibung mehr und erlangen Fortschritte leichter und schneller.
Ja, „unser Schicksal steht in den Sternen geschrieben!“ Nur, je enger die Vereinigung zwischen dem sterblichen Wiederschein MENSCH und seinem himmlischen VORBILD ist, desto weniger gefährlich sind die äußeren Bedingungen und die folgenden Wiederverkörperungen – denen weder Buddhas noch Christusse entgehen können. Das ist kein Aberglaube, am wenigsten ist es Fatalismus. Der letztere schließt in sich ein blindes Ablaufen einer noch blinderen Kraft ein, aber der Mensch handelt während seines Verweilens auf der Erde frei. Er kann seinem beherrschenden Schicksal nicht entrinnen, aber er hat die Wahl zwischen zwei Pfaden, die ihn in dieser Richtung führen, und er kann das Endziel des Elends – wenn ihm ein solches bestimmt ist – entweder in den schneeweißen Gewändern des Märtyrers erreichen, oder in den beschmutzten Kleidern eines Freiwilligen auf dem bösen Wege; denn es gibt äußere und innere Bedingungen, welche die Bestimmung unseres Willens auf unsere Handlungen beeinflussen, und es liegt in unserer Macht, dem einen oder dem anderen von beiden zu folgen. Jene, die an Karma glauben, müssen an das Schicksal glauben, daß von der Geburt bis zum Tode ein jeder Mensch Faden um Faden um sich selbst webt, wie eine Spinne ihr Netz; und dieses Schicksal ist gelenkt, entweder von der himmlischen Stimme des unsichtbaren Vorbildes außerhalb von uns, oder von unserem mehr vertrauten astralen oder inneren Menschen, der nur zu oft der böse Genius der verkörperten Wesenheit, genannt Mensch, ist. Diese beiden führen den äußeren Menschen voran, aber einer von ihnen muß vorherrschen; und von dem ersten Anfange des unsichtbaren Aufruhrs an setzt das strenge und unerbittliche Gesetz der Vergeltung ein und nimmt seinen Lauf, getreulich dem Hinundherwogen des Kampfes folgend. Wenn der letzte Faden gesponnen und der Mensch anscheinend in das Netzwerk seines eigenen Handelns verwickelt ist, dann findet er sich vollständig unter der Herrschaft seines selbstgeschaffenen Geschickes. Dasselbe heftet ihn dann entweder wie die schwerfällige Muschel an den unbeweglichen Felsen, oder es trägt ihn wie eine Feder hinweg in dem durch seine eigenen Handlungen erregten Wirbelwind, und das ist – KARMA.
– H. P. BLAVATSKY, Die Geheimlehre, Bd.I, S. 700-701
Die Frage der Vererbung
Man könnte sich fragen: Wenn man sein eigenes Karma ist, wie können wir dann die Vererbung erklären? Die Theosophie gibt auf diese Frage folgende Antwort, die mit den zu beobachtenden Tatsachen übereinstimmt. Wir werden in eine bestimmte Familie geboren, weil wir in der Vergangenheit mit ihr verbunden waren und durch früher geknüpfte psychomagnetische Bande dort hingehören. Diese Bande bestehen aus vitalen Energien und müssen sich in der Sphäre auswirken, in der sie entstanden sind. Es ist deutlich, daß wir neben Karma auch die Lehre der Reinkarnation studieren müssen, weil die eine Lehre ohne die andere sinnlos erscheint. Wir werden unter bestimmten Menschen und bei bestimmten Eltern geboren, durch die Bande, die wir in vergangenen Leben mit ihnen knüpften. Wenn wir jemanden hassen oder lieben, sind wir mit diesem Menschen so lange verbunden, wie der Haß oder die Liebe existieren. Wir kommen gemeinsam auf diese Erde zurück, Freunde, Angehörige und Feinde, um unsere Freude und unser Leid, unsere Arbeit und unser Spiel, unsere Erfahrungen und unsere Lektionen im menschlichen Leben erneut aufzunehmen.
Wir können sagen, daß die Familie es ermöglicht, daß die individuelle Vererbung sich offenbart und wir wiederholen, was nicht oft genug gesagt werden kann: Karma gehört zum Wesen des Individuums und wird ihm nicht von außen auferlegt. Wenn wir das bedenken, sehen wir, daß die Vererbung eines reinkanierenden Wesens durch das bestimmt wird, was es selbst ist. Warum sind die Angehörigen einer Familie oft so verschieden, obwohl alle unter den gleichen Bedingungen und aus dem gleichen Vererbungsstrom geboren wurden?
Die unterschiedlichen Kombinationen erblicher Eigenschaften bei den einzelnen Menschen werden von den psychomagnetischen Anziehungen gesteuert, die zu den Skandhas des reinkarnierenden Wesens gehören. Das Sanskritwort Skandhas wird in der theosophischen Literatur verwendet, weil es in keiner anderen Sprache ein Wort gibt, welches die Qualitäten bezeichnet, die das essentielle Gefüge einer Wesenheit darstellt, ihre persönliche Natur. Sie beziehen sich auf die Eigenschaften, Neigungen, Merkmale, hohe und auch niedrige, wodurch sich die Menschen voneinander unterscheiden. Sie sind die Samen von Gedanken, Taten und Gefühlen, entweder von materieller Art, die dann helfen den nächsten Körper zu formen, oder sie sind von mentaler oder moralischer Art.
Die Art und Wirkung der Skandhas kann am besten verstanden werden, wenn wir zuerst die Lebensatome näher betrachten. Diese können als die Seele der Atome beschrieben werden, mit deren Hilfe das inkarnierende Wesen sich einen Körper erschaffen kann. Es sind die Bausteine, die alles gestalten. Sie existieren auf jeder Ebene der Natur, spirituell, mental, emotional, physisch und in jedem Stadium der Entwicklung oder Evolution innerhalb dieser Ebenen. Im menschlichen Leben formen sie den Körper mit seinen Zellen und Organen, sie gestalten seine mentale oder emotionale Zwischennatur und auch seine spirituelle Konstitution.
Die Lebensatome, die jetzt unseren physischen Körper und auch unsere psychologische und spirituelle Natur formen, werden in jedem Moment von all unseren Gedanken und Taten beeinflußt. Wenn wir liebevoll, rein und selbstlos sind, beeinflussen wir sie in dieser Weise; ebenso können wir sie aber auch mit Selbstsucht, Leidenschaft oder Haß, oder mit Schwingungen von Angst und Pessimismus durchdringen. Weil unser Körper und unsere innere Natur sich ständig durch Wachstum, Entwicklung und Verfall ändern, bleiben diese Lebensatome nicht bei uns, sondern strömen von uns aus, um sich zeitweilig mit Wesen und Substanzen zu verbinden, die mit den von uns empfangenen Eindrücken verwandt sind. Dies geschieht während des ganzen Lebens, aber noch vollständiger nach dem Tod. Denn dann findet eine Trennung der Prinzipien statt, die gemeinsam den Menschen bilden. Der spirituelle Teil geht in höheren Bereiche über, nachdem er alles, was zum persönlichen Menschen gehört, in gereinigter, essentieller Form in sich eingezogen hat; die leidenschaftliche, emotionale Natur bleibt für eine bestimmte Zeit auf ihrer eigenen Ebene, bervor sie sich auflöst und der physische Körper verfällt schnell, wie wir alle wissen. Dann finden die Lebensatome auf den Ebenen der Natur ihren natürlichen Wohnsitz, beladen mit den Eigenschaften und Neigungen, die sie im letzten Erdenleben empfingen. Aber sobald die Wiederverkörperung wieder eingeleitet wird, strömen sie unter dem Einfluß der natürlichen Anziehungskraft wieder zu dem Wesen zurück, das sie einst aussandte.
Diese Lebensatome sind die Träger der Skandhas, das Aroma unserer früheren Leben. Sie sind die Bausteine vieler Grade der Evolution, die auf diese Weise durch ihre eigenen Merkmale die Persönlichkeit formen, die im Begriff ist, geboren zu werden. G. de Purucker sagt in der Quelle des Okkultismus, Bd. 2, S. 205-208 folgendes über die Vererbung:
Jeder Mensch hat mehr als nur eine rein physische Vererbung. Er hat eine astrale, eine psychische, eine intellektuelle, eine spirituelle und in der Tat auch eine göttliche Vererbung. Da er das Kind seiner selbst und gegenwärtig der Vater all dessen ist, was er in der Zukunft sein wird, ist seine Vererbung lediglich das Ergebnis der Kette von Ursachen, die dem entstammt, was er zuvor auf irgendeiner Ebene war. Deshalb wird das, was er dachte oder empfand, ebenfalls notwendigerweise seine Konsequenzen haben und seinen Charakter entsprechend formen.
Vererbung ist nicht nur die Rückkehr der pranischen Atome aus früheren Leben, die die Merkmale des Egos jener Leben tragen, sondern sie ist auch das Charakteristikum eines von den Eltern auf das Kind durch die Lebensatome übertragenen Lebensstroms.
Ein großer Teil der Vererbung, des Stromes von Konsequenzen, wird von Generation zu Generation durch die Lebensatome übertragen. Der andere Teil der Vererbung ist der, den die Eltern in die Gleichung einbringen; aber kein Lebensatom geht jemals in eine ungeeignete Umgebung. Es geht nur in die Umgebung, zu der es psychomagnetisch hingezogen wird: Gleiches zu Gleichem, Leben nach Leben.
Eine ähnliche Folge von Ereignissen oder karmischen Wirkungen gibt es in jeder Rasse, ob tierisch, pflanzlich, menschlich oder anders. Diese Aufeinanderfolge von Ereignissen bildet die Glieder in der Kette von Ursachen, die wir Vererbung nennen. Wegen dieser Kette von Ursachen und den fast unbegrenzten Neigungen und Fähigkeiten, die latent in den Lebensatomen liegen, aus denen alle Dinge aufgebaut sind, können die Züchter von Tieren oder Pflanzen die interessanten Varianten züchten. So wurden zum Beispiel unsere Früchte und unser Getreide in den atlantischen und frühen arischen Zeiten aus Wildpflanzen entwickelt. Einige dieser Variationen bilden tatsächlich neue Arten, sie überdauern; sie bringen ihre eigene Art hervor. Dies kann man tun, weil es in jedem Lebensatom im Grunde genommen unendlich viele Möglichkeiten des Richtungswechsels gibt. Die Züchter liefern lediglich eine neue Umwelt, die es erlaubt, daß sich die bis dahin latenten Anlagen zum Ausdruck bringen können. Diese Energie- oder Lebensquelle innerhalb jedes Lebensatoms bringt die große Mannigfaltigkeit von Wesen um uns hervor.
Die Menschen liefern jedoch weit mehr als nur ein Heim oder die Lebensumstände für ihre Kinder. Das Leben ist keine Angelegenheit des Glücks oder des Zufalls – das sind nur Worte, die die menschliche Unkenntnis verdecken. Alles was ist, ist das Resultat einer Kette von Ursachen. Warum kommen gewisse Kinder zu gewissen Eltern? Jedes Kind wird zu der Umgebung und zu den Lebensströmen jener Eltern hingezogen, die dem Schwingungsgrad der hereinkommenden Seele am meisten entsprechen. Wir können dies eine Art von psychomagnetischer Anziehung an eine Umgebung nennen, die die größte Übereinstimmung mit den karmischen Bedürfnissen des Egos besitzt oder anders ausgedrückt, mit seinen eigenen charakteristischen Merkmalen. Die Konsequenz davon ist, daß die Eltern weit mehr als nur die Kanäle sind, durch die ein reinkarnierendes Ego diese Sphäre betritt, und weit mehr als nur menschliche Automaten, die ‘gute’ oder ‘schlechte’ Lebensumstände liefern.
Dies ist nur eine grobe Übersicht der Veränderungen, welche die scheinbare Kluft zwischen zwei Inkarnationen des menschlichen Egos auf der Erde überbrücken. Sie unterstützen die Erklärungen der theosophischen Lehren über die Vererbung. Sowohl Übereinstimmungen als auch Unterschiede werden solcherart auf eine Weise erklärt, die nicht nur logisch, sondern auch gerecht ist.
Fatalismus – oder Schicksal ?
‘Dieses Gesetz – sei es bewußt oder unbewußt – prädestiniert nichts und niemanden. Es existiert von und in Ewigkeit, fürwahr, denn es ist EWIGKEIT selbst; und als solches, da keine Handlung der Ewigkeit gleich sein kann, kann man von ihm nicht sagen, daß es handelt, denn es ist HANDLUNG selbst. Es ist nicht die Welle, die einen Menschen ertränkt, sondern die persönliche Handlung des Unglücklichen, der vorsätzlich hingeht und sich unter die unpersönliche Wirkung der Gesetze begibt, welche die Bewegung des Ozeans beherrschen.’
– H. P. BLAVATSKY, Die Geheimlehre, Bd. II, S. 319
Wahrscheinlich gibt es keine Wahrheit, die nicht so verdreht werden kann, daß sie etwas anderes darstellt, als sie wirklich ist. Wie schon erwähnt, ist Karma im Grunde die Lehre des freien Willens. Dennoch wird diese Lehre, welche die Wahl des Handelns beinhaltet, durch eine merkwürdige Verdrehung der Gedanken oft als Fatalismus ausgelegt. Welcher dunkle Geist hat irgendwann suggeriert, daß das Leben des Menschen – eines Gottes im Embryostadium und des Gestalters seines eigenen Schicksals – einem vorbestimmten Schicksal untergeordnet sei ? Aber was immer jemand in einer niedergeschlagenen Stimmung auch sagen möge, jeder Mensch weiß tief im Herzen, daß er frei ist im Denken und Handeln. Das zeigt sich in der Tatsache, daß er fortwährend in der Richtung arbeitet, von der er sich Erfolg verspricht. Wenn er günstige Resultate sich selbst zuschreibt, ist es wohl eine merkwürdige Logik, für andere, weniger gute Erfolge den Willen Gottes verantwortlich zu machen, es sei denn, man meint den Willen seines eigenen inneren Gottes. Dies wird im folgenden Zitat aus der Zeitschrift Lucifer, Teil VI, Nr. 9, März 1935, erläutert:
Im praktischen täglichen Leben besteht kein Zweifel, daß der Mensch einen freien Willen hat. Die Freiheit des Menschen innerhalb bestimmter natürlicher Grenzen ist offensichtlich. In der Beziehung zu seinen Mitmenschen hat er grundsätzlich die Freiheit, zu wählen und ist daher verantwortlich. Unsere gesamte gesellschaftliche Struktur und unsere Gesetze beruhen darauf. Die Idee der moralischen Verantwortung setzt den freien Willen voraus. Einen Menschen, der sich weigert, zu handeln oder die Verantwortung für seine Taten auf sich zu nehmen, mit der Begründung, er habe keinen freien Willen, wird man als einen Einfaltspinsel betrachten oder als jemanden, der durch unsinniges Nörgeln die Erfüllung der Pflicht und richtiges Handeln verhindert. Ein Mensch, dem es nicht möglich ist, seine Handlungen mit seinem Willen zu beherrschen, ist schwachsinnig, ein Hysteriker oder geisteskrank. Ein Richter würde ihn nicht in das Gefängnis, sondern in eine Pflegeanstalt einweisen. Wenn der freie Wille eines Menschen solcherart gehemmt ist, wird er nicht verurteilt.
Die Frage des freien Willens wird durch die übertriebene Vorstellung von dem, was Freiheit ist, sehr unklar. Unbewußt meint man vielleicht, daß es keine Freiheit gibt, wo einige Begrenzungen vorhanden sind.
Freiheit kann nur unter der Bedingung gewährt werden, daß sie nicht mißbraucht wird. Der Mensch hat innerhalb der sozialen Gesetze der Gesellschaft, welcher er angehört, persönliche Freiheit. Wenn er diese Gesetze übertritt, wird seine Freiheit durch Gefängnismauern beschränkt. Bezweifelt oder stellt es jemand in Frage, daß ein Mensch draußen, verglichen mit einem Gefangenen, Freiheit besitzt?
In einer Gesellschaft, wo Gesetz und Ordnung herrschen, sind alle Menschen, innerhalb der Grenzen des Gesetzes und solange sie sich an die soziale Ordnung halten, frei. Ein gesetzestreuer Bürger ist kein Sklave, weil er sich an die notwendigen Beschränkungen der gesellschaftlichen Ordnung hält.
Menschen, die das Gesetz brechen, müssen die Folgen davon in Kauf nehmen, erst recht, wenn es sich um die höheren Gesetze der Einheit, Zusammenarbeit und Mitleid handelt, welche das Universum zusammenhalten und den tiefsten Kern, die Essenz der Dinge, formen. Jede in Bewegung gesetzte Strömung erreicht ihr Ziel und wird mit der gleichen Kraft zurückgeworfen, mit der sie bewußt gegen das höhere Gesetz gerichtet war. Aber es ist immer möglich, diese Kraft durch eine Gegenströmung abzuschwächen oder zu neutralisieren. Angenommen, jemand ist in eine Familienfehde verstrickt, wie sie früher im mittelalterlischen Venedig vorkamen, die das Leben durch Konflikte vergifteten, sich ständig weiter aufschaukelten und durch jede Generation neu genährt wurden. Nehmen wir an, daß ein solcher Mensch dann beschließt, wie es in jenen Tagen vorkam, den Bann zu brechen, die Freundschaft anzubieten und den alten Streit beizulegen. Das könnte den Anfang eines neuen Karmas bedeuten, welches das alte neutralisiert und das schließlich Frieden bringt, wo Zwietracht herrschte.
Manchmal verdreht das selbstsüchtige menschliche Denken diese Lehre noch in einer anderen Weise. Wir alle kommen dann und wann in Kontakt mit den Leiden anderer Menschen, die durch Unglücksfälle oder Schicksalsschläge getroffen wurden, womit wir scheinbar nichts zu tun haben. Man stellt sich dann manchmal die Frage, ob man nicht in das Karma eingreift, wenn man den Betroffenen hilft und versucht, ihr Leiden zu mildern. Das ist mehr oder weniger eine theoretische Frage, weil die meisten Menschen in der Praxis des täglichen Lebens unmittelbar bereit sind, zu helfen, wo es möglich ist, und damit einem angeborenen Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Verantwortung Folge leisten. Womöglich haben wir mit den Beteiligten in der Vergangenheit Bande geknüpft und die Umstände mitverursacht, die sie nun trafen. Wir sollten daher stets im Auge behalten, daß ‘das Unterlassen einer barmherzigen Tat eine Todsünde ist’ (Die Stimme der Stille). In unserer Blindheit verwirren wir oft die Fäden dieses komplizierten Lebensgewebes, das uns alle verbindet. Hüten wir uns vor Gleichgültigkeit. Der Mensch, der ‘auf dem Weg liegen blieb’, auf dem wir uns gerade befinden, hat ein Recht auf unsere Hilfe. Wenn es sein Karma ist, vom Unglück heimgesucht zu werden, ist es auch sein Karma, daß jemand vorbeikommt, der ihm Hilfe leisten kann. Das ist selbstverständlich. Denn über dem Gesetz der Ursache und Wirkung, das uns dorthin brachte, steht das ‘Gesetz der Gesetze, das Mitleid.’ Es ist eindeutig unsere Pflicht, ihm zu helfen und Beistand zu leisten. Wir können es getrost den Gesetzen der göttlichen Gerechtigkeit überlassen, darauf zu vertrauen, daß ein Mensch bekommt, was er verdient, und wir brauchen dabei nicht nachzuhelfen.
Wir sind unseres Bruders Hüter. Wehe dem, der hartherzig an ihm vorbeigeht.
Es wäre besser, wenn man einen Mühlstein um seinen Hals hängte und würfe ihn ins Meer.
(Lukas, 17,2)
Manche Dinge sind in der Tat unvermeidlich. Wir alle befinden uns im Universum und wir müssen leben. Wir sind hier auf der Erde und werden solange zurückkehren müssen, bis wir unsere Lektionen gelernt haben, und bis zu diesem Tage werden wir mit ihr verbunden bleiben. Aber wir selbst lenken unser Schiff in vernünftiger oder unvernünftiger Weise durch den Strom. Wenn wir die Probleme dieser Erde und die unsrigen, die damit verbunden sind, überwunden haben, steht es uns frei, weiter zu gehen, tatsächlich bestimmen dann wir, daß wir weiter gehen. Wer Karma als Fatalismus bezeichnet, übersieht die grundlegende Tatsache, daß der Mensch im Innersten seines Wesens eins ist mit dem Herzen des Universums, worüber keine höhere Macht steht.
Jeden Tag schnitzen wir mit unseren eigenen Händen diese zahlreichen Windungen in unser Schicksal, indes bilden wir uns ein, daß wir der königlichen Heerstraße der Ehrbarkeit und Pflicht folgen, und beklagen uns dann, daß diese Windungen so dunkel und so verworren sind. Wir stehen verwirrt vor dem Geheimnis, das wir selbst erschufen, und vor den Rätseln des Lebens, die wir nicht lösen wollen, und dann klagen wir die große Sphinx an, daß sie uns verschlingt. Aber fürwahr, es gibt keinen Zufall in unserem Leben, keinen mißratenen Tag und kein Mißgeschick, die nicht auf unser eigenes Handeln in diesem oder in einem anderen Leben zurückgeführt werden könnten. Wenn man die Gesetze der Harmonie bricht, … so muß man darauf gefaßt sein, in das Chaos zu stürzen, das man selber bereitet hat. …
Wenn daher irgend jemand hilflos vor diesen unveränderlichen Gesetzen steht, so sind das nicht wir selbst, wir, die Schmiede unserer eigenen Geschicke, sondern jene Engel, die Hüter der Harmonie. Karma-Nemesis ist nichts weiter, als die spirituelle, dynamische Wirkung von Ursachen, hervorgebracht durch unsere eigenen Handlungen, und von Kräften, die von eben denselben zur Tätigkeit erweckt wurden. …
Dieser Zustand der Dinge wird andauern, bis die spirituellen Wahrnehmungsfähigkeiten der Menschen voll eröffnet sind, … Bis dahin sind die einzigen Abwehrmittel gegen die Übel des Lebens Einigkeit und Harmonie – eine Bruderschaft DER TAT, und Altruismus, der nicht bloß dem Namen nach besteht. Die Unterdrückung einer einzigen schlechten Ursache wird nicht eine, sondern viele schlechte Wirkungen unterdrücken.
– H. P. BLAVATSKY, Die Geheimlehre, Bd. I, S. 705-706
Warum Karma in Vergessenheit geriet
Die Frage scheint berechtigt, warum eine Lehre, die mit den Tatsachen und dem gesunden Menschenverstand übereinstimmt, im Westen lange Zeit nicht die Anerkennung fand, die sie im Osten hatte, wo die alte Weisheit nie vergessen wurde. Die Antwort braucht man nicht weit entfernt zu suchen. Im Westen wurde der Mensch gelehrt, an einen persönlichen Gott außerhalb von sich selbst zu glauben, einen Gott, der mit Gebeten beeinflußt werden kann und der tatsächlich eine Widerspiegelung der menschlichen Persönlichkeit im großen ist. Zugleich lehrte man ihn, daß er in Sünde geboren sei, und daß ein Zustand des ewigen Glücks oder ewiger Verdammnis diesem kurzen Leben auf Erden folgen werde, einem Leben, in dem es häufig ungleiche Chancen gibt.
Es ist verständlich, daß diese Ansichten die Entfaltung der unpersönlichen, erhabenen und göttlichen Aspekte der menschlichen Natur hemmen. Daß man ihn lehrte, seine Sünden könnten verziehen werden, und daß er glauben sollte, daß das Blut des Gottessohnes ihn retten werde, ließ sein Gefühl für Gerechtigkeit abstumpfen.
Trotzdem spielen Eigenschaften wie Mitleid, Freundlichkeit, Duldsamkeit und Barmherzigkeit noch immer eine bedeutende Rolle im Westen, was ein unverkennbarer Beweis für den göttlichen Kern im Herzen des Menschen ist.
Aber wenn wir uns außerhalb des kleinen Glaubenskreises begeben und das Universum als Ganzes betrachten, das durch die ausgezeichnete Anpassung seiner Teile ausbalanciert ist, wie empört sich alle gesunde Logik, wie der schwächste Flimmer eines Gerechtigkeitssinnes gegen diese stellvertretende Erlösung!
Wenn ein Verbrecher nur gegen sich selbst sündigte und niemand außer sich selbst Böses tat, wenn er durch ernsthafte Reue die Auslöschung vergangener Ereignisse nicht nur aus dem Gedächtnisse des Menschen, sondern auch aus dem unvergänglichen Verzeichnisse, das keine Gottheit – selbst nicht die Erhabenste der Erhabenen, verschwinden machen kann – verursachen könnte, dann würde dieses Dogma nicht unbegreiflich sein. Aber zu behaupten, daß man seinem Mitmenschen Unrecht tun dürfe, ihn erschlagen, das Gleichgewicht der Gesellschaft und die natürliche Ordnung stören dürfe und dann – ob aus Feigheit, Hoffnung oder Zwang, das ist gleichgültig – die Verzeihung erlangen könne durch den Glauben, daß das Verspritzen des Blutes des Einen das Blut des anderen abwäscht, das man verspritzt hat – das ist mehr als abgeschmackt! Kann das Resultat eines Verbrechens selbst dann, wenn das Verbrechen verziehen würde, aufgehoben werden? Die Wirkungen einer Ursache sind nie auf die Grenzen einer Ursache beschränkt, noch können die Folgen eines Verbrechens auf den Täter und sein Opfer beschränkt werden. Sowohl jede gute als auch jede üble Handlung haben ihre Wirkungen, so sicher wie der Stein, der in ein ruhiges Wasser geschleudert wird.
– H. P. BLAVATSKY, Die entschleierte Isis, Bd. II, S. 545
Es ist erstaunlich, daß Verdrehungen und unkorrekte Erklärungen der wahren Lehren jemals entstehen konnten; daß man Menschen fand, die sie lehrten oder selbst daran glaubten. Es gibt viele Rätsel, die bestimmt einst gelöst werden müssen. Es besteht kein Zweifel, daß der große Lehrer, bekannt als Jesus, einer der Avataras, die in bestimmten zyklischen Perioden erscheinen, niemals solche Dogmen lehrte. Ebenso wie alle anderen großen Lehrer kam er, um die alte Weisheit, die unerschöpfliche Quelle aller religiösen und philosophischen Systeme der Welt, zurückzubringen; denn anfänglich war das Christentum reine alte Weisheit. Dies kann durch ein eingehendes Studium jener Zeiten im Lichte der neopythagoräischen und neoplatonischen Systeme bewiesen werden. Seine Lehren behaupteten sich wahrscheinlich noch fünfzig Jahre über seinen Tod hinaus, aber selbst Jesus konnte nicht verhindern, daß die spirituelle Strömung jener Zeit verebbte. Etwa zur Zeit des Pythagoras begann ein dunkles Zeitalter, das sich während einiger kürzerer Perioden ein wenig aufhellte, aber allmählich düsterer wurde und die Intuition des Menschen verdunkelte. Schließlich wurden im fünften Jahrhundert die Mysterienschulen, welche die anerkannten Kanäle der Wahrheit waren und deren Licht nur noch schwach leuchtete oder schon fast erloschen war, auf Befehl des Kaisers Justitianus geschlossen.
Viele der alten Formen und Zeremonien wurden zwar von den christlichen Kirchen benutzt, aber das Leben und die Bedeutung gingen verloren, so daß neue Interpretationen ihren Platz einnahmen, wodurch die Träger der spirituellen Herrlichkeit zu Werkzeugen mentaler Betäubung wurden. Riten und Formen führten den Menschen von der Wirklichkeit weg und verschleierten seine Seele. Die breite Masse wurde von einer selbstsüchtigen Angst befallen, die von anderen ausgenutzt wurde, so daß allmählich eine dichte Wolke den Geist des Menschen zu umhüllen schien. Dadurch wurde jede Kenntnis der ruhmreichen Vergangenheit ausgelöscht, und der Mensch konnte selbst die erleuchteten Gebiete der Erde aus seiner eigenen Zeit nicht wahrnehmen, wie das Goldene Zeitalter Chinas, das mit Li-Shi-min begann, bis die Europäer sich schließlich im Dunkel des Mittelalters verloren und sich damit isolierten.
Man spricht über das Christentum, als würde es gänzlich vom Judentum abstammen. Das stimmt nur teilweise. Es ist, seine Theologie betreffend, fast ganz dem falsch verstandenen Griechischen Denken entlehnt, vornehmlich den neopythagoräischen und neoplatonischen Systemen. Das wird für jeden deutlich, der die Schriften derer liest, welche die großen Lehrer der christlichen Theologie genannt werden, wie Dionysius, der sogenannte Areopagita, dessen System wesentlich der neoplatonischen Philosophie entlehnt wurde. Hauptsächlich von ihm leiten sich wiederum die heutigen Standardwerke der Römischen Kirche ab. Ich meine die Schriften Thomas Aquins. Diese sind heute der Maßstab, nach dem sich die Theologie von Rom richtet und nach dem sie entscheidet, wenn Streitfragen gelöst werden müssen. Wenn dem auch so ist, und viel von dem, was die früheren Kirchenväter übernahmen, noch stets als Faktor und Wort in der christlichen Theologie aufrechterhalten wird, so hat diese Religion dennoch den Geist dieses frühen heidnischen Denkens völlig vergessen; und heute ist diese Religion fast ganz auf ein System der Formen und Zeremonien beschränkt.
– G. DE PURUCKER, Fundamentals of the Esoteric Philosophy, S. 487 (Ausgabe 1979)
… Praktisch beruhten alle staatlichen Institutionen des Altertums, unter anderem die Strafangelegenheiten, auf dem, was in den Mysterienschulen vor sich ging. So wurde zum Beispiel die Kreuzigung der Römer direkt aus einer Einweihungszeremonie übernommen, dem „Mystischen Tod“; übernommen, gestohlen und später, in degenerierten Zeiten, vom Staat als Instrument des legalen Mordes mißbraucht. Ein weiteres Beispiel, das aus der Zeremonie des „Mystischen Todes“ entnommen wurde, war der „Kelch“, in Indien der Soma-Trank. In Griechenland wird Sokrates damit bestraft, aus dem Schierlingsbecher zu trinken; und wir werden an Jesus erinnert, der darum bat, daß der „Kelch“ an ihm vorüberziehen möge. Es könnten noch zahlreiche Beispiele verschiedenster Art genannt werden. …
Ein weiteres erwähnenswertes Beispiel von ganz anderer Art ist, daß die weltlichen Herrscher eines Staates bei der formellen „Krönung“ eine Krone oder ein Diadem trugen – eine Zeremonie, die von den Mysterien übernommen wurde. Einige der frühesten Kronen, welche sie trugen, hatten Stacheln, die an die „Dornenkrone“ von Jesus erinnern.
– ebenda, S. 255
Es waren einzelne Weise, getrieben durch damalige politische Geschehnisse, belauert und verfolgt von den fanatischen Bischöfen des frühen Christentums – die damals weder ein festgelegtes Ritual noch Dogmen oder Kirchen hatten – es waren diese Heiden, welche die Kirchen gründeten. Indem sie die Wahrheiten der Weisheits-Religion äußerst genial mit den exoterischen Fiktionen, welche die breite Masse so sehr liebte, mischten, waren sie es, welche die ersten Grundsteine der ritualistischen Kirchen legten …
– H. P. Blavatsky: Lucifer, Vol. IV, März 1889
Andere auffällige Beispiele sind die Feste zur Weihnachts- und Osterzeit. Diese sind vermaterialisierte (verweltlichte) Widerspiegelungen der heiligen Einweihungszeremonien, wie sie damals existierten und in Symbolen beschrieben wurden, die aber die Kirche als materielle Vorgänge auslegte. Das alles unterstützt unsere Behauptung, daß das Christentum am Anfang die reine alte Weisheit vertrat. Glücklicherweise liegt das dunkle Mittelalter hinter uns. Es ist vorbei, und ein langer Zyklus voller Möglichkeiten liegt vor uns, aber die alten Dogmen hinterließen einen Makel, der bis heute noch nicht verschwunden ist. Zu den Lehren, die verdrängt wurden, die jedoch zum Verständnis des Lebens wesentlich sind, gehört die Reinkarnation. In den ersten Jahrhunderten des christlichen Zeitalters glaubte man daran, aber als die Kirche eine politische Macht wurde, setzte sie sich zur Wehr. Schließlich wurde die Reinkarnationslehre auf dem zweiten Konzil von Konstantinopel, 553 n. Chr., verbannt, wonach das Wissen über sie und von ihr allmählich in der dunklen Nacht erlosch, die dem Bann folgte.
Ohne die Tatsache der Reinkarnation wäre das Leben eine Absurdität, eine groteske, sinnlose Komödie. Die Ereignisse, Emotionen, Bestrebungen, das Glück oder Unglück in einer einzelnen Lebensperiode wären ebenso unlogisch, zusammenhanglos und durcheinander wie die eines bestimmten Tages, dessen Gestern und Morgen fehlen würden. Versuchen Sie einmal sich einen solchen verrückten, aus seinem Zusammenhang gerissenen Tag vorzustellen. Oberflächlich betrachtet könnte man sagen, daß wir von einem Tag zum nächsten denselben Körper, denselben Verstand und die gleiche Erinnerung besitzen. Das trifft nicht für die aufeinanderfolgenden Leben zu. Die vielumfassende archaische Philosophie, deren Aspekte alle ineinandergreifen und die alle Teile auf das Ganze bezieht, kennt jedoch keine unerklärbare Lücke, sondern zeigt die perfekte Analogie zwischen dem Tages- und dem Lebenszyklus. Alle Wesenheiten, welche die zusammengesetzte Natur des Menschen formen, trennen sich, wie bereits erwähnt, am Ende eines Lebens und kehren in ihre eigenen Bereiche zurück. Der Körper fängt an, sich zu zersetzen, und seine Lebensatome sammeln Erfahrungen, während sie durch die Naturreiche ziehen. Das menschliche oder reinkarnierende Ego, das in einen Bewußtseinszustand übergeht, der Devachan genannt wird, läßt die Eigenschaften oder Skandhas zurück, welche die Persönlichkeit formen. Diese lange Nacht ist für die menschliche Seele eine Zeit des absoluten Glücks und der völligen Ruhe. Alle Erfahrungen aus der Vergangenheit werden assimiliert, alle höheren Bestrebungen werden verwirklicht und im Charakter verwoben. Die Seele erwacht erfrischt und gestärkt aus dieser Nacht, um ihre noch nicht erledigten Pflichten wieder aufzunehmen. Eine auffallende Tatsache in der Analogie zwischen dem Schlaf und dem Tod ist, daß der vollständige Mensch in all seinen Bestandteilen als derselbe zurückkehrt. Die höheren Aspekte werden wieder zusammenwirken, die Skandhas werden wieder aktiv, und dieselben Lebensatome, welche den alten Körper bildeten, werden wieder magnetisch zu ihrer früheren Stelle zurückgezogen. Die Kulisse ist neu, aber der Schauspieler ist derselbe. Er hat dieselben Energien und Neigungen, dieselbe Fähigkeit oder Unfähigkeit, um die Probleme, die er selbst geschaffen hat, zu lösen und denen er deshalb die Stirn bieten muß. Ohne die Kenntnis dieser Tatsachen ist es für einen Menschen unmöglich zu begreifen, daß er ernten muß, was er einst säte. Der Faden der Kontinuität, der für die höhere Natur des Menschen ungebrochen und deutlich sichtbar ist, ist in jeder folgenden Geburt für das neue Bewußtsein nicht wahrnehmbar. Weil die Intuition durch falsche Dogmen verdunkelt wurde, ist das Leben zu einem Rätsel geworden. Unsere Zivilisation zeigt tatsächlich die traurigen Folgen des Verlustes eines wahren, tiefwurzelnden Sinns für Gerechtigkeit und Verantwortung.
Das Gesetz von KARMA ist unentwirrbar mit dem der Reinkarnation verwoben. Nur diese Lehre, sagen wir, kann uns das geheimnisvolle Problem von Gut und Böse erklären und den Menschen mit der schrecklichen und scheinbaren Ungerechtigkeit des Lebens aussöhnen. Nur eine solche Gewißheit kann unseren empörten Gerechtigkeitssinn beruhigen. Denn, wenn jemand, der mit der edlen Lehre nicht vertraut ist, um sich blickt und die Ungleichheiten von Geburt und Besitz, von Intellekt und Fähigkeiten beobachtet; wenn jemand sieht, daß Narren und Bösewichten Ehre erwiesen wird, auf die das Glück seine Gaben durch den bloßen Vorrang der Geburt angehäuft hat, und seinen nächsten Nachbarn mit all seinem Verstand und edlen Tugenden – der in jeder Beziehung viel mehr verdient – aus Not oder aus Mangel an Sympathie zugrunde gehen sieht; wenn jemand das alles sieht und sich abwenden muß, ohne Möglichkeit, das unverdiente Leiden zu lindern, wenn seine Ohren klingen und sein Herz von den Schmerzensschreien um ihn her blutet – dann bewahrt ihn allein jenes gesegnete Wissen von Karma davor, Leben und Menschen, sowie ihren vermuteten Schöpfer zu verfluchen …
Wahrhaftig, ein fester ‘Glaube’ ist erforderlich, um zu glauben, daß es ‘Vermessenheit’ ist, die Gerechtigkeit von jemand in Frage zu stellen, der den hilflosen schwachen Menschen nur dazu erschafft, um ihn zu ‘verwirren’, und einen ‘Glauben’ zu erproben, mit dem ihn zu begaben jene ‘Macht’ obendrein vergessen, wenn nicht unterlassen haben mag, wie es manchmal vorkommt. Man vergleiche dieses blinde Glaubensbekenntnis mit dem philosophischen Glauben, der auf jeglichem vernünftigen Beweise und auf Lebenserfahrung beruht, an Karma-Nemesis oder das Gesetz der Wiedervergeltung …
Karma schafft nichts, noch plant es. Der Mensch ist es, der plant und Ursachen schafft, und das karmische Gesetz gleicht die Wirkungen aus, dieser Ausgleich ist keine Handlung, sondern universale Harmonie, die immer danach strebt, ihre ursprüngliche Lage wieder einzunehmen, wie ein Bogen, der, zu gewaltsam niedergebogen, mit entsprechender Kraft zurückspringt. Wenn er zufällig den Arm, der versucht hatte, ihn aus seiner natürlichen Lage zu biegen, verrenkt, sollen wir da sagen, daß es der Bogen war, der unseren Arm gebrochen hat, oder daß unsere eigene Torheit uns hat Schaden nehmen lassen?
– H. P. BLAVATSKY, Die Geheimlehre, Bd. II, S. 317-19
Karma und Strafe
Nicht Zorn, noch Gnade kennt’s; es mißt sein Maß
Untrüglich, fehlerlos ist seine Waag’;
Zeit gilt ihm nichts: es richtet morgen wohl,
Vielleicht nach manchem Tag.
– EDWIN ARNOLD, Die Leuchte Asiens
Der Sinn für Gerechtigkeit ist im menschlichen Denken tief verwurzelt, denn sein Denkvermögen ist ein Teil des Kosmos, dessen Aktionen und Reaktionen alle auf Gerechtigkeit gründen. Es gibt nichts, was ein Kind mehr empört oder einen Erwachsenen mehr verbittert als das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Ein Mensch akzeptiert ein Unglück zumindest dann ohne Bitterkeit, wenn er weiß, daß er es verdient hat. Im Hinblick auf die herrschende Lebensauffassung, die allgemein herrschende Selbstsucht und den Grundsatz ‘jeder für sich allein’, schenkt man in der westlichen Welt dem Vertrauen in die Gerechtigkeit der Dinge wenig Beachtung. Wie könnte dies auch möglich sein, nach Jahrhunderten der falschen Lehre und der Gefühle der Rache, von denen nur wenige frei blieben? Nur eine wirkliche Lebensphilosophie kann den Menschen veranlassen, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Es muß eine erhabenere Sichtweise des Lebens geben, als es die Vorstellung von einem einzigen Leben bietet. Häufig sieht man, daß das Gute bestraft und das Schlechte belohnt wird. Solange man nicht erkennt, wie dies mit Gerechtigkeit in Einklang zu bringen ist, wird es nicht möglich sein, das Herz von Bitterkeit zu befreien, Mißtrauen in Vertrauen zu wandeln und den trügerischen Schein zu besiegen, durch welchen man in jedem anderen Menschen einen Feind sieht. Da die Theosophie Ordnung im menschlichen Denken schaffen kann und damit die Ordnung und die Harmonie enthüllt, die die Natur immer anstrebt, kann sie uns vor uns selbst beschützen.
Gerechtigkeit fordert keine Bestrafung und schon gar nicht durch unsere Hand. Karma wird dafür Sorge tragen und zwar effizienter als wir es tun könnten, indem es jedem genau das bringt, was er verdient. Warum sollte man dem noch etwas hinzufügen? Unsere einzige Sorge muß sich darauf beschränken, die Menschen zu lehren, dem, was sie verdienen, tapfer ins Auge zu sehen. Was könnten wir erreichen, wenn unsere Gefängnisse sich mehr auf Erziehung als auf eine Bestrafung richteten? Zum Glück setzt sich diese Erkenntnis allmählich durch, und wir sind uns in zunehmendem Maße bewußt, daß eine ‘Strafe’ keine Besserung zustande bringt. Eine der schlimmsten Formen der Pflichtverletzung gegenüber unseren Mitmenschen ist die leider noch in einigen Ländern angewandte Todesstrafe. Für jene, welche die Verantwortung dafür tragen, muß ein solcher der Natur entgegenarbeitender Eingriff ein schweres Karma zur Folge haben. Selbstverständlich muß die Gesellschaft vor Verbrechern geschützt werden, aber in einer solchen Weise, daß diese sich bessern und nicht noch schlechter werden.
Die Theosophie zeigt genau auf, welche Folgen es hat, jemandem das Leben zu nehmen, eine Widrigkeit gegen die Ordnung, die in gewissem Sinne noch schlimmer ist, wenn der Staat der Mörder ist, weil dann so viele Menschen an der Tat beteiligt sind. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, kann man sagen, daß jene, die auf gewaltsame Weise des Lebens beraubt werden, nicht wirklich sterben, d. h. die Erdatmosphäre nicht verlassen, sondern auf der astralen Ebene verweilen und hier in gewisser Weise freier als hinter den Gefängnisgittern sind, bis ihre natürliche Lebenszeit abgelaufen ist. Hier können sie schwache Naturen zu Verbrechen anspornen und ihre Gefühle des Hasses der Gesellschaft gegenüber, die sie so schlecht behandelte, in die Gedanken lebender Menschen übertragen. Bedenken Sie einmal das schreckliche Karma aller Beteiligten und vergleichen es mit dem Ergebnis eines überlegten und aufrichtigen Versuchs, den Übeltätern aus ihrer mißlichen Lage zu helfen. Es steht fest, daß durch falsche Methoden Verbrecher erschaffen werden können.
Widerstehe dem Übel nicht und vergelte Böses mit Gutem ist eine buddhistische Vorschrift, die ursprünglich im Hinblick auf das unerschütterliche karmische Gesetz gepredigt wurde. Auf jeden Fall ist es eine verwegene Entweihung, wenn der Mensch das Gesetz in seine eigene Hand nimmt. Menschliche Gesetze dürfen einschränkende Maßnahmen ergreifen, aber keine Strafmaßnahmen anwenden; ein Mensch aber, der an Karma glaubt und sich dennoch rächt und weigert, jedes Unrecht zu verzeihen und Böses mit Gutem zu vergelten, ist ein Übeltäter und schadet nur sich selbst. Da Karma den Menschen, der ihm Unrecht tat, sicher bestrafen wird, wird jener, der versucht, anstelle der Bestrafung durch das große Gesetz seinem Feind noch eine zusätzliche Strafe zuzufügen, nur die Grundlage für eine zukünftige Belohnung seines Feindes und eine Bestrafung seiner selbst schaffen.
– H. P. BLAVATSKY, The Key to Theosophy, S. 200
Es gibt noch einen weiteren Aspekt in Bezug auf das komplexe karmische Gesetz. Neben der Mehrheit der Menschen, die unwissend und ungefragt Mißgeschicke erleiden müssen gibt es Menschen, welche diese Mehrheit in der Lebensschule hinter sich gelassen haben. Manchmal nehmen deren Egos ganz bewußt sogenanntes schlechtes Karma auf sich, um sich darin zu üben, Schwächen zu besiegen und Kräfte zu stärken. Oder aber sie übernehmen eine mühevolle und wenig erfreuliche Aufgabe, indem sie freiwillig in Elendsvierteln oder Entwicklungsgebieten leben, ausschließlich um ihren Mitmenschen zu helfen. Zum Glück begegnen wir immer öfter derartigen Beispielen, die Lichtblicke vor dem dunklen Hintergrund unserer Zivilisation sind.
Daß unser Gefühl für Gerechtigkeit bis zu einem gewissen Grade verdunkelt ist, zeigt sich vielleicht auch in dem Glauben an das Gebet zu einem Gott ‘außerhalb von uns selbst’. Das hat nichts mit Streben zu tun oder dem Bemühen, den ‘Gott in uns’ zu erreichen – letzteres sollte immer im Hintergrund, oder besser im Vordergrund unseres Bewußtseins stehen –, sondern mit dem Bitten um persönliche Vorteile. H. P. Blavatsky nennt dies töricht und sinnlos, es sei denn, es ist mit Willenskraft verbunden; wenn dies geschieht, wird es zur schwarzen Magie. Stellen Sie sich zwei Armeen vor, deren Ziel es ist, einander umzubringen, und die beide Gottes Segen für den Sieg erflehen! Ein aufrichtiges Gebet für persönliche Vorteile wirkt schwächend und herabsetzend; wenn es nicht aufrichtig ist, ist es reine Heuchelei. Wieviel gesünder, stimulierender und erhabener ist die Lehre von Karma. Sie appelliert an die angeborene Würde des Menschen und lehrt ihn, daß er der Meister seines eigenen Schicksals ist; daß er ernten wird, was er gesät hat; daß es keinen Zufall im Universum gibt; daß es keine ‘bevorzugten’ Wesen gibt, sondern daß die unbegrenzten Schatzkammern der Natur all jenen offenstehen, welche die Bedingungen erfüllen. Es gibt für uns alle noch eine gütigere Seite der Gerechtigkeit, die wir nicht vergessen sollten. Nach einem Leben des Kampfes, der Übung, vielleicht des Schmerzes und der Enttäuschung, folgt Devachan, ein Ausgleich von Segen und Ruhe, eine Vorbereitung auf den neuen Tag.
Dies ist das Gesetz; es wirkt Gerechtigkeit,
Niemand entgeht ihm, keiner hemmt’s zuletzt;
Sein Urgrund ist die Liebe, und sein Ziel
Fried’ und Vollendung. Ihm gehorchet jetzt!
– EDWIN ARNOLD, Die Leuchte Asiens
Das Karma der Nationen und Rassen
Wir haben festgestellt, daß das Leben eine Einheit ist, daß es einen gemeinsamen Ursprung hat, mit anderen Worten, daß das Universum ein großer Organismus ist, worin sich unzählbare kleinere Organismen in einem unendlich aufteilbaren Reich befinden. Sie alle haben ihre Wurzeln in der unbekannten Quelle und steigen daraus empor wie Kinder aus ihren Eltern. So existieren Herrscher über den Kosmos, über das Sonnensystem, über Planeten; es gibt Götter, Halb-Götter, große Seher und Weise. Absteigend erkennen wir, daß Menschen in Ländern, Städten, Familien und so weiter vereinigt sind. Daraus ergibt sich, daß Karma sowohl kollektiv als auch individuell wirken muß. Große Zyklen werden ihren Einfluß auf die Rassen in ihrer Gesamtheit haben, kleinere Zyklen werden die unterschiedlichen Unterteilungen beeinflussen. Manche sehen dies als Fatalismus, als ein unvermeidbares Schicksal, aber davon ist ebensowenig die Rede wie bei den individuellen Zyklen. Diese Gruppierungen sind nicht willkürlicher als jene, die der Chemiker unter den Elementen findet. Alle sind dort, wohin sie gehören. Und alle haben sie ihre eigenen Anziehungskräfte gebildet.
Die Wahl der Umgebung fängt beim Individuum an. Die reinkarnierenden Egos bringen bei ihrer Rückkehr zur Erde ihren eigenen Charakter mit, ein Axiom, das selbstverständlich zu sein scheint. Da die Egos bestimmte Neigungen haben, werden sie notwendigerweise zu den Eltern hingezogen, die in der Lage sind, ihnen einen Körper zu geben, der am besten mit ihren Charakterzügen übereinstimmt. Diese Lehre wirft ein neues Licht auf die Frage der Vererbung und stimmt mit der essentiellen Gerechtigkeit vollkommen überein. Von diesem Standpunkt aus gesehen können Kinder die Verantwortung für ihre eigenen schlechten Neigungen nicht ihren Eltern anlasten, oder für ihre Geburt und Umgebung dem Schicksal oder dem Zufall die Schuld anlasten.
So wie ein Mensch seine Familie wählt, so wählt die Familie ihre Nation und ihre Rasse, d. h. sie wird dort geboren, wo sie gemäß ihrer inneren Natur zu Hause ist. Persönliche Menschen sind am nationalen Karma beteiligt, weil sie geholfen haben, es zu gestalten. Ein engstirniger und intensiver Nationalismus kann jemanden in einer bestimmten Weise an eine Nation binden. Auf eine ganz andere Weise kann dies ebenso der Fall sein, nämlich durch ein starkes Pflichtgefühl dieser Nation gegenüber oder den Wunsch ihr zu helfen.
Die alten Azteken und andere alte Völker Amerikas starben aus, weil ihr eigenes Karma – das Resultat ihres eigenen nationalen Verhaltens in der fernen Vergangenheit – auf sie zurückfiel und sie vernichtete. Bei den Nationen zeigt sich diese vernichtende Wirkung Karmas in Hungersnöten, Kriegen, Naturkatastrophen und in der Sterilität der Frauen. Letztere Wirkung tritt gegen Ende ein und fegt alle Überreste der Nation hinweg. Die einzelnen Menschen in solchen Rassen oder Nationen mögen durch diese erhabene Lehre gewarnt sein, auf daß sie sich nicht durch achtlose Gedanken und Taten in das allgemeine Nationalkarma verstricken, weil sie sonst von dem nationalen oder Rassenkarma dem allgemeinen Schicksal zugeführt werden. Deshalb haben die alten Lehrer gefordert: „Darum gehet aus von ihnen und sondert euch ab.“
Zusammen mit der Reinkarnation macht diese Lehre von Karma das Elend und die Leiden der Welt verständlich. Die Natur kann dafür nicht verantwortlich gemacht werden.
Das Elend einer Nation oder Rasse ist das direkte Resultat der Gedanken und Handlungen der Egos, die diese Nation oder Rasse bilden. In der fernen Vergangenheit handelten sie übel. Nun müssen sie leiden. Sie verletzten die Gesetze der Harmonie. Das unverbrüchliche Gesetz verlangt die Wiederherstellung der Harmonie, wenn diese gestört wurde. Daher bedeuten die Leiden dieser Egos eine Wiedergutmachung und Wiederherstellung des Gleichgewichts des okkulten Kosmos. Die ganze Menge der Egos muß in der Rasse oder Nation so lange reinkarnieren, bis sich die erzeugten Ursachen ganz ausgewirkt haben. Die Nation mag als physisches Gebilde zwar eine Zeitlang verschwinden, die zu ihr gehörenden Egos verlassen jedoch die Erde nicht; sie kommen vielmehr als die Erbauer einer neuen Nation zurück, in der sie mit ihrem Werk fortfahren müssen und je nach ihrem Karma Bestrafung oder Belohnung erfahren. Für dieses Gesetz sind die alten Ägypter ein Beispiel. Sie erreichten gewiß eine sehr hohe Entwicklungsstufe, aber ebenso gewiß wurden sie als eine Nation ausgelöscht. Aber die Seelen – die alten Egos – wirken weiter und erleben jetzt ihr selbstgeschaffenes Schicksal als eine andere Nation in unserer Zeit. …
Dieser Vorgang ist vollkommen gerecht. Nehmen wir zum Beispiel die Vereinigten Staaten und die Indianer. Letztere wurden von dieser Nation ganz schamlos behandelt. Nun werden die Indianer-Egos in einem neuen Eroberervolk geboren und als Mitglieder dieser großen Familie werden sie selbst die Werkzeuge sein, die die entsprechenden Resultate für die Handlungen zeitigen, die ihnen angetan wurden, als sie noch in den Indianer-Körpern lebten. So geschah es zuvor, und ebenso wird es wieder geschehen.
– W. Q. JUDGE, Das Meer der Theosophie, S. 122-3
Aus der Geschichte geht jedoch hervor, daß bei nationalen Katastrophen oftmals nicht alle Menschen in Mitleidenschaft gezogen werden. Wir fragen uns, warum der Zyklon in seinem anscheinend irrsinnigen Dahinfegen seine Opfer so sonderbar auswählt; warum bestimmte Gebiete von einem Erdbeben betroffen werden und andere nicht; warum einige Menschen zufällig (?) irgendwo anders waren, als die Flutwelle die Stadt vernichtete. Diese bemerkenswerte Tatsache zeigt sich sogar im Falle von Katastrophen, die eine ganze Rasse treffen. Dies wird in der Geheimlehre anschaulich in der Darstellung des Versinkens des bedeutenden Kontinents Atlantis erklärt. Vor dem Ende der glänzenden und intellektuellen Atlantischen Zivilisation entfalteten sich viele spirituelle und höhere psychische Kräfte der Rasse. Viele Atlantier gebrauchten diese Kräfte auf selbstsüchtige Weise und wurden Zauberer und Schwarzmagier. Auf der anderen Seite gab es viele Völker und Stämme, die dem Pfad der rechten Hand folgten, wie dies esoterisch genannt wird, und weiße Magier wurden, die ihre Kräfte unpersönlich nutzten. Letztere wurden von den Großen, die ewig über die Menschenrassen wachen, vor der kommenden allgemeinen Katastrophe gewarnt. In der Geheimlehre, Teil II, Seite 445 – 446, wird eine treffende Beschreibung dieser Periode in der alten Geschichte gegeben. Auf diesen Seiten spielt H. P. B. darauf an, daß die Geschichte des Exodus im Alten Testament auf den Legenden dieses fernen Ereignisses beruht. Sie berichtet, wie der ‘große König mit dem glänzenden Gesicht’ seine Luftschiffe zu den Häuptlingen des ganzen Landes sandte, und wie die großen Adepten und ihre Anhänger in Vimanas oder Luftschiffen, welche die unseren weit übertreffen, in sichere Gegenden dieser Erde entkamen und die Gründer der fünften Wurzelrasse wurden. Die Beschreibung schließt folgendermaßen:
… die davongeführten Völker waren so zahlreich wie die Sterne der Milchstraße … Wie eine Drachenschlange langsam ihren Körper aufrollt, so trennten sie die Söhne der Menschen, angeführt von den Söhnen der Weisheit, ihre Gewirre und breiteten sich aus, ausgegossen wie ein rinnender Strom süßen Wassers … viele der Schwachherzigen unter ihnen gingen auf ihrem Wege zugrunde. Aber die meisten wurden gerettet.
– Die Geheimlehre, II, S. 446
Man kann hier das wohltätige Wirken der Natur erkennen. Wenn es auch die Bestimmung der bösartigen Atlantier war, in der fünften Rasse zu reinkarnieren, so wurden sie doch in neuen, unberührten Ländern geboren, wo die Nachfolger des Gesetzes die Herrschaft bereits übernommen hatten und wo die Möglichkeiten, sich zu bessern, größer waren. Wie dem auch sei, sie sind ein Teil von uns selbst, und man sagt, daß wir noch immer unter dem Atlantischen Karma leiden. Da wir wissen, daß enge Bande die menschliche Familie zusammenhalten, müssen wir daraus schließen, daß die Verantwortung für die störenden Elemente nicht enden wird, bevor alle abgegolten sind. Sollte man das nicht erkennen, dann wird das Leiden, welches sie den weiter Fortgeschrittenen unter uns zufügen, eine Erinnerung an unser unglückliches Atlantisches Erbe bleiben und uns zum Handeln zwingen.
Karma ist, wie gesagt, universal. Es vollzieht sich von Welt zu Welt. Planeten werden aus ihrem Elter-Planeten geboren, und das gilt auch für Sonnensysteme und Universen. Alles ist die Folge einer vorausgehenden Ursache. Nichts geschieht zufällig. Die Völker unserer Erde gestalten in der Tat ihre eigene Geschichte, sie erwecken Kräfte, die sich an einem bestimmten Punkt vereinigen werden, so daß die großen Seher die Zukunft voraussehen können, auf welche die Vergangenheit und die Gegenwart so deutlich hinweisen. Sie wissen, weshalb und wann eine Rasse ihren Lebensweg gehen muß, wann Katastrophen stattfinden werden, wann Zivilisationen ihre Höhe- und Tiefpunkte erreichen und deshalb wissen sie genau, wie und wann sie ihre Energie einsetzen müssen, um das schwere Karma der Welt etwas zu erleichtern, sofern es möglich ist.
Warum erfaßt diese (karmische) Unfruchtbarkeit gewisse Rassen zu ihrer „bestimmten Stunde“ und rottet sie aus? Die Antwort, daß dies eine Folge des „mentalen Mißverhältnisses“ zwischen der kolonisierenden und der eingeborenen Rasse ist, ist offenbar eine Ausflucht, da sie nicht die plötzlichen „Unterbrechungen der Unfruchtbarkeit“ erklärt, welche so häufig unvermutet eintreten. … Die Ethnologie wird früher oder später mit den Okkultisten übereinstimmen, daß die wahre Lösung in einem Verständnis Karmas gesucht werden muß. Wie Lefévre bemerkt: „Die Zeit naht heran, wo nur mehr drei große Menschentypen übrig bleiben werden.“ Wir stehen vor dem Aufdämmern der Sechsten Wurzelrasse; die drei Typen sind der weiße (arische fünfte Wurzelrasse), der gelbe sowie der afrikanische Negertypus – mit ihren Kreuzungen (atlanto-europäische Abteilungen). … Jene, welche begreifen, daß eine jede Wurzelrasse durch eine Stufenleiter von sieben Unterrassen mit je sieben Zweigen und so weiter hindurchläuft, werden das „Warum“ verstehen. Die Flutwelle der inkarnierten Egos ist über sie hinausgerollt, um in entwickelteren und weniger greisenhaften Stämmen Erfahrungen zu ernten; und ihr Verlöschen ist daher eine karmische Notwendigkeit.
– H. P. BLAVATSKY, Die Geheimlehre, II, S. 824-5
Doch ist in der Vorhersage zum mindesten solcher zukünftiger Ereignisse, welche alle auf Grund der zyklischen Wiederkehr vorausgesagt werden, kein physisches Phänomen enthalten. Sie ist weder Vorahnung, noch Prophezeihung; nicht mehr als die Ankündigung eines Kometen oder Sternes viele Jahre vor seinem Erscheinen. Einfach Kenntnis und mathematisch richtige Berechnungen befähigen die weisen Männer des Ostens vorauszusagen, daß zum Beispiel England am Vorabend dieser oder jener Katastrophe steht; daß Frankreich sich einem solchen Punkte in seinem Zyklus nähert; und daß Europa im allgemeinen von einer verheerenden Umwälzung bedroht ist, oder vielmehr am Vorabende derselben steht, zu welcher sein eigener Zyklus von Rassenkarma es geführt hat. Unsere Anschauung von der Verläßlichkeit der Mitteilung hängt natürlich von unserer Annahme oder Verwerfung der Behauptung einer ungeheuren Periode historischer Beobachtung ab. Östliche Initiierte behaupten, daß sie Aufzeichnungen über die Entwicklung der Rassen und über Ereignisse von universaler Bedeutung beständig seit dem Beginne der vierten Runde aufbewahrt haben – während ihre Kenntnis von den diese Epoche vorausgehenden Ereignissen auf Überlieferung beruht.
– ebenda, I, S. 708
Der praktische Wert von Karma
Die Zukunft ist für viele Menschen unsicher, und man fragt sich, wie man wieder zu normalen Zuständen gelangen kann. Viele sind sich darüber im Klaren, daß sich zuerst die Herzen der Menschen verändern müssen, damit radikale Umgestaltungen von Nutzen sein können.
Die großen Lehrer, von denen zwei die Theosophische Bewegung gründeten, und welche die schwierige Lage voraussahen, sandten ihren Boten, H. P. Blavatsky, damit sie einen Kern universaler Bruderschaft forme. Als notwendige Einleitung hierfür veröffentlichten die Lehrer durch H. P. B. die alten Weisheiten, welche die Grundlage der Ethik sind. Die gängigen Interpretationen der ursprünglichen religiösen Lehren, so wie jede Rasse sie einmal empfing, haben dem Sinn für Gerechtigkeit Gewalt angetan; das tastende Suchen nach der Wahrheit brachte eine große Vielfalt an Sekten hervor, manche gut, andere schlecht, welche die Babylonische Sprachverwirrung übertraf. Nur die alte Weisheitsreligion, die Quelle der großen Religionen und Philosophien aller Zeiten, die Quelle der Künste und Wissenschaften, kann mittels ihrer Universalität und ihres Vermögens, alle Facetten des Denkens zu koordinieren, unserer Welt Harmonie und Gesundheit zurückgeben und die wahre Größe der menschlichen Natur erwecken.
Ein aufrichtiger Glaube an das Gesetz von Karma, bezogen auf das ganze Leben, würde den Charakter unserer Zivilisation schon vollkommen verändern. Diese Aussage mag vielleicht übertrieben klingen, nicht aber für jene, welche die tiefe Bedeutung von Karma verstehen. Es würde eine Erweiterung der gegenwärtigen Lebensanschauung bedeuten, was schon an sich sehr wertvoll wäre. Unsere Vorstellung konzentriert sich auf eine einmalige körperliche Inkarnation, die nicht mehr als ein Augenblick in der Geschichte der Seele ist, und allen Ereignissen in diesem einen Leben wird entweder eine zu große oder eine zu geringe Rolle beigemessen. Der Sinn für Verhältnis und Perspektive ist vollkommen verlorengegangen und kann nur wiedergewonnen werden, wenn der Schleier sich hebt und die unermeßliche Perspektive sichtbar wird. Der gewöhnliche gesunde Menschenverstand würde dann die Fähigkeiten des Urteilens und der Unterscheidung wachrufen, vom Erwachen der spirituellen Natur ganz zu schweigen.
Allmählich würde die Selbstdisziplin wachsen, vielleicht zuerst aus Eigennutz, aber schrittweise würde sie in etwas Größerem aufgehen, bis der Charakter sich radikal verändert hat. Wann immer man zu der Erkenntnis gelangt, daß man Rückschläge sich selbst zuzuschreiben hat, endet das Selbstmitleid und an seine Stelle treten Mut, Willenskraft und Ausdauer. Wenn wir mehr von den Schwierigkeiten und Möglichkeiten der menschlichen Natur verstehen, werden wir uns gegenseitig weniger verurteilen, es wird weniger lieblose Kritik geben und wir werden mehr Freundlichkeit und Geduld für die Versäumnisse anderer aufbringen. Wir alle kennen in unserem Leben das subtile Gift, das uns dazu veranlaßt, andere zu kritisieren, unfreundlich zu beurteilen, ihnen minderwertige Motive zuzuschreiben und so weiter. Und wir wissen auch, wie dadurch viel Freude und Glück im Leben verleidet wird und wie schön hingegen die Atmosphäre ist, wenn statt dessen gesunde Sympathie vorherrscht.
Das Bewußtsein, daß wir die Meister unseres eigenen Schicksals sind, nimmt uns die Furcht davor, daß wir eines Tages durch zufällige Umstände vom Schicksal getroffen werden könnten. Alles, was uns widerfährt gehört zu uns, ist die Folge unseres eigenen Denkens und Handelns in der Vergangenheit. Es ist genau das, was wir brauchen, um über die Mängel und Fehler hinauszuwachsen, welche diese Folgen im Leben hervorriefen. Den Gedanken an eine Strafe, die uns von etwas oder durch jemanden auferlegt wird, müssen wir völlig verbannen. Das bedeutet auch, daß wir uns nicht gegen unser Schicksal wehren sollen, sondern unser Karma akzeptieren oder eine positive Haltung ihm gegenüber einnehmen müssen, damit wir, wie es heißt ‘das Beste daraus machen’, indem wir wissen, daß jede beglichene Rechnung uns zu einem freieren Menschen macht.
Die Menschen, die bequem und gleichgültig sind und wenig Sinn für Verantwortung besitzen, werden, wenn Karma im Denken der Mehrheit der Menschen einen festen Platz eingenommen haben wird, allmählich aufwachen, denn auch sie werden mehr und mehr die kraftspendende mentale Atmosphäre spüren. Wenn die Lehre Karmas allgemeine Anerkennung gefunden haben wird, werden wir nicht länger glauben, irgend etwas umsonst bekommen zu können, oder diejenigen beneiden, die mehr als wir selbst besitzen. Wir werden wissen, daß die Zeit und die aufeinanderfolgenden Zyklen alle Fehler zurechtrücken werden; daß die einzige Möglichkeit, die Schätze des Lebens zu erwerben, darin besteht, sich auf seine Pflicht zu konzentrieren und die Folgen dem Gesetz zu überlassen.
Ein Mensch kann aufgrund der Naturgesetze einfach nicht lange alleine leben; und gerade weil so viele Millionen unverständige und unwissende Menschen das versuchen, gibt es so viel Elend und Unglück in der Welt. Die Geschichte zeigt uns, daß die Größe des Menschen von dem Maße abhängt, in dem er sich selbst vergaß und für die Welt lebte. Dies ist offensichtlich, weil ein großer Mensch ein weites Blickfeld besitzt und sich nicht zufrieden gibt, bevor er nicht das größere Blickfeld betritt. Ein Mensch, der nur für sich selbst lebt, hat eine außerordentlich begrenzte und eingeschränkte Sicht, und nur allzubald sieht er, daß die meisten anderen Menschen dieselbe begrenzte und beschränkte Sicht besitzen. Dadurch entstehen die andauernden Erschütterungen und Konflikte sowie die bedrückenden Schicksalsverwicklungen, die das Herz quälen. Es sind die großen Menschen, die große Dinge anpacken, weil ihre Schau groß ist, und es sind die kleinen Menschen, die aufgrund ihrer Unwissenheit und Torheit und ihrer eingeschränkten Sicht versuchen, sich in einen kleinen Winkel der Selbstheit abzusondern, um dort in unwürdiger Isolierung für sich selbst zu leben. Die Natur wird das nicht lange dulden.
Die Einbildungskraft des Menschen kann durch eine große und herrliche Schau angefeuert werden. Betrachten Sie das Universum um uns herum. Gibt es eine einzige Sonne, ein einziges Atom, das für sich alleine leben kann? Nirgends. Und wenn irgendein einzelnes Element versucht, seinem eigenen selbstsüchtigen Weg zu folgen, stellen sich alle anderen Elemente im Universum dagegen und nach und nach wird es durch den ungeheuren kosmischen Druck gezwungen, in die Ordnung und Harmonie des Universums zurückzukehren. Ein Mensch, der mit der Natur wirkt, der für die Harmonie wirkt, der für Liebe wirkt, für Mitleid und Mitgefühl, für Bruderschaft und Güte, wird erkennen, daß der gesamte evolutionäre Strom der Natur mit ihm ist und für ihn wirkt; und der Mensch, der für Haß wirkt, der für persönlichen Vorteil wirkt, der gegen den Strom schwimmt, der seinen winzigen Willen dem evolvierenden Lebensstrom entgegensetzt, wird den Druck des gesamten und unberechenbaren Gewichts der Natur erleiden.
Es gibt nichts, das einen Menschen intellektuell so lähmt und spirituell so blind werden läßt, wie ein bloßes Beschäftigtsein mit seinen eigenen begrenzten persönlichen Kräften. Darin liegt weder Glück, noch Frieden, noch Weisheit; wenn außerdem ein Mensch diesem Pfade der Beschränktheit folgt, bedeutet das Kampf, es bedeutet Elend, es bedeutet Schmerz und Leiden. Doch ist es … hauptsächlich durch Schmerz, Leid und Elend, den Überdruß an Zank und Streit, daß der Mensch besser lernt und den von der Sonne erleuchteten Weg der Weisheit und des Friedens sucht. Schmerz, Leid und Elend sind daher eigentlich verkleidete Engel; sie sind die Wachstumsschmerzen für zukünftiges Gelingen; die Geburtswehen für kommenden Erfolg. Ihre Schönheit liegt unter Gewändern verborgen, welche Widerwillen wecken; sie sind unsere besten Freunde, weil sie uns auf die spirituellen Kräfte und Fähigkeiten aufmerksam machen, die in latentem und schlafendem Zustand in unserer Seele anwesend sind. Schmerz und Leid stärken unsere moralische Natur. Sie stimulieren unseren Intellekt, rütteln unsere schlafenden und oft kalten Herzen wach und lehren uns Sympathie für andere. Sie machen uns zu wirklichen Menschen.’
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 518-9
Doch während die Natur vorwärtsschreitet und die Räder der Zyklen sich drehen, gibt es einige, die zurückbleiben und ihre Erbschaft aus den Augen verlieren, geblendet von dem Wunsch nach persönlichem Gewinn, von dem Ehrgeiz und der Liebe zur Macht. Daher gibt es heute einige, welche die Gelegenheit zurückweisen, auf welche ihre Seele seit Ewigkeiten gewartet hat. Die Zyklen haben sie und uns an den Punkt früherer Erfolge und früheren Versagens gebracht. Wir und sie sind uns in der Vergangenheit ebenso wie auch in diesem Leben begegnet, und wir werden uns auch in Zukunft wieder treffen. Durch unser heutiges Handeln schaffen wir die Verbindungen, die ihren Fortschritt, ebenso wie unseren eigenen zukünftigen und den der ganzen Menschheit, begünstigen oder ihn beeinträchtigen.
Der kritische Punkt des Zyklus liegt jedoch hinter uns; die schlimmste Feuerprobe ist vorbei; keine Macht im Himmel oder der Hölle kann die aufwärtsführende Entwicklung der Menschheit länger aufhalten. Die Scharen des Lichts siegen bereits.
– KATHERINE TINGLEY, Theosophy: The Path of the Mystic, S. 58-9 (Ausgabe 1977)
Band 2: Reinkarnation
Leonie L. Wriht
![Band 2: Reinkarnation](https://theosophie.info/wp-content/uploads/2024/11/TP02-300x300.jpg)
Der eigentliche Mensch ist eine unsterbliche, spirituelle Monade, die den Geist und den Körper als Vehikel nutzt, um sich in der Welt zum Ausdruck zu bringen und Erfahrungen zu sammeln. Viele neigen dazu, sich selbst als ein Produkt einer materiellen Evolution zu betrachten. Dies ist eines der größten Hindernisse im Leben, denn dadurch wird der spirituellen Natur des Menschen wenig oder gar keine Beachtung geschenkt und die Angst vor dem Tode verstärkt. Wie kann jemand wirklich glücklich sein und das Leben sinnvoll finden, wenn er daran glaubt, dass mit dem Tod alles aufhört? Wenn wir davon ausgehen, dass die sinnlich wahrnehmbare Welt die einzige Wirklichkeit ist, können wir die Tatsache eines Weiterlebens nach dem Tode niemals betrachten. Wer sein gesamtes Leben in einem dunklen Kerker verbringt, kann keine Vorstellung davon entwickeln, dass es eine Sonne geben könnte. Noch weniger wird er einsehen, dass sein Leben in vielerlei Hinsicht von dem unsichtbaren, aber nichtsdestoweniger alles erhaltenden Leben der für ihn nicht wahrnehmbaren Sonne abhängig ist.
Wir müssen uns aus dem Gefängnis des Materialismus befreien und in das Sonnenlicht der spirituellen Wahrheit treten. Dann werden wir in uns selbst die Kraft entwickeln können, uns selbst davon zu überzeugen, dass der wirkliche, innere Mensch – der essentielle Kern in jedem von uns – immer existiert hat, unsterblich ist und ebensowenig vernichtet werden kann wie das grenzenlose Universum, von welchem er ein untrennbarer Teil ist.
Weiterhin muss es auch eine befriedigende Erklärung für die Ungerechtigkeiten geben, die das Leben in so großem Maße zu beherrschen scheinen. Es gibt kaum jemanden, der sich nicht dann und wann missachtet fühlt. Haben nicht viele Menschen angeborene Begabungen, die in diesem Leben keine Möglichkeit einer Entwicklung erfahren, und Wünsche, die nicht in Erfüllung gehen können? Und werden nicht auch viele mit einer Neigung zum Bösen geboren, ohne dass sie die Möglichkeit bekommen, diese zu überwinden? Die so deutliche Ungleichheit der Lebensmöglichkeiten ist ausreichend genug, um das menschliche Herz zu verbittern und seine moralische Kraft verkümmern zu lassen.
Es ist wichtig, dass der Mensch seinen Platz er im evolutionären Plan erkennt. Er muss einen besseren Einblick in das Ziel und die Bestimmung der menschlichen Rasse gewinnen. Die Theosophie bringt den Menschen in Beziehung zum Universum und zeigt, dass sein persönliches Bewusstsein ein Strahl des universellen, kosmischen Bewusstseins ist. Mit Nachdruck stellt sie fest, dass der Mensch essenziell ein Bewusstseinszentrum ist und nicht nur sein Körper. Auch sind wir nicht das zufällige Produkt blinder, mechanischer Kräfte. Jeder Mensch ist Teil eines lebenden, organischen Universums. Das Universum selbst ist das Produkt der Evolution und trägt in sich seinen eigenen, sich entwickelnden Lebensplan, in dem alles enthalten ist – Atome, Menschen, Nebelhaufen, Welten, Sonnensysteme und Galaxien – in einem großen Entwicklungsplan, in dem das niedrigste Insekt wie das größte Genie seinen Platz hat.
Theosophische Perspektiven
Band 2: Reinkarnation – Eine verlorene Saite im modernen Denken
© 2000 Theosophischer Verlag der Stiftung der Theosophischen Gesellschaft Pasadena, Eberdingen
Periodische oder zyklische Tätigkeit kann man mit bleibender Gültigkeit eine Gewohnheit der Natur nennen. Auf die gleiche Art und Weise werden auch menschliche Gewohnheiten erworben, nämlich durch Wiederholung, bis die betreffende Wesenheit schließlich automatisch der Gewohnheit folgt; dann ist sie das „Gesetz“, das ihr Handeln leitet. So sind auch Tod und Geburt wirklich tief verwurzelte Gewohnheiten der reinkarnierenden Wesenheit, und diese Reinkarnations-Gewohnheit wird die Zeitalter hindurch andauern, bis sie allmählich durch die wachsende Abneigung des reinkarnierenden Egos für materielles Leben zerbrochen wird, mit anderen Worten, weil die Anziehung zu dieser Sphäre und diesem Plan langsam ihre Macht über das sich wiederverkörpernde Ego verliert.
… Wir Menschen bilden keine Ausnahme hinsichtlich der kosmischen Methoden und Funktionen der Natur. Warum sollten wir – wie könnten wir? Wir sind nicht verschieden vom Universum, vielmehr sind wir ein untrennbarer und integraler Teil davon.
– Gottfried von Purucker, The Esoteric Tradition, S. 655
Wiederverkörperung – eine Gewohnheit der Natur
Der Mensch ist eine unsterbliche, spirituelle Monade, die den Geist und den Körper als ein Vehikel benützt, um sich in der Welt zum Ausdruck zu bringen und Erfahrungen zu sammeln. Viele neigen dazu, sich selbst als ein Produkt einer materiellen Evolution zu betrachten. Dies ist eines der größten Hindernisse im Leben, denn dadurch wird der spirituellen Natur des Menschen wenig oder gar keine Beachtung geschenkt und die Angst vor dem Tode verstärkt. Wie kann jemand wirklich glücklich sein und das Leben sinnvoll finden, wenn er daran glaubt, daß mit dem Tod alles aufhört? Wenn wir davon ausgehen, daß die sinnlich wahrnehmbare Welt die einzige Wirklichkeit ist, können wir die Tatsache des Fortbestehens nach dem Tode niemals vor uns selbst beweisen. Jemand, der sein gesamtes Leben in einem dunklen Kerker verbringt, kann nicht beweisen, daß es eine Sonne gibt. Noch weniger wird er einsehen, daß sein Leben in vielerlei Hinsicht von dem unsichtbaren, aber nichtsdestoweniger alles erhaltenden Leben der für ihn nicht wahrnehmbaren Sonne abhängig ist.
Wir müssen uns aus den Kerkern des Materialismus befreien und in das Sonnenlicht der spirituellen Wahrheit treten. Dann werden wir in uns selbst die Kraft entwickeln können, um uns vor uns selbst zu beweisen, daß der wirkliche, innere Mensch – der essentielle Kern in jedem von uns – immer existiert hat, unsterblich ist und ebensowenig vernichtet werden kann wie das grenzenlose Universum, von welchem er ein untrennbarer Teil ist.
Weiterhin muß es auch eine befriedigende Erklärung für die Ungerechtigkeiten geben, die das Leben in so großem Maße zu beherrschen scheinen. Es gibt kaum jemanden, der sich nicht dann und wann zurückgedrängt fühlt. Haben nicht viele Menschen angeborene Begabungen, die in diesem Leben keine Möglichkeit einer Entwicklung erfahren, und Wünsche, die nicht in Erfüllung gehen können? Und werden nicht auch viele mit einer Neigung zum Bösen geboren, ohne daß sie die Möglichkeit bekommen, diese zu überwinden? Die so deutliche Ungleichheit der Lebensmöglichkeiten ist ausreichend genug, um das menschliche Herz zu verbittern und seine moralische Kraft verkümmern zu lassen.
Es ist äußerst wichtig, daß der Mensch erkennt, welchen Platz er im evolutionären Plan einnimmt. Er muß einen besseren Einblick in das Ziel und die Bestimmung der menschlichen Rasse gewinnen. Die Theosophie bringt den Menschen in Beziehung zum Universum und zeigt, daß sein persönliches Bewußtsein ein Strahl des universellen, kosmischen Bewußtseins ist. Mit Nachdruck stellt sie fest, daß der Mensch essentiell ein Bewußtseinszentrum ist und nicht nur ein Körper, dem bei der Geburt auf die eine oder andere Weise eine Seele zugefügt wurde. Auch sind wir nicht das zufällige Produkt blinder, mechanischer Kräfte. Jeder Mensch ist Teil eines lebenden, organischen Universums. Das Universum selbst ist das Produkt der Evolution und trägt in sich seinen eigenen, sich entwickelnden Lebensplan, in dem alles enthalten ist – Atome, Menschen, Nebelhaufen, Welten, Sonnensysteme und Galaxien – in einem großen Entwicklungsplan, in dem das niedrigste Insekt wie das größte Genie seinen Platz hat.
In einer winzigen Eichel ist die Geschichte von Generationen von Eichen eingebettet. Als Reaktion auf die Einflüsse der Natur entfaltet sich aus dem Herzen der Eichel ein mächtiger Baum, der zum Ausdruck bringt, was die Eiche in ihrer Evolution in einer ungeheuren Vergangenheit entwickelt hat. Das gleiche gilt für den Menschen. In dem göttlichen Bewußtsein, das die Quelle unseres persönlichen Lebens ist, ist die Essenz einer ungeheuren Vergangenheit enthalten, die sich über unvorstellbare Zeiten zurück erstreckt. Unser Erscheinen als Mensch auf dieser Erde ist nur ein Akt im großartigen Drama unserer Evolution.
Die menschliche Rasse ist auch keineswegs eine neue Entwicklung der Natur. Der Mensch entstammt früheren evolutionären Zyklen und nahm hier auf der Erde, die sein gegenwärtiges Übungsfeld ist, wieder einen Körper an. Überdies muß angemerkt werden, daß all die Zeitalter hindurch nicht immer wieder neue Seelen „erschaffen“ wurden. Die Anzahl der sich entwickelnden Seelen auf dieser Erde, die unser Vorstellungsvermögen bei weitem übertrifft, ist festgelegt und stets gleichbleibend. Das bedeutet, daß alle Menschen als evolvierende Egos, in Übereinstimmung mit der Ökonomie der Natur, immer wieder auf der Erde wiedergeboren werden. Wir alle, die unsere heutige Zivilisation bilden, sind zuvor bereits viele Male hier gewesen. Wir waren die Männer und Frauen, welche die großen Kulturen der Vergangenheit formten und wir waren auch in den vielen großartigen vorgeschichtlichen Rasse1 verkörpert, worüber H. P. Blavatsky in ihrer Geheimlehre berichtet.
Die Theosophie geht deshalb von der Präexistenz als einem notwendigen Aspekt der Ewigkeit, etwas, das einen Anfang hat, muß notwendigerweise auch ein Ende haben. Die Natur macht das deutlich genug. Was wir Ewigkeit oder Unsterblichkeit nennen, muß sich endlos erstrecken, sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft. Das innerste Selbst des Menschen ist ein unsterbliches Wesen – ein Gott –, welches sich von Zeitalter zu Zeitalter in neue Körper oder Vehikel kleidet, um darin alle Erfahrungen zu machen, die in dem Universum, zu dem es gehört, möglich sind, und so das Größtmögliche an Wachstum und Selbstausdruck zu erreichen.
Dieses Wachstum und diese Evolution sind ohne Anfang und ohne Ende. Alle Wesen haben daran teil, und sie machen Gebrauch von jenen Körpern, die dem Stadium der Entwicklung, in dem sie sich gerade in diesem Moment befinden, angepaßt sind. Wachstum vollzieht sich nicht in einer geraden, aufstrebenden Linie, sondern in Kreisläufen, die von kurzer Dauer und Umfang sein können, aber auch Perioden und Gebiete umfassen, welche unser Vorstellungsvermögen überschreiten. Diese Zyklen werden durch einen Beginn oder eine Geburt gekennzeichnet, einen Aufstieg und Höhepunkt, gefolgt von einem Niedergang und Ende oder Tod, denen wiederum ein neuer Beginn nachfolgt, wonach sich alles wiederholt. Jede Geburt ist darum eine Wiedergeburt und jeder Tod eine Zeit der Ruhe, die einer neuen Lebensperiode voranschreitet.
Dies gilt für alles, was lebt – Universen, Sonnensysteme, Sonnen, Welten, Menschen, Tiere, Pflanzen, Zellen, Moleküle und Atome. Sie alle kennen einen Anfang, gefolgt von einer Periode geoffenbarter Existenz und einem Ende oder „Tod“, welcher, nach einer Periode der Ruhe in ungeoffenbarter Existenz, wieder durch einen neuen Anfang und eine neue Periode der Existenz abgelöst wird. Das, was wir wahrnehmen sind die Formen, die durch ein Bewußtseinszentrum beseelt wurden, welches das eigentliche evolvierende Wesen ist. Die Formen sind jedoch immer zusammengesetzt und bestehen aus kleineren Leben mit einer eigenen Form, einem eigenen Bewußtseinszentrum und einer eigenen Evolution. Im Falle des Menschen denken wir an die Zellen, im Falle des Universums an die zahllosen Himmelskörper, die zusammen das äußere Universum bilden. So erkennen wir, daß die Natur überall dem gleichen Muster folgt und daß das, was sich im Großen ereignet, sich im Kleinen wiederholt.
Das menschliche Leben ist ein notwendiger und sehr bedeutender Teil des kosmischen Entwicklungsplanes. Wiederverkörperung ist eine Äußerung des universalen Lebensrhythmus, das Wissen von dem Gewohnten in der Natur, das wir überall wahrnehmen, wie beispielsweise bei Ebbe und Flut, Tag und Nacht, Schlafen und Wachen, Leben und Tod, den Jahreszeiten, dem Aufkommen und Verfall von Kulturen usw. Beim Menschen bezeichnen wir den Prozeß der Wiedergeburt oder der Wiederverkörperung mit dem Ausdruck Reinkarnation, was „wieder zu Fleisch werden“ bedeutet oder abermals ein Gewand oder einen Körper von Fleisch anzunehmen. Für die verschiedenen Formen der Wiederverkörperung gibt es unterschiedliche Namen, die sich auf alle Wesen vom höchsten bis zum niedrigsten beziehen, aber hier haben wir es nur mit der Form zu tun, die den Menschen betrifft, und diese wird Reinkarnation genannt. Es ist die periodische Wiedergeburt des spirituellen Egos als Mensch auf der Erde.
Wir fragen uns natürlich, worauf der Zweck des Lebens beruht, denn in dem heutigen Durcheinander von Theorien und Auffassungen scheint es keinen klaren Hinweis auf das Wie und das Warum unserer Anwesenheit auf der Erde zu geben. Kurz gesagt, der Sinn des Lebens ist, das Sterbliche zum Unsterblichen zu erheben. Oder, um die Idee etwas zu erweitern, der unsterblichen, spirituellen Potenz im Kern des menschlichen Wesens Zeit und Gelegenheit zu geben, sich zu entwickeln, zu wachsen und sich zur Vollkommenheit zu entfalten. Der persönliche Mensch, das gewöhnliche, alltägliche Selbst, ist nicht unsterblich. Herr Müller und Frau Schmidt sind keine unsterblichen Wesen. Sie sind nichts anderes als Persönlichkeiten, und als solche reinkarnieren sie nicht. Sie sind nur ein unvollkommenes Abbild der Bewußtheit dahinter, und es ist dieses Bewußtsein, dieses Ego, das reinkarniert.
Wer hatte nicht auch schon einmal das Gefühl, daß das Leben zu kurz ist, zu unzureichend, um alles das zum Ausdruck zu bringen, was man an Inspiration und Fähigkeit in seiner eigenen Natur fühlt. Wie oft hört man, daß jemand sagt: „Nun, wo ich alt bin und der Tod naht, habe ich gerade gelernt, wie ich leben sollte.“ Aber so grausam und verschwenderisch arbeitet das Universum nicht. Allein die Tatsache, daß wir intuitiv wissen, daß große Reserven an Kraft und Möglichkeiten in uns schlummern, die nach Ausdruck suchen, und das tiefe Verlangen in uns, das größere Selbst zu entwickeln, es zu sein, zeugen täglich von dem wirklichen Ziel, das die Natur uns bereitgestellt hat. Nur weil wir von unserem begrenzten alltäglichen Bewußtsein derart beansprucht werden, und nur in seltenen Augenblicken in dem tiefen göttlichen Verlangen des größeren Wesens im Inneren leben, sind wir uns der größeren Möglichkeiten, die das Leben für uns bereithält, meistens nicht bewußt.
Wir sollten vor allem zuerst versuchen, zu erkennen, daß wir in unserem innersten Wesen ein göttliches Bewußtsein, ein göttliches Ego sind, und daß dieses Ego, das wir selbst sind, schon immer existiert hat und niemals aufhören wird zu sein und zu wachsen und sich zur Vollkommenheit hin zu entwickeln. Wir sollten unser ganzes Wünschen und Bestreben darauf richten, uns dieser Einheit mit dem göttlichen Ego bewußt zu werden, und es in unserem täglichen Leben als eine größere und tiefere Individualität als die unseres persönlichen Bewußtseins zu offenbaren. Dann werden wir ein neues Leben beginnen. Dann werden wir zu einem Schöpfer und werden aus uns selbst unsere eigene unbegrenzte, göttliche Bestimmung zum Vorschein bringen. Schließlich werden wir selbstbewußt an dem wirklichen Ziel der Evolution mitarbeiten. Nur durch die Reinkarnation kann der Mensch die Fülle seines verborgenen Reichtums an Kraft und Fähigkeiten, deren wir uns alle in gewissem Maße bewußt sind, zum Ausdruck bringen, gebrauchen und vervollkommnen.
Durch die Reinkarnation ist der Mensch in der Lage, alle Arten menschlicher Erfahrung zu durchlaufen, welche die Erde bietet. Mit jedem neuen Leben gestaltet sich der Charakter durch die Berührung mit der Umgebung vielseitiger. Neue Kräfte und Fähigkeiten entfalten sich aus dem Inneren. Durch das Leid, das wir durchleben, und das tatsächlich unser bester Lehrmeister ist, werden Schwächen und Selbstsucht überwunden, lernen wir unsere Begrenzungen zu erkennen und zu überwinden. Jedes neue Leben offenbart uns eine weitere Chance. Jeder Mensch bekommt auf diese Weise Zeit und Gelegenheit, sich selbst erneut zu formen, und kann durch Selbstbeherrschung und Wiedergutmachung des Schadens, den er möglicherweise anrichtete, zu Besserem gelangen. Jemand, der beispielsweise keine Möglichkeit hatte, seine musikalischen oder anderen Gaben zu entwickeln, weil er in diesem Leben völlig von der Sorge um andere beansprucht wurde, wird in einem folgenden Leben durch die moralische Kraft, die durch das Pflichtbewußtsein erweckt wurde, mehr Gelegenheit finden, seine bis dahin noch gesteigerte Begabung zu entwickeln.
Wenn wir unsere Möglichkeiten also gut wahrnehmen, werden wir von Leben zu Leben beständig wachsen, bis in einer zukünftigen Inkarnation auf dieser Erde der Charakter zum göttlichen Genius erblühen wird und wir in der Fülle unseres wahren spirituellen Seins leben und arbeiten werden.
Welcher Teil des Menschen reinkarniert?
Aus dem bereits Gesagten erkennen wir, daß der Mensch ein zusammengesetztes Wesen ist. Wir haben in seiner Konstitution alle drei Elemente wahrgenommen, nämlich eine Persönlichkeit, die unter dem einen oder anderen Namen bekannt ist, und hinter der Persönlichkeit ein tieferes Reservoir an Bewußtsein, das in den höheren Wünschen seines Wesens zum Ausdruck kommt. Das dritte und niederste von allen ist das animalische Bewußtsein, wozu auch der Körper gehört, das Vehikel der beiden höheren Aspekte im Menschen.
Diese drei Elemente können noch weiter unterteilt werden, so daß sich der Mensch uns als ein siebenfältiges Wesen darstellt. Da wir unser Studium hier aber auf die Reinkarnation beschränken, ist es notwendig, den Menschen als Dreiheit zu betrachten. Das deckt sich mit der Beschreibung des Menschen durch den Apostel Paulus als Körper, Seele und Geist. Diese Einteilung wurde meist vernachlässigt, weil der Mensch nicht genau wußte, was er unter ‘Geist’ verstehen sollte. Paulus lieferte mit dieser dreifachen Einteilung den Beweis dafür, daß er mit den Lehren der Alten Weisheit, nun Theosophie genannt, vertraut war.
Es ist die höhere Natur, auf die bereits hingewiesen wurde, das spirituelle Ego, das reinkarniert. Der technische Ausdruck, den die Theosophie für diesen höheren Teil unseres Bewußtseins verwendet, ist Manas. Dies ist ein Sanskritwort und bedeutet ‘der Denker’, daher können wir das reinkarnierende Ego den Denker im Menschen nennen. Es ist der Ursprung unseres Selbstbewußtseins, von unserer Fähigkeit der Selbstbetrachtung und der Selbstverwirklichung. Durch es treten wir mit dem Leben in Beziehung, verstehen, was wir lernen und fügen so in Form von Charakter und Neigungen die aus der Evolution gewonnenen Erfahrungen in uns ein. Ohne dieses Zentrum des überdauernden individuellen Bewußtseins, in welchem die Ergebnisse der Evolution aufbewahrt werden, würden die Früchte der Erfahrung sich beim Tode auflösen und keine fortschreitende Entwicklung wäre möglich. Es kommt auch durch die Stimme unseres Gewissens zum Ausdruck. Durch es beziehen wir hohe Inspiration und selbstlose Liebe, wir empfangen Eingebungen und Intuitionen aus dem Göttlichen und alle Impulse für unpersönliches und großmütiges Denken und Handeln.
So existieren in uns zwei Selbste: Das Selbst des Egos oder des Denkers, das durch alle unsere Reinkarnationen bestehen bleibt, und das Selbst der Persönlichkeit, das sterblich ist und beim Tode auseinanderfällt. Das Schwanken des Bewußtseins zwischen diesen beiden Selbsten ist das große Mysterium des Lebens. Diese beiden Selbste, die bis jetzt noch so gegensätzlich in ihrem Verlangen und Ziel sind, machen uns zu dem, was wir sind. Wie vertraut sind wir doch alle mit dem Zweikampf zwischen diesen beiden, der immer wieder in uns ausgetragen wird. Die Stimme der selbstsüchtigen Versuchung und der Ruf des unbestechlichen Gewissens – jede Seite kämpft um die Herrschaft Wir vermuten meist nicht, wie tiefgehend und komplex der Kampf ist, bis wir ernsthaft damit beginnen, irgendeinen gewohnheitsmäßigen Fehler zu überwinden, wie schlechte Laune oder irgendeine Schwäche oder tief verwurzelte Selbstsucht. Wir merken dann, daß all unsere inneren und äußeren Kräfte sogleich Partei ergreifen und sich gegeneinander aufreihen. In einem solchen tiefgreifenden, wesentlichen Kampf, wie er zwischen den beiden Naturen des Menschen stattfindet, hat der Sieg zu viele Seiten und unterliegt zu vielen Einflüssen, als daß er in einem kurzen Leben mit eingeschränkter Erfahrung gewonnen werden könnte. Der Kampf muß unter unzähligen Umständen ausgetragen und das Ziel muß durch viele Erfahrungen in einem Leben nach dem anderen erreicht werden, bis schließlich die höhere Natur der einzige Herr und Meister geworden ist.
Woraus entsteht diese Dualität in uns? Warum muß der Mensch sowohl gut als auch schlecht sein? In längst vergangenen Zeiten der Evolution auf unserem Globus wurde das äußerliche, animalische Vehikel des Menschen durch die niederen instinktmäßigen Kräfte aufgebaut. Unter der Wirkung des Evolutionsgesetzes formte es sich langsam zu einem Vehikel für das reinkarnierende Ego. Als dieses Vehikel, bestehend aus Körper und tierischem Bewußtsein, fertig war, nahm das spirituelle Ego es unter seine Obhut und inkarnierte dort, um die weitere Entwicklung zu leiten. Unter dem Einfluß dieses Egos fand nun eine bedeutende Veränderung des Vehikels statt, um es für die Erfahrungen im menschlichen Leben tauglich zu machen. Das spirituelle Feuer des Denkers durch Leben auf Leben stimulierte und entwickelte das Wachstum des bis dahin tierischen Menschen, so daß sich gradweise unter diesem kreativen Einfluß allmählich ein persönliches, halb unabhängiges Bewußtsein entfaltete. Dieses persönliche Bewußtsein, das sich unter der Inspiration seines überschattenden Egos in vielen Inkarnationen langsam ausbreitete, wurde zu der menschlichen Persönlichkeit. Und jetzt ist die Persönlichkeit nicht allein ein Instrument, wodurch das Ego seine eigenen göttlichen Kräfte offenbaren kann, sondern durch ihr eigenes Ringen und Siegen, wozu sie durch ihr Gewissen angespornt wird, beginnt die Persönlichkeit selbst zu evolvieren. Sie entwickelt sich und wächst, sie erhebt sich aus diesem begrenzten persönlichen Bewußtsein und erreicht dabei die eigene Unsterblichkeit. Indem wir unsere niedrigere selbstsüchtige Natur dem Einfluß und der Leitung der höheren unterordnen, machen wir es dem Ego möglich, sein Licht auf dieser Ebene zu offenbaren und daher seine eigenen göttlichen Kräfte auszuüben und zu erweitern. Wenn wir unser persönliches Bewußtsein allmählich veredeln, erheben wir es schließlich auf die Ebene des spirituellen Egos und dadurch wird der Mensch zum unsterblichen Menschen umgewandelt. Auf diese Weise schreitet die gesamte Natur des Menschen in allen ihren Elementen aufwärts in einen höheren Bewußtseinszustand, wozu Dr. de Purucker in Fundamentals of the Esoteric Philosophy (S. 287) erläutert:
Das Werk der Evolution besteht in . . . dem Erheben des Persönlichen zum Unpersönlichen, dem Erheben des Sterblichen, damit es sich in das Gewand der Unsterblichkeit hüllt, dem Erheben des Tieres, um ein Mensch zu werden, dem Erheben eines Menschen, um ein Gott zu werden, dem Erheben eines Gottes zu einem noch erhabenerem Gott.
Es ist jedoch so, daß der persönliche Teil unseres Wesens sich noch immer auf dem Pfad zu einer solchen Vollkommenheit befindet. Wir sind noch weit von dem Ziel entfernt. Die gesamte Rasse ist noch in der Unwissenheit über das Spirituelle gefangen; Leiden und Verwirrung von Geist und Herz haben es im Griff, weil wir noch nicht gelernt haben, unser Bewußtsein in dem überdauernden und wahren Teil in uns zu verankern, dem spirituellen Ego. Wir sind fast gänzlich von den persönlichen Interessen unserer Natur überflutet. Diese Persönlichkeit ist gemischt aus einer Mentalität, die mit Leidenschaften, mit emotionalen Eigenschaften und mit physischen Neigungen und Begierden verbunden ist. In dem einen Augenblick ist die Persönlichkeit von scharfsinnigem Verstand in Beschlag genommen, in dem anderen Moment wird sie durch einen Sturm von heftigem Zorn aus ihrer Verankerung gerissen, dann wieder machen physischer Schmerz oder Krankheit sie zu einem hilflosen, ohnmächtigen Geschöpf. Selten aber bleibt jemand lange Zeit derselbe. Wir fallen von einer Stimmung in die andere, und unsere Ansicht vom Leben wandelt sich fortwährend. Wie alle zusammengesetzten Dinge muß die unbeständige Persönlichkeit sich auflösen, wenn die Zeit kommt, in der sich die verschiedenen Energien und Klassen von Lebensatomen trennen, aus welchen sie zusammengesetzt ist. Denn nur homogene Dinge sind unsterblich. Wird dieses Bündel persönlicher Energien aufgelöst, weil das spirituelle Ego in seine eigene Sphäre zurückgezogen wird, mit anderen Worten beim Tode, läßt es die sogenannten Skandhas zurück. Wenn eine Pflanze welkt und stirbt, dann läßt sie ihre Samen in die Erde fallen, welche die Früchte ihrer kleinen Runde des Wachstums und der Entwicklung sind. Sobald jedoch der Kreislauf der Jahreszeiten die zum Keimen erforderlichen Bedingungen wieder zurückgebracht hat, werden aus diesen Samen neue Pflanzen wachsen. Die Saat eines duftenden Veilchens wird wieder seine Artgenossen hervorbringen, die Saat von Unkraut wird wieder Unkraut zum Vorschein bringen. Mit dem psychologisch-tierischen Organismus des Menschen verhält es sich nicht anders. Wenn er stirbt und vergeht, dann läßt er in dem psychologischen Boden der Natur die unsichtbaren Energie-Samen zurück, die sein eigenes Wachstum hervorgebracht haben. Diese Samen oder Wirkungen werden mit dem Sanskritausdruck Skandhas bezeichnet, weil es im Deutschen keinen Ausdruck gibt, der diese inneren Folgen der Lebenserfahrung genau beschreibt. Diese Skandhas sind es, welche die neue Persönlichkeit formen, wenn das Ego zur Inkarnation zurückkehrt. Sie machen den Menschen zum exakten Resultat dessen, was er im letzten Leben dachte, tat und an Charaktereigenschaften aufbaute.
Das, was sich im Menschen reinkarniert, ist das spirituelle Ego, die göttliche Individualität. Die folgenden Worte von Dr. de Purucker werden uns helfen, das Ego und seine Beziehung zu uns selbst besser zu verstehen:
Zwischen der göttlich-spirituellen Monade und dem physischen Körper gibt es aber eine Anzahl Zwischenteile oder -ebenen der menschlichen Konstitution, und jeder derselben hat seine eigene besondere Art und seine charakteristischen Eigenschaften und Kräfte. Jede Zwischenschicht ist ein Feld, auf dem sich eines der Bewußtseinszentren oder der monadischen ‘Prinzipien’ des Menschen offenbart. Diese Kräfte, Energien und Fähigkeiten manifestieren sich als Denken, Intuition, Inspiration, Emotion, Liebe, Haß, Stolz, selbstsüchtige Impulse, Wünsche und vieles mehr, und sie alle unterscheiden sich voneinander als edel oder unedel, je nachdem, ob sie hoch oder niedrig sind, oder besser, ob sie aus spirituellen oder den astral-physischen und niederen Zwischennatur hervorgehen.
Es ist, um genau zu sein, ein bestimmter Teil dieser Zwischennatur, die ebenfalls zusammengesetzt ist und die wir kurz die psychologische Natur nennen können, der reinkarniert oder sich Leben um Leben im menschlichen Fleische wiederverkörpert.
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 679
Erinnerung an vergangene Leben
Warum erinnern wir uns nicht an unsere vergangenen Leben? Das tun wir sehr wohl. Die Frage wird häufig gestellt, aber sie ist eigentlich nicht gut formuliert. Sie müßte lauten: „Warum ist es uns nicht möglich, die Umstände unseres vergangenen Lebens ins Gedächtnis zurückzurufen?“ Unser Charakter selbst ist bereits Erinnerung.
In einer bestimmten Familie werden zwei Kinder geboren, die, was in einer Familie häufig vorkommt, große Charakterunterschiede besitzen. Lassen Sie uns annehmen, daß das eine Kind aufrichtig und vollkommen ehrlich ist, während der Charakter des zweiten Kindes diesbezüglich viel zu wünschen übrig läßt. Das erste Kind hat durch Erfahrung in vergangenen Inkarnationen gelernt, daß Unehrlichkeit minderwertig ist, und es wird daher mit dieser Erkenntnis als einem Teil seines Charakters geboren. Das andere Kind muß diesen Sieg erst noch erringen. Da es nun in einer Familie geboren wird, in der die Umstände zur Verbesserung günstig sind, kann es sich der Tatsache sicher sein, daß es in seiner vorigen Inkarnation bereits einen ersten Versuch in Richtung Verbesserung unternommen hat. So gesehen können wir sagen, daß der Charakter Erinnerung ist. Genialität ist ebenfalls Erinnerung. Alle angeborenen Eigenschaften, gute wie schlechte, sind die Folge vergangener Selbstschulung oder ehemaliger Schwächen in früheren Erdenleben. Es ist ein Segen, daß wir uns nur selten der Umstände erinnern, durch welche diese Siege und Niederlagen ein Teil unseres Charakters wurden. Da wir fast immer durch Leiden und Fehlschläge lernen, die wir machten, wären diese Erinnerungen meistens schmerzlicher Art.
Wir sollten auch nicht vergessen, die Erblichkeit als ein Element der Erinnerung anzuführen. Wie kommt es beispielsweise, daß in ein und derselben Familie mit drei Kindern eines ein Genie ist, das andere ein Geschick für kaufmännische Dinge hat, während das dritte Kind ganz durchschnittlich ist? Wenn wir den Gegenstand der Erblichkeit im Lichte der Reinkarnation betrachten, erhält dieser eine gänzlich andere und tiefere Bedeutung. Wir erben unsere Charaktereigenschaften, oder auch nur einen Teil davon, nicht von unseren Eltern, sondern wir beerben uns selbst aus unserer eigenen Vergangenheit. Wir werden in die Familie geboren, die jene Eigenschaften besitzt, welche zu unserem Karma passen. In seinem Buch Bewußtsein ohne Grenzen schreibt James A. Long hierüber:
Alles, was wir als Vererbung ansehen, ist nichts anderes als der Prozeß eines sich wiederverkörpernden menschlichen Egos, das sich für eine Lebensspanne ins Dasein bringt durch die Vermittlung der Eltern, die selbst gewisse Eigenschaften haben, die mit seinen eigenen korrespondieren. Die einzelnen Kinder in einer großen Familie sind zum Beispiel ganz verschieden, und doch besitzen alle Eigenschaften, die dem Familienstrom gemeinsam sind. Mit anderen Worten, die zur Welt kommende Seele verwendet das Familienkarma als Ausdrucksmöglichkeit; die Eltern erschaffen jedoch das Kind nicht, weder physisch noch geistig noch intellektuell. Sie sorgen für das umweltliche Bühnenbild.
Charakter ist in allen seinen Aspekten Erinnerung, ohne diese gespeicherten, aufbewahrten Erinnerungen, die von Leben zu Leben herübergebracht werden, wäre keine Entwicklung des Organismus, weder physisch, geistig oder moralisch möglich. Evolution hängt von kontinuierlicher Reihenfolge ab, mehr noch, alles wiederholt sich. Die Natur arbeitet mittels der Erinnerung, wodurch Charaktere festgelegt und Typen entwickelt werden. Durch die Erinnerung lernt der Mensch seine Lektion und sein Charakter wird hierdurch geformt. Diese Gewohnheit der Natur, sich fortdauernd zu erinnern, kann als ‘Naturgesetz’ begriffen werden.
Wie bereits im ersten Kapitel gesagt wurde, hat das Ego in jedem Leben eine andere Persönlichkeit. Das muß notwendigerweise so sein, weil wir in jedem Leben etwas Neues lernen, uns geistig und moralisch entwickeln und gefühlsmäßig oder spirituell entfalten, so daß die alte Persönlichkeit nicht mehr genügt – das Ego wächst über seine Möglichkeiten, die ihm als Übungsfeld dienen, hinaus. Daher formt das Ego, wenn es wiedergeboren wird, aus sich selbst eine neue Persönlichkeit, die nach den Erfahrungen gestaltet ist, die ihm in vergangenen Leben einverleibt wurden.
Es gibt noch einen anderen Grund, warum bei der Rückkehr des Ego zur Inkarnation die Erinnerungen noch anhaften und weiterbestehen, aber Einzelheiten vergessen werden. Charakterzüge und Eigenschaften, die in die innere Natur aufgenommen wurden, werden als unbewußte Erinnerungen mitgebracht, aber die neugeborene Persönlichkeit kann sich an keine bestimmten Gegebenheiten aus dem vergangenen Leben zurückerinnern, denn sie war daran nicht beteiligt. Geradeso wie ein Schauspieler nicht sagen kann: ‘Ich war Hamlet’ oder ‘Ich war Macbeth’, sondern vielmehr: ‘Ich spielte die Rolle von Hamlet oder Macbeth’; ebenso kann kein Ego sagen: „Ich war dieser oder jener in einem vorherigen Leben.“ Denn die Persönlichkeit ist nicht das wahre Ich. Sie ist nichts anderes als die Maske oder das Vehikel oder die zeitweise Rolle, durch die das wahre Ich einen seiner Aspekte zum Ausdruck bringt. Wir können den Vergleich erweitern und an einen Schauspieler denken, der während seiner langen Laufbahn viele Rollen gespielt hat. Der Schauspieler kennt Hamlet, Lear und Shylock, aber was wissen Hamlet, Lear und Shylock voneinander?
Was für die Persönlichkeit gilt, gilt ebenso für das Gehirn. Wenn auch dieselben Atome, die das Gehirn in einem früheren Leben formten, jetzt von dem reinkarnierenden Wesen wieder verwendet werden, so ist doch das Gehirn der neuen Persönlichkeit eine völlig neue Verbindung. Denn diese Lebensatome haben selbst eine Veränderung durchgemacht.
Ein weiterer wesentlicher Grund, warum wir uns nicht an die Umstände vergangener Leben erinnern, ist, daß das Universum, zu dem wir gehören, ein Ausdruck von Intelligenz, Weisheit und Mitleid ist. Es ist ein Organismus, eine ungeheure Reihe unendlich abgestufter lebender Wesen, der als Zentrum oder Herz eine Göttliche Intelligenz besitzt, einen der kosmischen Götter. Die ‘Gesetze’ des Universums sind die spirituellen, intellektuellen und vitalen Lebensrhythmen der kosmischen Gottheit; sie strömen über die Zirkulation des Kosmos aus und leiten und kontrollieren alle Dinge, von der mächtigen Sonne bis zu den Elektronen des Atoms.
Diese wohltätigen Gesetze beschützen den Menschen vor Dingen, die seine Evolution behindern, soweit sein freier Wille dem nicht entgegensteht. Die Evolution ist immer auf die Zukunft ausgerichtet; sie ist aufbauend und erneuernd und arbeitet nach Mustern, die selbst ebenfalls eine Entwicklung durchlaufen. Die ständige Beschäftigung mit der Vergangenheit kann der Evolution ernsthaft im Wege stehen. Der Mensch ist durch die Gesetze des Kosmos mit einer hinreichenden Erinnerung an seine eigene Vergangenheit ausgestattet, das ist alles, was er braucht. Er wird durch die Natur der Dinge vor einer Erinnerung an Einzelheiten beschützt, die ihn belasten, ablenken und seiner aufwärts strebenden Natur Leiden zufügen würden. Es ist eine der Wachstumsbedingungen, die ‘niedrigen Wohnungen’ der Vergangenheit hinter sich zu lassen. Wir sind Kinder eines lebenden Universums. Wir legen das Verschlissene immer ab, entwickeln das Neue aus dem Alten und kommen gut damit zurecht.
Zweifelsohne haben wir als spirituelle Egos in unserem menschlichen Drama auf dieser wunderbaren Bühne unseres Planeten Erde viele Rollen gespielt. Durch diese vielfältigen Rollen haben wir den sehr komplizierten psychologischen Apparat entwickelt, die menschliche Natur genannt, ein Apparat, der sich in den meisten Fällen jedem Zustand des menschlichen Daseins unter allen klimatischen Bedingungen und in jeder Umgebung anpassen kann. Daß dem so ist, kann man aus der großen Unruhe, die unter den Menschen herrscht, ersehen, hervorgehend aus dem allgemeinen Gefühl, daß das uns vertraute Leben nichts mehr zu bieten hat und daß die Möglichkeiten erschöpft sind. Die Menschheit fühlt unausgesprochen, daß sie an der Schwelle zu einer neuen Entdeckung steht. Dies ist eine reine Intuition, eine Vorausschau eines neuen Zeitalters, welches gerade heraufdämmert. Natürlich wird eine Zeit kommen, in der jeder von uns imstande ist, sich klar an alle Ereignisse seiner vergangenen Leben zu erinnern. Die Erinnerungen an alles, was uns je geschah, sind unauslöschlich auf die unsterbliche, göttliche Seite der menschlichen Natur eingeprägt worden. Aber wir haben die spirituelle Fähigkeit noch nicht entwickelt, die es uns ermöglicht, die mystischen Aufzeichnungen zu lesen. Wir werden diese Fähigkeit auch nicht entwickeln, solange wir uns immer nur mit dem Verstandesleben und der Persönlichkeit identifizieren. Solange uns Eigeninteressen gänzlich gefangen halten, werden Leidenschaften uns mit Blindheit schlagen und unsere Intuition und schöpferische Kraft durch Vorurteile verschleiert. So verkümmern wir in dem engen Gefängnis unserer Persönlichkeit. Nur gelegentlich erhaschen wir einen Schimmer der Morgendämmerung jenseits unserer Gefängnismauern, wenn die Sonne der wahren Liebe oder der Geist der Selbstaufopferung uns beseelt. Der Mensch muß seinen spirituellen Willen gebrauchen, um die Göttlichkeit seines Wesens zu verwirklichen, und die Fesseln der Selbstsucht und der Unwissenheit abstreifen, um eine neue Welt zu betreten, wozu er nur die Schwelle seines Alltagsbewußtseins überschreiten muß.
Einige Einwände und Missverständnisse
Einer der verbreitetsten Irrtümer ist der Gedanke, daß der Mensch im Körper eines Tieres wiedergeboren werden könnte. Einige östliche Religionen lehren, daß eine solche Inkarnation in einem Tierkörper die Bestrafung für gewisse Sünden sei. Diese Behauptung ist die Entstellung einer ursprünglichen Lehre, die im Laufe der Jahrhunderte entstand; sie wird später erklärt werden.
Die Theosophie bestreitet diese Ansicht energisch. Sie sagt: „Einmal ein Mensch, immer ein Mensch.“ Dies ist eines der großen Axiome der archaischen Wissenschaft. Die Feststellung basiert auf der Tatsache, daß das Universum ein lebender Organismus ist, von dem wir ein Teil sind, und die Gesetze, die unser Leben regieren, haben daher in der Natur dieses Organismus ihren Ursprung. Wenn wir verstehen, was in der physischen Welt geschieht, können wir eine Vorstellung von den entsprechenden Vorgängen in anderen Sphären oder Ebenen innerhalb der Grenzen unseres eigenen Universums erhalten. Betrachten wir den Menschen von diesem Standpunkt aus, dann können wir erkennen, daß ebenso wie der Blutkreislauf und das Nervensystem das Wachstum ermöglichen, so auch die universalen Kreisläufe, die vitalen und spirituellen, die Evolution möglich machen. Im Menschen fließen die Lebenskräfte durch bestimmte Kanäle, die Venen, Arterien und Nerven. Im Universum bewegen sich die Lebenskräfte ebenso entlang bestimmter Kanäle und werden Kreisläufe des Kosmos genannt.
… Manas, der Denker, … tritt nicht in niedere Formen zurück; erstens, weil er dies nicht will, und zweitens, weil er es nicht kann. Denn genauso wie die Herzklappen in unserem Körper verhindern, daß das Blut zurückströmt und das Herz überflutet, so ist auch im größeren universalen Zirkulationssystem das Tor hinter dem Denker verschlossen und sein Rückgang blockiert. Die Reinkarnation, die sich als Lehre auf den wirklichen Menschen bezieht, lehrt keine Transmigration in Naturreiche, die unter der menschlichen Ebene liegen.
– W. Q. JUDGE, Das Meer der Theosophie, S. 91/93
Diese Entstellung des Reinkarnationsgesetzes, das als ‘Transmigration der Seele’ bezeichnet wird, ist die Mißdeutung einer Tatsache, die im Altertum bekannt war und nun wieder vorgebracht wird, nämlich die Transmigration der Lebensatome. Sie wurde folgendermaßen von Dr. G. de Purucker erläutert:
Angewandt auf die Lebensatome … bedeutet dieser Ausdruck, daß die Lebensatome, die zusammen die niederen Prinzipien des Menschen bilden, während und nach der Veränderung, die wir Menschen den Tod nennen, in andere Körper wandern oder übergehen, von denen diese Lebensatome psycho-magnetisch angezogen werden, seien diese Anziehungskräfte nun hoch oder niedrig. . . .
– The Esoteric Tradition, S. 598
Die Art und Qualität des Lebens, das jemand führt, prägt die Lebensatome, woraus die Zellen seines Körpers aufgebaut sind. Nach dem Tod werden diese durch die Anziehung in solche Organismen und Substanzen übergehen, die einen übereinstimmenden Charakter aufweisen und dadurch den geeigneten Kanal für solche Energien bereitstellen, die in den Lebensatomen aufgebaut werden.
Kommt die Zeit der Wiedergeburt und kehren die Lebensatome erneut durch die psycho-magnetische Anziehung zum reinkarnierenden Wesen, zu dem sie gehören, zurück, dann bringen sie durch ihre Transmigration die Einflüsse, die ihnen während des vergangenen Lebens eingeprägt wurden, verstärkt mit. Hieraus können wir ersehen, wie diese Lehre der Transmigration der Lebensatome ihrer wahren und ursprünglichen Bedeutung beraubt wurde.
Einige Menschen lehnen die Idee von der Reinkarnation ab, weil ihnen die Vorstellung unangenehm ist, wieder zu dieser Erde zurückzukommen. Sie sind der Ansicht, genug von den Leiden und Mühen des menschlichen Lebens gehabt zu haben und möchten nicht dorthin zurückkehren. Wie verständlich ein solches Denken über sich selbst auch erscheinen mag, ist es dennoch offensichtlich, daß die Gesetze der Natur sich nicht durch seinen oder ihren Wunsch zur Seite drängen lassen, sollten der Mensch in einem bestimmten Abschnitt seiner Existenz die Richtigkeit und Notwendigkeit der Gesetze nicht einsehen.
Man kann einwenden, daß die Wahrheit der Reinkarnation nicht bewiesen werden kann. Dies wird zum einen häufig von jenen behauptet, die meinen, daß der Tod das Ende von allem ist, und zum anderen von jenen, die glauben, daß das Leben in einem Himmel oder einer Hölle fortgesetzt wird. Man vergißt aber, daß diese beiden Theorien ebensowenig ‘bewiesen’ werden können. Einen ‘Beweis’ für Dinge wie diese kann nur in jedem Menschen persönlich gefunden werden. Es ist klar, daß viele Tatsachen für die Reinkarnation sprechen. Man muß nur an die vielen Zyklen in der Natur denken, wie den Wechsel der Jahreszeiten, Wachen und Schlafen, das Aufkommen und den Verfall von Kulturen usw. Dies sind keine ‘Beweise’ im gewöhnlichen Sinne des Wortes, aber trotzdem weisen diese Vorbilder auf die universalen Prozesse der Periodizität in der Natur hin. Es ist offensichtlich, daß wir durch das Reinkarnieren die Möglichkeit erhalten, die Folgen von Ursachen, die in vergangenen Leben gelegt wurden, zu überwinden und den Prozeß der Entwicklung fortzusetzen. Diese Folgen von Taten oder Gedanken aus der Vergangenheit sind weder Strafe noch Belohnung, sondern eine Gelegenheit zu weiterem Wachstum. Wir begegnen diesen Folgen hier auf der Erde, so daß wir an dem Platz ernten können, wo wir gesät haben.
Jede Tat, die wir ausführen, jede gute und jede schlechte Tat, jeder gute Gedanke, den wir denken, und jeder böse Gedanke, dem wir in unserem Denken Raum geben und der dadurch unsere Handlung beeinflußt: jeder muß seine unvermeidliche nachfolgende Wirkung haben. … Wo soll die Kraft oder Energie sich als Resultat zum Ausdruck bringen? Nur nach dem Tode oder in zukünftigen Leben? Die Antwort lautet: beides, aber hauptsächlich letzteres, in zukünftigen Leben auf der Erde, weil die irdische Kraft sich nicht wirksam in Sphären manifestieren kann, die nicht irdisch sind.
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 660
Wir sollten aber daran denken, daß diese Lehren nichts mit Fatalismus zu tun haben. Wir sind in der Tat in den Fesseln unserer gegenwärtigen Verhältnisse gefangen, womit wir durch unsere frühere Taten verwoben sind. Wir können uns daraus nur befreien, indem wir dem entgegengesetzt handeln. In dem Augenblick, in dem wir dies begreifen, können wir durch den Gebrauch unseres Willens diese Zustände beherrschen lernen und sie dazu benützen, genau entgegengesetzte Ergebnisse zu erzeugen als die, welche daraus hervorgegangen wären, wenn wir uns ihnen willenlos unterworfen hätten. Der Mensch, der sein Wissen und seinen freien Willen gebraucht, wird in zunehmendem Maße Meister seiner selbst und daher seines Schicksals.
Weiterhin fragt man sich häufig: „Wie sollen wir unsere Freunde und Verwandten erkennen, wenn wir in dem folgenden Leben in einem neuen Körper geboren werden?“ Ist Wiedererkennen wirklich notwendig? Wir sind mit unserer Familie und mit unseren Freunden durch Liebe, Sympathie und gemeinsame Erfahrungen verbunden. Wir müssen einander nicht suchen. Familien werden gemeinsam wiedergeboren, damit sie die Fäden wiederaufnehmen können, die sie nun vereinigen. Wir und unsere Freunde werden unvermeidlich voneinander angezogen und zusammengeführt, so ähnlich wie ein Magnet die Eisenspäne aus einem Berg von Sägespänen herausfinden kann. Wir können unseren Freunden und unseren Feinden nicht entrinnen.
Es gibt weiter einige Menschen, die sich gegen die Idee wenden, als Kind wiedergeboren zu werden und von neuem die rein physische Seite des Daseins erlernen zu müssen. Wiederholung ist eine Gewohnheit der Natur, die einen wesentlichen Teil der Evolution ausmacht. Jede Wiederholung kann jedoch, durch die Erfahrung der vorhergehenden, kürzer sein und weniger Anstrengung beinhalten. Über diese Frage schreibt Dr. G. de Purucker folgendes:
… die Zukunft wird Menschen hervorbringen, für die die Kinderjahre und das Säuglingsalter viel kürzer sein werden. Diese Verkürzung ist das Resultat der Evolution. In ferner Zukunft wird die Zeit kommen, in der die Kinder beinahe als fertige Menschen geboren werden – praktisch erwachsen, wenn es auch nicht bedeutet, daß sie in voller Erwachsenengröße zur Welt kommen.
– Questions We All Ask, Serie I, S. 549f.
Das, worauf es uns hauptsächlich ankommt, ist die spirituelle Entwicklung. Wir fühlen die Last physischer Schwächen, weil wir uns in der Vergangenheit unter ihre Herrschaft begeben haben, indem wir überwiegend an materielle und persönliche Befriedigung gedacht und danach gestrebt haben. Dies schuf Hindernisse für das spirituelle Ego, dessen Aktivitäten in der Welt dadurch geschwächt wurden. Das hat auf unseren Körper zurückgewirkt und seine Evolution verlangsamt. Wenn wir in unserem Leben mehr Nachdruck auf das Spirituelle und Unpersönliche legen, werden alle Begrenzungen und Schwächen allmählich verschwinden. Dann wird das Ego frei sein, um seine Vehikel, die es benützt, in Harmonie mit seiner eigenen göttlichen Natur und ihren Zielen zu entwickeln.
Einwände gegen die Reinkarnation kommen gewöhnlich daher, daß man mit der Lehre und wie sie auf die unzähligen im Leben auftauchenden Probleme und wechselnden Situationen anzuwenden ist nicht vertraut ist. Auf Geheiß von anderen kann man natürlich niemanden dazu veranlassen, an Reinkarnation zu glauben. Aber wir können darüber nachdenken und den Gedanken der Reinkarnation als einen möglichen Schlüssel sehen, um unsere Lebensprobleme zu lösen. In diesem Prozeß, in dem uns unsere Intuition häufig zur Hilfe kommt, treten oftmals Argumente zum Vorschein, die (uns) auf die Dauer den ‘Beweis’ für die Wahrheit der Reinkarnation liefern, die für uns die Grundlage menschlicher Gerechtigkeit, des Glücks und des spirituellen Wachstums bilden kann.
Der Prozeß der Reinkarnation
Ausgehend von dem Gedanken der Reinkarnation können wir uns die Frage stellen: „Wo waren wir vor der Geburt?“ Bisher haben wir wenig über den Tod gesagt, und wir werden auch nun nicht näher darauf eingehen. Der Tod ist einer der erhabensten und bedeutendsten Lebensprozesse und wird in einem anderen Handbuch besprochen.
Wie bereits dargelegt, ist der Mensch allgemein ausgedrückt ein dreifach gegliedertes Wesen, und von diesen drei Grundelementen ausgehend schreitet die Evolution entlang dreier verschiedener Linien voran: der spirituellen, der mental-emotionalen und der astral-vitalen, die alle durch den Kanal des physischen Körpers zum Ausdruck kommen. Wenn der Körper stirbt und zerfällt und seine astral-vitalen Kräfte frei werden, folgt diesem Vorgang die allmähliche Auflösung der ganzen Persönlichkeit, des mental-emotionalen Wesens. Doch etwas von der Persönlichkeit wird noch fortbestehen, in einigen Fällen sogar ein großer Teil. Das spirituelle Ego wird nämlich soviel wie möglich von der Persönlichkeit in sich aufnehmen, das heißt, jene Elemente, die von seiner eigenen Art sind – die spirituellen Bestrebungen seiner Persönlichkeit, ihre selbstlosen und reinen Wünsche. Alles, was im Menschen Spiritualität besitzt, hat Anteil an dem Universal – Göttlichen, das den Kosmos beseelt und trägt. Das Ideal der Selbstlosigkeit, der Reinheit und der edlen Taten, nach dem konsequent gelebt wurde, wandelt die strebenden persönlichen Elemente in das unvergängliche Gold des Geistes um. Es verhilft dem Sterblichen zur Unsterblichkeit. Wenn der Tod eintritt, wird diese umgewandelte Energie nicht aufgelöst. Das reinkarnierende Ego fügt sie seiner eigenen Art hinzu.
Dieser Prozeß wird von einer sehr mystischen Erfahrung während des Sterbens unterstützt. In dem Moment, in dem der letzte Atemzug getan wird, betritt das Ego für kurze Zeit die Schwelle des irdischen Portals. Vor seinem nun unverschleierten Blick entrollt sich gleich einem Film ein Panorama all dessen, was in dem gerade beendigten Leben geschehen ist – bis zur letzten Einzelheit.
Im Lichte der sich ihm nun offenbarenden Freiheit folgt der selbstbewußte Denker diesen Lebensbildern, und er erkennt den Plan und die Bedeutung all seiner Erfahrungen, er sieht die Beziehung der Einzelteile zum Ganzen und dieses Lebens zu den vorausgegangenen. Das Verständnis der Gerechtigkeit und des Nutzens seiner Leiden und Prüfungen dringen zum Bewußtsein des Egos vor. Wenn es in die ‘Himmelswelt’, die Devachan genannt wird, aufsteigt, nimmt es diese Erinnerungen mit sich. Hier verbringt es eine lange Ruhezeit. Diese spirituelle Ruhe in der inneren ‘Himmelswelt’ gibt dem reinkarnierenden Wesen Gelegenheit, die Erfahrungen seines vergangenen Lebens auf Erden aufzunehmen und zu verarbeiten. Denn derselbe rhythmische Zyklus der Tätigkeit – Schlaf und Ruhe, Assimilation, gefolgt von erneuerten Energien, ist nicht nur für unseren physischen Körper kennzeichnend, sondern gehört zu allen lebenden Wesen, ob materiell, psychologisch oder spirituell. Natürlich gilt dies gleichermaßen für atomare, planetarische, stellare und kosmische Organismen.
Schließlich schlägt die Uhr und das Ego muß zum irdischen Leben zurückkehren. Warum? Nur deshalb, weil das Ego ausgeruht ist und wieder nach Leben und Wirken verlangt? Dies ist zweifelsohne einer der Gründe, denn der Durst nach Leben und das Wiederholen früherer Erfahrungen ist eine mächtige Ursache der materiellen Wiedergeburt.
Unbestimmte und flüchtige Erinnerungen an die früheren irdischen Schauplätze, die das reinkarnierende Ego einst kannte und liebte, beginnen nun panoramagleich an seinem Bewußtsein vorbeizuziehen. Diese aus dem früheren Erdenleben erwachenden Erinnerungen ziehen das Ego stetig zu den anderen Sphären, die es früher bewohnte, und es beginnt, durch Zwischensphären, -ebenen und -welten ‘hinabzusteigen’; mit dem Niedersinken der Monade werden diese Impulse im Verlaufe der Zeit immer stärker, so daß es, angezogen durch unseren Erdball, schließlich zu einer neuen Verkörperung in irdischer Existenz bereit ist.
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 874
Die Hauptgründe, warum das Ego im Menschen, der Denker, aus seiner Zeit der Ruhe geweckt wird, um zu den Aufgaben, den Freuden und Leiden eines weiteren Erdenlebens zurückzukehren, sind folgende: zum ersten ist der Mensch dem kosmischen Gesetz der Wiederverkörperung unterworfen, dem alles was lebt, selbst die Himmelskörper und die Universen, gehorchen müssen. Auf die zweite Ursache wurde bereits hingewiesen: der Durst nach materiellem Leben, der Hunger, die Sehnsucht nach den Schauplätzen und Erfahrungen der Vergangenheit, an denen wir bewußt oder unbewußt hängen. Dies ist möglicherweise eine der bedeutendsten Ursachen für die Wiedergeburt.
Aber, wie bereits erwähnt, gibt es auch Menschen, die mit großem Nachdruck erklären, daß sie nicht auf die Erde zurückkehren wollen. Der Mensch sagt oder denkt dies, weil die Möglichkeiten und der Kummer in seinem Leben derart waren, daß er sich alles nur keine Wiederholung wünscht. Er fürchtet jedoch nicht das Leben, sondern die Sorgen, den Kummer und die Pein, die das Leben brachte.
Unser Bedauern wegen begangener Fehler oder Unfreundlichkeiten, ein lebenslanger Traum von einer Karriere, die nie möglich war, unbefriedigte Sehnsucht nach Büchern, Musik, Reisen, Luxus, nach passenden Freunden oder nach der Kraft, anderen zu helfen – das sind tatsächliche Energien. Einmal müssen sie eine Auswirkung zeigen. All diese Dinge erzeugen den unbewußten Durst im menschlichen Herzen und nur das menschliche Leben kann den Durst löschen.
Dieser ‘Durst’ ist eine zusammengesetzte unwillkürliche Gewohnheit, bestehend aus einer Reihe von Dingen, wie es bei allen Gewohnheiten der Fall ist, wenn wir uns selbst analysieren. Er besteht aus Liebe, Haß, Zuneigung der verschiedensten Art, aus magnetischer Anziehung der Scharen von Lebensatomen, welche die menschliche Konstitution zusammensetzen, sowohl die sichtbare wie die unsichtbare, und er besteht aus Sehnsüchten und Verlangen von vielerlei Arten, die sich alle während der verschiedenen Lebenszeiten auf Erden in der menschlichen Seele und im Geist ansammeln und die deshalb von den Theosophen kurz ‘Gedanken-Niederschläge’ genannt werden – emotionale, mentale und psychische Neigungen und Vorlieben. Das sind alles Energien, … und sie werden auf das Schicksal des reinkarnierenden Egos einwirken, bis die Evolution und das sich erweiternde Bewußtsein und die Reinigung durch Leiden schließlich das Bewußtsein des Menschen als Individuum zu höheren Ebenen übergehen läßt. . .
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 874
Dann hat die Sache noch eine andere Seite, nämlich die Anziehungskraft der Lebensatome. Dieses ist die dritte Ursache für die Rückkehr des Egos auf die Erde. Wenn die Zeit für die Reinkarnation gekommen ist, ‘steigt’ das Ego entlang dem gleichen Weg ‘hinab’, den es nach dem Ende des letzten Lebens ‘aufgestiegen’ war. Auf dem Wege nimmt es die gleichen Lebensatome wieder auf, die es zuvor zurückgelassen hatte und die nun wieder helfen, seine verschiedenen Vehikel aufzubauen. Die Lebensatome gehören nicht alle zur physischen Ebene. Es gibt verschiedene Klassen, die auf den drei allgemeinen Ebenen der Evolution wirksam sind, nämlich der physischen, der mental-emotionalen und der spirituellen. Diese Klassen von Lebensatomen manifestieren jeweils eine Stufe der Evolution, entsprechend der Ebene, zu der sie gehören. Lebensatome sind unendlich kleine, unentwickelte Gottesfunken, emaniert aus der Zentralen Lebensflamme im Herzen des Universums, und sie bilden die Bausteine auf allen Ebenen des Kosmos; sie formen den ‘Stoff’, aus dem die drei erwähnten Ebenen der Evolution aufgebaut sind und aus welchem die höheren Wesen auf dieser Ebene ihre Vehikel bilden, wodurch sie sich manifestieren können. So werden körperliche Handlungen und Funktionen des Menschen durch die Lebensatome ermöglicht, Lebensatome, die seinen Körper bilden, bis der Tod eintritt, wonach sie befreit werden, um ihre Transmigrationen fortzusetzen. Ebenso besitzt der Mensch seine mental-emotionalen und auch seine spirituellen Lebensatome, durch die sein persönliches Leben und das des Ego zum Ausdruck kommen.
Es gibt natürlich noch andere Ursachen, die zu dem unwiderstehlichen Drang des Ego, zum Erdenleben zurückzukehren, beitragen, aber wir haben hier genug gesagt, um deutlich zu machen, welche ‘Gesetze’ hier zugrunde liegen.
Wir kommen nun zu dem Vorgang, durch den das Ego sein Dasein auf diesem Planeten Erde wieder beginnt. Aus den oben erwähnten Gründen, verbunden mit anderen, die ebenso zwingend sind, erwacht das spirituelle Ego schließlich aus seinem glücklichen Traumzustand und beginnt seinen ‘Abstieg’ zur Erde. Das geschieht ganz allmählich. Die Zustände, die das Ego auf seinem Weg zum stofflichen Leben durchschreitet, sind zuerst psychologischer Art, da das Ego, Manas, das denkende Prinzip ist, das schöpferische, formende, selbstbewußte und intellektuelle Element in uns. Dieses psychologische Element formt zusammen mit dem emotionalen die Persönlichkeit, die das spezifische ‘menschliche’ Bewußtsein im Menschen ausmacht. Die psychologisch-emotionalen Lebensatome, die das Ego an der Schwelle zur Wiedergeburt erwarten, werden gebraucht, um das erste Gewand oder Vehikel zu formen, mit dem sich das Ego umgibt, wenn es aus den höheren, spirituellen Bereichen heraustritt. Dann sind die niederen vitalen Kräfte an der Reihe, die Lebensatome aus etherischer oder astraler und physischer Substanz, die von ihren formativen Neigungen geleitet werden, die im letzten Leben eingeprägt wurden und die dann durch ihre Transmigrationen noch verstärkt werden.
Diese Lebensatome sind die Träger der Skandhas, über die wir schon sprachen. Durch ihre Verbindung mit dem reinkarnierten Wesen werden die Lebensatome durch die physischen, mentalen und emotionalen Neigungen des vergangenen Lebens geprägt oder geformt. Die Transmigrationen der Lebensatome selbst, die nach dem Tode des Körpers beginnen, werden von diesen Skandhas bestimmt. Wenn die Lebensatome zu dem Wesen zurückkehren, das dabei ist, zu reinkarnieren, dann sind es diese Skandhas, die in den Lebensatomen verkörpert sind, welche die Natur und die charakteristischen Merkmale der mentalen, emotionalen und physischen Hüllen des neuen Erdenlebens liefern.2
… Das reinkarnierende Ego … wird magnetisch und psychisch zu der Familie hingezogen … wo schwingungsmäßige Bedingungen bestehen, die seinen eigenen am ähnlichsten sind. Seine niedrigste, d.h. mehr materielle Kraft und Substanz verbindet sich psycho-magnetisch durch ihr eigenes astral-vitales Fluid mit dem ‘Laya-Zentrum’ einer menschlichen Fortpflanzungszelle, wenn die geeignete Zeit kommt; und vom Augenblick der Empfängnis an, ‘der geeigneten Zeit’, überschattet das reinkarnierende Wesen dieses Teilchen, während es von der Empfängnis an durch seine verschiedenen Phasen wächst, vom Leben im Mutterleib zur Geburt, Kindheit und in das Erwachsenenleben.
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 893
Hier stoßen wir natürlich auf die allgemein verbreiteten Theorien der Vererbung, die als die entscheidenden Ursachen aller unserer geistigen und körperlichen Eigenschaften betrachtet werden. Durch die Vererbungstheorie werden die Ungleichheiten im menschlichen Leben nicht erklärt, sondern einfach nur ein wenig in den Hintergrund geschoben. Warum werden einige in den schwierigsten und andere in den scheinbar günstigsten Verhältnissen geboren? Dergleichen Fragen entmutigen den Durchschnittsmenschen mehr als alles andere und sie verlangen dringend nach einer Erklärung. Wenn wir jedoch an die auswählenden Eigenschaften der verschiedenen psychologischen, emotionalen, astralen und vitalen Vehikel denken, die sich bereits vor der Empfängnis um das Ego formen, können wir begreifen, daß ein reinkarnierendes Wesen automatisch aus dem Strom der Erbanlagen seiner Familie genau jene Neigungen verkörpert, welche seiner eigenen Natur entsprechen, wie es sie in der Vergangenheit entwickelte. So gesehen sind die Erbanlagen das, was sie wirklich sind, nur ein anderer Name für die Wirkung der schöpferischen Energien, hoch oder niedrig, die von dem Individuum selbst in seiner Vergangenheit geschaffen wurden. Die Familie und die Eltern sind nur der unumgängliche Kanal, durch welchen diese selbstgeschaffenen Energien sich als Konsequenz in Charakter, Temperament und in der physischen Konstitution auswirken.
An diesem Punkt angekommen, erkennen wir von Neuem, wie die schöpferischen Prozesse der Natur sich wiederholen. Denn ebenso wie das Ego, das den Körper verläßt, ein lebendiges Bild des eben beendeten Lebens an sich vorbeiziehen sieht, so übersieht es nun an der Schwelle des menschlichen Daseins die Ereignisse des kommenden Lebens. Das spirituelle Ego nimmt alles, was geschehen wird, als notwendig und gerecht an; es unternimmt dann freiwillig einen neuen Versuch, um die menschliche Persönlichkeit über das Gewissen und durch die Liebe auf dem Weg zu leiten, der zur Selbsterkenntnis und Selbstbemeisterung führt.
Es ist interessant, darüber nachzudenken, daß wir in gewissen Sinne dieselbe Persönlichkeit sind wie im vorigen Leben, da unser ganzes Wesen aus Lebensatomen aufgebaut ist, die wir in vergangenen Leben benützten. Dennoch, weil alle diese Lebensatome sich bei der Geburt in neuen Kombinationen verbinden und nachdem wir außerdem in Übereinstimmung mit unserer Vergangenheit vielerlei Erfahrungen gemacht haben, so ist unsere neue Persönlichkeit doch gänzlich verschieden von jener, deren wir so überdrüssig waren, als der Tod uns freundlich zwang, sie wie ein abgetragenes Kleid beiseite zu legen.
Ist es nicht sonderbar, stets derselbe und doch immer wieder neu zu sein – die Bewußtseins- und Energiesubstanzen und alle Grade von Materie, durch welche wir als spirituelle Egos tätig sind, zu entwickeln, zu verändern und zu vervollkommnen?
Über die Dauer der Periode zwischen zwei Inkarnationen schreibt Dr. de Purucker folgendes:
Es gibt ein Gesetz oder eine Regel im Okkultismus, die ganz auf dem Wirken der Natur basiert, daß ein Mensch gewöhnlich nach einer Zeitdauervom etwa einhundertfachen der Jahre, die das letzte Erdenleben dauerte, reinkarniert. … Je höher ein Mensch auf der evolutionären Leiter steht, desto länger dauert in der Regel sein Devachan; je materieller ein Mensch dagegen ist, desto kürzer währt sein Devachan. Menschen mit einer sehr materialistischen Einstellung reinkarnieren dann, relativ gesprochen, auch sehr schnell, und diejenigen, die spirituell eingestellt sind bleiben, wie gesagt, viel länger in den unsichtbaren Welten. Warum? Weil ihre Seele dort zuhause ist und sie, je nach dem Grad ihrer Spiritualität, ihre Verbundenheit mit den Welten stärker fühlen. Die grobstoffliche Sphäre, worin sich das irdische Leben vollzieht, ist in gewissem Sinne fremdes Land für ihre Seele. Sie übt auf den spirituell eingestellten Menschen wenig Anziehungskraft aus, jedoch für den Menschen mit materialistischer Einstellung gilt das Gegenteil.
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 680, 684
Dies ist die allgemeine Regel, aber natürlich gibt es Ausnahmen.
Diese kurze Skizze gibt dem Suchenden hoffentlich eine Vorstellung, sei sie auch unvollständig, von der komplexen Thematik der Reinkarnation. Und doch ist sie so einfach zu verstehen, wenn wir die Grundprinzipien der Evolution einmal verstanden haben. Die Grundprinzipien sind: Die Einheit aller Wesen, die zyklische und periodische Natur allen manifestierten Lebens und die Verpflichtung aller Wesen, die den Kosmos bilden, sich entlang der stets aufstrebenden Spirale der Wiederverkörperung zu entwickeln.
Der Einfluß der Reinkarnation
Wenn wir die heutige Weltsituation betrachten, drängt sich der Eindruck auf, daß der Grundton unserer Zeit ein verantwortungsloser Individualismus ist. Beinahe alles, was zur ‘freien Entfaltung der Persönlichkeit’ beiträgt, scheint erlaubt zu sein. Die Resultate, wie sie täglich in der Presse berichtet werden oder wie wir diesen bei unserem vergeblichen Bemühen um moralische und soziale Reform begegnen, sind oft bedrückend.
Wir brauchen eine neue Basis für die ethische Erziehung des Menschen. Kirchen, Erziehungseinrichtungen, sozialer Dienst und Gefängnisreform haben alle ihren Nutzen. Doch bevor nicht das Kind von den ersten Lebensjahren an zu einer vernünftigen, befriedigenden Lebensphilosophie erzogen werden kann, die aus den Tatsachen der Natur selbst erwächst, wird es keine konstruktive, dauernde Verbesserung im moralischen Charakter unserer Zivilisation geben.
Die Theosophie kann solch eine vernünftige Grundlage für die Erziehung und für das Leben bieten. Die Reinkarnation ist nur eine der tiefsinnigen und umfassenden Wahrheiten, und jedes einzelne Gesetz, auf die sie den Menschen erneut hinweist, ist in der Natur begründet. Würde man sie ebenso gewissenhaft studieren wie Chemie oder Musik, so würden sich viele Probleme lösen. Das Leben soll einen Sinn und eine Bedeutung erhalten, und der Mensch soll ein Ziel entdecken, das befriedigt und inspiriert.
Lassen Sie uns nun den Glauben an die Reinkarnation auf seinen ethischen Inhalt hin überprüfen. Als erstes können wir sagen, daß der Mensch anfängt, sich in einem anderen Licht zu sehen. Wenn er an seine eigene Vergangenheit denkt, akzeptiert er die Vorstellung, daß er bereits viele Male gelebt und dazu beigetragen hat, einige der großen Kulturen der Erde zu schaffen. Das gibt ihm das Gefühl, dazu zu gehören, ein Teil des großen Ganzen zu sein, und das ist ein bedeutendes Gegengewicht zu dem Gedanken, ‘in Sünde’ geboren zu sein. Allmählich wird er die Einheit mit dem universalen Leben fühlen; so wird in seinem Herzen der religiöse Instinkt wiedergeboren, und er wird in seinem Empfinden der Einheit mit dem Göttlichen Trost finden.
Später wird er auch seine Umgebung in diesem neuen Lichte sehen und erkennen, daß sie genau so ist, wie er sie in einem vorigen Leben aufgebaut hat. Eine Empfindung kreativer, moralischer Kraft kann sich in ihm entfalten, und er erkennt, daß er ein Mitarbeiter des Ganzen ist. Wenn er an seine Freunde und auch an die, welche er als seine Feinde betrachtet, denkt, weiß er nun, daß sie Gefährten für die Ewigkeit sind, wodurch sich sein Verhalten zu ihnen von Grund auf ändert.
Das gilt auch für die Ehe. Unter dem Einfluß der zeitlichen Umstände scheint sie mit den Jahren immer komplizierter und schwieriger zu werden. Man nimmt sie leichtfertig hin. Häufig verfügen junge Menschen über keine Lebensphilosophie, die ihnen zeigt, wie sie das sexuelle Leben mit ethischen Grundsätzen vereinigen können. Sex ist eine der Tatsachen des menschlichen Daseins. Aber Dank der Tatsache, daß dieses Thema regelmäßig in Presse, Funk und Fernsehen behandelt wird, ist das letzte Wort hierzu noch nicht gesprochen.
Junge Menschen, welche die Reinkarnation jedoch als eine Tatsache in der Natur akzeptieren, erkennen, daß die Sexualität nur zu dem zeitlichen und vergänglichen Teil unseres Wesens gehört, zu der niederen Persönlichkeit, und nicht wie Zufriedenheit, die in ihrer Wesensart beständig ist, zum göttlichen, unsterblichen, reinkarnierenden Ego. Die unbegrenzte Hingabe an die Wünsche und Begierden des niederen menschlichen Aspekts mag ein zeitliches ‘Glück’ bescheren, doch es steht dem höheren Glück im Wege. Die jungen Menschen werden dazu geführt, diese Lehre durch das Studium der Geschichte und der Biographie, durch die Beobachtung des Lebens der Mitmenschen um sie herum, zu testen und bei ihren eigenen Schwierigkeiten anzuwenden. Wenn sie das tun, werden sie in bezug auf die dauerhaften Seiten der Gemeinschaft und Liebe wunderbare Entdeckungen machen, was, könnte man die Jugend in der Welt davon überzeugen, die Gesellschaft völlig umwandeln würde. Wenn junge Menschen glauben, daß sie bereits in früheren Leben zusammen waren und daß ihre heutigen Schwierigkeiten das Resultat vergangener Fehler sind, werden sie leicht begreifen, daß sie das Problem besser gleich anpacken sollten, um es zu einem glücklichen Ende zu bringen. Sich der Situation jetzt zu entziehen, bedeutet lediglich Aufschub und die Bereinigung wird später schwieriger sein.
Was eine harmonische Ehe betrifft, so brauchen wir nur anzumerken, daß die Lehre der Reinkarnation in allen menschlichen Beziehungen und in allen Formen der bleibenden Liebe ein helleres Licht auf die Wirklichkeit einer wahrhaftigen Partnerschaft wirft. Die Ehe ist eine heilige Sache; damit sie jedoch eine wirkliche Ehe ist, muß die Liebe, auf der sie aufgebaut ist, ihren Ursprung im Spirituellen haben. Das Wissen von der Reinkarnation, wenn sie ernsthaft studiert und wirklich verstanden wird, setzt jeglicher moralischer Schwäche ein Ende.
Wie vollkommen anders betrachten die Eltern, die an Reinkarnation glauben, ihre Kinder, als die Väter und Mütter, die meinen, daß die Kinder ihr Eigentum seien oder daß sie zufällige Produkte animalischer Entwicklung seien. Durch die Kenntnis der Theosophie erfahren sie etwas von dem Licht der essentiellen Göttlichkeit des Menschen. Für jene, die das begreifen, ist die Geburt eines Kindes mehr als nur eine äußerliche Geburt, sie ist etwas Göttliches. Das Kind, das im Begriff ist wiedergeboren zu werden, kehrt aus der ‘Himmelswelt’ zurück und bringt eine heiligere und reinere Atmosphäre in das Leben derer, denen es anvertraut ist, mit. Sowohl der Vater als auch die Mutter nehmen Anteil an einem der tiefsten und heiligsten Lebensmysterien. Sie werden sich nicht nur darauf vorbereiten, um ihren Kindern die bestmöglichen Vehikel für das Leben auf der Erde zu geben, sondern sie werden auch mit Freude die tieferen Vorbereitungen auf sich nehmen, um ihre Kinder weise und einfühlsam durch die karmischen Probleme zu führen, die sie aus ihren vergangenen Inkarnationen geerbt haben und von denen sie selbst ein bedeutender Teil sind. Es bedarf keiner Erklärung, daß eine solche Haltung für das Leben der Eltern wie auch der Kinder viel bedeuten kann. Wie Katherine Tingley in einer ihrer Ansprachen sagt:
In einer Familie, die so denkt, ist in der Tat das Königreich der Himmel anwesend. Draußen mögen Stürme wüten, Prüfungen, Armut, Streit, tragische Ereignisse, Enttäuschungen aller Art mögen von außen den Frieden bedrohen; aber wie zahlreich und ernsthaft sie auch sind, sie können die Bauleute jener Familie nicht entmutigen, die im Inneren den Himmel trägt, der sich in einem Familienleben widerspiegelt, das der Ausdruck des höheren Gesetzes ist.
Ihre Kinder würden in einem Wunder von neuem Glück geboren werden, das die Atmosphäre erfüllt. Vor der Geburt des Kindes würden sie sich in einer mehr als alltäglichen Weise darauf vorbereiten. Dieses Paar heiratete mit Verständnis; sie kannten die Gesetze des Lebens; sie waren Freunde und nicht nur Liebende.
Ein Kind wurde ihnen geboren, aber bevor es das Licht erblickte, formte ihr Denken schon seinen Charakter; der Einfluß der Harmonie, des Friedens, der Hoffnung und des Mutes, die sie in ihr Leben brachten, bereiteten auch dem Kind einen größeren, breiteren Weg als gewöhnlich; eine Umgebung, geeignet für eine Seele, um darin zu leben, so daß sie sich nach der Geburt nicht in dieser Welt ausgesetzt findet, sondern sich sofort wieder zu Hause in ihrer Umgebung fühlt.
– The Wine of Life, S. 68, 69
Wann immer wir den fundamentalen Gesetzen nachgehen, aus denen die Reinkarnation stammt, erkennen wir, daß Evolution ein ethischer Prozeß ist – von eher spiritueller als physischer Natur. Die physische Evolution ist nur die äußerlichste und am wenigsten wichtige Seite der Angelegenheit. Was nützt schließlich ein gesunder und wohlgeformter Körper, wenn er zu üblen Zwecken mißbraucht wird? Es ist allgemein bekannt, daß körperliche Vollkommenheit nicht notwendig ist, wenn es um moralische und intellektuelle Genialität geht. Wie häufig kommt es vor, daß körperliche Schönheit eine Quelle des Unglücks und des sittlichen Verfalls ist? Der Charakter ist das spirituelle Kleid der Evolution. Er ist das einzige, das wir aus diesem Leben mitnehmen können, wenn wir scheiden, und wir bringen ihn als unseren Erbteil aus der Vergangenheit wieder mit, wenn wir für eine neue Inkarnation auf die Erde zurückkehren.
Die moderne Auffassung „laßt uns essen und trinken und fröhlich sein, denn morgen sind wir tot“ entstand dadurch, daß wir die Erkenntnis verloren, daß wir in unserem tiefsten Inneren unvergängliche, spirituelle Wesen sind. Die materialistische Wissenschaft nährte die Vorstellung in uns, daß wir hochentwickelte Abkömmlinge der Affen seien. Die Religion hat nichts zu bieten, das durch die Gegebenheiten der Natur und des Lebens hinreichend gestützt wäre, um dem demoralisierenden Einfluß dieser Lehre entgegenzutreten. Als der materialistische Einfluß sich seinem Höhepunkt näherte, war dies einer der wichtigsten Gründe, warum H.P.Blavatsky, dazu inspiriert von ihren Meistern, vor mehr als hundert Jahren die Theosophische Gesellschaft gründete. Der Materialismus selbst wurde damals von einem bekannten englischen Gelehrten, J. S. Haldane, folgendermaßen charakterisiert: „Der Materialismus, einst eine wissenschaftliche Theorie, ist nun das fatalistische Glaubensbekenntnis von Tausenden; aber der Materialismus ist keinesfalls besser als der Aberglaube, der sich auf derselben Stufe mit dem Glauben an Hexen und Teufel befindet.“
Die Theosophie zeigt das wahre spirituelle Ideal der Evolution und wie es praktisch auf alle Lebensgebiete angewandt werden kann – spirituell, intellektuell, moralisch und physisch. In der Reinkarnationslehre steht die ethische Seite der Evolution an erster Stelle, denn hier sind Gerechtigkeit, moralische Konsequenzen und Wachstum an spiritueller Kraft die entscheidenden Einflüsse. Ohne spirituelles Wachstum kann man das Beste in sich nicht entfalten. Kräfte, die durch Leben voller Anstrengung erworben und nur zur eigenen Befriedigung gebraucht wurden, gehen verloren, denn sie werden in späteren Leben durch die Schwierigkeiten und das Leid, welche eine direkte Folge der Selbstsucht sind, eingedämmt. Die Lehre der Reinkarnation macht deutlich, daß der beste Weg, um diese Kräfte beständig und göttlich zu machen, darin besteht, sie dem Dienste der Menschheit zu widmen. Auf diese Weise war es den Heilanden der Geschichte möglich, den Verstand und die Herzen von ganzen Menschenrassen zu leiten.
Wir sollten das Thema nicht verlassen, ohne eine weitere wichtige Folge dieses Glaubens beachtet zu haben, und das ist die Wirkung auf das Leben alter Menschen. Beinahe alle Menschen blicken mit Furcht dem Alter entgegen, denn es bedeutet für die meisten, wenn nicht Schwäche oder körperlichen oder geistigen Verfall, so doch beiseite geschoben zu werden. Das Alter ist jedoch ein sehr wichtiger Teil unseres Lebens:
Das reinkarnierende Ego oder die ‘Seele’ ist erst beträchtlich kurze Zeit vor dem Tode des physischen Körpers wirklich völlig inkarniert, was bedeutet, daß für die physische, mentale und spirituelle Entwicklung, nahezu bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Auflösung des physischen Körpers beginnt, eine fortdauernde Möglichkeit besteht. Mit anderen Worten, … hohes Alter ist nicht, wie manchmal törichterweise vermutet wird, unfähig zu lernen, und es ist nicht lediglich ein betrüblicher Abschnitt im menschlichen Leben, in dem das Beste vorüber ist und die Zukunft keine andere Hoffnung als den Segen des Sterbens bietet. Das genaue Gegenteil ist wahr, denn der Mensch sollte, wenigstens theoretisch, nahezu bis zur physischen Auflösung, sowohl in spiritueller als auch in intellektueller Kraft und Fähigkeit ständig voranschreiten.
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 894
Diese Worte enthalten eine neue und ermutigende Botschaft für uns alle. Die weisen Alten erkannten diese Wahrheit an, indem sie dafür eintraten, daß die jungen Menschen zum Handeln und die Alten zur Beratung bestimmt waren. Eine der Tragödien des modernen Lebens besteht in der Diskrepanz zwischen den Rollen der Jugend und der Rolle derer des mittleren Alters, aber auch hier bietet die Reinkarnation eine Lösung. Wir dürfen natürlich die Tatsache nicht übersehen, daß, um dieses Ideal des Alters am besten verwirklichen zu können, es notwendig ist, in der Jugend und im mittleren Alter in Übereinstimmung mit unserer göttlichen Natur zu leben, damit das Alter die Ernte der spirituellen Entwicklung einbringen kann. Aber es ist natürlich noch nicht zu spät, unsere Lebensweise zu ändern und zu verbessern, und keine einzige Tat bleibt ohne Folgen.
Die ethische Seite des Glaubens an die Reinkarnation wird in Man in Evolution von Dr. G. de Purucker folgenderweise zum Ausdruck gebracht:
Wir lernen mit und durch die Reinkarnation als einer natürlichen Tatsache die Schönheit des inneren Lebens kennen, wodurch wir wachsen und ein größeres Verständnis entwickeln, nicht nur von uns selbst, sondern auch von der inneren Schönheit, die in der Harmonie der universalen Gesetze besteht.
Denn hinter allen Dingen liegen Schönheit, Glück und Wahrheit.
Was die Menschen Böses, Mißgeschick und Unglück nennen, und die verheerenden Phänome der physischen Welt, die sich manchmal ereignen, entstehen aus dem Konflikt der Willensäußerungen und Kräfte der verschiedenen Scharen unvollkommener, aber evolvierender Wesen, und eine dieser Scharen wird durch das gebildet, was wir kollektiv die Menschheit nennen.
– S. 244-245
Vor allem anderen zeigt die Reinkarnation, daß Bruderschaft eine große Wahrheit des Universums ist, die Basis und erhabenste Tatsache in der Natur. Die Essenz und die Evolution all dessen, was ist, wird durch sie regiert. Der erste der fundamentalen Lehrsätze der Alten Weisheit ist, daß „alle Menschen in ihrem innersten spirituellen Wesen nicht nur miteinander verwandt sind, sondern eine vollkommene, unaussprechliche Einheit bilden“, um in den Worten Dr. de Puruckers zu sprechen. Und er fügt dem hinzu, daß der fundamentalste Fehler, den wir machen können, der ist, die Wahrheit der vollkommenen und essentiellen Einheit aller Wesen zu leugnen, sei es direkt in Wort oder Gedanken oder indirekt durch Handlungen. Das würde heißen, so könnte man beinahe sagen, die Göttliche Quelle zu leugnen, in der wir alle leben, in der wir uns bewegen und in der wir sind. In der Geheimlehre (Secret Doctrine, I, S. 17), läßt H. P. Blavatsky erkennen, daß diese Wahrheit spiritueller Natur ist. Sie stellt fest:
Die fundamentale Identität aller Seelen mit der universellen Oberseele . . . und die verpflichtende Pilgerfahrt für jede Seele – ein Funke der vorgenannten – durch den Zyklus der Inkarnation (oder ‘Notwendigkeit’), in Übereinstimmung mit dem zyklischen und karmischen Gesetz. … die Grundlehre der esoterischen Philosophie anerkennt keine Privilegien oder besonderen Gaben des Menschen, außer jenen, die sein eigenes Ego durch persönliche Anstrengung und Verdienst während einer langen Reihe von Metempsychosen (Seelenwanderungen) und Reinkarnationen gewonnen hat.
Wir sehen also, daß alle Wesen denselben Ursprung in dem Einen Universalen Leben haben, und daß jede Gruppe ihre eigene Rettung bewerkstelligen muß, unter Bedingungen, die für alle Mitglieder der Gruppe gleichermaßen gültig sind. Der gegenwärtige Mensch arbeitet an dem Ziel seiner Evolution durch den Zyklus der Notwendigkeit, auf dieser Erde Reinkarnation genannt. Diese Tatsachen zeigen die grundsätzliche Gleichheit aller Wesen, was Ursprung, Wachstum und die Bestimmung betrifft. Denn im Herzen eines jeden, auf welcher Stufe der Evolution er auch steht, wohnt ein Gottesfunke, ein Strahl der Überseele oder des Universalen Lebens. In den Reichen unter dem Menschen brennt dieser Gottesfunken nur mit schwachem, instinktivem Licht. Im Menschen ist er größer geworden und sendet einen selbstbewußten Strahl aus, der seinen Weg erhellt, wenn er es zuläßt, und macht aus ihm ein moralisch verantwortungsbewußtes Wesen. In den Mahatmas hat sich dieser Gottesfunke zu einem Licht der Halb-Göttlichkeit entwickelt, der selbstbewußten Vereinigung mit dem Einen Leben; und in den Wesen, die über und höher als die Mahatmas stehen, ist der Funke zu einer strahlenden Flamme der reinen Göttlichkeit geworden. So reicht die riesige Leiter des Seins aus dem Bereich unserer gegenwärtigen spirituellen Vision weiter und aufwärts und verschwindet in der Herrlichkeit der unsichtbaren Welten.
Die schönste Seite dieser Lehre liegt in der grundsätzlichen Verantwortung einer jeden Gruppe von bewußten Wesen für jene Wesen, die auf der evolutionären Leiter unter ihnen stehen. Die Götter wachen über alle Gebiete des Seins und schenken dem Ganzen Inspiration und Leben. Die Mahatmas, die durch selbstgeleitete Evolution ihre Diener wurden, sind an erster Stelle die Helfer und die Älteren Brüder der Menschheit. Obwohl sie die Stufe des menschlichen Lebens und seine Erfahrungen bereits überschritten haben und zu höheren Reichen der Evolution aufsteigen könnten, wenn sie es nur wollten, entschieden sie sich dafür, bei der Menschheit zu verweilen, um ihr in ihrer spirituellen Entwicklung beizustehen und so die Götter dabei zu unterstützen, die Menschen zu beschützen und zu leiten. Von Zeit zu Zeit senden die Mahatmas Botschafter in die Welt, um die alten Wahrheiten, die im Laufe der Jahrhunderte entstellt und vergessen wurden, in einer neuen Form zurückzubringen. H.P .Blavatsky war eine solche Botschafterin, und die Theosophische Gesellschaft wurde gegründet, um als Kanal für die Alte Weisheit zu dienen, die Theosophie, die fast zwanzig Jahrhunderte für die westliche Welt verloren gegangen war und an die Menschheit zurückgegeben werden mußte.
Ein weiterer Aspekt der universalen Bruderschaft in Verbindung mit der Reinkarnation liegt in der individuellen Verantwortlichkeit, die der Mensch gegenüber den unter ihm stehenden Reichen hat. In bezug auf das ständige Kommen und Gehen der Atome, die unseren Körper bilden, sowie auf deren Auflösung und Transmigration nach dem physischen Tod des Menschen, bezieht sich das Folgende auf die oben erwähnten Gedanken:
Die Emanationen des Menschen bauen so die tierische Welt auf; die Tiere leben von diesen verschiedenen Arten von Lebensatomen, ob physischer, vitaler, astraler, mentaler oder anderer Art. . . . Die von ihm ausgehenden Lebensströme geben den Wesenheiten der unter dem Menschen stehenden Reiche Leben und evolutionäre Antriebe und ihre Eigenschaften, weil diese unter dem Menschen stehenden Reiche die evolvierten Ergebnisse der Gedanken und vitalen Emanationen der menschlichen Rasse sind.
– G. DE PURUCKER, Goldene Regeln der Esoterik, S. 60-61
Bruderschaft ist daher nicht nur ein Ideal oder ein Gefühl, sondern eine lebendige Tatsache. Und unsere ganze Misere kann darauf zurückgeführt werden, daß wir nicht wissen, daß Bruderschaft tatsächlich ein Gesetz unseres Daseins ist. Solange wir das nicht verstehen, werden wir, durch Selbstsucht vielerlei Art, der harmonischen Entwicklung von uns selbst und unserer Rasse im Wege stehen. Durch Reinkarnation, regiert und geleitet durch Karma, und durch die Hilfe unserer Älteren Brüder und noch höherer Wesen, wird die Menschheit schließlich die erhabenste Lehre der Evolution lernen, daß nämlich der Mensch nur durch Selbstlosigkeit und unpersönliche Liebe Freiheit, Glück und Stärke erlangen kann.
Wie in unserem Körper alle Zellen und Organe durch zahlreiche Bande miteinander verbunden sind und von einer zentralen Quelle genährt werden, so sind auch alle Wesen in der Natur aufs engste miteinander verbunden. Sie führen ihr eigenes Leben, doch sind sie zur gleichen Zeit die Zellen und Organe des größeren kosmischen Wesens, wozu auch die unzählbaren Universen gehören.
Die Einheit und Verbundenheit ist die Grundlage der universalen Bruderschaft, die wir in unserem persönlichen Leben zu einer Wirklichkeit machen müssen.
Reinkarnation in der Geschichte
Die Tatsache, daß die Reinkarnation zur Zeit von Christi Geburt praktisch überall auf der ganzen Welt gelehrt wurde, überrascht nahezu jedermann in den westlichen Ländern. Das kommt daher, daß wir nicht gelernt haben, diese Lehre geschichtlich mit den Juden oder den alten Griechen und den Römern in Verbindung zu bringen. Noch erstaunlicher ist die Tatsache, daß sie von einigen Kirchenvätern akzeptiert wurde, und im frühen Christentum bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts n. Chr. so weit verbreitet war, daß ein besonderes Kirchenkonzil einberufen werden mußte, um die Lehre schließlich zu unterdrücken. Danach verschwand sie langsam aus dem intellektuellen und religiösen Leben Europas, und obschon hier und da eine Sekte oder einzelne große Denker und Mystiker ihr weiterhin anhingen, wurde sie nicht wirklich ins westliche Denken zurückgerufen, bis sie durch die Lehren der Theosophie wieder in das Denken eingeführt wurde. In unserer Zeit nimmt sie schnell ihren Platz als weltweiter Glaube wieder ein.
Der Reinkarnationsgedanke war für die großen östlichen Religionen immer charakteristisch. Wir müssen nur an die brahmanischen oder buddhistischen Lehren zu denken. In dem Buddhismus wurde die Lehre reiner bewahrt als in einigen anderen Religionen; unter anderem durch eine größere Toleranz. In dem exoterischen Brahmanismus hat die Lehre viel von ihrer Ursprünglichkeit verloren, wie die Irrlehre der Transmigration des menschlichen Egos in die Körper von Tieren bezeugt, worüber schon gesprochen wurde.
Die größten Menschen des Altertums lehrten die Reinkarnation; unter ihnen waren so bedeutende Namen wie Orpheus, Pythagoras, Empedokles, Plato, Apollonius von Tyana, während sie bei den Römern von Ennius und Seneca unterwiesen wurden. Wir finden die Lehre im alten Persien wieder, auch bei den Druiden und im Deutschland des Klassizismus. Sie war ein Eckpfeiler der großen, mystischen Religion des alten Ägypten. In China machte sie einen Teil des Taoismus aus, und durch die Ausbreitung des Buddhismus wurde ihr Einfluß dort vertieft.
Der Leser mag sich vielleicht über die abweichenden Formen wundern, die diese Lehre in den verschiedenen Epochen des menschlichen Denkens angenommen hat. Das folgende Zitat gibt jedoch eine Andeutung, wie die Veränderungen und Unterschiede entstanden.
Im Verlaufe der Zeitalter verlor man zuweilen den großen Hintergrund der essentiellen esoterischen Philosophie mehr oder weniger aus den Augen. Dann wurde die eine oder andere Seite der allgemeinen Lehre, hier Wiederverkörperung genannt, so wichtig, daß faktisch andere ihrer Formen und Aspekte verschwanden: eine Tatsache, die praktisch in jedem einzelnen historischen Fall zu einer Verdunklung oder zum völligen Vergessen der allumfassenden grundlegenden Lehre führte. Dieser historische Verlust der fundamentalen oder allgemeinen Lehre, der gewöhnlich mit der Überbetonung einer Form oder eines Aspektes dieser Lehre einherging, erklärt den Unterschied in der Form der Darstellung und die inhaltlichen Fehler, welche die Lehren über die nachtodlichen Erlebnisse des menschlichen Egos in der verschiedenartigen archaischen Weltliteratur aufzeigen.
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 593
Wenn wir uns den Zeiten der Völker des Mittelmeerraums nähern, die unmittelbar der christlichen Zeitrechnung vorausgingen, denken wir natürlich zuerst an die Juden, deren religiöse Auffassungen den wahren Geist der christlichen Botschaft so sehr beeinflußt und verändert haben. Im Alten Testament finden wir sehr wenige überzeugende Aussagen über das Fortleben des Menschen nach dem Tode, zumindest nicht in unserer üblichen Vorstellung von Unsterblichkeit. Hierin zeigt sich, wie unzulänglich diese Schriften der christlichen Tradition sind, da sie uns kein wirklich umfassendes Bild vom jüdischen Denken zu jener Zeit geben können. In der Kabbala jedoch, der esoterischen Philosophie der Juden, ihrer geheimen, mystischen Lehre, wurde die Reinkarnation erklärt. Auch Philo, einer der größten Philosophen des Judentums und ein berühmter Neoplatoniker, lehrte sie. So auch der berühmte jüdische Geschichtsschreiber Josephus. Denn Josephus war ein Pharisäer, und er selbst verbürgte sich dafür, daß die Pharisäer an Reinkarnation glaubten und sie lehrten. (Nachzuschlagen in seinem Buch Jewish War, Band II, Kapitel 8 und Buch III, Kapitel 8.)
Dr. de Purucker zitiert in The Esoteric Tradition einen Abschnitt aus dem Werk des Josephus, wo die Lehre der Wiedergeburt erwähnt wird. Er kommentiert:
Man wird die Beweiskraft des obigen Zitats sofort erkennen, weil der Hinweis auf die besondere Art der metempsychotischen Reinkarnation, die Josephus im Sinn hat, in den Fluß seiner Erzählung so natürlich und einfach eingefügt ist. Es ist hier keine Rede von einer Lehre, die der Sprecher als etwas Fremdes und Neues herbeizieht, … jedoch in jedem Falle wird der Hinweis, daß ein neuer Körper angenommen wird, als völlig selbstverständlich für seine Zuhörer oder Leser als ein Teil der Psychologie, in welcher sie lebten, akzeptiert.
– S. 615
Diese Tatsachen müssen uns nicht allzu sehr verwundern, da die Lehren von der Wiederverkörperung und der Reinkarnation in der einen oder anderen Form von den die jüdische Nation umgebenden Völkern allgemein angenommen wurden. Hier und da zeigt sich sogar in der Bibel, daß diese Idee im Hintergrund der Gedanken des Schreibers oder Sprechers war, wie zum Beispiel als die Jünger Jesus fragten: „Wer sündigte, dieser Mann oder seine Eltern, daß er blind geworden ist?“ (Johannes 9, 2). Wie hätte dieser Mann jedoch sündigen können, außer in einem früheren Leben, wenn er blind geboren wurde? Für die Jünger war die Wahrheit der Reinkarnation offenbar selbstverständlich, auch Jesus ermahnte sie nicht in seiner Antwort. In Matthäus XI, 14 sagt Jesus von Johannes dem Täufer: „Und so ihr’s wollt annehmen, er ist Elia, der da kommen soll“, eine Feststellung, die er in Markus IX, 13 zu wiederholen scheint.
Von diesen Dingen hatten natürlich jene ernsthaften Menschen des Mittelalters keine Ahnung (die, was die historische Entwicklung betrifft, völlig unwissend waren), die das Alte Testament ihren eigenen unvermeidlichen Beschränkungen entsprechend auslegten.
Ein verläßliches Bild der intellektuellen Welt in den frühen Tagen der Christenheit ist tatsächlich aufschlußreich. Ein solches Bild können wir aus dem Material gewinnen, das von vielen großen Schriftstellern geliefert wurde. Wenn diese auch nichts von Theosophie wußten (wie z. B. Legge, der das Buch Forerunners and Rivals of Christianity schrieb), so stellten sie doch ein sehr aussagekräftiges Zeugnis dar, daß viele Lehren, die in unserer Bildung als so kennzeichnend für das Christentum betrachtet wurden, unmittelbare oder entstellte Widerspiegelungen der Mysterienlehren der Alten Weisheit sind.
Die beiden Hauptquellen, aus welchen das frühe Christentum seine mystischen Lehren herleitete, wie zum Beispiel die Jungfräuliche Geburt, die Leidenszeit Christi, die Eucharistie, die Apostolische Nachfolge u.a., waren die Gnostische Philosophie und die Mithras-Religion. Diese beiden Systeme waren natürliche Entwicklungen aus der ursprünglichen, esoterischen Weisheit, und sie blühten in den ersten Jahrhunderten unserer Ära. Es fehlte nicht viel und die Mithras-Religion wäre die offizielle Religion des Römischen Reiches geworden.
… die Mithras-Religion hatte sich im dritten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung so weit ausgebreitet, daß sie beinahe die offizielle Staatsreligion des damals weltumspannenden Römischen Reiches geworden wäre. Diese Religion enthält so viel, sowohl in der Lehre als auch in der Form, was mit dem frühen Christentum ähnlich war, daß alle bedeutenden Schriftsteller der Zeit, christliche wie auch ‘heidnische’, dies vermerkten. Schließlich jedoch behielt die christliche Lehre durch eine Reihe interessanter Ursachen die Oberhand als herrschende Religionsform von Europa …
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 863
Mit seinen Dogmen von der stellvertretenden Erlösung, der Errettung durch den Glauben und die Praktiken, die sich daraus ergaben, befreite das Christentum die große Masse der Menschen von der mühsamen, moralischen Anstrengung und gab sich der Gestaltung des zeitlichen und politischen Aufstieges hin.
Die Reinkarnation war eine der bedeutendsten Lehren des Gnostizismus und bildete einen integralen Bestandteil der Mysterien-Lehren der Mithras-Religion. Viele der ersten Christen übernahmen die Lehre aus dieser einflußreichen und populären Quelle. Einige der großen Kirchenväter lehrten sie zu Anfang in der einen oder anderen Form, darunter Bischof Synesius und noch früher Origines und Clemens – alle aus Alexandrien, und die beiden letzteren gaben an, daß sie in die Mysterienschulen der damaligen Zeit eingeweiht worden seien. Es scheint so, als hätten diese weisen Männer danach gestrebt, in der neuen Kirche die Verbindung mit der lebendigen Weisheitsreligion aufrecht zu erhalten. Die Manichäer, in jenen frühen Tagen eine mystische Sekte Vorderasiens, bekannten sich zur Reinkarnation, und indem sie ihr sozusagen eine christliche Färbung gaben, trugen sie dazu bei, einen Aspekt der Reinkarnation zu popularisieren. Selbst im 12. und 13. Jahrhundert trat noch ein Zweig dieser Sekte auf, nämlich die Albigenser von Languedoc, welche die Lehre wieder aufleben ließen. Aber sie war dann für über siebenhundert Jahre verbannt worden, während die Albigenser, wenn auch nur mit Mühe, ausgerottet wurden.
Man könnte eine lange Liste der Gelehrten, Dichter und Mystiker aller Zeiten und aller Länder Europas anführen, die an Reinkarnation glaubten und sie lehrten. Das gesamte historische Glaubensthema der Reinkarnation ist es wert, sich damit zu beschäftigen, wenn auch nur, weil überraschende und interessante Tatsachen über den Ursprung von dem, was wir Christentum nennen, ans Licht kommen – Tatsachen, die so lange unterdrückt und vergessen waren. (Vgl. The Esoteric Tradition, Teil II, Kapitel XIX und XX).
Reinkarnation und Schicksal
Die Haltung, die wir gegenwärtig gegenüber jedem neuen Gedanken, mit dem wir konfrontiert werden, einnehmen, können wir vielleicht mit der oft gehörten Frage umschreiben: „Was habe ich damit zu tun?“ Und es ist nicht mehr als natürlich, daß jeder Fragesteller wissen möchte, zu welchem Ziel uns diese Entwicklung des Charakters viele Leben hindurch führt.
Eine der ersten Veränderungen, welche unsere Lebensauffassung durch das Studium der Theosophie annimmt, besteht darin, daß es weder in der Evolution noch für uns selbst keinen absoluten Anfang und kein endgültiges Ende gibt. Es kann nur von einem relativen Anfang und einem vorläufigen Ende die Rede sein. Alles entwickelt sich stufenweise, und nur die Formen, durch welche diese Stufen zum Ausdruck kommen, gehen vorbei. Die Evolution selbst verläuft, wie schon öfters festgestellt wurde, periodisch. Einer Zeit der Aktivität folgt eine Zeit der Ruhe, dann erfolgt eine neue Periode der Aktivität mit ihrer nachfolgenden Ruhepause, und das geht beständig so weiter – immer weiter aufwärts.
Am Beginn unserer Evolution als Menschen auf diesem Planeten kamen zuerst die tierische Seele und unser stofflicher Körper, gebildet von den niederen, instinktmäßigen Kräften der Natur, die den karmischen Linien unseres planetarischen Organismus folgten. Zu einem bestimmten Zeitpunkt in diesem Prozeß der frühen Entwicklung, als das tierische Vehikel schließlich fertig war, wurde das darin wohnende latente Feuer des Geistes von jenen höheren Wesen erweckt, die in einer früheren großen Entwicklungsperiode Menschen gewesen waren.
So wie mit einer Kerzenflamme viele andere Kerzen angezündet werden können, ohne daß der ersten Flamme etwas verloren geht, so wird das Denkvermögen des Menschen auf mystische Weise durch unsere weiter fortgeschrittenen, göttlichen Brüder entfacht. Symbolisch gesehen kann das vorbereitete tierisch-stoffliche Vehikel des Menschen als eine Kerze und die gesamte Schar der höheren Wesen als eine große spirituelle Flamme betrachtet werden. Diese Schar göttlicher Wesen, die einst Menschen waren, stieg zur Erde herab und brachte den wartenden Vehikeln auf mystische Weise die Flamme des Göttlichen Geistes. So wurden die schlummernden Fähigkeiten des animalischen Menschen zum ersten schwachen intellektuellen Funken entzündet. Dadurch wurde die Rasse wirklich menschlich, zu einer Rasse denkender und selbstbewußter Menschen. Erst dann wurde es ihnen möglich, sich selbstbewußt mit ihrer Umgebung auseinanderzusetzen. In jedem einzelnen erwachte das besondere Gefühl der Selbsterkenntnis, das sagt: „Ich bin ich und niemand anderer.“ Von dieser Zeit an wurde der Mensch für sich selbst moralisch verantwortlich, und die Leitung seiner Evolution ging in seine eigenen Hände über. Künftig hing das, was aus seinem Körper wurde und in welche Richtung seine Evolution fortschritt, von seiner eigenen Anstrengung ab. Aber diese eben erwachten Menschen, die eigentlich erst jetzt ihre Evolution als wirkliche menschliche Wesen begannen, wurden nicht ihrem eigenen Schicksal überlassen. Zeitalterlang wurden sie von denselben Großen Wesen geleitet und beschützt, die den Anstoß für ihre Menschwerdung gaben, wie es H. P. Blavatsky ausführlich im 3. Band der Geheimlehre erläutert.
Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß dies alles nicht zufällig und planlos geschah. Unsere Erde ist, nach ihrer eigenen angemessenen Ruheperiode, die direkte Wiederverkörperung von einer Welt, die ihr vorausging und von der sie die exakte Folge oder das karmische Resultat ist. Alle diese Prozesse von Aufbau und geistigem Erwachen vollziehen sich auf eine Art, die eine unvermeidliche Folge der vorangegangenen Evolutionsperioden darstellt.
So begannen wir unsere evolutionäre Reise entlang des Weges der Reinkarnation, durch den Zyklus der Notwendigkeit. Der ‘Zyklus der Notwendigkeit’ ist ein dichterischer, aber nicht minder anschaulicher Name für den evolutionären Kreislauf, den jede Bewußtseinseinheit im Universum durchlaufen muß. Der noch nicht selbstbewußte Gottesfunke tritt mit dem Beginn eines Manvantaras oder einer großen evolutionären Zeitperiode in diesen Zyklus ein und bewegt sich darin durch die Wiederverkörperung in stets weiter entwickelten Formen durch immer erhabenere Bewußtseinsphasen hindurch, bis schließlich das selbstbewußt Göttliche erreicht ist. Die Reinkarnation des Menschen stellt eine der Säulen dieser großen Spirale der Evolution dar.
Nachdem der Mensch zu einem selbstbewußten Denker herangereift war und mit der Entwicklung seiner latenten Kräfte begonnen hatte, wurde er zum Erbauer von Zivilisationen. Und dann inkarnierten einzelne der großen Wesen – wir können sie wirklich Götter nennen –, die in früheren Welten Menschen waren und zurückblieben, um die junge Menschheit zu leiten. Sie waren die göttlichen Lehrer in den grundlegenden Prinzipien der Religion, der Kunst, des Gesetzes, der Philosophie und der Lebensführung. Ihrem zyklischen Lauf folgend, verstrickte sich die menschliche Rasse immer tiefer in Zustände größerer Stofflichkeit. Angespornt durch das sich entwickelnde egoische Bewußtsein, gewann die Persönlichkeit an Bedeutung. Sie entwickelte ein Gefühl der Abgrenzung und Trennung von allen anderen Wesen, dazu Leidenschaft, selbstsüchtiges Verlangen, Gewinnsucht und Willenskraft, die gegen andere gerichtet waren. Dann entstand eine Disharmonie mit den großen, universalen, evolutionären Zielen. Der Mensch setzte seinen selbstsüchtigen Willen gegen die spirituellen Gesetze des Universums. Somit wurde die ‘Sünde’ geboren. Die Natur, die in ihrer Essenz Ausgleich und unpersönliche Harmonie ist, reagierte darauf. Leid, Kampf und Schmerz waren die unvermeidlichen Folgen. Krieg und Verbrechen kamen in die Welt und die moralische Atmosphäre von unserem Globus wurde derartig vergiftet, daß die wohltätigen Götter nicht länger dieselbe Luft mit uns einatmen konnten. Sie gaben ihren karmischen Auftrag jedoch nicht auf. Eine Rasse von Halb-Göttern und Helden folgte ihnen, Wesen, die halbgöttlich und teilweise aus den niedrigeren Elementen gebildet waren, welche die Erde entwickelte. Sie führten weiterhin die verschiedenen Rassen, solange diese auf sie hörten und ihnen folgten. Später, als unser Weg uns auf die nach unten gerichteten Windung der karmischen Spirale führte, auf den sogenannten ‘schattenhaften Bogen’ der Evolution, wurden diese halbgöttlichen Führer von den Mysterienschulen abgelöst, welche sie selbst einrichteten. Es waren Stätten von großer okkulter Gelehrsamkeit, wo die immer geringer werdende Zahl spiritueller Aspiranten noch unterrichtet und in die Göttliche Weisheit des Universums eingeweiht werden konnte.
Schließlich wurde die Religion materialistisch, korrupt und intolerant, und selbst die Mysterienschulen entarteten und wurden schließlich geschlossen. Aber nichts desto trotz gibt es auch heute noch an bestimmten reinen und unzugänglichen Orten unserer Erde Zentren des Wissens, wo die Mahatmas, unsere Älteren Brüder und die Nachfolger der früheren spirituellen Führer der Menschheit, das Feuer der Weisheit am Brennen erhalten und die göttlichen Lehren der Alten Weisheit bewahren. Dieser kurze Rückblick in die Geschichte unserer Vergangenheit bereitet uns auf einen mit ihr in Übereinstimmung stehenden Ausblick auf die Zukunft vor. Denn das Ziel unserer Evolution ist nichts Geringeres als die Göttlichkeit. Unter der Voraussetzung, daß wir die begonnene spirituelle Reise zu einem guten Ende bringen, werden wir, die Menschen von heute, in ferner Zukunft selbst einmal große Wesen – Götter – sein und zu unserem wiederverkörperten Planeten zurückkehren, um unseren Brüdern der niedrigeren Reiche zu helfen und sie zu leiten, Brüder, die jetzt nach uns die evolutionäre Stufenleiter zur Menschheit emporsteigen. Wir sind gegenwärtig dabei, uns für die wichtigste Aufgabe vorzubereiten, nicht nur dadurch, daß wir Selbstbeherrschung lernen, sondern dadurch, daß wir auf bescheidene Weise dasselbe hinsichtlich unserer eigenen Atome und aller anderen Wesen tun. Und was könnte, wenn wir darüber nachdenken, natürlicher und inspirierender sein als eine solche Schicksalsbestimmung?
Der folgende Abschnitt aus Quelle des Okkultismus von Dr. G. de Purucker, vermittelt uns einen kurzen Einblick in das, was die Zukunft für uns bereithält:
Der Mensch ist auf vielen Ebenen zu Hause. Er ist tatsächlich überall zu Hause. Unser Erdenleben ist nur ein kurzer Bogen auf dem Kreise des Daseins. Wie absurd wäre es, zu sagen, daß irgendein besonderer Ort, wie unsere Erde, das Richtmaß sei, nach dem die ganze Wanderung des Menschen beurteilt wird. Genauso ist es bei der Verkörperung und dem Wachstum eines Universums. Es hat ebenfalls seinen Höhepunkt und seinen Verfall, dem dann der Tod folgt. Verursacht wird die Verkörperung dadurch, daß die kosmische Wesenheit aus den unsichtbaren Sphären in die materiellen Bereiche heraustritt, sich in den Substanzen dieser Bereiche verkörpert, aus ihnen ein materielles Universum aufbaut und dann wieder verschwindet. Wenn dieses Dahinschwinden dem Ende entgegengeht, befindet sich das Universum in den Stadien seiner Auflösung.
So ist es auch bei einem Stern oder bei einer Sonne oder deren Heimat-Universum. So ist es bei jeder Wesenheit. Leben ist endlos, es hat weder Anfang noch Ende; und ein Universum unterscheidet sich im wesentlichen keineswegs von einem Menschen. …
Betrachtet die Sterne und die Planeten: Jeder von ihnen ist ein Lebensatom im kosmischen Körper, jeder von ihnen ist der organisierte Wohnort einer Vielzahl kleinerer Lebensatome, welche die leuchtenden Körper, die wir sehen, aufbauen. Überdies, jede funkelnde Sonne, die den Himmel schmückt, war zu irgendeiner Zeit ein Mensch oder ein dem Menschen gleichwertiges Wesen, das in gewissem Grade Selbstbewußtsein, intellektuelle Kraft, Bewußtsein, spirituelle Vision und einen Körper besitzt. Die Planeten und die Myriaden von Wesenheiten auf diesen Planeten, die solch einen kosmischen Gott, einen Stern oder eine Sonne umkreisen, sind jetzt die gleichen Wesenheiten, die in längst vergangenen kosmischen Manvataras (Zyklen der Offenbarung) die Lebensatome dieser Wesenheit waren. . . .
Ja, jeder einzelne von uns wird in weit entfernten Äonen der Zukunft eine Sonne sein, die in den Räumen des Raumes leuchtet. Das wird dann sein, wenn wir die Gottheit im Innersten unseres Wesens evolviert haben, und wenn diese Gottheit ihrerseits zu noch größeren Höhen fortgeschritten sein wird. Jenseits der Sonne gibt es andere Sonnen, die so hoch stehen, daß sie für uns unsichtbar sind, Sonnen, deren göttlicher Begleiter unsere Sonne ist.
Die Frage, die sich uns nach diesen Worten stellt ist: „Was versuchen wir gegenwärtig aus uns zu machen? Sind wir wirklich dabei, wenn auch unbewußt, unsere göttliche Bestimmung zu verwirklichen?“ Die Antwort auf diese Frage muß sich jedermann selbst geben. In uns liegen leuchtende Zentren des Bewußtseins, der Erinnerung und der spirituellen Vision, die gegenwärtig noch nicht erwacht sind. Nach Tausenden von Inkarnationen umrunden wir nun den Anfang des aufwärtsführenden Abschnitts der Evolutionsspirale, den ‘leuchtenden Bogen’.
Das menschliche Leben, wie wir es seit Jahrhunderten gelebt haben, bot jedermann zahllose Gelegenheiten zum Wachstum. Jedesmal wiederholten wir dieselben Fehler, die aus Selbstsucht, Leidenschaft und beschränkter persönlicher Sicht entstehen. Leben um Leben landeten wir als Sklaven in der gleichen Tretmühle von Schmerz, Leiden, Krankheit und Tod. Wir müssen aber keine Sklaven bleiben, sondern wir können unser Schicksal selbst in die Hand nehmen. Der Mensch
… ist gezwungen, dem sich ständig drehenden Rad des Lebens von Wiedergeburt zu Wiedergeburt zu folgen, bis er gelernt hat, die Einheit von allen sichtbaren und unsichtbaren Dingen dadurch zu erkennen, indem sein inneres Selbst ein intellektuelles Verständnis entwickelt … Wenn er dann die Einsicht entwickelt hat, ist er vom Rad des sich drehenden Schicksals befreit. Er hat Weisheit und Freiheit erreicht: Er ist ein Meister von und in dem Leben geworden und ist nicht mehr länger ein Sklave des Rades.
– G. DE PURUCKER, Man in Evolution, S. 60
Es gibt überall Männer und Frauen, Pioniere auf der Suche nach größeren, umfassenderen spirituellen Einsichten, die nicht mehr in irgendeiner Form des modernen Lebens oder mit einer seiner ungewissen Versprechungen zufrieden sind. In jedem Land findet man Menschen, welche die Wahrheit suchen.
Es gibt einen Weg, der schneller zum angestrebten Ziel führt, und dieser Weg wird Initiation genannt. Es ist der Pfad der Selbstvergessenheit jener, die sich in den Dienst ihrer Mitmenschen stellen.
Das Wort ‘Initiation’ stammt aus der lateinischen Wurzel mit der Bedeutung ‘beginnen’. Esoterisch bedeutet es zugleich ein Neuwerden, der Beginn einer Lern- und Lebensrichtung, die schließlich alle spirituelle und intellektuelle Größe, die der einzelne in sich birgt, hervorbringt. Der evolutionäre Prozeß wird tatsächlich beschleunigt, nicht in dem Sinne, daß eine Stufe ausgelassen oder übersprungen wird, sondern daß innerhalb einer kurzen Zeit alles zusammengefaßt wird, was im natürlichen Ablauf Äonen des Strebens in Anspruch nehmen würde, um es zu erreichen. . . .
– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, Bd. I, S. 65
Es sollte klar verstanden werden, daß diese Schulung, die aus Lernen und Selbstdisziplin besteht, aus den spirituellen und intellektuellen Regungen der eigenen Seele des Schülers kommt. Niemals waren und werden damit die familiären Rechte und Pflichten beeinträchtigt oder verletzt. Chelaschaft ist nichts Überirdisches, Exzentrisches oder Sonderbares. Wenn es sich so verhielte, dann wäre es keine Chelaschaft. Sie ist der natürlichste Pfad für uns, und wir sollten uns bemühen, ihm zu folgen, denn, indem wir uns mit dem Edelsten in uns verbinden, verbinden wir uns mit den spirituellen Kräften, die das Universum lenken und regieren. Bereits in diesem Gedanken liegt Inspiration.
Das Leben eines Neophyten ist wirklich schön und wird immer schöner, je mehr die Selbstvergessenheit in seinem Leben zunimmt. Zuweilen kann es aber auch sehr traurig sein; das kommt daher, weil es ihm unmöglich ist, sich selbst zu vergessen. Er sieht seine große Einsamkeit, und sein Herz sehnt sich nach Gefährten. Anders ausgedrückt, seine menschliche Natur sucht nach einem Rückhalt. Doch gerade durch die Überwindung dieser Schwächen wird er zum Meister des Lebens, mit der Fähigkeit, in jeder Situation aufrecht, stark und allein zu stehen. Man darf jedoch keinesfalls annehmen, die Mahatmas seien ausgetrocknete menschliche Exemplare ohne menschliche Gefühle und ohne menschliches Mitleid.
Im Gegenteil: In ihrem Inneren sind sie weitaus lebendiger als wir. In ihnen fließt ein weitaus kräftigerer und stärker pulsierender vitaler Strom. Ihr Mitgefühl ist so weitherzig, daß wir sie noch nicht verstehen können, doch eines Tages werden wir sie verstehen. Ihre Liebe schließt alles ein; sie sind unpersönlich, und daher werden sie universal.
Chelaschaft bedeutet: zu versuchen, den in uns wohnenden Meister hervorzubringen, denn er ist bereits dort gegenwärtig.
Wenn man jedoch weit genug voranschreitet, dann kommt einmal der Zeitpunkt, an dem sogar die Pflichten gegenüber der Familie aufgegeben werden müssen. Die Umstände werden dann aber so sein, daß dieses Aufgeben der Pflichten sowohl dem Betroffenen als auch seinen Angehörigen zum Segen gereichen wird. Es sollte sich jedoch niemand von der gefährlichen Theorie täuschen lassen, daß sich ein Mensch, je höher er steigt, um so weniger an das Gesetz der Moral zu halten brauche. Genau das Gegenteil ist wahr. Einem anderen Unrecht zuzufügen, ist niemals recht.
Bei keinem einzigen Schritt auf diesem erhabenen Pfad gibt es jemals irgendeinen äußeren Zwang. Es gibt nur das edle Begehren, das aus der sehnsuchtsvollen Seele des Aspiranten kommt, immer weiter und weiter nach innen und nach oben vorwärts zu schreiten. Am Anfang wird jeder Schritt dadurch gekennzeichnet, daß man etwas überwunden hat, daß man einen Teil der persönlichen Fesseln und Unvollkommenheiten, die uns an diese materiellen Bereiche ketten, fallengelassen hat. Immer wieder wird uns mit Nachdruck gesagt, daß die erhabenste Lebensregel darin besteht, in uns selbst unsterbliches Mitleid mit allem, was lebt, zu hegen. Dadurch wird man selbstlos, und die wandernde Monade ist schließlich imstande, das Selbst des kosmischen Geistes zu werden, ohne daß die Monade ihre Individualität verliert.
In dem soeben dargestellten liegt das Geheimnis des Fortschritts: Um größer zu sein, muß man größer werden; um größer zu werden, muß man das Geringere aufgeben; um ein Sonnensystem im eigenen Denken und Leben zu erfassen, muß man die Grenzen der Persönlichkeit, das, was nur menschlich ist, aufgeben, was bedeutet, sie zu überwinden und darüber hinauszuwachsen. Indem wir die Bereiche des niederen Selbst aufgeben, gehen wir in die Bereiche des größeren Selbst, in die Selbstlosigkeit ein. Niemand wird einen einzigen Schritt dem größeren Selbst, das bereits seine eigene höhere Natur ist, entgegengehen, ehe er nicht lernt, daß „für sich selbst zu leben“ das Hinabgehen in noch dichtere und begrenztere Sphären bedeutet, und daß „zu leben für alles, was ist“, bedeutet, daß sich die eigene Seele für dieses Leben erweitert. Alle Mysterien des Universums liegen latent in uns, alle seine Geheimnisse sind dort zu finden, und jeder Fortschritt in esoterischer Erkenntnis und Weisheit ist nur ein Entfalten dessen, was schon im Inneren vorhanden ist.
Wie unbedeutend erscheinen uns die menschlichen Probleme, die uns so sehr quälen, diese große Sorgenlast, wenn wir gelegentlich über diese unendlich trostvollen Tatsachen nachdenken. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn der christliche Schreiber erklärt, daß nicht einmal ein Sperling vom Himmel fällt, ohne daß der HERR es weiß; daß es kein einziges Haar auf unserem Haupte gibt, das nicht gezählt und für das nicht gesorgt würde. Und weitaus mehr noch wird für uns getan. Auch diese Welt der Wahngebilde und der Schatten ist ein wirklicher und untrennbarer Bestandteil des Grenzenlosen, aus dem wir hervorgegangen sind, und zu dessen göttlichem Herzen wir eines Tages auf den Schwingen unserer gesammelten Erfahrungen zurückkehren werden, auf Flügeln, die uns über die Täler hinweg zu den fernen Berggipfeln des Geistes tragen werden.
Band 1: Was ist Theosophie?
Charles J. Ryan
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Die Frage, was Theosophie ist, kann auf verschiedene Weise beantwortet werden. Allgemein gesprochen kann man sagen, dass sie die Kenntnis des Wissens darstellt, das die Evolution der gesamten Natur umfasst, und dass sie in ferner Vergangenheit durch große Denker, Philosophen, Menschheitslehrer oder Religionsgründer verbreitet wurde, die sie auf systematische Weise formulierten. Sie wurde auch die alte Weisheitsreligion genannt, welche einst in jedem Land des Altertums bekannt war und die das geistige Erbe der Menschheit ist.
H. P. Blavatsky, die Gründerin der Theosophischen Gesellschaft, wählte im Jahr 1875 das Wort Theosophie für die moderne Wiedergabe der alten Weisheit. Dieses Wort ist griechischen Ursprungs und bedeutet ‘Gottes-Weisheit’ oder Weisheit hinsichtlich göttlicher Dinge. Es steht in Verbindung mit philosophischen Schulen wie jenen der Kabbalisten, der Gnostiker und der Neoplatoniker, welche die Gottheit als das Eine Leben ansehen, aus dem sich alles offenbart und womit sich schließlich alles wieder vereinigen soll.
Im Alexandrien des dritten Jahrhunderts gründete der Inspirator des Neoplatonismus, Ammonius Saccas, eine eklektische theosophische Schule, welche die vielen Formen religiöser und philosophischer Wahrheiten des Westens und des Ostens in einem System zusammenbringen sollte. In der gleichen Tradition strebte H. P. Blavatsky danach, ‘alle Religionen, Sekten und Völker in einem gemeinschaftlichen, auf den ewigen Wahrheiten basierenden ethischen System miteinander zu versöhnen’. In ihrem bedeutendsten Werk, Die Geheimlehre, beschreibt sie das Weltall als einen lebenden Organismus, der aus Bewusstsein auf vielen Ebenen besteht, die alle miteinander verbunden und voneinander abhängig sind, wobei jeder Lebensfunke seine göttlichen Möglichkeiten in aufeinanderfolgenden Leben zur Entfaltung bringt. Auf dieser gegenseitigen Verbundenheit von Mensch und Kosmos gründet sich der Begriff der Universalen Bruderschaft, welche den Menschen dazu anregt, mehr von sich für das Wohl aller zu geben.
Weiter erklärt sie, ‘dass die [in ihrem Werk] erwähnten Lehren … weder ausschließlich zu der hinduistischen, der zoroastrischen, der caldäischen oder der ägyptischen Religion gehören, noch zum Buddhismus, dem Islam oder der jüdischen Lehre des Christentums. Die Geheimlehre ist die Essenz von allen.’
Grundlage der Theosophie ist die Idee, dass es eine universale Wahrheit gibt, die in verschiedenen Formen im Bewusstsein der Menschheit wach gehalten wird – dazu zählen die Religionen, die Traditionen und Überlieferungen der Völker der Welt – bis hin zu den Märchen. Die Suche nach dieser universalen, göttlichen Wahrheit und Weisheit ist ein individueller Pfad, den jeder ausschließlich in seiner eigenen Verantwortung und ohne äußere Vermittler zu wählen berechtigt ist. Verantwortlich sind wir nur uns selbst gegenüber – und dem karmischen Gesetz.
Doch wie können wir diese universale Wahrheit finden? Mit diesem Gedanken beschäftigt sich dieser Titel und beleuchtet die Vorstellungen der Theosophie aus unterschiedlichen Perspektiven.
Theosophische Perspektiven
Band 1: Was ist Theosophie?
Frei überarbeitet nach Charles J. Ryan
© 1997 Theosophischer Verlag der Stiftung der Theosophischen Gesellschaft Pasadena, Eberdingen
Prüfe dich selbst; erkenne, daß Göttlichkeit in dir wohnt, nenne sie, wie es dir gefällt. … Prüfe deine eigenen inneren Bestrebungen, und du wirst erkennen, daß herrliche Dinge in dir sind. Sie sind das Wirken deines inneren Gottes, deiner spirituellen inneren Sonne.
Das ist die Botschaft der großen Weisen und Seher aller Zeiten. …
Die Theosophische Gesellschaft hat dieselbe alte Lehre abermals übermittelt … von diesem lebendigen Feuer in deiner Brust, sie spricht von der Einheit mit allem, was ist und von deiner Verwandtschaft mit allem, was besteht; denn wahrhaftig, du bist eng verwandt mit den Göttern, welche die Herrscher, Berater und Regenten des Universums sind.
– G. de Purucker: Questions We All Ask
Einleitung
Die Frage, was Theosophie ist, kann auf verschiedene Weise beantwortet werden. Allgemein gesprochen kann man sagen, daß sie die Kenntnis des Wissens darstellt, das die Evolution der gesamten Natur umfaßt, und daß sie in ferner Vergangenheit durch große Denker, Philosophen, Menschheitslehrer oder Religionsgründer verbreitet wurde, die sie auf systematische Weise formulierten. Sie wurde auch die alte Weisheits-Religion genannt, welche einst in jedem Land des Altertums bekannt war und die das geistige Erbe der Menschheit ist.
H. P. Blavatsky, die Gründerin der Theosophischen Gesellschaft, wählte im Jahr 1875 das Wort Theosophie für die moderne Wiedergabe der alten Weisheit. Dieses Wort ist griechischen Ursprungs und bedeutet ‘Gottes-Weisheit’ oder Weisheit hinsichtlich göttlicher Dinge. Es steht in Verbindung mit philosophischen Schulen wie jenen der Kabbalisten, der Gnostiker und der Neoplatoniker, welche die Gottheit als das Eine Leben ansehen, aus dem sich alles offenbart und womit sich schließlich alles wieder vereinigen soll. Im Alexandrien des dritten Jahrhunderts gründete der Inspirator des Neoplatonismus, Ammonius Saccas, eine eklektische theosophische Schule, welche die vielen Formen religiöser und philosophischer Wahrheiten des Westens und des Ostens in einem System zusammenbringen sollte.
In der gleichen Tradition strebte H. P. Blavatsky danach, ‘alle Religionen, Sekten und Völker in einem gemeinschaftlichen, auf den ewigen Wahrheiten basierenden ethischen System miteinander zu versöhnen’. In ihrem bedeutendsten Werk, Die Geheimlehre, beschreibt sie das Weltall als einen lebenden Organismus, der aus Bewußtsein auf vielen Ebenen besteht, die alle miteinander verbunden und voneinander abhängig sind, wobei jeder Lebensfunke seine göttlichen Möglichkeiten in aufeinanderfolgenden Leben zur Entfaltung bringt. Auf dieser gegenseitigen Verbundenheit von Mensch und Kosmos gründet sich der Begriff der Universalen Bruderschaft, welche den Menschen dazu anregt, mehr von sich für das Wohl aller zu geben.
Weiter erklärt sie, ‘daß die [in ihrem Werk] erwähnten Lehren … weder ausschließlich zu der hinduistischen, der zoroastrischen, der caldäischen oder der ägyptischen Religion gehören, noch zum Buddhismus, dem Islam oder der jüdischen Lehre des Christentums. Die Geheimlehre ist die Essenz von allen.’
Um zu begreifen, was die Herkunft dieser alten Weisheit ist, müssen wir uns ein umfassenderes Bild des Menschen und seines Platzes in der Natur formen. Eine der bedeutendsten Ideen der alten Weisheit ist der Gedanke der Evolution, einem auch in unserer Zeit vertrauten Begriff. Sie muß tatsächlich in einem umfassenderen Rahmen betrachtet werden, als bisher geschehen. In Kapitel VII wird dieses Thema behandelt. Wir wollen uns im Moment mit der Feststellung begnügen, daß der Kosmos mehr Leben und mehr lebende Wesen umfaßt, als unsere stofflichen Sinne wahrnehmen können. Die Kette der Wesenheiten von den Mineralien, Pflanzen, Tieren und Menschen muß sowohl nach unten, als auch nach oben erweitert werden, was bedeutet, daß die Menschheit nicht die Spitze der Evolution darstellt, sondern daß über ihr Reiche von Wesen in höheren Evolutionsstufen existieren, und daß sich unterhalb von ihr Reiche von Wesen befinden, die in ihrer Evolution unter den Mineralien stehen. Ob sie sichtbar oder unsichtbar sind, ist dabei ohne Belang. Es ist bekannt, daß unsere Sinne in ihrem Wahrnehmungsvermögen sehr begrenzt sind.
Das Wissen, welches die Menschheit besitzt, hat sie durch Erfahrung erworben. Im Vergleich mit uns, haben die Wesenheiten, welche auf einer geistigen Stufe über den Menschen stehen, eine viel tiefergehendere Weisheit erworben und verfügen über umfassendere Kenntnisse der Natur und des Menschen als wir. Sie sind die Bewahrer der Alten Weisheit, von der sie der Menschheit durch ihre uns unter verschiedenen Namen bekannten Vertreter oder Botschafter einen Teil bekannt machen, wenn die Zeit dafür reif ist. Erscheinungen wie Jesus, Buddha, Krishna, Śankarachāryā und viele andere gehören zu der Bruderschaft der Weisen, die sich für die Menschheit verantwortlich fühlt und sie unterstützt, wo immer dies möglich ist. Madame Blavatsky war die Botschafterin für unsere Zeit, die im Auftrag ihrer Lehrer, geleitet von dieser eben erwähnten Bruderschaft, einen Teil der Alten Weisheit in ihren Büchern zusammentrug.
Sie nennt in ihrer Geheimlehre drei fundamentale Grundsätze, welche die Grundlage der Alten Weisheit darstellen. Der erste ist das Bestehen eines überall anwesenden, ewigen, grenzenlosen und unveränderlichen Prinzips, welches die unerkennbare Ursache von allem ist und dem kein anderer Name gegeben werden kann als TAT.
Der zweite Grundsatz beinhaltet, daß das Weltall der Bereich ewiger, niemals endender zyklischer Bewegung ist, voller Offenbarungen des zyklischen Lebens, wodurch Sterne, Planeten und andere Himmelskörper erscheinen und wieder als ‘Funken der Ewigkeit’ verschwinden. Das heißt, daß Milchstraßensysteme, Sonnen, Planeten, Menschen, Tiere und Pflanzen fortwährend im Streben nach Vervollkommnung geboren werden und sterben.
Der dritte Grundsatz handelt von der fundamentalen Gleichheit aller Wesen und der notwendigen Pilgerschaft eines jeden Wesens durch den Zyklus der Wiedergeburten. Das gibt allen die Gelegenheit, durch einen langen Zyklus von Erfahrungen auf sämtlichen Ebenen Kenntnisse aus erster Hand zu erwerben, von den geistigsten bis hinunter zu den materiellsten.
Das Unsichtbare manifestiert sich in der Dualität von Geist und Materie in aufeinanderfolgenden Zyklen von Aktivität und Ruhe – über kosmische, solare oder der Erde entsprechende Zeiträume, bis hin zu den uns vertrauten Perioden von Schlafen und Wachen. Ein Beispiel des universalen zyklischen Wirkens ist die Evolution der menschlichen Seele durch wiederholte Inkarnationen in einem menschlichen Körper auf der Erde, die von Perioden der Ruhe in einem geistigen Zustand abgelöst werden.
Im Osten wird dieser Prozeß richtigerweise als der Große Atem bezeichnet. In den Zeiten des Ausatmens erwachen die Götter; Hierarchien ungezählter Abstufungen geistiger und anderer Wesen werden aktiv. Beim Einatmen vollzieht sich der Prozeß in entgegengesetzter Richtung: das geoffenbarte Weltall kehrt, bereichert an Erfahrung, zum ‘Vater’ zurück.
Der Mensch auf der Erde ist ein Lebensatom des Göttlichen, das in die stoffliche Welt hinabstieg, um Erfahrungen zu sammeln und als ein Pilger den Weg zur Quelle zurück zu suchen. In einem bestimmten Stadium seiner Entwicklung vollzieht sich ein innerliches Erwachen, und dann ist der Pilger in der Lage, bewußt den Pfad zu betreten, der zu dem Gott im Inneren führt. Der einzige Weg, diesen Pfad zu finden ist, das Persönliche zu überwinden und nach den Eingebungen des inneren Gottes zu handeln, das heißt, ein von Selbstsucht freies Leben des Mitleids und der Bruderschaft zu führen. Diese Botschaft der Liebe wurde in allen Jahrhunderten durch die der Menschheit Vorangegangenen verkündet. In Johannes 13,34 sagt Jesus: ‘Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander lieb habt.’
In seinem Buch Fragen, die wir alle stellen drückte G. de Purucker dies folgendermaßen aus:
Liebe ist das Bindemittel im Weltall; sie hält alle Dinge an ihrem Platz und unter ihrer ewigen Obhut; ihre wirkliche Natur ist himmlischer Friede, ihr Kennzeichen ist kosmische Harmonie, die alles durchdringt, die grenzenlos, unvergänglich, nicht endend, ewig ist … Liebe ist eine beschützende Kraft; Liebe ist mächtig, sie durchdringt alles; und je unpersönlicher sie ist, desto höher und mächtiger ist sie. Sie kennt keine Grenzen in Raum und Zeit, denn sie ist das fundamentale Wirken der Natur, das Grundgesetz der Natur, und sie ist das universale Band der Einheit zwischen allen Dingen.
– Levensfragen [Lebensfragen] (niederl. Ausgabe), S. 113/114
Diejenigen, welche den Pfad des Mitleids gegangen sind, die sich von jeder Spur persönlicher Selbstsucht gereinigt haben und lebende Verkörperungen der Liebe und Weisheit geworden sind, sind die Meister der Weisheit, des Mitleids und des Friedens, auch Mahatmas genannt. Sie haben die Wahrheit der fundamentalsten Lehre der Weisheits-Religion, die Einheit des Menschen mit dem Weltall, zur lebenden Wirklichkeit gemacht. Sie haben das Göttliche, den inneren Gott in sich selbst gefunden. Sie waren und sind die wirklichen Inspiratoren der Theosophischen Bewegung, ebenso wie von anderen wahren geistigen Bewegungen auf der Erde.
Wer ist der Mensch?
- Der physische Körper
- Der Astral- oder Modellkörper
- Prāna oder das Lebensprinzip
- Kāma und der Kāma-Rūpa
- Manas
- Ātman und Buddhi
Die Frage, wer und was wir sind, ist die bedeutendste Frage, mit der sich der Mensch beschäftigen kann und worauf er eine Antwort sucht.
Viele betrachten sich als ein Wesen, dessen Existenz mit der Geburt begann und die mit dem Tod ein definitives Ende findet. In diesem Bild formt der menschliche Körper in all seinen Aspekten und mit all den Funktionen, die mit ihm in Zusammenhang stehen, den vollständigen Menschen. Andere wiederum glauben an die Anwesenheit eines bleibenden Prinzips, einer Seele oder eines Geistes, welches dem Menschen bei der Geburt teilhaftig wird und das den Tod überdauert. Wieder andere, darunter die Theosophen, betrachten das bleibende Prinzip im Menschen als ewig beständig –nicht allein in der Zukunft, sondern auch in der Vergangenheit –, das heißt, daß es in jedem Menschen, wie auch in jedem anderen Wesen, einen beständigen Kern gibt, die Quelle seiner Existenz, welcher sich periodisch verkörpert. Alle sichtbaren Formen auf der Erde, Menschen, Tiere, Pflanzen bis hin zum Mineral, sind Äußerungen oder Verkörperungen einer inneren Kraft, eines inneren Kerns, der beständig ist und sich zeitlich der Formen bedient, um darin Erfahrungen zu sammeln. Darauf beruht der heute allgemein bekannte Gedanke der Reinkarnation, worauf wir später zurückkommen.
In seinem Buch Bewußtsein ohne Grenzen sagt James A. Long auf Seite 209 folgendes: ‘Wer ist der Mensch? Wenn wir uns, angefangen von unserem göttlichen Wesenskern bis zur äußersten Hülle, dem physischen Körper, selbst kennen würden, hätten wir das Geheimnis des Lebens in all seinen Phasen gelöst. Was glauben Sie wohl, warum das Orakel von Delphi seine Antwort in diese schon unvergänglichen Worte gefaßt hat – Erkenne dich selbst! Warum wurden sie über dem Portal des Apollotempels eingemeißelt, wenn nicht als eine tägliche Mahnung, daß sich zuerst selbst bemeistern muß, wer die Geheimnisse der Natur meistern will?
Wenn wir behaupten, der Mensch sei zum Teil Atom, zum Teil Milchstraße, kommen wir der Wahrheit so nahe wie Paulus, als er den Korinthern sagte, es gäbe im Menschen einen ,,natürlichen Leib“ (Psyche) und einen ,,geistigen Leib“ (Pneuma), und daß der erste Adam ,,zu einer lebendigen Seele wurde, und der letzte Adam zum Geist, der da lebendig macht“ (1. Kor. 44,45). Ziemlich oberflächlich bezeichnen wir uns als aus Körper, Seele und Geist zusammengesetzt, wissen aber damit in Wirklichkeit nichts anzufangen. Tatsächlich sind wir weit mehr als das; Verstand, Intuition, Verlangen und alle möglichen Eigenschaften bilden den Menschen.’
Die dreiteilige Einteilung des Menschen, wie sie oben beschrieben wird, finden wir u. a. im Neuen Testament (s. 1. Thess. 5,23). Sie kann als verkürzte Ausgabe der Alten Lehre über die siebenfältige Natur des Menschen angesehen werden, worauf in der Theosophie erneut die Aufmerksamkeit gelenkt wird.
Obwohl es möglich ist, die Aspekte des menschlichen Bewußtseins auf verschiedene Arten zu unterteilen und diese siebenfältige Klassifikation keine Regel darstellt, die nicht angetastet werden darf, ist sie für den Neuling leicht verständlich und bietet ihm den Vorteil, daß sie mit dem siebenfältigen Muster, das wir in der Natur vielfältig wahrnehmen, übereinstimmt. Wir finden die Zahl Sieben in den Hauptfarben des sichtbaren Spektrums, das wir alle vom Regenbogen her kennen; im periodischen System der Elemente, bekannt als das Gesetz Mendelejews; in den Schwangerschaftsperioden und bei Krankheiten; in den siebenfältigen Oktaven des Klanges, und in vielen anderen Erscheinungsformen. Es ist wie Plato sagt: ‘Gott geht mathematisch ans Werk’ (Siehe Plutarch, ‘Symposiacs’ VIII, 2). Die allgemeine Übereinstimmung der Zahl mit der religiösen Symbolik ist von großer Bedeutung, und dem tieferen Sinn des siebenfältigen Wirkens der Natur wird in der Theosophischen Literatur viel Aufmerksamkeit geschenkt.
Auch im alten Ägypten und Indien wird die siebenfältige Konstitution des Menschen als eine wohlbekannte Tatsache angesehen. Die sieben Bestandteile der menschlichen Konstitution können vielleicht am besten als die verschiedenen Kontaktpunkte beschrieben werden, die zwischen dem bleibenden Mittelpunkt im Menschen und den ‘Gebieten’ oder Graden der Substanz und des Bewußtseins im Universum bestehen, welche sich vom Etherischsten oder Geistigsten bis zum Grobstofflichsten hin erstrecken. Der bleibende Mittelpunkt, oder die Monade (vom griechischen Wort für ‘Einheit’) bekleidet sich sozusagen mit Gewändern oder Gefährten, die von der gleichen Natur sind wie die Ebenen, in welche sie eintritt, bis sie den stofflichen Körper auf der Erde erreicht und dort als eine neue Persönlichkeit geboren wird. Diese Persönlichkeit wird so mit dem beschränkten Gehirn-Bewußtsein verknüpft, daß die grenzenlosen Bereiche der höheren Wahrnehmung verschlossen werden, so daß nur die Allerwenigsten in den Momenten geistiger Inspiration ein seltsames Glühen empfinden.
Es ist nicht richtig, die sieben Prinzipien als gesonderte Wesenheiten im gewöhnlichen Sinne des Wortes oder als ‘sieben Seelen’ zu sehen. Sie haben sich rund um den bleibenden Kern oder die monadische Individualität verwoben und formen zusammen den gesamten Menschen, wenn auch nur in seltenen Fällen von einem vollkommenen Gleichgewicht die Rede ist.
Es gibt kein besseres Bild des vollkommenen Menschen als die sieben Strahlen des Spektrums, die zu reinem weißen Licht verschmelzen, wenn sie sich auf harmonische Weise zu einem Ganzen vereinigen.
Die folgende Übersicht stellt die sieben Prinzipien dar. Die oberen drei stellen die mehr geistigen und bleibenden Prinzipien dar, während die unteren vier die eher vergänglichen sind:
Sanskritbezeichnung | |
1. Geist | Ātman |
2. Spirituelle Seele | Buddhi |
3. Menschliche Seele | Manas |
4. Tierische Seele | Kāma |
5. Lebenskraft | Prāna |
6. Astral- oder Modellkörper | Linga-Śarīra |
7. Physischer Körper | Sthūla-Śarīra |
Die Sanskritausdrücke sind deshalb aufgeführt, weil sie in der theosophischen Literatur häufig vorkommen und ihnen meistens der Vorzug gegeben wird.
Der physische Körper
Über den physischen Körper braucht nur wenig gesagt zu werden, außer, daß er nicht aus toter Materie besteht – es gibt keine tote Materie.
Die Vorstellung von „toter Materie“ – tot im Sinne von unbeweglich, wenn nicht durch fremde Kraft bewegt – wird von der Wissenschaft nicht mehr gelehrt: Jedes Atom ist ein Brennpunkt intensiver Aktivität, und einige bedeutende Wissenschaftler behaupten sogar, daß jeder Punkt im „Raum“ voller Leben pulsiert – eine wahrhaftig theosophische Lehre.
‘Materie’ kann als die universale Lebensessenz in ihrem passiven oder empfangenden Aspekt betrachtet werden, welche sich in voller Tätigkeit als ‘Energie’ äußert. Der menschliche Körper ist aus einer harmonischen Verbindung von Teilen zusammengesetzt, alle aus unzähligen winzigen Zellen aufgebaut, von welchen jede mit Leben und eigenem Bewußtsein ausgestattet ist. Jede Zelle besteht aus kleineren Lebenselementen, die gemäß der Theosophie zu klein sind, als daß wir sie mit unseren physischen Sinnen wahrnehmen könnten, selbst nicht mit Hilfe von Instrumenten, die wirksamer sind als jedes Mikroskop. Der anscheinend untätige physische Körper ist also eine enorme Anhäufung von lebenden Wesen vieler Grade und Gruppierungen und ist nach dem Prinzip der aufsteigenden Hierarchien aufgebaut; dieses Prinzip beherrscht das gesamte Universum. Ein alter philosophischer Aphorismus sagt: „Wie oben, so unten“, und selbst unser niederstes Prinzip, der physische Körper, spiegelt das Universum wider.
Der Astral- oder Modellkörper
Der Astral- oder Modellkörper ist für das gewöhnliche physische Auge nicht sichtbar; aber er kann unter bestimmten Bedingungen oder von gewissen sensitiv veranlagten Menschen gesehen werden. Allgemein gesprochen ist er ein schattenhaftes Doppel des physischen Körpers, das aus einer etwas feineren Substanz besteht. Genauer gesagt, ist der physische Körper das Duplikat des astralen, denn dieser ist das Modell oder das Muster, in welches die ständig wechselnden physischen Atome eine Zeitlang eintreten und es dann wieder verlassen.
Wenn der Astralkörper auch ätherisch erscheint, so ist er doch während der gesamten Inkarnation außerordentlich stark und fest. Ohne die Unterstützung dieses halbfesten Modells könnte der Körper weder seine äußere Form, noch die persönlichen Besonderheiten wie Mutter- und Geburtsmale beibehalten. Der Grund für die unüberwindlichen Probleme der Psychologen bei ihren Untersuchungen ist der, daß sie die Existenz des Astralkörpers ignorieren.
Die Kenntnis vom astralen Doppel räumt das Problem der Beziehung zwischen Geist und Körper aus; der Astralkörper stellt die Verbindung dar; er ist ein Transformator, um einen sinngemäßen Begriff aus der Elektrizität zu benützen, der die höheren Schwingungen auf die niederen ‘heruntertransformieren’ kann. Er ist außerordentlich plastisch und sensitiv und reagiert sofort auf Gedanken und Gefühle. Er leitet sie zum physischen Körper weiter und erzeugt in ihm sogar sichtbare Wirkungen. Jeder weiß, daß überschwengliche Freude oder heftiger Zorn sogar töten kann, und die Stigmata oder Zeichen von den Wunden Christi, die sich an den Körpern bestimmter religiöser Fanatiker entwickeln, sind das Ergebnis von Eindrücken im Astralen, hervorgerufen durch starke mentale Konzentration. Hypnotische Experimente liefern andere Beispiele. Es werden auch Fälle berichtet, bei welchen Verletzungen des Astralkörpers, wenn dieser von seiner schützenden physischen Hülle gelöst wurde, sichtbare Anzeichen auf dem physischen Körper hinterlassen haben. Umgekehrt kann der Körper durch die astrale Verbindung auch auf die geistigen Prinzipien einwirken.
Der Astralkörper wird vor der Geburt geformt; seine Eigenarten werden genau nach den Ursachen festgelegt, die das Ego in vergangenen Inkarnationen geschaffen hat. Seine plastische und sensitive Konstitution befähigt ihn, auf die mentalen und emotionalen Samen zu reagieren, die in der neuen Inkarnation ins Leben treten. Auf diese Weise werden wir mit einem Körper in Übereinstimmung mit unseren Verdiensten ausgestattet.
Der Ausdruck ‘Astralkörper’ wird oft ungenau benützt, um verschiedene Untergliederungen des halb-materiellen inneren Körpers zu bezeichnen, die psycho-magnetischen Zentren miteingeschlossen, durch welche die vitalen Kräfte strömen.
H. P. Blavatsky sagte sehr wenig über diese Einzelheiten, wies aber klar darauf hin, daß es für Menschen wie uns, die sich im Anfangsstadium der spirituellen Entwicklung befinden, nicht ratsam ist, diesen Dingen Beachtung zu schenken. Es ist viel bedeutender, unser Denken und unser Bestreben zu reinigen und gemäß spiritueller Regeln zu handeln. Wenn wir uns selbst und andere nur mit psychischen Wundern blenden, wird der Mensch nur in Verwirrung gebracht, und die Gefühle egoistischer Natur nehmen zu. Das Studium der psychischen Kräfte ist dann angebracht, wenn es sich um vollkommene, wirklich unpersönliche Menschen handelt, die nicht darauf aus sind, ihre Begierde nach dem Okkulten zu befriedigen, und die für den Unterricht und die Unterweisung durch einen wirklichen Lehrer als Schüler würdig sind.
Der wahre Schüler der Theosophie wird vor allem aufgefordert, sein Denken und seine Wünsche zu reinigen und nach spirituellen Richtlinien zu arbeiten, indem er versucht, jenen, die sich noch in dunkler Unwissenheit befinden, den Weg zu einem höheren Leben aufzuzeigen. Es kann sie nur verwirren, wenn man sie mit psychischen Wundern blendet, und es steigert das Gefühl der Selbstsucht.
Nach dem Tode des physischen Körpers lösen sich die astralen Bestandteile langsam in ihre Elemente auf, während die emotional-mentalen Prinzipien mehr oder weniger bewußt bleiben, bis zur endgültigen Trennung, welche ‘der zweite Tod’ genannt wird.
Prāna oder das Lebensprinzip
Prāna ist ein Sanskrit-Wort und bedeutet ‘Atem’, das erste, was für das physische Leben notwendig ist; aber es hat auch andere verwandte Bedeutungen. In der theosophischen Einteilung der Prinzipien bedeutet es die Lebenskraft, welche durch den Astralkörper tätig ist und entspricht in diesem Sinne Jīva, der göttlichen Monade oder Jīvātman, dem Meer des universalen Lebens, das alles durchdringt. Das Wort ‘Element’ ist passender, wenn man von Prāna spricht, da es nicht exakt ein spezielles Vehikel der Monade ist wie der Astralkörper. Der physische und der astrale Körper bestehen natürlich nicht aus untätiger oder toter Materie. Jedes Lebensatom ist von seiner eigenen Energie durchdrungen, aber wenn es durch die formativen Prinzipien wirkt, dann ist Jīva oder die universale Lebenskraft während der physischen Lebenszeit sozusagen abgesondert und kehrt nach dem Tode in das große Sammelbecken zurück, von dem sie einst ausging.
Der physische Körper kann mit einem Gewebe verglichen werden, bei dessen Herstellung der Astralkörper die Kette ist und Prāna das Weberschiffchen, das den Faden führt. Die Zusammenarbeit der beiden stellt das Gewebe her.
Prāna kann von einem gewissen Standpunkt aus als aufbauende Vitalität angesehen werden, die antreibende Kraft. Dr. de Purucker nennt sie den ‘elektrischen Schleier’ oder das ‘elektrische Feld’, das sich im einzelnen als Vitalität manifestiert (vgl. The Esoteric Tradition, S. 950).
Kāma und der Kāma-Rūpa
Kāma bedeutet ‘Verlangen’ und Kāma-Rūpa ist der ‘Wunschkörper’. Kāma ist das Gleichgewichtsprinzip im Menschen, das vierte Element, wenn man von oben oder von unten zählt (vgl. Tabelle). Wir sind ebenso damit ausgestattet wie die Tiere, aber im Menschen sind die leidenschaftlichen Instinkte durch die Vorstellungskraft gesteigert und intensiviert. Wenn die niedere Natur des Menschen nicht von der höheren kontrolliert wird, ist sie instinktiv, selbstsüchtig und unausrottbar mit dem materiellen, sinnlichen Leben verwurzelt. Dieser Durst nach Leben, Trishnā genannt, kommt aus Kāma. Er führt uns immer wieder und wieder zur Geburt zurück; er ist nicht ein Antrieb des ‘fleischlichen Körpers’, der nur ein passives Instrument ist. Wenn das Verlangen jedoch von der höheren Natur kontrolliert und edlen Zwecken unterworfen wird, ist es ein bedeutendes Werkzeug zum Guten. Ohne jede Art von Verlangen würden wir kümmerlich dahinvegetieren.
Die tierische Seele des Menschen wird oft mit den höheren Prinzipien verwechselt. Das kommt hauptsächlich daher, daß der intelligente Teil des Menschen mit dem vergänglichen materiellen Gehirn und den Nervenströmen gleichgesetzt wird, und daß der wahre, unsterbliche Mensch hinter den täuschenden Erscheinungen unbekannt ist.
Das Wunsch-Element ist universal und auf allen Ebenen aktiv. Die sichtbaren und unsichtbaren Welten wurden „durch das aufsteigende Verlangen in der Unbekannten Ersten Ursache“ erzeugt, natürlich ein Verlangen der subtilsten, spirituellen Art. Im höchsten menschlichen Aspekt stehen Aspiration und selbstlose Hingabe für das Verlangen; wenn es auf das Selbst gerichtet ist, herrscht es in den niedrigsten Aspekten vor und degradiert den Menschen bis unter das Tier, weil er dann seinen Verstand zu unedlen Zwecken mißbraucht. Das ist die Bedeutung der Kreuzigung von Christus am Kreuze der Materie. Das, was beim Tier nur einfach und natürlich ist, weil das entwickelte, selbstbewußte Denken fehlt, bedeutet beim Menschen eine Erniedrigung.
Manas
Manas, oder das Denkvermögen, ist das wesentliche menschliche Element, gewöhnlich das Fünfte Prinzip genannt; es bildet die Verbindung zwischen der mittleren Dreiheit und dem überschattenden spirituellen Strahl und der Elternmonade. Diese Dreiereinteilung ist praktisch und anregend, wenn auch nicht fest und unumstößlich; sie bestätigt die bekannteste Tatsache unserer inneren Erfahrung. Jeder Mensch weiß, daß wir mitten in uns eine selbstbewußte Persönlichkeit besitzen, welche durch höhere oder niedere Kräfte in uns selbst beständig in entgegengesetzte Richtungen gezogen wird. Dieser Konflikt ist eine auffallende Tatsache im Leben und er hat einen Sinn, wenn er auch schmerzlich sein kann, denn er stellt die einzige Methode dar, wie wir unseren Weg zu Weisheit und Befreiung finden können.
Die künftige Evolution des Menschen hängt von seiner Fähigkeit ab, das in seiner Mitte stehende selbstbewußte Ego von den Begrenzungen der Persönlichkeit zu befreien und es durch Selbstbeherrschung und die unwiderstehliche Kraft der unpersönlichen Liebe zur Vereinigung mit der inneren Göttlichkeit zu erheben. Daher ist Manas die Verbindung zwischen dem Gott und dem Tier im Menschen. Was Gut und Böse betrifft, ist es selbst eigentlich farblos, hat aber durch die Ausübung des Willens die Macht der Wahl. Durch die höheren und niederen Wünsche – unpersönliche und persönliche – wird es in entgegengesetzte Richtungen gezogen und dabei dual. Der in der Theosophie verwendete Ausdruck ‘Höheres Ego’ steht allgemein für Manas, wenn es durch Buddhi, die spirituelle Seele, erleuchtet wird. Das niedere Selbst ist der Teil von Manas, der unter der Herrschaft der mehr tierischen Impulse steht. Das Höhere Selbst entspricht Weisheit, Liebe, Harmonie und Intuition – kurz der Unpersönlichkeit. Die Persönlichkeit entspricht berechnender Selbstsucht, dem kalten, urteilenden Gehirn-Verstand und der Hingabe an die Sinneslust.
Für Menschen, die mit der Theosophie noch nicht vertraut sind ist es vielleicht am schwierigsten, die Darlegungen über das höhere und das niedere Manas zu verstehen, dennoch sind sie außerordentlich wichtig, denn sie zwingen uns, uns selbst auf sehr reale Weise ins Gesicht zu sehen. In gewisser Weise ist Manas das Schlachtfeld, auf dem unsere Zukunft entschieden wird. Das wird viele Inkarnationen dauern, aber für diejenigen, die unbeirrbar nach Vervollkommnung streben, wird die Zeit sehr verkürzt.
In seinem Buch Das Meer der Theosophie (Kapitel 7, S. 75-76) schreibt William Quan Judge folgendes:
Manas oder der Denker ist das reinkarnierende Wesen, das Unsterbliche, das alle Ergebnisse und Werte der verschiedenen auf der Erde und anderswo gelebten Leben in sich speichert. Manas wird in seiner Natur dual, sobald es sich mit einem Körper verbindet. Weil das menschliche Gehirn ein höheres Organ ist, wird es von Manas benützt, um aus Voraussetzungen Schlußfolgerungen zu bilden. Das unterscheidet auch den Menschen vom Tier, denn das Tier handelt automatisch nach sogenannten instinktiven Impulsen, während der Mensch den Verstand gebrauchen kann. Dieser Verstand ist der niedrigere Aspekt des Denkers oder des Manas und nicht, wie manche angenommen haben, die höchste und beste Begabung des Menschen. Der andere, in der Theosophie viel höher bewertete Aspekt des Manas ist der intuitive Aspekt, der unabhängig vom Verstand erkennt. Das niedere und rein Intellektuelle steht dem Prinzip des Verlangens am nächsten und unterscheidet sich dadurch von seinem anderen Aspekt, der eine Anziehung zu den oberen, geistigen Prinzipien hat. Wenn also ‘der Denker’ völlig im Intellekt aufgeht, ergibt sich für den ganzen Menschen eine abwärts gerichtete Tendenz: denn der isolierte Intellekt ist kalt, herzlos, selbstsüchtig, weil er nicht durch die beiden anderen Prinzipien, Buddhi und Ātman, erleuchtet wird.
Im Tierreich kommt Manas nur schwach zum Ausdruck; dort gibt es weder Selbstbewußtsein noch Voraussicht, noch bewußte berechnende Entscheidung, wenn auch einige der höheren Tiere Anzeichen des Fortschritts zeigen, besonders jene, die in enger Beziehung zum Menschen stehen. Es ist jedoch nicht ratsam, ihre Intelligenz vorzeitig zu entwickeln, weil damit der natürliche Ablauf ihrer Evolution gefährdet wird. Zwischen dem Tier- und dem Menschenreich besteht ein großer Unterschied. Der Mensch ist mehr als ein höher entwickeltes Tier im Sinne Darwins. Das tierische Denken hat sich noch nicht zum selbstbewußten menschlichen Verstand herangebildet. Der Mensch besitzt ein eigenes Licht, welches ihn seit einem bestimmten Zeitpunkt in der Entwicklung seiner niedrigeren Körper erleuchtet. Das selbstbewußte Manas ist das kennzeichnende Merkmal des Menschen. Es hat sich nicht durch natürliche Selektion oder auf eine andere Art aus dem Tier entwickelt. Der wirkliche Mensch, das höhere Manas, überschattet seine niederen Prinzipien oder steht sozusagen neben ihnen. Während Manas spiritueller wird und sich mit dem sechsten Prinzip, Buddhi, vereinigt, wird der Mensch zu mehr als einem Menschen – er wird ein selbstbewußter Gott. Manas kann als schöpferisches Prinzip betrachtet werden, als der Widerschein des Kosmischen Schöpfergeistes.
Ātman und Buddhi
Göttliches Ātman oder die Monade, und Buddhi oder die spirituelle Seele, sind die einzigen beständigen Prinzipien im Menschen; genau genommen manifestieren sie sich nicht als Teile der gewöhnlichen Persönlichkeit, sondern sie überschatten sie. Das Buddhi-Prinzip ist nur im vollkommenen Adepten voll manifestiert. Wir lesen in dem Buch The Mahatma Letters to A. P. Sinnet:
Die höchste Kraft wohnt in Buddhi; latent – wenn sie nur mit Ātman verbunden ist – aktiv und unauflösbar, wenn sie durch die Essenz von „Manas“ galvanisiert ist, und wenn sich nichts von der Schlacke des letzteren mit dieser reinen Essenz vermengt und sie durch seine begrenzte Natur niedergezogen wird.
– Brief 59, S. 341
Der große Lehrer, Buddha, bezeichnete das Sechste Prinzip, Buddhi, als das Feuer, welches im Ewigen Licht brennt. Es ist der ungeoffenbarte Geist, der die Dinge der göttlichen Welt ohne Schleier sieht.
H. P. Blavatsky schreibt, wenn sie von Ātman, der „Einen Realität“ spricht:
Wir sagen, daß der Geist (der „Vater im Verborgenen“ von Jesus) oder Ātman nicht das persönliche Eigentum von jemandem ist, sondern die göttliche Essenz, die keinen Körper und keine Form besitzt, die unsichtbar und unteilbar ist, das was nicht besteht und doch ist, wie die Buddhisten von Nirvana sagen. Die Sterblichen werden von dieser Essenz lediglich überschattet; das, was in sie eingeht und den ganzen Körper durchdringt, sind nur ihre allgegenwärtigen Strahlen, oder das Licht, das durch Buddhi, ihr Vehikel und die direkte Emanation, ausgestrahlt wird.
– The Key to Theosophy, S. 101
Um es nun aber dem menschlichen Intellekt deutlicher begreiflich zu machen: wenn jemand anfängt, den Okkultismus zu studieren und das ABC des menschlichen Mysteriums zu ergründen, nennt der Okkultismus dieses siebente Prinzip (Ātman) die Synthese des sechsten und gibt ihm die spirituelle Seele, Buddhi, zum Vehikel. Nun aber birgt letzteres ein Mysterium, in welches niemand eingeweiht werden darf, mit Ausnahme unwiderruflich vereidigter Chelas, oder jenen, denen ein unumwundenes Vertrauen geschenkt werden darf.
– The Key to Theosophy, S. 119-120
Ātman zu begreifen übersteigt unser Vorstellungsvermögen; das Buddhi-Prinzip kann man sich nur sehr vage vorstellen. Wir können versuchen, uns letzteres als wunderbaren, strahlenden Glanz des spirituellen Lichtes auszumalen, welcher nach und nach das gereinigte Manas durchdringt. Buddhi ohne Manas ist für uns nicht selbstbewußt und kann nicht auf den mentalen Ebenen tätig sein, aber wenn die beiden vereinigt sind, ist der Mensch mehr als ein Mensch. Der so erreichte spirituelle Zustand übersteigt die Begrenzungen der Persönlichkeit, wie wir sie verstehen, in unendlichem Ausmaß und es ist klar, daß das Gemüt von jeder Spur von Egoismus unbedingt gereinigt werden muß, um ihn zu erlangen. Das geschieht durch langes, fortgesetztes Bemühen während vieler Inkarnationen.
Wir müssen unsere Brüder lieben und den Gott in uns entdecken. Dies ist der einzige Weg zum Herzen des Universums. Deshalb beruht die Mitgliedschaft in der Theosophischen Gesellschaft auf der Überzeugung von der universalen Bruderschaft und nicht auf einem Glaubensbekenntnis oder Dogma. Die Prinzipien oder Elemente in der zusammengesetzten Natur des Menschen werden manchmal als drei ineinandergreifende Unterteilungen dargestellt: Die obere, die mittlere und die niedere oder sterbliche Dreiheit, wie in folgender Tabelle dargestellt:
{ | Ātman | Geist, der Innere Gott, die Göttliche Monade. | ||
Obere Dreiheit | Buddhi | Strahl, der von Ātman ausgeht. | ||
{ | Manas | Menschliche Seele mit ihren höheren und niederen Aspekten. | ||
Mittlere Dreiheit | Kāma | Das Wunschprinzip. | ||
{ | Linga-Śarīra | Astral- oder Modellkörper. | ||
Untere Dreiheit | Prāna | Lebenskraft. | ||
Sthūla-Śarīra | Physischer Körper. |
Der Linga-Śarīra (Astralkörper), das Bindeglied zwischen der unteren und der mittleren Triade, kann als die Seele der unteren Dreiheit oder als der Körper der mittleren Dreiheit betrachtet werden.
Reinkarnation
Die Reinkarnation ist eine sehr alte, über die ganze Welt verbreitete Lehre. Sie stellt im Rahmen des allgemeinen Gesetzes der Wiederverkörperung einen besonderen Fall dar. Dieses Gesetz betrifft nicht nur die menschlichen Wesen, sondern auch die Planeten, Sonnen und Universen.
Es ist noch nicht so lange her, daß Reinkarnation für die westliche Welt eine neue und fremdartige Vorstellung war, wenn sie auch in der östlichen Welt allgemein bekannt war. In der öffentlichen Presse wurde der Gedanke lächerlich gemacht und mit der irrigen Vorstellung der Transmigration ins Tierreich vermischt, was die Theosophie ablehnt. Die Theosophische Lehre besagt: „Einmal ein Mensch, immer ein Mensch“, bis ein noch höherer Zustand erreicht ist. Die Arbeit von H. P. Blavatsky hat das westliche Denken so stark verändert, daß die Reinkarnation bereits von unzähligen Menschen angenommen wurde, die erkannten, daß sie die einzige vernünftige Erklärung für die Rätsel des Lebens darstellt, insbesondere für die Ungleichheiten der Geburt und der Erziehung. Die Reinkarnation wird jetzt in der Literatur von allen fortgeschrittenen Denkern ernsthaft dargestellt; sie wurde zu einem beliebten Thema und kommt auch in Radio- und Fernsehsendungen zur Sprache.
Als H. P. Blavatsky dem Westen die Reinkarnationslehre brachte, gab sie uns eine neue Einstellung zum Leben, einen neuen Schlüssel zur göttlichen Natur des Menschen, eine verständliche Erklärung der Evolution. Die Reinkarnationslehre kann mit wenigen Worten so umrissen werden, daß der Mensch viele Male als ein menschliches Wesen auf Erden zu leben hat. Die Bedingungen jeder Inkarnation sind das natürliche Resultat der Ursachen, die in früheren Leben gelegt wurden. Zwischen den Verkörperungen erfreut sich die höhere Natur in einem subjektiven Zustand eines glückseligen Intervalls der Ruhe und des Friedens. Wenn die Evolution des Menschen auf diesem Globus bis zu ihren höchsten Grenzen fortgeschritten ist, wird er zu höheren Sphären weitergehen.
Diese konzentrierte Erklärung könnte ohne die klare Bezeichnung dessen, was mit „Mensch“ gemeint ist, irreführen. Es wurde bereits gesagt, daß der Mensch ein zusammengesetztes Wesen ist, in seinen höheren Elementen beständig, doch in seinen niedrigeren sterblich. Der höhere spirituelle Teil erschafft, wenn er inkarniert ist, sozusagen eine vorgetäuschte, zeitgebundene Persönlichkeit mit dem Empfinden „Ich bin ich“.
In dieser ‘Persönlichkeit’ leben wir gewöhnlich, obgleich Funken des höheren unsterblichen Bewußtseins, welche unsere hohe Abstammung bezeugen, den Schleier durchdringen, je nachdem, wie wir geistig fortschreiten.
Es ist nicht ganz richtig zu sagen, daß die gegenwärtige Persönlichkeit, das Alltagsbewußtsein des Selbst, früher gelebt hat oder wieder leben wird. Die Natur ist zu weise, zu barmherzig, um uns zu gestatten, diese Persönlichkeit mit ihren Begrenzungen, ihren Schwächen und vor allem mit den unglücklichen Erinnerungen, für immer mit uns herumzuschleppen. Glücklicherweise verändern wir uns ständig, wir wachsen und lernen. Das Wort „Persönlichkeit“ (von persona, Maske) beschreibt das vorübergehende Instrument gut, welches vom Höheren Selbst hervorgebracht wurde, um Erfahrungen in dieser Welt zu sammeln. Aber die Persönlichkeit wird nicht unbedingt vernichtet. Während sie kämpft und leidet und sich reinigt, bekommt sie immer mehr Licht von oben und nähert sich dem Bild des ‘Vaters’ an. Selbst wenn die Persönlichkeit irgendeines Lebens weit davon entfernt ist, rein zu sein, sind ihre edleren Eigenschaften und Erinnerungen nie verloren, sondern sie werden beim Tod in das Innere des wahren Menschen eingezogen. Was stirbt, ist das, was nicht wert ist, erhalten zu werden.
Viele akzeptieren den Gedanken an ein zukünftiges Weiterbestehen der Seele, wenn jedoch im Menschen wirklich ein unsterblicher Teil existiert, kann man sich fragen, ob diese Unsterblichkeit (oder Unendlichkeit – was dem entspricht) sich nur in eine Richtung erstreckt. Kann Unsterblichkeit einen Anfang haben? Diese Frage kann nur auf der Grundlage einer Präexistenz beantwortet werden, und das führt zu dem Gedanken, daß wenn die Seele von einem mehr ätherischen Zustand in dieses physische Leben herabstieg, sie dies auch zu einem früheren Zeitpunkt getan haben kann, dem universalen Wissen der Periodizität oder der zyklischen Evolution Gehör schenkend.
Das menschliche Leben ist ein kontinuierlicher Prozeß, und die Periode zwischen den Inkarnationen, wenn die Seele in weniger stoffliche Verhältnisse zurückkehrt, kann mit der uns so vertrauten Unterbrechung des Schlafes verglichen werden. Die Reinkarnation in einer körperlichen Form ist nur ein besonderes Beispiel des universellen, kosmischen Prinzips der Periodizität oder des zyklischen Wissens, welches überall wirksam ist und worauf der früher erwähnte zweite Grundsatz der Alten Weisheitslehre hinweist.
Uns allen sind die Kreisläufe von Tag und Nacht, von Wachen und Schlafen, vom Wechsel der Jahreszeiten und ihrer Wirkungen vertraut; der Aufstieg und Fall von Nationen; die Schwankungen des Marktes; die Mondphasen; die größeren astronomischen Zyklen und viele andere im Menschen-, Tier- und Pflanzenleben. Der Mensch als Seele ist keine Ausnahme von dem großen Gesetz, und sein Voranschreiten durch Inkarnationen auf Erden, das mit den Ruhepausen auf spirituellen Ebenen abwechselt, ist nur ein Teil der größeren und erhabeneren Kreisläufe.
Wenn der physische Körper abgenutzt ist, wenn seine Partikel eine Zeitlang zerstreut sind und der höhere Teil der gereinigten Persönlichkeit in das Wahre Selbst zurückgezogen ist, dann ist die Verbindung des menschlichen Ego zur Erde keineswegs gelöst. Es ist für die Vergangenheit verantwortlich, es hat viele unvollendete Aufgaben zurückgelassen, und es hat noch nicht einmal einen Bruchteil der in einer verkörperten geistigen Wesenheit schlummernden göttlichen Möglichkeiten verwirklicht. Die Menschheit als eine Rasse befindet sich noch – mit sehr wenigen Ausnahmen – in ihrer Kindheit und wird in diesem Zustand bleiben, bis ihre wirkliche Göttlichkeit in ihrer Fülle offenbart wird. Die menschliche Persönlichkeit, wie wir sie heute kennen – die Maske des eigentlichen Menschen –, ist nur ein dürftiges Abbild des herrlichen Wesens, das er einst sein wird. Reinkarnation ist die einzig mögliche Methode für eine solche Evolution.
Aber nach dem „unsteten Fieber des Lebens“ sind Ruhe und Erholung notwendig; und das reinkarnierende Ego wird in Kāma-Loka, der Welt des Verlangens, gereinigt, indem alle niederen Elemente abgeworfen werden. Befreit von allem, was es durch Anziehung an die Erde bindet, durchschreitet es den ‘zweiten Tod’ und geht in die Ruhe und Glückseligkeit von Devachan ein. Die Leidenschaften, Fehler und die leidvollen Erinnerungen vergehen mit dem Körper. In diesem Zustand des hohen spirituellen Bewußtseins bleibt es annähernd hundertmal so lange, wie die letzte Verkörperung dauerte, in Abhängigkeit vom Charakter des Individuums. Dann beginnt in Übereinstimmung mit dem zyklischen Gesetz eine neue Inkarnation. Wir bekommen eine „neue Gelegenheit“, um die Vergangenheit auszugleichen, bis wir unsere Lektion der spirituellen Erkenntnis gelernt haben.
Wir können vor den Verantwortlichkeiten dieses Lebens nicht in einen ewigen Himmel der Glückseligkeit entfliehen, sondern müssen unsere Aufgabe in einer erneuten Existenz auf der Erde zu Ende führen. Jedesmal bekommen wir erneut die Gelegenheit, für das Wohl der großen menschlichen Familie zu arbeiten, zu welcher auch wir gehören. Sobald ein gewisses hohes Stadium spiritueller Entwicklung erreicht ist, erübrigt sich die Inkarnation auf der Erde; dann erwartet uns der unaussprechliche Segen Nirvānas (nir aus, vāna geblasen); die Seele wird frei, und Inkarnation wird dann zu einer Frage der freiwilligen Entscheidung. Man kann sich nichts Edleres vorstellen, als freiwillig auf Nirvāna zu verzichten, um zurückzukehren und der Menschheit auf ihrem mühevollen Weg zu helfen. Das ist das Ideal der vollkommenen Liebe, welches einzelne der würdigsten, erhabensten Seelen, welche die Erde kannte, erreichten.
Karma
Reinkarnation ist die natürliche Methode, durch welche die Seele lernt, und sie schließt folgerichtig die Tatsache mit ein, daß wir die Ergebnisse unserer Handlungen in früheren Leben auf uns nehmen müssen. „Ernten die Menschen Weintrauben von Dornensträuchern oder Feigen von Disteln?“ fragte Jesus in der Bergpredigt, als er das Gesetz von Karma lehrte.
Karma ist essentiell das Gesetz, das Ursache und Wirkung ausgleicht, das die gestörte Harmonie „auch noch nach vielen Tagen“ wiederherstellt. Wir können nicht bestreiten, daß in der materiellen Welt das Gesetz von Ursache und Wirkung herrscht, aber dieses Gesetz erstreckt sich noch weiter auf alle Gebiete der Existenz. Unfehlbar wirkt es sich aus – sei es bei einer liebe- oder mitleidsvollen Tat oder bei einer haßerfüllten oder grausamen Tat, aber auch beim Herunterfallen eines Steines. Es wäre abscheulich, in einer Welt zu leben, in der man nicht darauf vertrauen kann, daß die Natur auf konsequente Weise wirkt.
Ein sehr wichtiger Gesichtspunkt von Karma ist die Tatsache, daß eine Zeitspanne von anscheinend ‘schlechtem’ Karma – Leiden und Prüfungen – in Wirklichkeit kein Unglück sein muß, sondern eine großartige Gelegenheit für den Menschen darstellt, edle Eigenschaften zu entwickeln. „Gold wird im Feuer geläutert“. ‘Gutes’ Karma ist das, was die Seele für ihre Entwicklung braucht, selbst wenn wir es mitunter als schwer und unangenehm empfinden. Es heißt, daß das innere Selbst manchmal den steinigen Weg wählt, um seinen Fortschritt zu beschleunigen. Selbst die äußere Persönlichkeit handelt so, wenn sie die Notwendigkeit dazu erkennt. Der menschliche Wille kann immer Neues verursachen, was die Auswirkung des Vorausgegangenen wiederum beeinflußt.
Es mag unvermeidbar sein, daß man physisch leiden muß; doch entsprechend der Art, wie das Leiden angenommen wird, ist die Wirkung auf den Charakter gut oder schlecht. Es gibt auch Fälle, in denen sich treue Seelen freiwillig für andere hingeben und wo dieses Handeln unvermeidbar zu äußerem Leiden führt. Doch dieser Schmerz ist nicht durch bösen Vorsatz hervorgerufen, sondern durch das Gegenteil. In seinem Buch Bewußtsein ohne Grenzen sagt James A. Long:
Die Leute sprechen manchmal von gutem und schlechtem, von angenehmem und unangenehmem Karma. Für mich gibt es so etwas wie gutes oder schlechtes Karma nicht, denn die Ereignisse, die Auswirkungen unserer Gedanken und Handlungen, sind alle nur Gelegenheiten. Das ist der Schlüssel. Karma als Gelegenheit gibt jedem die gleiche Entwicklungsmöglichkeit. Darin sehe ich keine schwer zu tragende Last. Wir müssen lediglich unsere Reaktionen auf unsere Umstände abstimmen und diesen mit den richtigen Einstellungen begegnen. Wenn wir uns aber unklugerweise gegen die sogenannten unangenehmen Lebensereignisse auflehnen, dann verlängern wir die Wirkungen der falschen Handlungen immer weiter, bis wir schließlich aufwachen und erkennen, daß wir nur gegen uns selbst rebellieren.
Es ist unwichtig, wieviel Leiden wir in diesem Leben auf uns nehmen müssen – unser Karma wird nie schwerer sein, als wir tragen können. Suchet einen Menschen mit schwerer karmischer Bürde, und ihr werdet eine starke Seele finden. Der Mensch, der wirkliche Qualen erleidet, ist eine Seele, die sich kraft der Stärke ihres höhergeistigen Strebens das Recht erwarb, ihr ‘Metall’ durch und durch prüfen zu lassen.
– Seite 28-29
Wir wissen alle, daß sich der Mensch mit Sicherheit einen Knochen brechen wird, wenn er von einer Klippe herunterstürzt, aber nicht geklärt ist, warum einige Menschen ‘wunderbarerweise’ ohne Verletzung davonkommen. Viele von uns kennen solche Vorfälle aus unserem eigenen Umkreis oder aus der nächsten Umgebung. Andererseits haben viele Menschen ‘außerordentliche’ Unfälle erlitten, die sich unter Bedingungen ereigneten, in denen keinerlei Gefahr zu drohen schien.
Die Wissenschaft bejaht die unumstößliche Tatsache, daß physikalische Ursachen entsprechende physikalische Wirkungen hervorbringen; und die alltägliche Beobachtung bestätigt, daß wilder Hafer, in der Jugend gesät, im Alter eine Ernte von Schwierigkeiten hervorbringt – wenn der Sämann lange genug lebt. Aber wenn nicht? Entkommt er dann, ohne bezahlen zu müssen?
Nein, die Natur ist gerecht und sorgt dafür, daß ein Ausgleich in einer anderen Inkarnation stattfindet. Die Ernte wird dort eingefahren, wo die Samen gesät wurden. Dadurch, daß die Lehre von Reinkarnation und Karma im Westen größtenteils verschwunden war, wurde das natürliche intuitive Gefühl dafür, daß das, was der Mensch zeit seines Lebens verursacht hat, eine Auswirkung haben muß, von der Lehre eines ewigen Jenseits des Glücks oder Schmerzes verdrängt. Glücklicherweise haben diese Begriffe mit der Zeit ihre scharfen Grenzen verloren.
Die Vertreter der Theorie vom einmaligen Leben, welche über die offensichtliche Ungerechtigkeit bei der Zuteilung von Möglichkeiten oder Gelegenheiten beim Eintritt in diese Welt nachdachten, brachte dieses Problem zur Verzweiflung. Wir werden nicht nur in eine bestimmte Familie, in eine Nation und Rasse, in eine gute oder schlechte Umgebung, gesund oder krank oder behindert geboren, sondern wir beginnen mit einem eindeutig moralischen und intellektuellen Charakter, der nicht so leicht verändert werden kann, auch nicht mit großer Anstrengung. Einige begünstigte Menschen bekommen jede mögliche Hilfe, um ein edles Leben zu führen; andere werden in Elend und Verbrechen hineingeboren und erhalten nur Fußtritte. Die allgemeine und gänzlich unwissenschaftliche Meinung besagt, das sei alles eine Sache von Zufall oder Glück. Das bedeutet einfach, daß die Lösung des Problems als hoffnungslos aufgegeben wurde. Geht man nur von einem einzigen Leben aus, ist es in der Tat so; das ist schlimm, es ist blasphemisch, denn es würde bedeuten, daß die Welt nicht durch Gesetze geleitet wird, sondern durch ein verrücktes Flickwerk von „Wirkungen“ ohne angemessene Ursachen.
Wie verändert sich das Bild, wenn wir die Lehre von Reinkarnation und Karma kennenlernen, wie wohltätig und geordnet wird das Leben! Bis jetzt haben wir nur die Rückseite des Wandteppichs betrachtet und nichts als ungeordnete Flecken und lose Fadenenden gesehen. Wenn uns klar wird, daß unser Schicksal in unseren eigenen Händen liegt, daß wir nicht nur für die Taten der Vergangenheit bezahlen, sondern daß wir uns unsere eigene Zukunft unter dem unbeirrbaren Gesetz von Karma gestalten, und daß wir uns auf absolute Gerechtigkeit verlassen können – was echtes Mitleid ist –, dann ändert sich unsere gesamte Haltung dem Leben gegenüber. Wir erkennen nicht nur in der physischen Welt Gesetz und Ordnung, sondern ebenso, daß die Natur eine Einheit ist und daß dieselben Prinzipien auf allen Ebenen wirken: mental, physisch und spirituell. Das Gesetz wirkt bei den kleinsten Ereignissen in unserem Leben ebenso zwingend wie beim Fallen eines Steines oder bei der Wirkung von chemischen Substanzen. Wir wiederholen: Das menschliche Leben ist ein Kontinuum, und die Verbindung zwischen den Inkarnationen ist Karma, das Gesetz des Ausgleichs zwischen Aktion und Reaktion. Im Sanskrit bedeutet das Wort ‘Handlung’.
Ein anderer wichtiger Aspekt von Karma und Reinkarnation ist, wie die Frage der Vererbung erklärt wird, wie das Auftauchen großer Genies oder wie sich Entartungen bei gesunder Elternschaft erklären lassen.
In dem Buch Man in Evolution von Dr. G. de Purucker lesen wir auf Seite 227:
‘Es ist die Anziehungskraft, welche die Menschen zusammenbringt. Sobald das Wesen bereit ist, zu reinkarnieren, wird es psychomagnetisch, instinktiv, wenn Sie möchten, zu seiner Familie, zu seinem Mutterleib hingezogen, der mit seinen Schwingungen am besten übereinstimmt. Durch Nachdenken und Reflexion, durch Studium und Untersuchung, soll es Ihnen deutlich werden, daß Sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu jener Familie, zu jener Umgebung, hingezogen werden, die Ihnen jene Schwingung anbietet, die der Ihren am meisten entspricht. Ihre Schwingung hat weniger Schwierigkeiten, mit der Familie zu synchronisieren als mit einer anderen. Charaktere verkörpern sich daher in Familien, die mit dem Charakter des reinkarnierenden Egos übereinkommen. Und das ist die wirkliche Ursache für die Übereinstimmung von Charakteren in einer Familie. Es sind nicht die Eltern, die ihrem Kind die kennzeichnenden Eigenschaften geben. Es ist das Kind, das diese Eigenschaften in sich trägt, und das durch die übereinstimmenden Schwingungen zu den Eltern hingezogen wird, die ihm einen Körper geben, der bestens dafür geschaffen ist, den Charakter, den es in potentia schon besitzt, auszudrücken; und auf diese Weise bleibt der allgemeine Charaktertypus der Familie bewahrt, wenn er auch fortlaufenden Veränderungen unterliegt.’
Das Hervorbringen einer bestimmten Persönlichkeit durch Vererbung ist die natürliche Methode, wodurch das wirkliche Selbst das beste mentale und physische Instrument für sein zukünftiges Erdenleben bekommt. Es wird selbstverständlich so lange angezogen, bis die Umstände, worin sein Karma sich auswirken kann, am effektivsten sind; jedoch beherrschen sie nicht notwendigerweise das gesamte Gebiet. Nicht alle Samenkörner, die in einem Leben gesät wurden, können im nächsten Leben geerntet werden; etliche müssen noch so lange warten, bis für sie die rechte Zeit gekommen ist. Die Erblichkeit jedoch, oder was gewöhnlich hierunter verstanden wird, ist nicht das beherrschende Element in unserem Leben, wenn es stimmt, was H. P. Blavatsky sagt:
„Es ist obendrein unbezweifelbar, daß in dem Falle menschlicher Inkarnationen das Gesetz des rassischen oder individuellen Karmas die untergeordneten Triebe der Vererbung, seiner Dienerin, über den Haufen wirft.“
– Die Geheimlehre, Bd. II, S. 1881
Die eigentliche beherrschende Kraft ist der Mensch selbst, der seine Zukunft mit jeder Handlung und mit jedem Gedanken bestimmt. Man sollte Karma nicht als äußeres Schicksal betrachten oder als etwas, das wir gegen unseren Willen hinnehmen müssen. Unser Karma ist das, was wir für uns selbst bereitet haben, was wir selbst in unseren Charakter eingebaut haben.
Auf jeden Fall sollte man Karma weder als Strafe für Sünden noch als Belohnung für Tugenden betrachten, die von einer alles beherrschenden ‘Vorsehung’ zugeteilt werden. Es ist die Konsequenz, die unfehlbar einer Handlung folgt, ‘wie das Rad dem Huf des Zugtieres folgt’ (Dhammapada, Vers 1). Was auch immer ‘Vergebung der Sünden’ bedeuten mag, es besagt nicht, daß die Folgen ausgelöscht werden. In der Geheimlehre sagt H. P. Blavatsky:
‘Denn das einzige Gesetz von Karma – ein ewiges und unveränderliches Gesetz – ist unbedingte Harmonie in der Welt des Stoffes, so wie sie es ist in der Welt des Geistes. Nicht Karma ist es daher, das belohnt oder bestraft, sondern wir belohnen oder bestrafen uns selbst, je nachdem ob wir entweder mit, mittels oder gemäß der Natur wirken, indem wir den Gesetzen, von denen Harmonie abhängt, gehorchen – oder sie brechen.’
– Bd. I, S. 704-7052
Nach dem Tod
Der Tod ist nicht der ‘König der Schrecken’, sondern ein freundlicher Befreier, eine segensreiche Befreiung für den Geist. Er ist an sich schmerzlos und das Tor zur Ruhe und zu unaussprechlicher Seligkeit. ‘Tod ist Geburt’ in einem sehr realen Sinne. Er ist ein völlig natürlicher Vorgang, notwendig für die Evolution des Menschen über die Zyklen des Erden-Lebens hinweg; er ist so notwendig wie der Schlaf, dem er auf mehr als eine Weise gleicht.
Der Tod ist jedoch keine endgültige Befreiung; er ist nicht das, was die östliche Philosophie als ein Überqueren oder Erreichen des ‘Anderen Ufers’ bezeichnet. Das ist ein dichterischer Ausdruck für die Tatsache, daß die Erkenntnis des inneren Gottes erreicht ist, das Resultat, das man sich durch viele Tode und Geburten erkämpft hat. Es ist der Zustand hoher Adeptschaft.
Die Menschen, welchen die inneren Bereiche der Natur wie ein Buch offenliegen, die durch spirituelle Entwicklung und Initiation den Schleier in vollem Bewußtsein durchdrungen haben, gaben uns einen allgemeinen Überblick über die Stufen des Fortschritts und des Freiwerdens nach dem Tod, einen Überblick, der logisch, wissenschaftlich und in Übereinstimmung mit unseren Idealen ist.
Kurz gesagt, sind die wichtigsten Einzelheiten diese: nachdem der verbrauchte physische Körper abgelegt wurde, zerfällt der halb-physische Astralkörper, Linga-śarīra, und es folgt ein Prozeß der Vorbereitung, in dem das menschliche Ego allmählich von den niedrigeren, weltlichen und alltäglichen Wünschen befreit wird. Das Niedere Manas durchschreitet sozusagen einen Prozeß, in dem es gereinigt wird, so ähnlich wie Metall durch Hitze von der Schlacke befreit wird. Das Kāma-Prinzip schwindet als aktive Kraft mit den niedrigen Erinnerungen der vergangenen Persönlichkeit dahin. Manchmal ist dieses Prinzip so stark und die Verbindung so eng, daß es lange Zeit als trügerische oder Pseudo-Persönlichkeit, Kāma-Rūpa genannt, zurückbleiben kann. Aber das wahre menschliche Ego schreitet vorwärts und läßt das Abbild oder den Rückstand der früheren Persönlichkeit, ihrer spirituellen Qualitäten beraubt, zurück, auch wenn diese zeitweise ein gewisses Maß an Bewußtsein und sogar Gedächtnis beibehalten mag.
Das wirkliche Menschliche Ego oder die Monade ist von den niedrigen leidenschaftlichen Elementen befreit oder technisch ausgedrückt, es ist durch den ‘Zweiten Tod’ gegangen und geht in den devachanischen Zustand ein, wo es uneingeschränkte Glückseligkeit in einer ‘Himmels-Welt’ genießt, der subjektiven Schöpfung der höchsten spirituellen Gedanken und Bestrebungen ‘im Busen der Göttlichen Monade’.
‘Denn welche Träume auch immer im Todesschlaf kommen mögen …’
– SHAKESPEARE, Hamlet, III. Akt, 1. Szene
Das geläuterte menschliche reinkarnierende Ego erfährt in seinem eigenen devachanischen Zyklus ein völliges Erwachen zu spirituellem Bewußtsein, einen Höhepunkt und einen Abstieg in einen Zustand der Lethargie, welcher der nächsten Verkörperung auf Erden vorausgeht. Die karmischen Samen beginnen zu keimen, während der Zyklus seine Runde vollendet; dann erblickt ein neugeborenes Kind das Licht des vertrauten irdischen Tages.
Im Augenblick des Todes, vor der Bewußtlosigkeit, die der Vorbereitung für das Devachan vorausgeht, entrollt sich vor dem inneren Auge des Ego ein vollständiges Panorama des vergangenen Lebens. Jedes Ereignis wird in seinem richtigen Zusammenhang gesehen. Alle Handlungen und Gedanken werden von uns selbst beurteilt, und es wird deutlich, daß selbst die geringsten davon unter das unpersönliche Walten der ausgleichenden Gerechtigkeit von Karma fallen. Auch vor der Wiedergeburt entrollt sich ein ähnliches Bild von den Bedingungen, die das menschliche Ego in der kommenden Inkarnation antrifft – was es sich selbst durch seine eigenen Handlungen und Gedanken bereitet hat. Alles wird deutlich gezeigt. Wenn daher die äußere Persönlichkeit, die nichts von den vergangenen karmischen Ursachen weiß, in der bevorstehenden Inkarnation das Unglück verflucht, das ihr beharrlich auf den Fersen blieb, und sich bitter über das Mißgeschick beschwert – so beklagt sich der innere Mensch nicht, denn er weiß, es ist die Ernte früherer Saaten. Wenn wir den Schlüssel zum Wissen finden und lernen, nach innen zu schauen, werden wir dies alles erkennen und ungeachtet äußerer Mißgeschicke Frieden haben. Die Menschen, die über die Tiefschläge des Lebens nicht klagen, haben schon ein intuitives Wissen davon, wenn sie auch vielleicht ihre Gefühle nicht analysieren können.
Außergewöhnliche Fälle und abweichende Umstände im nachtodlichen Zustand können an dieser Stelle nicht besprochen werden. Einen sehr wichtigen Vorgang, der nach dem Tod des Körpers und im devachanischen Zustand des menschlichen Egos stattfindet, können wir in diesem Zusammenhang aber nicht übergehen. Das menschliche Ego selbst wird dadurch nicht bewußt beeinflußt, denn der Prozeß betrifft ausschließlich die höhere Monade, das essentielle Selbst, aus dem das menschliche Ego oder die Monade hervorging, als sie ihre letzte Inkarnation begann und zu der sie zu ihrer Ruhe und spirituellen Erholung zurückkehrt.
Dieser besondere Prozeß besteht in der Wanderung der spirituellen Monade von einem Planeten der sogenannten ‘Sieben Heiligen Planeten’ zum anderen, wenn sie dem Pfade folgt, der als die Äußere Runde bekannt ist. In dieser Äußeren Runde sammelt die höhere Monade Erfahrungen hinsichtlich der Formen von Leben und Materie, die sich von jenen unterscheiden, welche sie auf der Erde kannte, die aber für ihren eigenen Fortschritt notwendig sind. Obwohl die menschliche Monade oder das Ego im Busen der höheren Monade ruht, hat es keinen Anteil an diesen Erfahrungen, die ihm nicht zugänglich sind, bis es eine weit höhere Stufe erreicht hat. Die menschliche Monade bleibt in ihrer devachanischen Seligkeit, während das spirituelle Elter eine Zeitlang auf jedem der ‘Heiligen Planeten’ verweilt.
Übereinstimmend warnen die großen Seher und Weisen aller Zeitalter nachdrücklich vor der Praktik, die Schatten der Verstorbenen zurückzurufen. G. de Purucker sagt in The Esoteric Tradition, S. 761:
‘Nachdem der physische Körper abgeworfen wurde und das Reinkarnierende Ego von der Anziehung der stofflichen Sphäre befreit ist, bleibt es für eine bestimmte Zeit in den niederen Ebenen oder Reichen des Astrallichts, und schließlich findet der ‘Zweite Tod’ statt, d. h., das Reinkarnierende Ego wirft seinen Kāma-Rūpa ab, die mehr oder minder exakte Kopie in Gestalt und Erscheinung des Menschen wie er war, als er noch auf der Erde lebte. Daher spricht man davon, daß die niederen Reiche des Astrallichts buchstäblich überhäuft sind mit einer großen Anzahl solcher Kāma-Rūpas oder Formen und Gestalten, und jede von ihnen ist eine mehr oder weniger perfekte Kopie des früher auf der Erde lebenden Wesens. Diese Kāma-Rūpas oder astralen Überbleibsel, die Schatten oder astralen Bildnisse der Wesen, die auf der Erde gelebt haben, sind die ‘Spukgeister’ oder Trugbilder, von welchen in der Esoterischen Philosophie gesprochen wird. Sie sind alle seelenlos, sind lediglich ‘Hüllen’, weil das Reinkarnierende Ego, das seinen Kāma-Rūpa früher als ein Bindeglied zwischen sich selbst und dem physischen Körper benutzte, nun von seinem Kāma-Rūpa befreit und auf seinem Weg ins Devachan ist.’
Die Theosophie leugnet nicht, daß viele Phänomene der spiritistischen Sitzungen echt sind. Tatsächlich begann H. P. Blavatsky ihre Arbeit in der Öffentlichkeit bei den Spiritisten, weil sie wußte, daß diese für psychische Phänomene aufgeschlossener waren als die damaligen Wissenschaftler oder Theologen; sie hoffte, daß sie das Licht begrüßen würden, das die Östliche Philosophie auf dieses gesamte Gebiet wirft.
Gemäß der Alten Weisheit ist es völlig ausgeschlossen, daß die spirituellen Egos sich jemals ‘materialisieren’; abgesehen von Ausnahmefällen stammen die Mitteilungen, die der Mensch empfängt, von dem Kāma-Rūpa oder der Pseudo-Persönlichkeit, die sich noch nach dem Kontakt mit der irdischen Ebene sehnt, wenn sie auch nur eine ‘Hülle’ ist, aus der sich die höhere Triade wie ein Schmetterling aus seinem Kokon zurückgezogen hat.
Eine weitere Verwirrung, die sehr häufig vorkommt, entsteht durch die Possen von Naturgeistern oder Elementalen, welche die verblassenden gespenstischen Schatten beleben und die abgeschiedene Persönlichkeit vortäuschen können, wie sie sich oft höhnisch rühmen. Jene Wesen werden als Elementale bezeichnet,
‘die einen Zyklus evolutionären Wachstums beginnen und sich im elementalen Zustand ihres Wachstums befinden. Es ist ein vereinfachender, verallgemeinernder Ausdruck für alle Wesen, die in ihrer Entwicklung unter den Mineralien stehen.’ …
‘Ein Elemental ist ein Wesen, das in unserem Universum die niederste Ebene oder die niederste Welt, den untersten Grad oder die unterste Stufe der aufsteigenden Lebensleiter dieses Universums betreten hat. Diese Lebenstreppe beginnt in jedem Universum auf seiner untersten Stufe und endet für jedes Universum auf seiner höchsten Stufe – auf der des universalen, kosmischen Geistes. Daher wandert das Elemental bei seinem Aufstieg auf der Lebensleiter vom elementalen Zustand durch alle Reiche des Seins, geht durch den menschlichen Zustand, wird übermenschlich, halbgöttlich – ein Halbgott – und wird dann ein Gott. Auf diese Weise betraten auch wir Menschen zuerst dieses gegenwärtige Universum.
Jede Menschenrasse auf der Erde hat an diese Scharen elementaler Wesen geglaubt, von denen einige sichtbar sind wie die Menschen, die Tiere und die lebenden Pflanzen, während andere unsichtbar sind. Die unsichtbaren Wesen erhielten verschiedene Namen: Feen, Naturgeister, Poltergeister, Alben, Heinzelmännchen, Wichtelmänner, Nixen, Trolle, Kobolde, weiße Frauen, Faune, Satyre, Devas, Dschinns usw.’
– Okkultes Wörterbuch, G. de Purucker, S. 48
Man muß sich ganz klar darüber werden, daß die astrale Welt, besonders in ihren zugänglicheren Bereichen, von feinen Täuschungen erfüllt ist, in denen sich der nicht geschulte Forscher, wie intelligent er auch sein mag, wie in einem Irrgarten schnell verliert. Die Türe, einmal geöffnet, ist schwer zu schließen; das haben viele zu ihrem Schaden erfahren, wenn sie unwissend in den sogenannten ‘okkulten Künsten’ herumgepfuscht haben oder versuchten, die niederen physischen Kräfte zu entwickeln, die fälschlicherweise spirituell genannt werden.
In der westlichen Welt vermutet man kaum, daß das menschliche Wesen von einem so vielfältigen ‘Bewußtseinsstrom’ gebildet wird; und noch weniger kennt man die ‘Geographie’ der unsichtbaren Ebenen.
Wir tun gut daran, die astrale Ebene jenen zu überlassen, welche die Aufgabe haben, die dortigen Täuschungen zu untersuchen; jenen, die die notwendige Schulung der Selbstkontrolle und der Selbsterkenntnis durchgemacht haben, die nicht lediglich danach streben, die intellektuelle Neugier zu befriedigen, und die durch den starken Schutz der unpersönlichen Liebe behütet werden. Für uns befindet sich unsere Schule der Erfahrung hier und jetzt, in den Ereignissen des täglichen Lebens.
Das bedeutet natürlich nicht, daß man das gesammelte Wissen und die Lehren über das Thema des Psychismus und die Gesetze, die diesen Erscheinungen zugrunde liegen, nicht studieren sollte. W. Q. Judge sagt:
‘Unsere Philosophie erklärt die bereits verfügbaren Tatsachen und zeigt deutlich, daß zuerst die Tugenden und edlen Charakterstärken entwickelt werden müssen, bevor wir auch nur einigermaßen imstande sind, uns praktisch mit psychischen Kräften zu beschäftigen. Gleichzeitig kann sie dazu beitragen, dem gesamten Aberglauben bezüglich der vielen sich täglich ereignenden paranormalen Erscheinungen zuvorzukommen und damit abzurechnen, indem sie die zusammengesetzte Natur des Menschen hinreichend erklärt.’
– The Theosophical Forum, Aug. 1894
Der zeitweilige Trost, der den Trauernden durch die angeblichen Verbindungen gespendet wird und auf Kosten des Mediums geht, wird reichlich durch die von der Theosophie erklärten Übel aufgewogen. Wenn wir unsere verstorbenen Freunde wirklich lieben, dürfen wir nicht versuchen, sie auf diese irdische Ebene zurückzuholen, von der sie zu dem unaussprechlichen Frieden Devachans aufgestiegen sind. Selbst der Kāma-Rūpa, die Hülle, sollte nicht wiederbelebt und mit ‘scheinbarem’ Leben und Intelligenz ausgestattet werden. Es ist ein Verbrechen gegen den wohltätigen Prozeß des Loslösens von der Natur.
Es ist besser, daß wir unsere Freunde ihren natürlichen Weg empor und nach innen beschreiten lassen, darauf vertrauend, daß wir sie sicherlich erneut treffen werden, wenn wir sie wirklich lieben, denn Liebe zieht Liebe an. In den östlichen Ländern wird das Zurückrufen der Schatten als ungehörig und schlimm betrachtet, und die mit der Mediumschaft verbundenen Gefahren sind nur zu gut bekannt.
Wir sind jedoch von den Freunden, die wir im Leben liebten, nicht gänzlich getrennt, selbst jetzt nicht. Es besteht die Möglichkeit einer sehr realen Verbindung zwischen unserem und ihrem spirituellen Ego. Das geschieht im Schlaf, wenn wir von den Begrenzungen der niederen Persönlichkeit befreit sind und unser besseres Selbst, das Höhere Manas, sich in hochspirituelle Bereiche zurückzieht. Es ist auch sehr selten, daß man sich beim Aufwachen an eine Spur von einer derartigen Verbindung erinnern kann, wenn auch ein Gefühl zurückbleiben kann, daß man ein wunderbares Erlebnis gehabt hat. Solche Erfahrungen haben jedoch nichts mit den Banalitäten der gewöhnlichen spiritistischen Sitzung oder mit den astralen Untersuchungen der parapsychologischen Forschung zu tun.
Die Großen Lehrer sagen uns, daß wir – um das Leben zu kennen – den Tod kennen müssen, und daß das ‘Abenteuer des Lebens’ in seiner Gesamtheit die Intervalle zwischen den Inkarnationen einschließt, denn der Tod des zeitweiligen Vehikels ist für das wahre Ego nur eine Tür zu neuen Erfahrungen. Die Abenteuer des Spirituellen Egos können aber von jenen verstanden werden, die zu hohem spirituellem Bewußtsein emporgestiegen sind und durch Einweihung den Schleier durchschritten haben. Die anderen können nur den äußeren Rand des Wissens berühren.
Der Adept und das Medium befinden sich an entgegengesetzten Polen; der erstgenannte kann nicht durch unbekannte Kräfte oder Wesen beherrscht werden; seine Schulung entwickelt die positiven, gottähnlichen Eigenschaften. Er ist ein Meister des Lebens, kein passiver Vermittler, der selbst die Gesetze der halbmateriellen, astralen Bereiche nicht kennt.
Theosophie und Wissenschaft
Als H. P. Blavatsky dem Westen die Theosophie brachte, kritisierte sie die materialistischen Begrenzungen der führenden Wissenschaftler heftig und bot eine philosophische Betrachtung der Natur an. Ihre Lehren erschienen den führenden Wissenschaftlern jedoch so ungewöhnlich und unkonventionell, daß sie diese allgemein ignorierten. Die Wissenschaft befaßte sich damit, das westliche Denken von den kirchlichen Bindungen zu befreien und alles, was nach spirituellen Idealen aussah, wurde von ihr abgelehnt. Heute hat sich das geändert. Eine große Anzahl, vielleicht die Mehrzahl ihrer grundlegenden physikalischen Lehren, werden von den führenden Denkern entweder völlig angenommen oder sie werden ernsthaft erörtert und erforscht. Dieser Wandel wurde von H. P. B. vorhergesehen als sie feststellte, daß die Geheimlehre der Zeitalter, die von ihr in dem gleichnamigen Werk in großen Zügen dargestellt wurde, im zwanzigsten Jahrhundert anerkannt werden würde.
Es bedarf keiner Beweise, daß im Laufe dieses Jahrhunderts bedeutende Entwicklungen eintraten, welche die Tür zu weniger mechanistischen Interpretationen weiter öffneten, wodurch die Wissenschaft die Gelegenheit bekam, sich von dem groben Materialismus zu entfernen. Sachverhalte, die früher durch das wissenschaftliche Denken verneint wurden, wie beispielsweise die Existenz der Astralebenen und die Anwesenheit eines geistigen Prinzips hinter der stofflichen Erscheinung, sind nun Gegenstand ihrer Untersuchungen.
Die Theorien über die Zusammensetzung der Materie stellen ein bedeutendes Beispiel dafür dar, wie sich die gängige wissenschaftliche Auffassung durch den Einfluß der Alten Weisheit verändert hat. Es liegt noch nicht sehr weit in der Vergangenheit zurück, daß man das Atom als das kleinste und unteilbare Element annahm, aus dem aller Stoff besteht. Dieser Gedanke unterlag einer gewaltigen Veränderung. Von dem Atom, von dem durch wissenschaftliche Untersuchung mit modernen Hilfsmitteln bewiesen werden kann, daß es teilbar ist und aus Teilchen besteht, bleibt wenig ‘Stoffliches’ übrig. Es stellte sich heraus, daß die Bestandteile der Materie vielmehr ‘nicht-stoffliche’ Strukturen besitzen. In seinem Buch Der kosmische Reigen schreibt Fritjof Capra in Kapitel 15:
‘Die Untersuchung der subatomaren Welt im zwanzigsten Jahrhundert hat den aus sich selbst heraus dynamischen Charakter der Materie enthüllt. Sie hat bewiesen, daß die Bausteine des Atoms, die subatomaren Teilchen, dynamische Modelle sind, die nicht als isolierte Wesenheiten, sondern als Teilstücke eines unaufteilbaren Netzwerks von Wechselwirkungen bestehen. Die Wechselwirkungen umfassen einen unaufhaltbaren Energiestrom, der in sich das Austauschen von Teilchen manifestiert; ein dynamisches Wechselspiel, in dem unaufhörlich Teilchen geschaffen und vernichtet werden, in einer fortdauernden Variation von Energiemodellen. Die Wechselwirkungen zwischen den Teilchen bringen die stabilen Strukturen hervor, die zusammen wieder die materielle Welt formen; aber auch die Strukturen bleiben nicht statisch, sondern oszillieren in rhythmischen Bewegungen. So verkehrt das gesamte Universum in unaufhaltsamer Bewegung und Aktivität; in einem fortdauernden kosmischen Energiereigen.’
In ihrem bereits 1888 erschienenen Werk Die Geheimlehre (Band I, 565 f.) schreibt H. P. Blavatsky:
‘Das Atom ist elastisch, folglich ist das Atom teilbar, und muß aus Teilchen oder Unteratomen bestehen. Und diese Unteratome? Sie sind entweder nicht-elastisch, und in einem solchen Falle sind sie dynamisch ohne Bedeutung; oder sie sind auch elastisch, und in diesem Falle sind sie ebenfalls der Teilbarkeit unterworfen. Und so fort ins Unendliche. Aber die unendliche Teilbarkeit der Atome löst die Materie in einfache Kraftzentren auf, d.h. sie schließt die Möglichkeit aus, die Materie als objektive Substanz vorzustellen.’
Vor einigen Jahren machte Semyon Kirlian in Rußland eine Entdeckung, die, wie zu erwarten ist, für die Heilkunde und die Landwirtschaft von Nutzen sein kann. Er fand eine Möglichkeit, die Biolumineszenz (Licht, das durch lebende Organismen hervorgebracht wird) zu fotografieren, welche die gesamte lebende Materie als eine Sonnenkorona umschließt. Seine eigene Hand, die auf diese Weise fotografiert wurde, sah aus wie ‘die Milchstraße an einem Himmel voller Sterne. Vor einem Hintergrund in Blau und Gold vollzog sich in der Hand etwas, das einem Feuerwerk ähnelte.’3 Bei weiteren Untersuchungen ergab sich, daß eine Münze aus Metall von einer anhaltenden Glut umgeben ist, während das frische Blatt einer Pflanze ein schillerndes Bild von flimmernden und schimmernden Funken aufzeigte. Wenn das Blatt verwelkt, wird das Licht statischer, bis die Energie-Impulse sterben. Großes Aufsehen erregte die Entdeckung, daß ein Blatt einer kranken Pflanze ein völlig anderes Bild zeigte als ein augenscheinlich identisches Blatt einer gesunden Pflanze, obwohl noch keine stofflichen Anzeichen von Krankheit erkennbar waren. Kirlian und seine Frau bemerkten zu ihrer Überraschung, daß das gleiche auch bei Menschen stattfindet, das heißt daß der Astralkörper Krankheiten anzeigt, bevor sie erscheinen: ‘Es schien so, daß lebende Dinge zwei Körper besäßen . . . Der Energiekörper schien nicht nur eine Ausstrahlung des stofflichen Körpers zu sein. Der stoffliche Körper schien auf die eine oder andere Weise widerzuspiegeln, was im Energie-Körper stattfand.’4
Ein weiterer Gesichtspunkt, den wir hier zur Sprache bringen wollen, ist der Unterschied, der früher zwischen Energie und Masse oder Kraft und Materie gemacht wurde. ‘Fester Stoff’ besitzt nach heutiger Auffassung eine Anhäufung von elektrischen Ladungen; das harte und unteilbare Atom scheint eine Welt starker Kräfte zu sein, die sich ständig in Bewegung befinden – eine theosophische Auffassung.
Auch die Evolutionstheorie darf nicht unbeachtet bleiben. Jeder denkt unmittelbar an Darwin, der im Jahre 1859 sein berühmtes Buch über den Ursprung der Arten herausgab.
Obwohl Darwins Evolutionstheorie lediglich die physische Umwandlung ohne intelligentes Ziel oder Leitung erklärte, war seine Arbeit doch insofern wertvoll, als daß sie dogmatischen Aberglauben auflöste und den Gedanken der Evolution im Gegensatz zur einmaligen Schöpfung allgemein populär machte. Aber sie war einseitig. Sie übersah die innere, unsichtbare aber sehr reale Essenz, die ihren Weg nach außen und vorwärts erzwingt und materielle Formen in höhere Zustände umwandelt, so daß jede Lebensform besser geeignet wird, die Kraft der Monade oder des Geistes zu offenbaren, wie sie sich aus dem unerschöpflichen Vorrat im Inneren entfaltet oder evolviert. Die Formen sind wie eine Leiter, auf welcher der wahre Bergsteiger emporklettert; die Sprossen sind nicht der Kletterer. Der Mensch ist ein Atom des Göttlichen Lebens, das zu voller selbstbewußter Göttlichkeit aufwärts steigt. Er ist durch viele Zustände der Materie gegangen, die weniger dicht waren als der physische Zustand. Diese ätherischen Zustände verlangten Körper von ähnlicher Art. Die Spuren hiervon liegen in dem Komplex der bereits besprochenen ‘Prinzipien’ verborgen. Die Transformationen des Embryos im Stadium vor der Geburt spiegeln einige davon kurz wider.
Die darwinistische Lehre der Abstammung des Menschen vom Affen liegt im Widerstreit mit dem theosophischen Gedankengut, daß nämlich die menschliche Rasse, als ein Ganzes betrachtet, die ursprünglichste aller Säugetierstämme auf der Erde ist, und daß die Affen teils vom Menschen, teils von tierähnlichen Wesen abstammen. Es ist interessant, auf den Anthropologen Louis Leaky zu hören, der darauf hinweist, daß die Abspaltung des Menschen von seinem ‘nächsten Zweig, dem Affen’ vor mindestens 20 Millionen Jahren stattfand. Daß er über den Affen als ‘Zweig’ des Menschen spricht, gibt seine Überzeugung – wie auch die Überzeugung anderer Anthropologen – wieder, daß sich der Mensch niemals aus einem Affen-Vorfahren entwickelte, sondern daß sowohl die Hominiden als auch die Pithekoiden aus einem gemeinsamen, noch unidentifizierten, Wurzelstamm entstanden.
In seinem Buch Nicht von den Affen [Not from the Apes, 1972] schreibt der finnische Anthropologe Björn Kurten, daß die Primatenfossilien selbst unmißverständlich davon zeugen, daß der Mensch niemals vom Affen abstamme, und daß es exakter sei zu sagen, daß die Affen und Menschenaffen von früheren Vorfahren des Menschen abstammten.
Auch Professor Björn Hupten von der Universität in Helsinki äußerte sich in diesem Sinne. In dem Magazin Daily Pilot, Orange County, Kal. vom 23. Oktober 1971, schreibt er:
‘Wir sollten uns selbst fragen können, ob es nicht die Affen waren, die von den Vorfahren der Menschen abstammten, anstelle der gegensätzlichen These.’
Schließlich wollen wir hier einige Zitate von Dr. Harlow Shapley5 anfügen. Er führte uns nicht nur zu den Grenzen neuer Gebiete und erweiterte unseren Horizont des Universums über die Milchstraße hinaus, er vertrat auch eine Auffassung von Evolution, die den gesamten Bereich des Kosmos bis zu den entlegensten Winkeln miteinbezog. Er sprach von der Injektion des ‘Bewußtseins’ in den Lebensprozeß, sozusagen als Stachel des Wachstums. Eine seiner Aussagen lautet wie folgt:
‘Die Menschheit ist aus Sternenstoff gemacht und wird durch universale Gesetze beherrscht. Der Faden der kosmischen Evolution läuft sowohl durch ihre Geschichte als auch durch alle Fasern des Universums – den Mikrokosmos der atomaren Konstruktionen, die molekularen Formen mikrokosmischer Organismen und den Makrokosmos höherer Organismen, von Planeten, Sternen und Milchstraßen. Die Evolution in den Systemen der Milchstraße und im Menschen setzt sich beständig noch weiter fort – und den Zweck können wir nur vage vermuten.’
– The View from a Distant Star
Mit dem Vorhergehenden haben wir auf eine deutliche Tendenz der Wissenschaft verwiesen, zu den ursächlichen Gebieten vorzudringen und sich nicht länger auf die äußere Natur zu beschränken, weil der Mensch in zunehmendem Maße erkennt, daß die äußere Natur lediglich die Manifestation innerer spiritueller Kräfte darstellt.
Theosophie und Wissenschaft sind keine getrennten, nebeneinander stehenden Größen. Die Wahrheit ist eins, sowohl religiös, philosophisch als auch wissenschaftlich.
Theosophie ist archaische Weisheit. Sie kleidet Natur, Struktur, Ursprung, Bestimmung und das Wirken des kosmischen Universums und aller darin lebenden Wesen in die menschliche Sprache. Die Wissenschaft, die versucht, das Leben und alle Naturerscheinungen zu erklären, sucht auf ihre Weise schließlich nach derselben Wahrheit. Wir schließen mit einem Zitat des östlichen Weisen Patañjali:
‘Das Universum, das sichtbare und das unsichtbare eingeschlossen … existiert für die Erfahrung der Seele und für ihre Befreiung.’
– Yoga Aphorismen, Yoga Sūtra, II, 18
Theosophie und Evolution
Wir können uns die Erde als den Wohnort des Menschen, der Tiere und der Pflanzen vorstellen, oder als einen Himmelskörper, der mit vielen anderen um die Sonne wandert und einen Teil des großen Milchstraßensystems ausmacht. Im ersten Fall sehen wir die Länder und Seen vor uns, die Berge und Ozeane, den schneebedeckten Nord- und Südpol, und vielleicht wandern unsere Gedanken weiter, unter die Oberfläche, zu den Stoffen, die wir zu unserem Nutzen ausgraben. Im zweiten Fall leben wir auf einem kleinen Globus, der seine Achsenrotation und Wanderung um die Sonne vollbringt und, verglichen mit einigen anderen Himmelskörpern, nicht mehr ist als eine Anhäufung von Materie.
Wir bleiben meist nicht bei der Aussage stehen, daß das, was wir Erde nennen nichts anderes ist als der materielle Aspekt, der äußere Körper, in welchen die Erde als Ganzes mindestens ebenso einbezogen ist wie der Mensch. Die übrigen Aspekte des Planeten befinden sich auf einer Ebene, zu welcher unsere äußeren Sinne keinen Zugang haben, wo sich aber in Wirklichkeit all jene Elemente befinden, welche die innere Struktur des Planeten formen. Planeten und Sonnen sind ebenso Offenbarungen der lebendigen Natur wie Menschen, Tiere und Pflanzen, von denen wir einst glaubten, daß sie die einzigen Wesen seien, die ‘lebendig’ genannt werden können.
In der theosophischen Philosophie spricht man häufig von einer ‘Planetenkette’, wenn von einem Planeten die Rede ist, weil ein Planet, und so auch die Erde, nicht ein einzelnes Wesen ist, sondern ein Organismus von sieben Globen. Nur einer dieser Globen befindet sich auf der Ebene, auf welcher wir heute als materielle Wesen tätig sind und auf welcher wir mit unseren gewohnten Sinnen wahrnehmen können. Unsere vertraute Erde ist nur ein Globus einer Kette von sieben Globen, die zusammen den ganzen Planeten, die Erdkette, formen. Die anderen sechs Globen befinden sich auf höheren Ebenen und sind daher für uns nicht wahrnehmbar.
‘Höhere’ Ebenen müssen wir uns nicht als Ebenen irgendwo über uns vorstellen, denn die Ebenen, und so auch die Globen, durchdringen einander.
Die sieben Globen der Erde sind der Wirkungsbereich und Lebensraum eines Stromes unzähliger menschlicher und anderer Monaden, die darauf ihre Evolution vollbringen.
Auf jedem Globus vollzieht sich diese Evolution in sieben aufeinanderfolgenden großen Wurzelrassen, von denen jede ihre Möglichkeit der Entfaltung bietet. Wenn auf einem bestimmten Globus die sieben Wurzelrassen durchlaufen wurden, und die Wesen, die ein Teil davon waren, alle ihnen möglichen Erfahrungen gemacht haben, rückt der Monadenstrom zum nächsten Globus vor, der wiederum seine eigenen Entwicklungsmöglichkeiten in sieben großen Wurzelrassen bietet. Siebenmal zirkuliert der Strom der Monaden um die sieben Globen; man nennt dies die sieben Runden, wonach die ‘Erdkette’ das Ende ihrer Existenz erreicht hat und schließlich als ein toter Körper in Auflösung übergeht, womit natürlich für das menschliche Begriffsvermögen sehr lange Zeitperioden gemeint sind. Wir Menschen befinden uns augenblicklich auf dem vierten Globus der Erdkette (dem materiellsten), in der fünften Wurzelrasse des Globus und in der vierten Runde.
In den ersten drei Runden war der Mensch kaum mehr als eine schattenhafte Andeutung dessen, was er geworden ist; es würde jedoch den Umfang dieses Büchleins sprengen, das Thema weiter zu erörtern. Wir müssen uns auf die Vierte Runde, in der wir uns jetzt befinden, beschränken. Leichter verständlich gesagt, vollzieht sich die Evolution in diesen sieben großen Wurzelrassen.
Jede Wurzelrasse ist – mit ihren zahlreichen Unterrassen und Verzweigungen – praktisch selbst eine Menschheit mit ihrer eigenen speziellen Entwicklung und Umgebung. In der Mitte jeder Wurzelrasse treten große geologische Veränderungen auf. Aus der gegenwärtigen Wurzelrasse beginnt die Entwicklung der nachfolgenden, so daß die Wurzelrassen einander überlappen.
Selbst in der Vierten Runde trat die Schar der menschlichen Monaden anfangs in sehr nebelhaften und ätherischen Formen auf, den heutigen physischen Körpern durchaus nicht ähnlich. Da die Monaden Manas oder das Denken noch nicht evolviert hatten und die Geschlechter in dieser ersten Wurzelrasse der Vierten Runde noch nicht getrennt waren, waren sie wenig mehr als ein vager Schatten der späteren Menschheit.
Die Erste Rasse entwickelte sich nach und nach auf ihre eigene Weise, dann machte sie der Zweiten Rasse Platz, die mehr substantieller Natur war; diese ging in die Dritte über, die an ihrem Ende ziemlich materiell war. Damals wurde die gegenwärtige Art der Fortpflanzung zur Regel, und die Morgendämmerung der Zivilisation brach an.
Auf die Dritte Wurzelrasse folgte die Vierte, eine hoch intelligente, aber träge materialistische Menschheit. Sie bewohnte großenteils weite Länder, die jetzt vom Atlantischen Ozean bedeckt sind. Durch intellektuelle Entwicklung wurden große Fortschritte gemacht, doch die spirituelle Evolution ging nur langsam voran. Ungefähr in der Hälfte der Vierten Rasse wurde unsere gegenwärtige Fünfte Rasse geboren; aber sie vermehrte sich nur sehr langsam, bis die Atlantische Zivilisation durch geologische Katastrophen, die sich im großen Maßstab ereigneten, praktisch völlig verwüstet wurde. Die moderne Wissenschaft beginnt nun, einen sehr kleinen Einblick in die frühere Geschichte der Fünften Wurzelrasse zu erhaschen, der einzigen Rasse, die uns bekannt ist, denn von den früheren Rassen und ihren ‘Welten’, wie man ihre Umgebung bezeichnen könnte, wurde fast jede Spur ausgelöscht.
In fernen zukünftigen Zeiten werden auch wir verschwinden und der Sechsten Rasse Platz machen, einer viel höher entwickelten Menschheit; und diese wiederum der Siebten Rasse, in der die Menschen fast wie Götter auf der Erde wandeln werden. Zudem sind wir jetzt auf dem nach oben führenden Bogen, denn der tiefste Punkt wurde etwa in der Mitte der Atlantischen Periode erreicht.
Wenn auch fast jede greifbare Spur der archaischen Rassen verschwunden ist, wurden doch Überlieferungen von ihrer Existenz und ihrem Charakter bewahrt. Man findet sie in den verschiedenen heiligen Büchern des Ostens, einschließlich der Bibel; diese sind unverständlich, wenn sie wörtlich genommen werden, aber sie bieten echte und wertvolle Mitteilungen für diejenigen, die den Schlüssel zu ihrer wahren historischen Bedeutung haben. H. P. Blavatsky widmete viele Kapitel ihrer Geheimlehre der Interpretation dieser historischen Allegorien.
Obgleich die Alte Weisheit sehr zuverlässig die Evolution lehrt, eine Evolution im umfangreichsten Sinne, welche sowohl den Kosmos als auch den Menschen betrifft, verwirft sie jede Theorie, die rein mechanistisch ist und sich nur mit dem sterblichen Körper befaßt, dabei aber das wirklich Evolvierende, die Monade oder den Geist im Menschen, ignoriert.
Die Evolution vollzieht sich nicht in einer aufsteigenden geraden Linie. Die Monade stieg aus ‘ätherischen’ Zuständen herab und trat allmählich in einen dichteren Zustand ein; schließlich benützte sie in Übereinstimmung mit dem niedersten Teil des Zyklus physische Formen. Wenn der Mensch wieder aufsteigt und in ätherischere Bereiche zurückkehrt, werden seine körperlichen Formen auch umgewandelt werden. Die Monade, Buddhi, und auch Manas sind keine ‘Nebenprodukte’ eines fleischlichen Gehirns; noch weniger sind sie das Ergebnis ‘natürlicher’ Evolution der niederen Tiere. Die Menschenaffen haben tatsächlich sowohl menschliches als auch tierisches Blut in ihren Adern, aber sie sind nicht unsere Vorfahren. Man kann den Ursprung der Anthropoiden praktisch bis zu frühen und entarteten menschlichen Anfängen zurückführen; sie sind das Produkt von Rassenmischung.
Da die Frage vom Ursprung des menschlichen Körpers derartig kompliziert ist und die Existenz der Menschenaffen eine solche Verwirrung verursacht, kann es nicht verwundern, daß die Wissenschaft sie nicht gelöst hat. Dieses Thema wird von H. P. Blavatsky ausführlich behandelt. Obwohl die Evolution in der Theosophie eine fundamentale Rolle spielt, wies H. P. B. nie mit Nachdruck darauf hin, daß sie nicht als bloße Transformation von körperlichen Formen durch stets komplizierter werdende Organismen betrachten werden darf, welche durch mechanisch wirkende Naturgesetze verursacht wird. Während das Ego in der äußeren Hülle Erfahrungen sammelt, entfalten sich neue, verborgene Kräfte im Innern, und das physische Vehikel verändert sich ganz natürlich. Der Körper besitzt keinen Selbstzweck, sondern er ist das Instrument, durch das sich die sich entwickelnden Kräfte des inneren Menschen zum Ausdruck bringen. Die menschliche Evolution reflektiert in ihrem zyklischen Vorgehen die größere kosmische Evolution.
An dieser Stelle muß noch etwas über die Hilfe gesagt werden, welche der evolvierenden Menschheit von spirituellen Intelligenzen aus höheren Ebenen angeboten wird; von Intelligenzen, die weiter vorangeschritten sind und die in den sich entwickelnden Menschen inkarnieren oder diese überschatten. Es ist ein universales, okkultes Gesetz, daß sich das Höhere sozusagen opfert, um dem Niedrigeren zu helfen, seine latenten Möglichkeiten zu entwickeln. Dies bezieht sich auf andere Reiche ebenso wie auf das menschliche Reich. Bei der Menschheit geschah dies, als gegen Ende der Dritten Rasse der gegenwärtigen Vierten Runde das Denkvermögen erwachte. Die Alten Überlieferungen berichten diese sehr wichtige evolutionäre Tatsache; ohne dieses Geschehen kann die wahre Entwicklung des Menschen nicht verstanden werden.
Selbstverständlich blieben viele Aspekte dieses Themas unbesprochen, so zum Beispiel die Herkunft und Bestimmung der Tiere, die Evolution und Involution des Menschenreiches, geologische Zeitspannen, geistige, intellektuelle und psychomentale Entwicklung, die Embryologie als Prüfstein und geologische Überreste. Diese und andere Themen werden ausführlich in den Büchern Dr. G. de Puruckers Man in Evolution und The Esoteric Tradition behandelt.
Theosophie und Psychologie
Die Psychologie, als die Wissenschaft der Seele, des Geistes oder des Bewußtseins, entwickelte sich aus der Philosophie und ist daher ursprünglich eine philosophische Psychologie. Gewöhnlich betrachtet man Aristoteles als ihren Gründer, auch wenn es vor ihm viele weise Griechen gab, die sich mit dieser Thematik beschäftigt hatten, war er der erste, der seine Ideen systematisch in seinen vielen Werken niederschrieb. Aristoteles lebte von 384 bis 322 v. Chr. und stand in enger Verbindung mit Plato. Seine Lehre betrifft das Leben von Menschen und Tieren.
Weil erkannt wurde, daß die Seele und der Geist unfaßbar sind, trat diese philosophische Psychologie allmählich in den Hintergrund, und es wurde dem Menschen und seinem Verhalten mehr Beachtung geschenkt, wodurch die Verhaltenspsychologie oder der Behaviorismus entstanden, was nicht heißen soll, daß man die Seele des Menschen immer in Abrede stellte.
Das Verhalten des Menschen fließt selbstverständlich aus seinem Charakter hervor, aus allen Elementen seiner inneren Natur, den psychischen, mentalen und geistigen Facetten. Die wahre Psychologie muß daher die Wissenschaft der unsichtbaren Konstitution des Menschen sein und alle Erscheinungen umfassen, die bei normalen als auch abnormalen Menschen zum Ausdruck kommen.
Worauf es bei den verschiedenen Auffassungen in der Psychologie häufig ankommt ist, ob man den Menschen als ein überwiegend physisches Wesen ansieht, oder als geistige Entität, die sich eines physischen Körpers als Mittel eines zeitlichen Ausdruckes bedient. Die Theosophie akzeptiert nachdrücklich letzteres und verwirft den Gedanken, der noch immer eine wichtige Rolle spielt, daß der Mensch von Natur aus verdorben ist oder in Sünde geboren wurde; es macht keinen Unterschied, ob der Gedanke auf einer bestimmten christlichen Sichtweise oder auf der Auffassung beruht, daß ein Mensch nicht mehr als ein weiter entwickeltes Tier ist. Zum Glück gibt es auch Psychologen, die eine andere Meinung zum Ausdruck bringen. Carl Rogers beispielsweise geht von der angeborenen Güte des Menschen aus und sagt, daß, wenn wir negative Eigenschaften wie beispielsweise Haß und Egoismus aufzeigen, wir diese erlernt haben. Ein anderer Psychologe, der 1970 verstorbene Abraham Maslow, erklärte, daß der Mensch mehr ist als nur seine Instinkte oder Reaktionen aufgrund von Erfahrungen und daß der Mensch als Ganzes studiert werden muß. Er war es, der sagte, daß Psychologen ihre Untersuchungen nicht auf Menschen richten müssen, die scheiterten oder geistig gestört sind, sondern auf die besten Vorbilder der Menschheit. Er widersetzte sich auch der Tatsache, daß bestimmte Psychologen ihre Ansichten auf aus Tierversuchen gewonnene Ergebnisse gründen, wodurch typische menschliche Eigenschaften wie Selbstaufopferung, Liebe, Schönheitssinn usw. nicht in die Betrachtung miteinbezogen werden. Wenn man den Menschen ausschließlich nach seinem Verhalten in einem bestimmten Moment beurteilt, kann das in vielen Fällen nur einer Verurteilung gleichkommen. Aber eine Momentaufnahme ist kein vollwertiger Maßstab. Ein Mensch ist ein Bewußtseinsstrom und muß in seiner Ganzheit betrachtet werden und nicht, was in einer bestimmten Periode, mitbestimmt durch karmische Einflüsse, äußerlich sichtbar wird.
Gegenwärtig wird viel über ‘Selbstverwirklichung’ gesprochen, was bedenklich ist, da der Mensch unter dem ‘Selbst’ wenig mehr versteht als die gewohnten emotionalen Impulse oder Äußerungen aus dem Alltagsdenken. Selbstverwirklichung hat jedoch eine tiefe Bedeutung, da der Mensch sie auch in bezug auf den inneren, göttlichen Kern erlangen muß, was sich aber heute bei den meisten von uns im Alltagsleben noch kaum offenbart. Später soll sie die ganze persönliche Natur umfassen und mehr aus dem Menschen machen, als die jetzt bekannte Alltagspersönlichkeit darstellt.
Häufig versucht man, die Wirkungen des Bewußtseins durch das zu erklären, was man von außen wahrnimmt, dann hat man es aber gewöhnlich mit der niederen Persönlichkeit zu tun. Die Theosophie fängt innen an: sie zeigt, wie man die Schlupfwinkel der eigenen Persönlichkeit mutig erforscht, denn der Schlüssel zur Erkenntnis liegt in der Selbstdisziplin. Das ist äußerst praktisch, und wenn der Mensch die Lehren befolgt kann er seinen eigenen Weg zum Herzen des Universums finden.
Der intellektuelle Aspekt der Theosophie ist von großer Bedeutung, aber ihr Studium muß immer auf eine unpersönliche, spirituelle Entwicklung zum Wohle der anderen ausgerichtet sein. Aber das ist nur ein Aspekt des großen Werkes: das Enthüllen des inneren Gottes, des ‘Bereiches der Unsterblichkeit’ in uns. Die Bedeutung des Wissens über Karma und Reinkarnation kann kaum überschätzt werden, aber wonach wir zuallererst streben müssen, ist die Rückerinnerung an unser göttliches Selbst, was bedeutet, daß wir uns vom Gefühl befreien müssen, wir seien von ihm getrennt. Wir müssen lernen, das separate niedere Selbst nicht weiter zu betonen, damit wir den Sinn und die Schönheit erkennen, unpersönlich zu sein. Das ist das wirkliche Studium der Psychologie. Die Offenbarungen der Selbsterkenntnis verleihen die Kraft, anderen zu helfen. Wenn die niederen Wünsche umgewandelt sind, wenn ein Mensch so unpersönlich geworden ist, daß er Beleidigungen bereitwillig vergibt, wenn er bei allen Gelegenheiten aus edelsten Motiven handelt, dann kann er die Probleme der anderen verstehen, und seine Intuition wird so stark werden, daß er genau weiß, was er in allen Fällen tun muß. Das ist kein leeres Versprechen, es ist ein bekanntes, eindeutiges Resultat der aufrichtigen Bemühung, das Leben, das von Jesus und Buddha gepredigt wurde, zu leben. Ihre Ratschläge waren äußerst praktisch. Dr. de Purucker deutet dies in seinem Buch Goldene Regeln der Esoterik (S. 162) an und sagt:
‘Dieser Wunsch nach unpersönlichem Dienen läutert das Herz, erhellt den Geist und löst die Knoten der niederen Selbstheit, so daß sich Herz und Geist öffnen und für die Weisheit empfänglich werden.’
In der Stimme der Stille sagt H. P. Blavatsky:
‘Selbst-Erkenntnis ist das Kind liebevoller Taten.’
Die wahre Psychologie, derer wir alle bedürfen, ist ein Prozeß der Selbstdisziplin, und nicht nur jene, die an den Universitäten Psychologie studieren, brauchen sie.
Es mag einigen seltsam erscheinen, daß das kostbarste Wissen, das der Mensch erwerben kann, nur durch eine unpersönliche Lebensweise erlangt werden kann, die stets auch auf das Wohl der gesamten Menschheit ausgerichtet sein muß. Dennoch ist es durchaus vernünftig, weil alles Wissen im Bereich des inneren Gottes liegt, dessen Lebensgesetz die Liebe ist. Es ist der Weg, auf dem die großen Meister der Weisheit und des Mitleids ihr Ziel erreicht haben. Ihre gereinigte Persönlichkeit behindert das innere Licht nicht mehr. Wie es ein orientalisches Sprichwort ausdrückt: ‘Die Lampe und der Docht sind rein.’
Die Lehrer der Menschheit
Nachdem, was bereits gesagt wurde, ist es nicht schwierig zu verstehen, daß bestimmte Menschen der Verwirklichung ihrer inneren göttlichen Natur weit näher gekommen sind als andere – einer Verwirklichung, auf die sich die gesamte menschliche Rasse in ihrer Evolution hinbewegt.
Unter den Fortgeschritteneren befinden sich einzelne, die selbst die besten und intelligentesten Menschen unter uns weit überflügeln. Sie sind die Blüte ihres Zeitalters. Sie sind als Retter, Welten-Lehrer, Weise, Mahatmas, Eingeweihte oder Meister der Weisheit bekannt.
Aus der Geschichte kennen wir einzelne solcher weit fortgeschrittener Menschen wie Gautama Buddha, Jesus, genannt Christus, Pythagoras, Krishna, Lao-Tse und viele andere. Sie gehören zu einer Vereinigung oder Bruderschaft, die seit undenklichen Zeiten existiert, und die immer noch so aktiv ist wie eh und je. In gewissen Intervallen sendet diese Bruderschaft einen Boten aus, um das Wissen der Alten Weisheit über den Menschen und die Natur wachzurufen.
H. P. Blavatsky war einer dieser Boten, durch Studium und Schulung darauf vorbereitet, der Westlichen Welt ein wenig über den erhabenen Orden mitzuteilen und von den notwendigen Vorbedingungen, um ihm beizutreten. In ihrer Stimme der Stille beschreibt sie den steinigen und dornigen Weg, der zu Frieden und Weisheit führt, wo eine große Belohnung gewiß ist – die Macht, der Menschheit zu helfen und ihr zu dienen. Das Geheimnis des Erfolges im ‘Weißen Okkultismus’ heißt: „Zu leben, um der Menschheit zu dienen, ist der erste Schritt. Der zweite ist, die sechs glorreichen Tugenden auszuüben. … So wirst du in Harmonie sein mit allem, was lebt; liebe die Menschen, als wenn sie deine Brüder wären, Schüler des einen Lehrers, die Söhne der einen süßen Mutter.“
Die Adepten, welche die Theosophische Gesellschaft gründeten, stehen immer in engem Kontakt mit dem Boten, der sie in der äußeren Welt vertritt.
Es ist offensichtlich kühn zu behaupten, daß eine derartige Vereinigung von Wächtern der Rasse existiert, die unbekannt ist, außer für wenige; es ist trotzdem wahr, und warum sollte es überraschen, wenn wir klar erkennen, was die Evolution wirklich bedeutet? Warum sollten wir gewöhnlichen Menschen das Höchste darstellen, was die Natur hervorbringen konnte – sie hatte über Millionen von Jahren die Gelegenheit, es besser zu machen – und selbst unter den uns bekannten Völkern und Individuen bestehen enorme Unterschiede. Man vergleiche einen afrikanischen Pygmäen mit einem Einstein. Der hohe Adept ist die seltene Blüte einer Rasse, einer außergewöhnlichen Entwicklung, aber in der Zukunft wird dieser Typus so normal sein wie der durchschnittlich anständige Mensch es heute ist.
Der Osten hat immer von den Adepten gewußt, aber im Westen haben nur die ursprünglichen Rosenkreuzer, die Platoniker des siebzehnten Jahrhunderts und einzelne mystische Philosophen zu verschiedenen Zeiten auf ihr Dasein hingewiesen, bis H. P. Blavatsky kam und sie öffentlich als ihre Lehrer und Inspiratoren erklärte.
Die Adepten sind die Wächter und Beschützer des heiligen Wissens; um dieses unversehrt zu bewahren, können sie sich nicht ungehindert mit der Welt verbinden, sondern müssen abgesondert leben. Da ihre Arbeit großenteils auf inneren Ebenen des Denkens und Handelns geschieht, wäre die Öffentlichkeit für sie kaum von Vorteil, sondern eher von Nachteil; sie wären überall behindert. Sie haben kein Verlangen danach, ihre Existenz einer skeptischen Öffentlichkeit zu beweisen.
Der Weg zur Weisheit öffnet sich jedoch für diejenigen, welche die Menschheit lieben und aus dem reinen Verlangen, ihren Brüdern bei der Suche nach dem Weg zu helfen, ihre persönlichen Wünsche opfern. Sie kennen das Paßwort; sie wissen, wie man richtig anklopft. Die Großen Lehrer suchen immer nach jenen, in denen sie einen Strahl des Christuslichtes oder des buddhischen Glanzes entdecken. Diese werden sie zur rechten Zeit treffen; wie bald, das hängt ganz von ihnen selbst ab. Ob man das Licht empfangen wird, hängt davon ab, wie aufrichtig der Wunsch ist, das Empfangene an andere weiterzugeben. Deshalb gibt es keinen anderen Schlüssel zur Theosophie als Bruderschaft – den Nächsten zu lieben wie sich selbst, das ist der oberste Grundsatz der Theosophischen Gesellschaft.
Einige wohlmeinende Leute sagen, daß wir keine äußeren Helfer oder Lehrer brauchen, weil Erleuchtung aus dem Inneren kommt. Tatsächlich ist das Licht im Innern, aber haben wir es gefunden? Warum sollten wir einen Führer auf dem Wege zurückweisen, auf dem Pfad, den wir betreten möchten?
Nach der Theosophie ist der wahre Lehrer (im Sanskrit Guru) nicht ein Gelehrter, der eine große Menge an Wissen überträgt – das kann ein gutgeschriebenes Buch auch –, er vermittelt vielmehr eine neue Einstellung; er ist buchstäblich ein Führer, der den Weg zeigt. Wir selbst müssen diesen Weg gehen; wir selbst müssen unsere Arbeit tun. Aber auch in den Dingen des täglichen Lebens benötigt der Unerfahrene Hilfe, ehe er allein stehen kann; wieviel mehr bei einer Bemühung, welche die Entschlußkraft, den Mut und die moralische Stärke außerordentlich auf die Probe stellt? Es ist richtig, jedes System zurückzuweisen, das einen leichten Weg verspricht, einen ‘Königsweg’, aber das ist kein Grund dafür, den Rat derer zurückzuweisen, welche den Weg ‘schon vorher gegangen sind’ durch ‘die enge Pforte’ und entlang dem ‘schmalen Pfad, der zum Leben führt’. Sie kennen die Fallgruben am Wege und die richtige Zeit, um zu helfen. Selbst H. P. Blavatsky sagte, sie hätte nie das unsichtbare ‘Ich bin’ in sich gänzlich erwecken können ohne die Leitung eines Meisters. Sie macht das in einem Brief sehr deutlich, der in der Zeitschrift Der Pfad (Band X, S. 367), veröffentlicht wurde.
‘Aber ich bin genug Okkultist, um zu wissen, daß wir, bevor wir den Meister in unserem eigenen Herzen und das siebte Prinzip gefunden haben, einen äußeren Meister brauchen.’
Und weiter:
‘… Mein Meister (der lebende) … ist ein Erretter, der uns anleitet, den Meister in uns selbst zu finden.’
Ist es möglich, mit den Meistern der Weisheit in Berührung zu kommen? Ja, wenn die Bedingungen günstig sind. Die erste Bedingung – unüberwindbar für so viele – ist das Motiv. Ist es Neugierde, wie löblich sie auch immer sein mag, vom gewöhnlichen Standpunkt aus, oder ist es der aufrichtige Wunsch, sich selbst und die Welt, ohne Rücksicht auf den selbstsüchtigen Wunsch nach persönlichem Gewinn, spirituell zu fördern? Ist der Wunsch, anderen zu helfen, größer als der Wunsch, Hilfe zu erhalten? Wenn dem so ist, werden die Meister dir auf halbem Wege entgegenkommen, weil sie immer nach Mitarbeitern für die Armee der unpersönlichen, ergebenen Streiter für das menschliche Wohl suchen. Werde wie sie, und sie werden dich von selbst erkennen. Wie Dr. de Purucker sagt:
‘Ich wiederhole die Worte der großen Seher und Weisen aller Zeiten: Klopft an, und wenn ihr es richtig tut, wird euch aufgetan werden. Fragt, und wenn ihr richtig fragt, selbstvergessen und nur hungrig nach Licht, nach Wahrheit, so werdet ihr empfangen. … Selbstvergessenheit ist das Klopfen, das geheimnisvolle Klopfzeichen an der Türe zum Einweihungsraum im Tempel.’
– Questions We All Ask, S. 35, 193
Ein wichtiger Hinweis darauf findet sich in einem Brief von einem Meister (K. H.), der die Theosophische Gesellschaft gründete:
‘… Der Gedanke bewegt sich schneller als der elektrische Strom, und Ihr Denken wird mich finden, wenn es von einem reinen Impuls ausgesandt wird, so wie das meine Ihren Sinn finden wird. … Wie der Bergsteiger von seinen Gipfeln aus jedes Licht in dem dunklen Tal sieht, so wird jeder helle Gedanke, den Sie in Ihrem Geist hegen, funkelnd aufleuchten, mein Bruder, und die Aufmerksamkeit Ihres entfernten Freundes und Korrespondenten auf sich ziehen. Wenn wir so unsere natürlichen Verbündeten in der Schattenwelt entdecken – in Eurer Welt und der unseren außerhalb der Grenzen – und es unser Gesetz ist, uns jedem solchen zu nähern, wenn auch nur der schwächste Schimmer des echten Thatagata-Lichtes in ihm ist –, wieviel leichter ist es dann für Sie, uns anzuziehen.’
– The Mahatma Letters to A. P. Sinnett, Brief 45, S. 267-268
Theosophie und Mythologie
Es ist für Theosophen wichtig, die Mythologie zu studieren, aber unsere Einstellung dazu unterscheidet sich in gewissen Aspekten von jener der allgemeinen Schulmeinungen. Diese nehmen an, daß die Menschheit – obwohl sie eine Million oder mehr Jahre alt ist – bis vor ein paar tausend Jahren noch gänzlich barbarisch war, und daß selbst bei hohen Zivilisationen keinerlei Urteilsvermögen bestand und die lächerlichsten Geschichten ohne Nachprüfung akzeptiert wurden. Der Glaube an Magie, an die Mythen der Götter und Halbgötter, an Feen und entkörperte Geister jeder Art – das alles wurde, von der Höhe unserer wissenschaftlichen Errungenschaften aus, als seltsame und amüsante ‘Volkskunde’ betrachtet. Geschichten von der Schöpfung des Universums und der Menschen, von der Sintflut, von göttlichen und halbgöttlichen Herrschern und Lehrern, von Goldenen Zeitaltern und ähnlichem, waren natürlich von Dichtern und Träumern erfunden, um die Frage nach der Kindheit der Menschheit zu befriedigen. Jeder vernünftige Grund für die Verehrung von Sonne, Mond oder Sternen muß nur in dem Bemühen gesehen werden, die Fruchtbarkeit zu steigern. Die Götter waren die Personifikationen von Naturerscheinungen wie Blitz, Regen oder Dämmerung; Furcht war die Grundlage der Religion. Stellenweise sind wir im Prinzip anderer Meinung, wenn wir auch zugeben, daß in der Theorie der ‘Volkskunde’ ein kleiner Bruchteil von Wahrheit steckt. Bestimmte Volkserzählungen und Mythen sind reine Phantasie, und das meiste der ‘Magie’ ist Hokuspokus – aber durchaus nicht alles.
Der Mythos war jedoch eine alte Form zu lehren. Durch die Märchen, Parabeln oder Symbole drückte man sehr viel aus – es war eine Form des Lehrens, die leicht behalten werden konnte. Der Mythos von Prometheus, der das Feuer der Götter stahl, um es den Menschen zu bringen, auf daß sie als selbstbewußte Wesen den Pfad geistiger Evolution verfolgen konnten, ist sehr bekannt. Die Erzählung der Bibel, in der Adam und Eva den Apfel vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse essen, verfolgt den gleichen Zweck. Auch andere Mythen, wie zum Beispiel die von Prajāpati, dem vedischen Gott, und Osiris, der ägyptischen Gottheit, weisen auf die menschliche Entwicklung und die Rückkehr des Menschen ins Universum zu der unendlichen Quelle hin, aus welcher alles hervorkommt.
Durch das Studium der Theosophie können wir einsehen, daß die wichtigsten Kosmogonien, Mythologien, und die halb-historischen Legenden des Altertums das Werk wohl instruierter Lehrer waren, von Eingeweihten, denen es gestattet wurde, bestimmte Wirkungen des Naturgesetzes in allegorischer Form darzubieten. Die vollständige Bedeutung der Allegorien konnte nur denjenigen mitgeteilt werden, die vorbereitet und geeignet waren.
Abgesehen von einer gewissen absichtlichen Verwirrung, die nur erzeugt wurde, um das tiefere Wissen zu verbergen, für das der Profane nicht vorbereitet war, schlichen sich im Verlauf der Jahrhunderte völlig irreführende Entstellungen ein. Es kann nicht verwundern, daß der moderne Gelehrte mit materialistischen oder theologischen Neigungen wenig Sinn für die verborgene Bedeutung der entstellten Überreste der Alten Weisheit hat und auf Seitenpfaden wandert, die ins Leere führen. Selbst die Volkskunde, die Mythologie und die Zeremonien der primitiven Volksstämme, armselige Überreste von höheren Zivilisationen, können ohne den Schlüssel, den die Theosophie gebracht hat, sehr wenig lehren.
Die Legenden über die Schöpfung, über gefallene Engel und über Riesen sind Lichtstrahlen, die von der Weisheits-Religion herrühren. H. P. B. sagt, daß der Mythos oder das Symbol nicht nur einen, sondern sieben Schlüssel besitzt. Indem sie diese gebrauchte, demonstrierte sie in ihren großen Werken, daß die Geschichte von der Evolution des Kosmos, der Welt und des Menschen in undeutlicher Form in den Mythologien, Epen und halb-historischen Legenden der frühen Völker enthalten ist. Die großen Religionen, wie sie sich heute darbieten, beschäftigen sich hauptsächlich mit der Beziehung zwischen ‘Gott’ und dem Menschen, um eine Form der Anbetung und einen Moralkodex aufzustellen; in den Allegorien und historischen Überlieferungen, auf welchen sie jedoch beruhen, sind die wichtigsten Lehren der Theosophie mehr oder weniger deutlich mitgeteilt – Lehren wie die über die Reinkarnation, die ‘Sieben Prinzipien’, die Hierarchien der Götter und anderer Wesen; und auch die über die Evolution der Menschheit durch die Runden und Rassen.
In den Mysterien hinter den exoterischen Religionen wurden die höheren Lehren jenen, die es verdienten, ihrem spirituellen Grad entsprechend gegeben. Die weitverbreiteten Legenden von Menschen, Göttern oder göttlichen Helden wie Buddha, Jesus, Krishna (in vielen Verkörperungen), Osiris-Horus, Herkules, Mithra und vielen anderen, haben eine viel tiefere Bedeutung als es die Erzählungen erkennen lassen, wenn sie auch wahrscheinlich alle auf dem Leben wirklicher Personen beruhen. Von einem anderen Standpunkt aus stellen die Geschichten die Ausbildung, die Prüfungen und schließlich die glorreiche Erleuchtung des erfolgreichen Kandidaten für die Größeren Mysterien dar, soweit das mitgeteilt werden kann, ohne verbotene Dinge zu enthüllen.
In der Theosophischen Literatur, besonders in der Geheimlehre, wird der Thematik der wahren Herkunft der Mythologie viel Aufmerksamkeit gewidmet.
Theosophie und Religion
Religiöse Gefühle der Verehrung für alles, was größer ist als das persönliche Selbst, beruhen auf der wirklichen Anwesenheit eines göttlichen zentralen Selbstes, von dem die Persönlichkeit lediglich eine schwache und verzerrte Reflektion ist. Theosophie ist die universale ‘Religion’, die das ausdrückt. Sie ist die Mutter der verschiedenen großen Religionen, die die Welt kennt – die verschiedenen Aspekte der Wahrheit, die ihren Aufstieg, ihren Niedergang und Fall hatten. Sie ist den Schülern der Theosophie bekannt als die Weisheits-Religion, die Geheime Lehre, die Esoterische Philosophie, Ātma-Vidyā usw. Sie anerkennt oder verehrt keinen vermenschlichten Gott mit persönlichen Begrenzungen – keinen alleinherrschenden Regenten des Universums, von dem der Mensch unabhängig oder getrennt ist. Ihre Vorstellung von Ewigkeit übersteigt selbst das höhere Verständnis der Persönlichkeit bei weitem.
Neben anderen ehemaligen Autoritäten der christlichen Kirche erkannte der Kirchenvater Augustinus das hohe Alter und die Wahrheit der ursprünglichen Weisheits-Religion, der Theosophie. Er sagt:
‘Dies ist zu unserer Zeit die Christliche Religion, sie zu kennen und ihr zu folgen ist die sicherste und verläßlichste Heilkraft. Aber dieser Name ist nicht der Name der Sache selbst; denn das, was jetzt Christliche Religion genannt wird, war den Alten tatsächlich bereits bekannt, auch fehlte sie zu keiner Zeit seit Anfang des Menschengeschlechtes bis zur Zeit, als Christus ins Fleisch kam; von da an begann man die wahre Religion, die vorher existiert hatte, die Christliche zu nennen.’
– Retractiones. I, XIII
Der Gedanke, daß ‘die wahre Religion’ immer bestand, ist eine reine theosophische Lehre.
Das Christentum, der Buddhismus, der Hinduismus, der Zoroastrianismus, der Mithraismus, der Taoismus, die ägyptischen, griechischen und römischen Religionen usw. haben bestimmte fundamentale Lehren miteinander gemeinsam. Begriffe wie Trinität, Dualität, das Auftreten einer Jungfrau Maria, von Göttern, Halbgöttern und Heilanden; Gedanken wie Karma oder, in anderer Form dargestellt, das Wissen über Ursache und Wirkung, das Bestehen von Mysterienschulen und Einweihungen, deuten auf eine alte Weisheits-Religion hin, die jenen ausführlicher gelehrt wurde, die darauf vorbereitet waren.
Die grausamen Verfolgungen, die gewisse historische Perioden in Verruf brachten, hätten sich nicht ereignen können, wenn die Fanatiker den Kern der Wahrheit innerhalb der äußeren Schale der verschiedenen sich bekämpfenden Bekenntnisse erkannt hätten.
Wir dürfen auch nicht in den Fehler verfallen, daß wir Theosophie als ein künstliches System betrachten, das aus sorgfältig ausgewählten Teilen der Welt-Religionen zusammengesetzt wurde. Theosophie ist die ursprüngliche Basis, gefügt aus den Erfahrungen sehr großer Intelligenzen – initiierter Seher, die tief hinter den äußeren Schleier der Illusion vorgedrungen sind, der die Realität vor unserem Blick verbirgt; Seher, welche die mystischen Geheimnisse der unsichtbaren Welt erschauen konnten. Leider wurden die Offenbarungen der Weisen – durch die Schwächen der menschlichen Natur – nach und nach durch Dogmen und starken Aberglauben verdunkelt.
Es gab eine Zeit, in der in den meisten Ländern ein intoleranter Skeptizismus herrschte, besonders in der Westlichen Welt. Mit der Ausbreitung des wissenschaftlichen Forschens und der Zunahme des Wissens, schienen viele alte Glaubensbekenntnisse unhaltbar zu werden. Leider blieben sie aber häufig ohne befriedigenden Ersatz.
Die Notwendigkeit, die Menschen wieder auf die alte Philosophie aufmerksam zu machen, war daher niemals so groß wie heute.
Die Lehren der Theosophie fänden wenig Widerhall, wenn sie nicht dem inneren spirituellen Menschen eingeprägt wären. Da sie tatsächlich nur eine äußere Formulierung dessen darstellen, was innen vorhanden ist, ist es nicht überraschend, daß sie vielen Menschen schon beim ersten Hören vertraut erscheinen.
Wie schon gesagt, die Theosophie hat immer ihre Wächter und Bewahrer gehabt, und von Zeit zu Zeit wurden vom Zentrum der Weisheit, das immer bestand, Boten entsandt, um ihre Lehren in verschiedenen Teilen der Welt wiederzubeleben. Auf diese Weise entstanden die großen Religionen; zuerst waren sie rein und stark. Sie wurden nicht aus primitivem Aberglauben entwickelt, sondern waren definitive Offenbarungen. Wenn sie älter werden, entarten sie, und ein neuer Bote aus der ursprünglichen Quelle muß die vernachlässigten ethischen Lehren neu darlegen, soweit die Verhältnisse der menschlichen Natur und des Universums es zulassen. Manchmal waren die Bemühungen der Großen Lehrer darauf gerichtet, philosophische Schulen zu gründen, wie die von Pythagoras oder Plato, Konfuzius oder Lao-tse, oder die Indischen Schulen. Ihr inspirierender Einfluß wird von der Geschichte anerkannt.
Das Wort Theosophie ist nicht neu, sondern wird gebraucht für die Beschreibung der Schulen des gnostischen Denkens, des neuplatonischen Ideensystems, der kabbalistischen Hierarchie der Lehren und ebenso für das Streben und Suchen der Feuerphilosophen, Rosenkreuzer, Alchemisten und im England des 17. Jahrhunderts für die Cambridge Platonisten. In Skandinavien gab es bedeutende Männer wie Tycho Brahe, der durch seine Untersuchungen Johannes Keppler half, das heliozentrische Weltbild neu zu entdecken. Bedeutende Männer und Frauen, von denen sich viele im theosophischen Strom befanden, wirkten sowohl einzeln – als erleuchtete Menschen – als auch in Gruppen zusammen.
Was die Theosophie und die Religionen anbelangt, so können wir den Christlichen Glauben als Beispiel für die Tätigkeit der Boten ansehen. Wie der heilige Augustinus richtig bemerkte, war das Christentum keine neue Offenbarung, sondern die Wiedergeburt der Alten Weisheits-Religion, die schon immer existiert hatte. Die Wahrheit kann sich nicht selbst widersprechen. Die Göttliche Inspiration oder der Geist der Erleuchtung kam durch Jesus, den Christus, herab, um die uralte Geschichte erneut zu verkünden und das Verständnis der uralten Geschichte zu beschleunigen. Wenn er auch in einem speziellen Sinne ein Sohn Gottes war – ein Avatara, um den Sanskritausdruck zu gebrauchen6 –, lehrte er doch eindringlich, daß alle Menschen Söhne Gottes sind, – mehr noch, ‘ihr seid Götter’, – und daß ‘ihr größere Werke vollbringen werdet’. Die Menschheit hatte es dringend nötig und sie hat es immer noch nötig, daß sie an ihre innere Göttlichkeit erinnert wird, die durch das ‘Fleisch’ verdunkelt wurde.
Die Göttlichkeit des Menschen ist die wichtigste Theosophische Lehre aller Boten der großen Spirituellen Loge. Die Evolution kann nicht vorangehen und ihre erhabene Bestimmung erfüllen, bis das anerkannt ist. Jesus zeigte den Weg, um das zu erreichen; den einzigen Pfad. Er lehrte keine Dogmen, er verfaßte keine Form der Anbetung. Er wiederholte die Goldene Regel aller Zeiten: Liebe, Brüderlichkeit, Vergeben, Selbstvergessen.
Leider dauerte es jedoch nicht lange, bis diese Lehre verdunkelt wurde und eine offizielle Religion mit obligatorischen Glaubensartikeln, zeremoniellen Ritualen und einer politisch-klerikalen Organisation errichtet wurde. Die Römischen Kaiser übernahmen sie und machten sie zu einem Werkzeug der hohen Politik. Die vitalen Impulse der ursprünglichen Lehren bewahrte die Kirche durch die Jahrhunderte, aber ihre spirituelle Kraft wurde durch Streitereien über den toten Buchstaben, und durch Meinungsverschiedenheiten dogmatischer Sekten, wie auch durch schreckliche Verfolgungen und Religionskriege, die so oft ihre Geschichte entehrten, außerordentlich geschwächt. Der spirituelle Einfluß der wenigen wahren Mystiker, die durch ein großes Maß an Selbsterkenntnis erleuchtet waren, wie Dionysius Areopagita, Eckhart, Boehme, Henry More usw., hebt sich wie ein silberner Faden vom dunklen Hintergrund ab.
Der Mystiker Jakob Boehme beispielsweise schreibt in seinem Neunten Brief: ‘Denn das Buch, in dem alle Mysterien liegen, ist der Mensch selbst: er selbst ist das Buch des Seins aller Wesen, er ist das Gleichnis der Göttlichkeit. Das große Arcanum liegt in ihm selbst; das Enthüllen dessen kommt allein dem Göttlichen Geist zu.’ Ihre einfachen Lehren von der Seelenweisheit waren wohl verdächtig und wenig populär, aber sie entlasten die gesamte Ära vom Vorwurf völliger Unfruchtbarkeit.
Mit anderen Religionen war es großenteils dasselbe. Sie begannen mit den einfachen Wahrheiten, die von einem inspirierten Boten gebracht wurden, dann degenerierten sie in Formalismus und Aberglauben, wenn es auch nicht immer zu Verfolgung und Blutvergießen kam. Das wesentliche Ziel – den Menschen zur Erkenntnis seiner eigenen inneren Göttlichkeit zu erwecken – wurde beiseite geschoben, wenn nicht gänzlich ignoriert.
Theosophie in der Bibel
Da die hebräischen Schriften den Menschen des Westens bekannter und besser zugänglich sind als die anderen heiligen Bücher des Ostens, wollen wir zum Abschluß auf einige Theosophische Lehren darin hinweisen, die gewöhnlich von den Theologen – vielleicht unbewußt – übersehen werden, die aber als Beispiel dafür dienen können, daß die Theosophie in allen heiligen Schriften der Erde enthalten ist.
Die Göttlichkeit des Menschen in seiner wahren inneren Natur wird im Neuen Testament deutlich gelehrt, und doch wurde dieser herrliche Gedanke, der denkbar größte Aufruf zu einem edlen Leben und zum Glück für die ganze Menschheit in den Hintergrund gedrängt; die niedrigere Natur, die reine Persönlichkeit, wurde als der wahre Mensch angesehen. Die Westliche Menschheit wurde belehrt, sie sei ‘in Sünde geboren’ und brauche einen äußeren Erlöser. Die Theosophie erneuert die majestätische Lehre des wahren Christentums – ‘Ihr seid Götter; ihr seid allzumal Kinder des Allerhöchsten’ (Psalm 82, 6); das wurde von Jesus zustimmend zitiert, als er sich gegen die Juden verteidigte (Johannes 10, 34). Viele Passagen in der Bibel lehren das Gesetz von Karma. Paulus sagt ausdrücklich (Galater 6, 7):
‘Was der Mensch sät, das wird er ernten.’
Was die Reinkarnation anbelangt, die von den Kirchen abgestritten oder ignoriert wurde, so war sie im Altertum der allgemeine Glaube, wie er es noch heute im Osten ist. Daher brauchen wir nicht überrascht zu sein, wenn wir Hinweise finden, daß sie wie in Offenbarung 3, 12 und an anderen Stellen eine anerkannte Lehre war. In der Offenbarung lesen wir das Folgende: ‘Wer überwindet, den will ich machen zum Pfeiler in dem Tempel meines Gottes, und er soll nicht mehr hinausgehen.’
Bestimmte Teile der Bibel stellen die Evolution der Natur und des Menschen in Allegorien dar, die für den Studierenden der Mythologien, der von der Theosophie geleitet wird, genügend transparent sind. Ein Beispiel sind die beiden allgemein bekannten Schöpfungsgeschichten in der Genesis, die sich derartig widersprechen, daß die heutige Kritik, sogar in den Kirchen, sie als ernsthafte Beiträge zur Erkenntnis ablehnt. Man hält sie für dichterische Ergüsse, Vermutungen von einfachen Menschen; von den Bearbeitern ohne Rücksicht auf einen Plan und einen Zusammenhang zusammengefügt.
Wenn wir jedoch den Theosophischen Schlüssel anwenden, dann finden wir eine ganz andere Erklärung. Die beiden Geschichten widersprechen sich nicht und sind auch keine kindlichen Volkssagen. Jede Geschichte stellt einen anderen Entwicklungsabschnitt dar. Der Adam der ersten Erzählung ist nicht der Adam der zweiten. Der erste Bericht gibt eine sehr abgekürzte Darstellung der ersten drei Runden und eines Teiles der Vierten Runde, bis in der Dritten Rasse Manas, der Verstand, zu wirken begann und die Trennung der Geschlechter stattfand. Die geistige Trägheit der frühen Rassen, bevor das Denken erweckt wurde, wird im zweiten Kapitel der Genesis durch den tiefen Schlaf von Adam dargestellt, die Trennung der Geschlechter durch die Erschaffung von Eva aus seiner Rippe. Der Garten Eden, die Bäume des Lebens und der Erkenntnis, die Versuchung durch die Schlange usw., sind einfach gleichnishafte Darstellungen von Tatsachen der Evolution. Sie sind in verschiedener Gestalt in anderen Alten Lehren zu finden, aber die Theosophie hat den Schlüssel dazu.
Am Schluß sollte noch einmal wiederholt werden, daß die Theosophie nicht aus Bruchstücken Alter Religionen und Philosophien besteht, die mit modernen evolutionären Ideen künstlich vermischt wurden – etwas künstlich Zusammengebrautes – Theosophie ist die Formulierung der Weisheit Großer Seher und Weiser, die vor Zeiten hinter den Schleier der Natur drangen, spirituell, psychisch und physisch. Von Zeit zu Zeit wurden auf verschiedene Weise einzelne Offenbarungen gegeben, aber die volle Erkenntnis wurde immer für die Wenigen zurückgehalten, so wie es die Natur der Sache verlangt.
‘Die Geheimlehre ist die angehäufte Weisheit der Zeitalter … . Sie ist die ununterbrochene Aufzeichnung, die sich über Tausende von Generationen von Sehern erstreckt, deren einzelne Erfahrungen dazu dienten, die Überlieferungen der Lehren von höheren und erhabeneren Wesen, die über die Kindheit des Menschengeschlechtes wachten, … zu prüfen und zu bewahren.’
– Die Geheimlehre, I, S. 293.
Als Vorbereitung für den neuen Zyklus, der jetzt heraufdämmert, wurde H. P. Blavatsky beauftragt, von diesen Dingen offener zu sprechen, dem Westen das Wissen von der Existenz der Meister zu bringen und die Schlüssel zu dem Wissen zu geben, das nie vorher mitgeteilt wurde. Diese Schlüssel sind unentbehrlich für jene, denen das spirituelle Wohl der Menschheit am Herzen liegt.
Die Theosophische Gesellschaft und ihre Ziele
Im Jahre 1875 wurde die Theosophische Gesellschaft von Helena Petrovna Blavatsky gegründet, einer Russin von hohem gesellschaftlichem Rang. Sie hatte die Aufgabe, die Theosophie an den Westen zurückzugeben und dadurch einen soliden Grundstein für die Bruderschaft der Menschen zu legen. Zu ihrer Zeit befand sich die westliche Zivilisation vor allen Dingen durch den zunehmenden Materialismus in Gefahr, der zum Teil seine Ursache in den gewaltigen Entdeckungen der Wissenschaft fand, die jede geistige Interpretation des Lebens in Mißkredit brachte. Es war ihr Auftrag, diesem durch die Verbreitung der Theosophie entgegenzusteuern. Nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Religion war von Natur aus materialistisch: auf der einen Seite ‘blinde Kraft’, und auf der anderen Seite starrer dogmatischer Formalismus. Kurze Zeit vor der Gründung der Theosophischen Gesellschaft schreibt Lord Lytton (ein englischer Staatsmann und Schriftsteller):
‘Wohin wir unseren Blick auch richten, die Quellen des rein geistigen Lebens scheinen allesamt in vertrockneten und trüben Rinnsalen versiegt zu sein oder nur schwach zu tröpfeln … überall wo die großen Belange der Menschheit auf dem Spiel stehen, wird die Geisteshaltung der Menschheit demgegenüber durch eine verzweifelte Übermüdung oder eine heftige anarchistische Ungeduld gekennzeichnet. Und das ist um so mehr zu bedauern, weil dies von einer kurzsichtigen materialistischen Aktivität begleitet wird. Wir leben in der Tat in einer materialistischen Zeit.’
– Aus: Fortnight Review, 1871
H. P. B. war ihrer Aufgabe im besonderen durch ihre Intelligenz gewachsen, ihren Mut und das alles übertreffende Verlangen, etwas von der schweren Leidenslast der Welt abzuwenden. Sie verfügte über Kräfte, die sie dazu befähigten, den Beweis der theosophischen Lehre zu liefern, daß der Mensch viel größere Kräfte in seinem Inneren besitzt als er vermutet. Nach langem Umherirren auf der ganzen Welt kam sie mit besonderen Mitgliedern einer tibetanischen Loge von Eingeweihten in Berührung, die sie auf das Werk vorbereiteten, das auf sie wartete. Sie wußte sehr wohl, daß sie all das aufgeben mußte, was den meisten Menschen teuer ist, und daß sie mit der bitteren Feindschaft der Mächte von Vorurteil und Reaktion rechnen mußte. Doch sie zögerte nicht. Ungeachtet der Tatsache, daß sie sowohl die gröbsten als auch subtilsten Formen der Verfolgung auf sich nehmen mußte und ständig falsch verstanden und interpretiert wurde, gelang es ihr, die Theosophie weit und breit bekanntzumachen und eine aktive Gesellschaft ernsthafter Schüler und Mitglieder zu gründen. Ihre Lehren haben das Denken dieser Zeit bereits stark beeinflußt, und im Laufe dieses Jahrhunderts haben Wissenschaft, Philosophie und Religion bedeutende Änderungen hinnehmen müssen, die damit in Verbindung stehen.
H. P. B. wies die Behauptung immer zurück, daß sie die theosophischen Lehren erfand. Immer wieder erklärte sie ihren Schülern, daß sie ihren Meistern zu danken habe, den Beschützern des heiligen Wissens. Es war ihre Aufgabe, dieses Wissen in einer Form anzubieten, das für den Westen annehmbar war.
In ihrem Vorwort zur Geheimlehre schreibt sie:
‘Diese Wahrheiten werden in keinem Sinne als eine Offenbarung vorgebracht; noch beansprucht die Verfasserin die Stellung einer Enthüllerin einer jetzt zum erstenmal in der Weltgeschichte veröffentlichten mystischen Lehre. Denn der Inhalt dieses Werkes findet sich in Tausenden von Bänden zerstreut, in den Schriften der großen asiatischen und alten europäischen Religionen, verborgen unter Hieroglyphe und Symbol, und wegen dieser Verhüllung bisher unbeachtet gelassen. Nunmehr wird der Versuch gemacht, die ältesten Lehrsätze zu sammeln und aus ihnen ein harmonisches und unzerstückeltes Ganzes zu machen. Nur insofern ist die Schreiberin besser daran als ihre Vorgänger, daß sie nicht zu persönlichen Spekulationen und Theorien ihre Zuflucht zu nehmen brauchte. Denn dieses Werk ist eine teilweise Darlegung dessen, was ihr selbst von weiter vorgeschrittenen Schülern gelehrt wurde, nur in einigen Einzelheiten ergänzt durch die Ergebnisse eigenen Studiums und Beobachtens . . .
Hingegen ist es vielleicht wünschenswert, unzweideutig festzustellen, daß die in diesen Bänden, wenn auch noch so fragmentarisch und unvollständig enthaltenen Lehren weder der indischen, der zoroastrischen, der chaldäischen oder der ägyptischen Religion, noch dem Buddhismus, Islam, Judentum oder Christentum ausschließlich angehören. Die Geheimlehre ist die Essenz von allen. Die in ihrem Anbeginn aus ihr entsprungenen verschiedenen religiösen Systeme werden nunmehr in ihr ursprüngliches Element zurückgeleitet, aus dem jedes Mysterium und Dogma entsprossen ist, sich entwickelt hat und ins Sinnliche herabgezogen worden ist.’
– Band I, S. XXIV-XXV
In der Einleitung zu diesem Werk erklärt sie:
‘Dem Publikum im allgemeinen und den Lesern der Geheimlehre möchte ich wiederholen, was ich von jeher betont habe und was ich jetzt in die Worte Montaignes kleide:
„Meine Herren, ich habe hier nur aus gepflückten Blumen einen Strauß gemacht, und nichts eigenes hinzugefügt als den Faden, der sie verbindet.“
– Band I, S. 29 (dtsch. Ausgabe)
Weil ihr Werk hauptsächlich das Ziel verfolgt, der westlichen Zivilisation einen neuen geistigen Impuls zu geben, bekam sie den Auftrag, in Amerika zu beginnen, wohin sie 1873 reiste. Am 17. November 1875 gründete sie in New York die Theosophische Gesellschaft, zusammen mit Colonel H. S. Olcott, W. Q. Judge und anderen. Ihr weiteres Leben widmete sie der Verbreitung der Theosophie durch persönlichen Unterricht, dem Schreiben von Büchern, der Herausgabe von Zeitschriften und der Gründung von Logen in vielen Ländern. Sie starb im Jahr 1891 in London. In den 16 Jahren ihres öffentlichen Wirkens bekam die Gesellschaft viele Mitglieder, wurden nationale und lokale Zentren auf der ganzen Welt gegründet, und eine große Fülle an Literatur wurde herausgegeben. Im Jahr 1888 publizierte sie ihr größtes Werk, Die Geheimlehre, die von gewissen Wissenschaftlern, Philosophen und auch anderen Menschen mit bemerkenswertem Interesse aufgenommen wurde. Dennoch blieb diese Teilnahme auf einen ziemlich kleinen Kreis beschränkt. Das änderte sich maßgeblich, was mit der Prophezeiung H. P. B.s übereinstimmt, daß das 20. Jahrhundert ein tieferes Verständnis für die Lehren der Alten Weisheit mit sich bringen würde.
Eines der bedeutendsten Ziele der Theosophischen Bewegung ist es, einen Kern der universalen Bruderschaft zu bilden, das heißt das Praktizieren eines Prinzips, dessen Wurzeln in der Ordnung der Natur liegen, in der organischen Einheit der menschlichen Rasse, in stofflichem und vor allem geistigen Sinne. Die Menschheit ist in Wirklichkeit eine große Familie, und allein unsere Blindheit verhindert, daß wir diese Tatsache erkennen und dementsprechend handeln. Die Menschheit ist ein organisches Ganzes, die Menschen sind die Zellen, die es ausmachen, und das Unrecht, das dem einzelnen zugefügt wird, schadet dem Ganzen. Diese Erkenntnis im Leben eines jeden Individuums, mit allem, was sie beinhaltet, ist die einzige Basis, worauf eine wirkliche Zivilisation aufgebaut werden kann. Bruderschaft ist eine Tatsache in der Natur und die Natur wird uns schließlich zwingen, dies zu akzeptieren und in Übereinstimmung damit zu handeln.
Alle Menschen, die guten Willens sind, müssen für sich selbst erkennen, daß das fundamentale Gesetz des Universums Liebe und Harmonie ist, und daß jener, der sie verletzt, gegen den Strom schwimmt. Der innere Mensch weiß das und sehnt sich danach, die äußere Persönlichkeit, die wir zu Unrecht für unser wahres Selbst halten, zu erleuchten. Wir können unsere Evolution vorantreiben, indem wir unser Herz öffnen; unser Schicksal liegt in unseren eigenen Händen, und wir müssen lernen, bewußt mit der göttlichen Intelligenz im Universum zusammenzuarbeiten.
Eng verbunden mit dem Gedanken der menschlichen Bruderschaft ist der Gedanke der göttlichen Natur des Menschen. Dies ist kein vages oder frommes Gefühl, sondern eine Wahrheit, die in allen Jahrhunderten von den größten Denkern gelehrt wurde – von jenen, die über eine durchdringende Intuition und Wissen verfügen.
Es herrscht jedoch noch die Auffassung, daß der Mensch lediglich ein Tier ist, ausgestattet mit etwas mehr Intelligenz, und daß er nach einem Leben auf der Erde endgültig verschwindet. Wie könnte jemals ein solch erhabenes Ideal der Bruderschaft auf einer solchen Grundlage erbaut worden sein? Ohne Zweifel gibt es viele theoretische Materialisten, die einen unbändigen Drang fühlen, sich für andere aufzuopfern, und ihre edlen Taten sind ein lebender Beweis für den Einfluß des höheren spirituellen Selbstes, so sehr sie dessen Existenz auch leugnen.
Nicht nur überzeugte Materialisten stellen den inneren Gott in Abrede; bestimmte Gruppen westlicher Theologen lehren noch immer, daß der Mensch im wesentlichen verdorben ist; daß er ‘in Sünde geboren ist’, obwohl Jesus sagte: ‘Das Königreich Gottes ist in uns’ (Lukas 17,21) und Paulus die ‘Botschaft der großen Freude’ verkündigte: ‘Wisset ihr nicht, daß ihr der Tempel Gottes seid und daß der Geist Gottes in euch wohnt?’ (I. Kor. 3,16). Wenn der Geist in jedem Menschen wohnt, muß die Bruderschaft, wie sie hier dargelegt wird, eine Tatsache sein, und dann ist die Vorstellung des Sonderseins die ‘große Ketzerei’.
Die innere Gottheit ist nicht etwas, das man ‘verlieren’ kann oder was auf kunstvolle Weise zustande kommen kann. Sie muß verwirklicht, zu einer lebendigen Kraft gemacht werden. ‘Wenn die Lampe gereinigt ist und der Docht gekürzt, kann das Licht durchscheinen.’ Wir müssen das selbst vollbringen.
Das wahre menschliche Ego ist in seinem tiefsten Inneren ein geistiges Wesen, ein göttliches Mysterium, und es liegt in seinem Vermögen, sich selbst zu finden. Diese sehr alte Lehre, die es wert ist, wiederholt zu werden, ist das Fundament, auf dem wir bauen können. Neben dem bedeutendsten Ziel, der Bildung einer aktiven Bruderschaft, strebt die Theosophische Gesellschaft danach, die Kenntnis über die Gesetze zu verbreiten, die dem Universum zugrunde liegen und anzudeuten, daß die essentielle Einheit von allem, was existiert, auf der Grundlage der Natur basiert.
Weiter ermuntert sie zum Studium der alten und modernen Religionen, von Wissenschaft und Philosophie. In der heutigen Zeit hat die vergleichende Religionswissenschaft eine große Bedeutung und die Entwicklungen von Wissenschaft und Philosophie werden von einem viel breiteren Publikum verfolgt, als dies früher der Fall war. Das letzte Ziel betrifft die Untersuchung der Kräfte, die dem Menschen angeboren sind. Man sollte vielleicht meinen, daß in der heutigen Zeit, in der psychische Fähigkeiten, und die Methoden, sie zu erwecken, derartig großen Zuspruch genießen, dieses Ziel beginnt, vollständig zu seinem Recht zu kommen. Das muß aber in Wirklichkeit ein Mißverständnis sein, denn das Ziel ist es nicht, psychische Kräfte zu entwickeln, sondern die zum Wesen des Menschen gehörenden Kräfte zu untersuchen. Über diesen Sachverhalt schreibt Dr. G. de Purucker in seinem Buch Studies in Occult Philosophy, S. 379/380, und wir beschließen hiermit das letzte Kapitel:
‘Psychischen Praktiken und sogenannten Phänomenen nachzujagen und ihnen Energie und Fähigkeiten zu widmen, läuft in Wirklichkeit auf eine beklagenswerte Verschwendung wertvoller Zeit hinaus. Die Konzentration auf diese Dinge kehrt die innere Maschinerie des Bewußtseins sozusagen einfach um und schaltet die psychische Maschine in den Rückwärtsgang, um einen heute leicht verständlichen Ausdruck zu gebrauchen. Man geht eher rückwärts als vorwärts. Diese okkulten Künste sind leicht zu praktizieren, wenn man erst einmal ihre Geheimnisse kennt, und sie sind leicht zu entdecken. Die Ursachen dieser psychischen Phänomene, wie Hellsehen, Gedankenlesen, das fehlbare und oft trügerische Hellhören, sind noch leichter herauszufinden. Es sind psychische Resultate, die jedoch nur zu dem Bewußtsein unserer menschlichen Zwischennatur gehören – und das Schlimmste ist, daß gerade sie die Gemüter der heutigen Menschen zu faszinieren scheinen… Vergleichen wir diese Praktiken mit der schlichten Größe der Lehren der alten Weisen und Seher, der Meister des wahren Okkultismus der alten Zeiten: Mensch, erkenne dich selbst, denn in dir liegen alle Geheimnisse des Universums und des Schicksals. Wir selbst sind das Universum, und sein Schicksal ist das unsrige, so wie unser Schicksal das Seine ist.
Das Selbst, das göttliche, spirituelle Selbst in uns, ist der Weg, dem wir folgen müssen, wenn wir danach streben, zum ‘Herzen’ des Universums zu gelangen. . . Seine Mitmenschen und er sind in der Essenz das gleiche, ja, er und das ganze Universum sind essentiell sogar eins. Das ist Okkultismus. Diese Lehre enthält die Geheimnisse der verborgenen Dinge, die Wissenschaft der Dinge, die geheim sind. Das ist die Bedeutung von Okkultismus.’
Fußnoten
1. Deutsche Ausgabe, Froebe Übersetzung [back]
2. Deutsche Ausgabe, Froebe Übersetzung [back]
3. Parapsychologische Ontdekkingen achter het Ijzeren Gordijn [Parapsychologische Entdeckungen hinter dem Eisernen Vorhang], s. Ostrander en L. Schroeder, 1979. [back]
4. Ebenda. [back]
5. Amerikanischer Astronom und Direktor des Harvard Observatoriums in Cambridge, USA, 1885-1972 [back]
6. Das Wort Avatara bedeutet das Herabsteigen eines göttlichen Wesens …, das Überschatten oder genauer ausgedrückt, die Erleuchtung eines großen und edlen Menschen durch eine Göttlichkeit, durch einen Gott. …
Jesus war ein Avatara, eine Manifestation in der Form eines menschlichen Wesens, durch einen Gott, eine Göttlichkeit, – eines der spirituellen Wesen, die unseren Teil des Sternen-Universums überwachen.’
– G. de Purucker, Questions We All Ask, Serie I, Nr. 15, S. 226-7 [back]