Band 10: Yoga und die Yoga-Lehre
Charles J. Ryan
Vorwort
Dieses Buch stellt eine freie Überarbeitung des ursprünglichen Titels Yoga and Yoga Discipline von Charles J. Ryan dar und gibt einen allgemeinen Überblick über Yoga, so wie er in vielerlei Formen und in verschiedenen Ländern des Ostens seit Jahrhunderten praktiziert wird. Der Text macht deutlich, dass im Westen im Allgemeinen die niedrigeren Yoga-Formen bekannt sind. Er warnt vor den Gefahren jener Arten von Yoga, welche die Förderung psychischer Kräfte zum Ziel haben. Das Buch unterstützt die höheren Formen von Yoga, welche die spirituelle Entwicklung des Menschen zum Ziel haben.
Ein Kapitel beschäftigt sich insbesondere mit der sogenannten Yoga-Therapie. Es ist die Zusammenfassung eines Gespräches aus dem Jahre 1960, bei dem James A. Long den Vorsitz führte, um Antwort auf die Fragen einiger Suchender zu geben. Da das Thema jedoch stark an Popularität gewonnen hat, befassen sich auch heute wieder viele Menschen damit. Das Kapitel Yoga-Therapie legt die theosophischen Vorstellungen für die Bereiche der Yoga-Therapie dar, die unseres Erachtens eine ernsthafte Erörterung verdienen. Somit hat es besonders für jene Bedeutung, die sich in irgendeiner Weise in der Praxis mit Yoga beschäftigen.
Okkultismus ist nicht Magie,
obschon die Magie eines seiner Werkzeuge ist.
Okkultismus ist nicht das Erwerben
psychischer oder spiritueller Fähigkeiten,
obschon beide seine Diener sind.
Okkultismus bedeutet auch nicht,
dem Glück nachzujagen, so wie man dieses Wort
versteht, denn der erste Schritt ist Aufopferung,
der zweite Entsagung.
Okkultismus ist die Wissenschaft des Lebens,
der Lebenskunst.
– H. P. BLAVATSKY, Lucifer I, S. 7 (engl.)
Band 9: Theosophie und Christentum
H. T. Edge
Einleitung
Theosophie ist die essenzielle Wahrheit, die hinter allen Religionen steht, und sie erkennt keine der Religionen als über den anderen stehende oder als die letzte Wahrheit an. Theosophie steht dem Christentum nicht feindselig gegenüber; aber sie sieht ihre Aufgabe darin, solche Dinge anzufechten, von denen sie überzeugt ist, dass sie zu dem echten christlichen Evangelium nicht dazugehören, die sich jedoch seit seiner Entstehung allmählich darin eingeschlichen haben. Dazu gehört der Gedanke, dass das Christentum weit über allen anderen Religionen steht, oder dass es die alles andere übertreffende, endgültige Offenbarung der göttlichen Wahrheit sei. Heute wird es immer schwieriger, diese Auffassung aufrecht zu erhalten. Dafür gibt es zwei Gründe: erstens, weil alte Religionen heute intensiver und umfassender studiert werden, insbesondere die indischen, die durch die Kenntnis des Sanskrit zugänglich wurden; zweitens, weil die Beziehungen zwischen den Völkern einfacher geworden sind und Möglichkeiten entwickelt wurden, sich auf verschiedenen Gebieten besser kennen zu lernen. Dadurch wird eine Geisteshaltung der Exklusivität verhindert, die in früheren Zeiten möglich war. Es ist jedoch nicht einfach, von lange gehegten Gewohnheiten Abstand zu gewinnen; außerdem sind viele Menschen der Ansicht, dass die Aufgabe der Vorherrschaft des Christentums gleichzeitig die Aufgabe dieser Religion bedeuten würde. Aus diesem Grund nehmen sie manchmal zu wundersamen Mitteln Zuflucht, um in den vielen älteren Religionen die Existenz von Lehren und Ritualen zu erklären, die – so wurde unterstellt – christliche Privilegien wären. Abbé Huc, der französische Missionar und Entdeckungsreisende, schreibt in seinem berühmten Buch Souvenirs d’un voyage dans la Tartarie, le Thibet et la Chine, dass er bei den tibetanischen Priestern sowohl viele charakteristische Lehren der katholischen Kirche als auch viele ihrer Rituale, ihrer Gewänder und ihrer heiligen Gegenstände fand. Seine Erklärung war, dass der Teufel dem Christentum vorangegangen sei, um die Menschheit in die Irre zu führen. Er fügte dieser Theorie hinzu, dass möglicherweise die ersten christlichen Missionare bis nach Tibet vorgedrungen seien.
Einer anderen Auffassung nach, die ebenfalls verkündet wurde, waren die erhabenen Lehren, die in den heiligen Büchern Indiens gefunden wurden, das Werk des Heiligen Geistes, der die Menschheit auf diese Weise auf die ‘größeren Dinge als diese’, die später kommen sollten, vorbereitete. Dabei ging man davon aus, dass das aufkommende Christentum damit gemeint sei.
Diese mehr oder weniger starre Haltung in Bezug auf den einzigartigen Charakter des Christentums und der Bibel als der absoluten, von Gott diktierten Wahrheit kommt langsam etwas in Bewegung.
All das ist die Folge von Wachstum und der Evolution der Menschheit, dem die Religionen sich anschließen müssen, damit sie nicht als Bremse wirken. Das bedeutet nicht, dass wir religiöse Wahrheiten verwerfen und in Unglauben, Atheismus oder Materialismus zurückfallen müssen. Wir sollten den Inhalt nicht mit den veralteten Formen zusammen verwerfen. Ein religiöses System – mit seiner Glaubenslehre, seinem vorgeschriebenen Ritual, seiner kirchlichen Organisation – ist eine Verkörperung von geistigen Werten; und genauso wie es für jeden Organismus zutrifft, sind es die Formen, die sich dauernd Veränderungen unterziehen müssen, obschon der innere Geist stets derselbe bleiben kann. Das sind Tatsachen, welche die Geschichte oder die allgemeinen Gesetze von Wachstum und Evolution uns lehren können.
Aber es kann natürlich nur eine Wahrheit geben. Religion an sich – abgesehen von Lehrsätzen und Kirchen – bedeutet die Anerkennung und Befolgung der grundlegenden Gesetze des Universums. Diese sind auch dem Menschen selbst inhärent, so dass die ewige und universale Religion sich auf Tatsachen in der menschlichen Natur gründet; daher muss sie dieselbe bleiben, solange der Mensch ein Mensch ist. Die essenzielle Wahrheit besagt, dass der Mensch ein göttliches Wesen ist, das in einem tierischen Körper lebt; dass seine Rettung darin besteht, seine niedere Natur mittels der höheren anzuheben; und dass die erhabenste Tugend des Menschen in der Befolgung der ‘Goldenen Regel’ liegt, die man in den vielen Religionen und Philosophien findet und die im Christentum folgendermaßen zum Ausdruck gebracht wird: „Alles, was du willst, dass dir die Menschen tun, sollst du ihnen auch tun, denn das ist das Gesetz und die Propheten.“
Es ist notwendig, kurz auf bestimmte theosophische Lehren hinzuweisen, die an anderer Stelle ausführlicher behandelt werden. Eine davon ist die Lehre von der Existenz der Weisheitsreligion oder Geheimlehre, das heißt die Kenntnis von den tiefsten Mysterien der Natur und des Menschen, die aber im heutigen Zyklus der menschlichen Evolution im Allgemeinen unbekannt ist. Sie wird von den Meistern der Weisheit oder der großen Loge der Initiierten gehütet, deren Aufgabe es ist, die heilige Kenntnis zu bewahren und sie – wenn die Zeit dafür reif ist – der Welt weiterzugeben. Sie erfüllen diese Aufgabe auf verschiedene Weise. Eine Möglichkeit ist, einen Boten aus ihrer Mitte auszusenden, der in der Welt erscheint, einen Kreis von Jüngern um sich versammelt, eine esoterische Schule gründet, wo er vertraulich unterrichtet und exoterische Lehren an die Massen weitergibt.
Da sagte er: Euch ist es gegeben, die Geheimnisse des Reiches Gottes zu erkennen. Zu den anderen Menschen aber wird nur in Gleichnissen geredet; denn sie sollen sehen und doch nicht sehen, hören und doch nicht verstehen.
– Lukas 8,10
Durch viele solche Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort, so wie sie es aufnehmen konnten. Er redete nur in Gleichnissen zu ihnen; seinen Jüngern aber erklärte er alles, wenn er mit ihnen allein war.
– Markus 4,33-34
Sobald sich der Lehrer aber zurückgezogen hat, kommen die Veränderungen und die von ihm gegründete Bewegung zerfällt. Sie gerät in den Einfluss weltlicher Motive und Kräfte, nimmt feste Formen an, zerfällt in Schulen und Sekten und organisiert sich in Kirchen mit einem Priestertum und Glaubensbekenntnissen. Im Allgemeinen können wir diesen Prozess in der Geschichte der Religionen zurückverfolgen, auch im Christentum, so dass das heutige Christentum nicht das ursprüngliche Evangelium ist, das sein Stifter überbrachte.
Es ist hilfreich, einige Worte zur Einstellung gegenüber den Christen zu sagen, die wir hier einnehmen. Diese Einstellung ist freundlich, und zwar nicht nur als Empfindung, sondern vielmehr durch Wissen.
Der Autor wurde selbst in der Kirche von England erzogen, in einer freundlicheren Atmosphäre, als sie in den engeren Sekten vorherrscht. Da er in seinen jüngeren Tagen ein ernsthafter Christ war, kann er mit mehr Verständnis und Symphatie darüber sprechen als manche, die das Christentum nur von außen kennen. Darüber hinaus wird er vermutlich nicht in den üblichen Fehler verfallen, die Überzeugungen des anderen in ein schiefes Licht zu rücken und auf diese Weise die Theosophie mit dem Schlechtesten aus dem Christentum zu vergleichen, Strohmänner anzugreifen oder alte Dinge auszugraben.
Es ist überhaupt nicht die Absicht, den Frieden derer zu stören, die im Christentum – so wie sie es kennen – alles finden, was sie brauchen, vor allem nicht jener, die in ihrem Glauben die Inspiration zu einem edlen Leben finden. Aber es gibt eine große und wachsende Anzahl von Suchern, welche die Botschaft der Theosophie willkommen heißen. Die Kirchen gestehen, dass sie ihren Einfluss verlieren. Es gibt heute mehr Menschen als je zuvor, die das, was ihnen gelehrt wurde, in keiner Weise akzeptieren und dennoch die Religion nicht über Bord werfen können. Diese Menschen bitten in gewissem Sinne um Hilfe; vielleicht finden sie eine eigene Lösung oder bilden die eine oder andere Organisation; aber meistens fehlt ihnen eine wirkliche Basis, die ihnen die Möglichkeiten bietet, ihre Probleme zu lösen. Die Theosophie kann für eine solche Basis einen wichtigen Anteil liefern, weil sie über Mittel verfügt, den ursprünglichen und wahrhaftigen Kern der christlichen Religion von dem zu unterscheiden, was im Laufe der Jahrhunderte hinzugefügt oder verändert wurde und so die Wahrheit verdunkelte.
Wir werden aufzeigen, was die essenziellen Wahrheiten der Religion sind, die sich nicht mit den Zeiten verändern, keinen Konflikt zwischen Lehrsätzen und Sekten verursachen und im Herzen der Menschen verwurzelt sind; wir werden diese Wahrheiten im Christentum ausfindig machen – in den Lehren, Formen und Schriften des Christentums. Wir werden beweisen, dass das Christentum mit den anderen großen Religionen und mit den größten philosophischen Systemen verwandt ist und dass genügend Beweismaterial vorliegt um zu zeigen, dass es eine aus der großen Quelle der Weisheitsreligion hervorgehende Strömung ist. Wir werden versuchen, das Christentum von seinem Anfang an durch die verschiedenen Veränderungen bis zu seinen heutigen Formen – so weit das mit unvollkommener Kenntnis und in gedrängter Form möglich ist – zu verfolgen. Die wichtigsten Dogmen, Glaubensbekenntnisse und Riten müssen betrachtet werden, und deren wirkliche Bedeutung muss anhand von Vergleichen mit übereinstimmenden Elementen in anderen Religionen, Philosophien und Mythologien aufgezeigt werden. Man wird erkennen, dass die Lehren in den Evangelien, die Jesus zugeschrieben werden, und auch einzelne in den Briefen der Apostel enthaltene Lehren in einem neuen Licht erscheinen, sobald wir den zu ihrer Interpretation notwendigen Schlüssel besitzen. Wieviel von diesen Lehren ist im Dunklen geblieben, weil wir nicht über diesen Schlüssel verfügten!
Alle Religionen haben hinter ihrer exoterischen Form eine esoterische Basis; und diese Basis ist zum größten Teil verloren gegangen. Die Religionen, wie sie heute existieren, entsprechen nicht den Bedürfnissen menschlicher Bestrebungen, denn sie lassen einen wichtigen Teil aus, der für den Menschen lebenswichtig ist. Sie beschränken sich hauptsächlich auf ethische Prinzipien, sagen uns aber nichts über die Natur des Kosmos oder des Menschen. Auf diese Weise gerieten sie mit der Zeit ins Hintertreffen und ließen konkurrierende Einflüsse entstehen, wie zum Beispiel die Naturwissenschaften und abstrakte Philosphien. Die Folge dieser Entwicklung ist, dass der Bereich der Erkenntnis, der eine Einheit bilden sollte, durch verschiedene, voneinander unabhängige und in Widerstreit stehende Sparten vertreten wird.
Die falsche Gegenüberstellung von Sittenlehre und Wissen, Religion und Wissenschaft, Tugend und Kultur hat das Denken der Menschheit sehr nachteilig beeinflusst. Eine Synthese dieser verschiedenen Sparten ist dringend nötig; ein einheitliches Gesetz, nach dem gelebt wird; eine solide Basis für Ethik, Sittenlehre und Verhalten anstelle von Dogmen, Kulten und Ideologien, die wir nicht glauben können. Die wahre Religion des Menschen ist diejenige, nach er lebt, nicht diejenige, zu der er sich bekennt.
Deshalb wird eine wirkliche Vereinigung der Religionen nicht durch das Forcieren einer äußerlichen Vereinigung oder durch das Eliminieren von Unterschieden entstehen – wobei nur ein kläglicher Rest übrig bleibt –, sondern durch eine Rückkehr zu ihrer esoterischen Grundlage und durch ein Aufzeigen ihrer gemeinsamen Herkunft – kurz durch die Wiederbelebung des Wissens der alten Weisheitsreligion.
Band 8: Runden und Rassen
Gertrude W. van Pelt
Der kosmische Pfad der Evolution
Der Ursprung des Menschen war bislang in diesem Zeitalter ein Mysterium, aber nun bricht die Theosophie das jahrhundertelange Schweigen und erklärt, dass der Mensch in seinem Inneren göttlich ist und dass er, seit der Zeit, da er mit Verstand begabt ist, sich selbst erschafft. Diese neue und gleichzeitig alte Lehre beruht auf der tatsächlichen Einheit allen Lebens und auf den Lehren von den Hierarchien.
An sich ist der Glaube an die göttliche Abstammung des Menschen nichts Neues, im Gegenteil, dieser Gedanke wird von vielen akzeptiert. Jede Religion stellt ihn in der einen oder anderen Weise vor. Der Mensch empfindet die Notwendigkeit, seine Existenz zu erklären. Wie sehr die Religionen auch durch Streitereien über falsch verstandene oder von Menschen erdachte Lehrsätze an Reinheit eingebüßt oder sich in zahlreiche Sekten zersplittert haben – geblieben ist der Glaube an ein göttliches Wesen, einen ‘Schöpfer’ des Universums, ob das gelehrt wurde oder nicht.
Das von der Theosophie im neunzehnten Jahrhundert aufs Neue überbrachte Wissen betrifft die Art und Weise, wie die sogenannte Schöpfung zustande kam. Ausgehend vom Universalen zum Besonderen, entfaltet die Philosophie der alten Weisheitsreligion klar die Umrisse der Evolution. Sie ergänzt die modernen Theorien, wo diese Lücken aufweisen – und zwar in einer Weise, welche die Seele und den Verstand befriedigt, so dass Zweifel oder blinder Glaube innerer Gewissheit Platz machen. Die verwirrenden Fragen über den Sinn und Zweck des Lebens, den Ursprung und die Natur der ‘Sünde’ müssen wahrheitsgemäß beantwortet werden, wenn unsere Rasse vorankommen möchte. Der Schmerz des Zweifels, die Angst vor der Zukunft, mangelndes Selbstvertrauen, leichtsinnige Gleichgültigkeit, Verwirrung durch Unwissenheit – all das findet jeder von uns auf seinem eigenen Pfad. Bevor der Mensch seine innere Würde wiederfinden und seiner glorreichen Bestimmung folgen kann, muss er lernen, all das zu verstehen und zu überwinden.
Dieses großartige, überragende und umfassende Wissen, das im neunzehnten Jahrhundert durch den Kanal der Theosophischen Gesellschaft erneut hervorgebracht wurde, ist nicht eine Ansammlung essenzieller Gedanken aus den verschiedenen philosophischen Schulen, welche die Geschichte hervorgebracht hat. Vielmehr sind diese philosophischen Schulen mehr oder weniger klare Echos der Lehren der archaischen Weisheit. Die Theosophie behauptet – und das könnte durch entsprechende Untersuchungen in der richtigen Richtung überprüft werden –, dass – sobald der Mensch auf diesem Planeten mit Verstand begabt wurde – hochentwickelte Wesen aus anderen, älteren Evolutionszyklen, die unseren Erdzyklus bei weitem übertreffen, erschienen und ihn unterwiesen. Diese Wesen schlugen den Grundton für die kommenden menschlichen Rassen an. Sie waren es, die das Wissen – wenig im Vergleich zu dem, was die heutige Menschheit zu empfangen fähig ist – den Auserwählten überbrachten, die dazu bestimmt waren, die Kinder der Erde zu führen. Tatsächlich existieren unvergängliche Aufzeichnungen dieser Wahrheiten, gehütet von jenen, die des Vertrauens würdig sind. In jedem Zeitalter gab es Individuen, die man Boten nannte. Sie wurden von diesen Hütern auserwählt, zu gewissen zyklischen Zeiten in die Welt zu gehen und soviel von dieser Weisheitsreligion zu überbringen, wie die Menschen erfassen konnten – in einer Form und Sprache, die zum Denken dieser Zeit passte. Sie sind die ‘Boten der Loge’. H. P. Blavatsky, die eine von ihnen war, erschien im letzten Teil des neunzehnten Jahrhunderts. Es war ihre Aufgabe, ihr Vorrecht und ihre große Verantwortung, der Welt jener Zeit mehr zu geben als je zuvor. Die Mysterienschulen des alten Ägypten und Griechenland vermittelten tiefgehende Lehren, jedoch nur an Neophyten, die durch ein Gelübde gebunden waren; und die Jahrhunderte hindurch hat es immer fortgeschrittene Mystiker gegeben, die gleichfalls ihre zur Geheimhaltung verpflichteten Schüler hatten. Aber in gedruckter Form und öffentlich gelehrt kennt die Geschichte nichts, das mit H. P. Blavatskys Werk Die Geheimlehre zu vergleichen wäre. Diese Tatsache, die mit der zunehmenden Vereinheitlichung aller Teile der Welt in äußerer Hinsicht zusammenfällt, bietet Stoff zu tiefem Nachdenken. Madame Blavatsky sagt über ihr Buch:
Die Geheimlehre erklärt lediglich, dass ein System – bekannt als WEISHEITSRELIGION, als Werk von Generationen von Adepten und Sehern, das heilige Erbteil aus prähistorischen Zeiten – tatsächlich existiert, auch wenn es bis heute von den Initiierten unter größter Geheimhaltung bewahrt wurde. Und sie weist auf die verschiedenen Bestätigungen der Existenz dieses Systems bis zum heutigen Tag hin, die man in alten und modernen Werken finden kann. … In der Geheimlehre wird keine neue Philosophie entwickelt, sondern nur die verborgene Bedeutung einzelner religiöser Allegorien des Altertums gegeben. Ihre esoterischen Wissenschaften werfen Licht auf diese Allegorien und zeigen die gemeinsame Quelle, aus der alle Weltreligionen und Philosophien hervorgegangen sind. … Es wird ebenso behauptet, dass ihre Lehren und Wissenschaften, die einen integralen Zyklus universaler kosmischer Tatsachen und metaphysischer Axiome bilden, ein vollständiges und lückenloses System darstellen. Derjenige, der ausreichend Mut und Beharrlichkeit besitzt und dazu bereit ist, das Animalische in sich zu vernichten, das menschliche Selbst zu vergessen und es seinem höheren Ego zu opfern, wird immer seinen Weg finden, um in diese Mysterien eingeweiht zu werden.
– The Babel of Modern Thought Lucifer, S. 442-3, 1891
Es gibt noch eine Tatsache, die als Einführung für das Studium des göttlichen Ursprungs und der Bestimmung des Menschen erwähnenswert ist. Im Westen, der natürlich unter dem Einfluss der heutigen exoterischen Religionen steht, herrscht allgemein der Glaube, dass die sogenannte Schöpfung oder der Anfang des jetzigen Menschen auf diesem Planeten Erde stattgefunden hat. Aber wie wichtig uns das Leben hier auch vorkommen mag, es ist doch nicht mehr als ein vorübergehendes Ereignis in der ewigen Pilgerfahrt des Menschen durch den Raum. Ein Studium der theosophischen Lehren über die Lebensatome und die universale Evolution1 wird deutlich machen, dass jedes Atom als Teil des Universums ein Lebewesen ist, das im Universalsystem der Evolution seine eigene Rolle spielt. Es ist die letztendliche Bestimmung eines jeden Lebensatoms, ein Mensch zu werden. Jedes Atom als Teil der universalen allgegenwärtigen Realität – das heißt des Kosmos – trägt die Möglichkeiten des Ganzen in sich. Nie wurde es ‘erschaffen’, denn es war immer und wird immer sein.
Es liegt in der Natur des Atoms, sich langsam zu entfalten und all diese Möglichkeiten hervorzubringen. Diesen Prozess nennen wir Evolution. Versuchen wir einmal, uns die unzähligen Welten vorzustellen, die ein Atom durchlaufen muss, bevor es das menschliche Stadium erreicht. Sonnensysteme in unendlich vielen Entwicklungsabstufungen müssen es beherbergt und ihm Gelegenheit zu Wachstum geboten haben, während es im Laufe der Ewigkeiten von der einen in die andere Welt überging und in jeder einen vollständigeren Ausdruck seiner selbst erlangte. So steigen bewusste Wesen in zahllosen Entwicklungsabstufungen die immer höher emporragende Lebensspirale entlang auf; gehüllt in Myriaden von Formen bewegen sie sich zum menschlichen Stadium hinauf, schreiten weiter und werden schließlich zu Göttern. Höher und höher steigend nähern sie sich dem Licht, ohne je die Flamme, die unerkennbare Quelle von allem zu berühren.
Der Mensch – wahrhaftig ein Teil des Ganzen und mit den Möglichkeiten dieses Ganzen in sich – wurde nie ‘erschaffen’. Seine Evolution besteht darin, immer vollkommenere und komplexere Vehikel oder Körper zu bilden, die es ihm ermöglichen, sich selbst in zunehmendem Maße zu verstehen und zum Ausdruck zu bringen. In diesem Bestreben wurde jede auch noch so geringe Steigerung der Komplexität – und so wird es auch immer bleiben – mit der Unterstützung von Wesen oder anderen Teilen des Ganzen zustande gebracht, deren Ausdrucksmittel weiter entwickelt sind als sein Organismus auf seiner Reise entlang der ewig aufsteigenden Spirale. Das ist trotz der Tatsache gültig, dass – sobald der Verstand erwacht ist – der Mensch sich selbst erschafft.
Dieses kleine Buch möchte in kurzer Form die Veränderungen darstellen, die seit der Ankunft des jetzigen Menschen auf unserem Planeten Erde stattgefunden haben. Die alte Weisheitsreligion, so wie sie in unserer Zeit aufs Neue formuliert wurde, lehrt nur die Tatsachen und Einzelheiten, die sich auf uns, als Bewohner dieses Globus, beziehen. Unser Bewusstsein ist vermutlich nicht darauf abgestimmt, viel mehr als das zu verstehen.
Die Schwierigkeit, die man immer hat, wenn man einen einzelnen Aspekt dieser Philosophie in Worte fassen will, liegt darin, womit man zuerst beginnen soll. Denn sie bietet ein Bild von Tatsachen in der Natur, in der jeder Teil in seiner Wirkung mit jedem anderen Teil verbunden und verwoben ist. Wo immer man beginnt – es gibt immer etwas anderes, das man wissen muss, um das Gesamte zu verdeutlichen. Mit anderen Worten, alle Aspekte eines Themas müssen gleichzeitig betrachtet werden, bevor man ein klares Bild bekommen kann. Andererseits sind die Analogien in diesem lebendigen Kosmos so vielsagend, dass – wenn man von einem einzelnen Teil etwas versteht – auch Licht auf andere Teile geworfen wird. Deshalb liefert das Studium über den Ursprung und die Bestimmung des Menschen bestimmte allgemeine Schlüssel, die auch auf andere Aspekte der Natur angewendet werden können.
Band 7: Die Lehre von den Zyklen
Dr. Lydia Ross
Einleitung
Die Lehre von den Zyklen, wie sie in der theosophischen Literatur beschrieben wird, ist ein sehr wichtiges, fesselndes und erhellendes Thema. Wenn wir uns mit den Zyklen beschäftigen, erkennen wir, dass sie von logischen und umfassenden Gesetzen regiert werden, die nicht nur mit unserem täglichen Leben eng verknüpft sind, sondern auch einen universalen Wirkungsbereich haben. Außer auf unsere eigene Existenz beziehen sie sich ebenso auf jedes andere Wesen im Universum. Kurzum, das Gesetz der zyklisch wiederkehrenden Ereignisse erweist sich als Grundlage oder als der Regulator von Ereignissen und Handlungen – sichtbaren und unsichtbaren, spirituellen und materiellen, in Zeit und Raum. Es lehrt uns schließlich, warum die Dinge in einem bestimmten Moment geschehen. Im Altertum verstand man den mächtigen Einfluss des Naturgesetzes der Periodizität und wusste, dass es einen Bestandteil im kosmischen Plan der Einheit bildet, indem man sagte: „Wie oben, so unten.“
H. P. Blavatsky, die zur Reihe der großen Lehrer gehört, welche der Menschheit periodisch einen Teil der Alten Weisheitslehren wiederbringen, wies darauf hin, dass dieses Gesetz uns aufmerksam macht auf …
… die absolute Universalität des Gesetzes der Periodizität, von Bewegung und Gegenbewegung, von Ebbe und Flut, welches die Naturwissenschaft in allen Bereichen der Natur beobachtet und aufgezeichnet hat. Ein Wechsel wie der zwischen Tag und Nacht, Leben und Tod, Schlafen und Wachen, ist eine so allgemeine, so vollkommen universale und ausnahmslose Tatsache, dass es leicht zu verstehen ist, dass wir darin eines der absolut fundamentalen Gesetze des Weltalls erkennen.
– H. P. BLAVATSKY, The Secret Doctrine, I: 17
Zyklen sind so alltäglich, dass wir sie für ebenso selbstverständlich halten wie die Luft, die wir einatmen, das Wasser, das wir trinken und den festen Boden unter unseren Füßen. Wir können uns gar nicht vorstellen, wie die Welt ohne das alle vierundzwanzig Stunden stattfindende vertraute Wechselspiel von Helligkeit und Dunkelheit und die regelmäßigen Jahreszeiten aussehen würde – Ereignisse, die mit der täglichen Rotation der Erde und dem jährlichen Lauf um die Sonne in Zusammenhang stehen. Auch wir folgen demselben rhythmischen Lauf der Dinge; am Abend gehen wir schlafen und erwachen am nächsten Morgen zu einer neuen Periode der Aktivität. So verläuft in etwas größerem Maßstab unser ganzes Leben. Wir beginnen in der nebelhaften Morgendämmerung eines Kleinkindes, erwachen allmählich zum Stadium des heranreifenden Kindes, gelangen in das volle Tageslicht der Jugend und so weiter, bis zur Mittagsstunde der Reife. Dann folgt die Umkehr auf dem Bogen dieses einen Lebens und wir werden allmählich langsamer, um in den länger werdenden Schatten des Alters Ruhe zu finden. Aber der Pulsschlag des spirituellen Selbst tief in uns hört nie auf, ob wir hier verkörpert oder von der Erde befreit sind. Wenn uns der Tod vom Körper erlöst, beginnt in der Heimat der Seele ein neuer Zyklus der Wiedergeburt.
Nach dem Tod erwacht unser besseres Selbst in höheren Regionen, wo es von erhebenden Visionen und einer segensreichen, erfrischenden Ruhe erfüllt wird, die für eine weitere Periode irdischer Erfahrungen Kraft und Mut verleihen. So kommen wir immer wieder zurück – mit dem frischen Körper und Gehirn eines Neugeborenen, bereit für die nächste Runde in jenem Prozess, der uns dem erhabenen Ziel entgegenführt. Alle unsere vielen Leben sind Mini-Kreisläufe auf dem majestätischen Bogen des Lebenszyklus des Sonnensystems. So kommen auch die unzähligen Universen ins Dasein. Nachdem die mächtige kosmische Bewegung einer manifestierten Lebensperiode ihren Höhepunkt erreicht hat, wendet sie sich dem Ende ihres Kreislaufs zu. Für eine kosmische Ruheperiode löst sich schließlich das gesamte Universum in das Meer des Raumes auf, wo sich alles für eine neue, großartigere Runde manifestierten Lebens bereit macht. „Wie oben, so unten.“
Die vorüberziehenden Augenblicke können wir sozusagen als Zeit-Atome betrachten, als sich drehende Zeiteinheiten. Ihre rhythmischen Wiederholungen sind während der Lebensperiode eines Universums wie ein ständiger Pulsschlag der Zeit, mit all seinen miteinander verbundenen Rädern innerhalb von Rädern der Zeit, des Raumes und des Bewusstseins. Der menschlische Pilger ist ein Funken der göttlichen Flamme, die durch alle Reiche der Materie herabsteigt, um später wieder durch ein vervollkommnetes Mensch-Sein zum Gott-Sein auf dem Weg zurück zum Göttlichen aufzusteigen.
Ein Zyklus bedeutet einen Ring oder eine Umdrehung. Er ist kein geschlossener Ring, sondern ein fortschreitender Kreislauf, der sich ausbreitet und vorwärts strebt, so dass der Pfad jeder vorhergehenden Runde durch einen größeren Bogen des Fortschritts überdeckt wird. Die Form eines Zyklus gleicht einer Wendeltreppe, und wenn wir hinauf- oder hinuntergehen, befinden wir uns immer oberhalb oder unterhalb des Niveaus der vorigen Stufe oder der verschiedenen Stufen, die gemeinsam eine Runde bilden. Ebenso erkennen wir die Form eines Zyklus in der Weise, wie sich das Gewinde einer Schraube von ihrer kleinen Spitze hochwindet. Wieder ein anderes Beispiel ist eine Spiralfeder oder die flache Feder, die in einer Armbanduhr oder Standuhr das Gleichgewicht aufrecht erhält.
Aber keine symbolische Form könnte auch nur einigermaßen die komplizierten Bewegungen und den komplexen Charakter der unzähligen Räder innerhalb von Rädern der Zeit, der Bedingungen und des bewussten, sich entfaltenden Lebens darstellen, die immer gemeinsam tätig sind. Universale Bewegung folgt auf allen Ebenen des Seins einer spiralförmigen Bahn, materiell und über-materiell. Derselbe evolutionäre Pfad setzt sich durch die materiellen, mentalen und spirituellen Reiche fort. Zeigt nicht auch das tägliche Leben ein Zusammenspiel der Aktivität von Körper, Seele und Geist im Menschen?
Wie wir sehen werden, umfassen die größeren Zyklen zahllose kleinere von unterschiedlichem Umfang, unterschiedlichem Charakter und aufeinanderwirkenden Einflüssen. Es gibt nichts Zufälliges bei alledem, denn alles bewegt sich mit der koordinierten Präzision intelligenter Führung. Wir befinden uns in einem Universum, das Naturgesetzen und einer natürlichen Ordnung untersteht. Wir wissen, dass die Natur in ihren Bewegungen keine unregelmäßigen und unbegründeten Sprünge macht. Das Kind wächst nicht an einem Tag heran, noch wird der Winter über Nacht zum Sommer. Jedes Ding und jedes Ereignis spielt seine Rolle in einer größeren Runde, geht jedoch trotzdem seinen eigenen Weg, der karmisch1 auf das Ganze abgestimmt ist.
Wie Zyklen ineinander greifen und sich vermischen, zeigt sich deutlich in der Geschichte der großen Rassen. Auch hier gilt dieselbe Regel. Das Ende eines großen Rassenzyklus verschmilzt mit dem Beginn einer neuen Rasse; und diese Veränderung findet am Höhepunkt der Existenzperiode einer dritten Rasse statt, so dass sich gleichzeitig mit der bestehenden Rasse Überreste der vorigen, verschwindenden Rasse und Vorläufer der neuen aufkommenden Rasse auf der Erde befinden. Alles verhält sich ebenso natürlich wie die ineinander greifenden Veränderungen und Geschehnisse im täglichen Leben. Gestern, heute und morgen folgen gemeinsam ihrem Weg – wie eine fortwährende Bewegung. Unser eigenes Identitätsgefühl, das jetzt vollständig entfaltet ist, ist auch der Schnittpunkt eines verschwindenden Selbst aus der Vergangenheit und eines aufkommenden zukünftigen Selbst.
Die Zyklen der Rassen werden weiter hinten in diesem Buch besprochen, wir beschäftigen uns zunächst mit einem etwas vertrauteren Beispiel von ineinander greifenden und sich vermischenden Einflusssphären. Die periodische Rückkehr karmischer Bedingungen aus früheren Leben erklärt einen Großteil der verwirrenden Zustände der heutigen Welt. Während unsere moderne Zivilisation einen gewissen Höhepunkt in einer hervorragenden intellektuellen und materialistischen Evolution erreicht hat, verschwindet im Allgemeinen allmählich die alte Ordnung der Dinge bezüglich Regierung, Wissenschaft, Religion und Wirtschaft. Die Kämpfe des zu Ende gehenden Zyklus vermischen sich mit den Geburtswehen eines neuen, der den Weg zu einem gesünderen und ausgeglicheneren Fortschritt eröffnen wird. Die Weisen unter uns sehen vielleicht in den Zeichen der Zeit eine deutliche Herausforderung. Es liegt eine Gefahr darin, wenn man zurückblickt und sich im individuellen und kollektiven Leben an veralteteten Richtlinien festklammert. Wer sich auf die feineren Kräfte seiner eigenen Natur beruft, wird vorwärtsschreiten und sich an der mächtigen Kraft des universalen Lebens beteiligen, das beständig durch alles, was ist, und alles, was lebt, fortfließt.
Die heutigen Umstände scheinen in vielerlei Hinsicht eine Wiederholung dessen zu sein, was während des Höhepunkts der römischen Macht und Wissenschaft vorherrschte, vor dem Untergang und Fall des Kaiserreichs. Auch uns mangelt es an jenem ausgleichenden, spirituellen Wachstum, das für das natürliche Gleichgewicht zwischen den großen Errungenschaften auf mentalem und materiellem Gebiet wesentlich ist. Offensichtlich stoßen auch wir an die sicheren Grenzen der Kontrolle der Kräfte von Geist und Materie. Diese an sich neutralen Kräfte können eine große Macht ausüben –zum Guten oder zum Bösen. Zum Wohl der Menschheit angewendet sind sie ein Segen; selbstsüchtig angewendet führen sie zu Auflösung und Vernichtung. Wir brauchen die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.
Für die Menschheit ist die Zeit gekommen, vollständigere Menschen zu werden und aus ihrer eigenen Natur die dazu benötigten feineren und edleren Eigenschaften und Kräfte wachzurufen. Zweifellos leben wir in einer kritischen Zeit. Wenn wir jedoch der damit verbundenen Verantwortung offen entgegentreten, könnte sie zu einer Zeit mit außerordentlichen Möglichkeiten für uns werden. Der Mensch ist eigentlich ein spirituelles Wesen; und er kann die Kräfte beherrschen, die er in seiner Selbstsucht zum eigenen Untergang anwenden könnte. Dieselben Kräfte können angewendet werden, um eine bessere und fortschrittlichere Welt aufzubauen. Denn hinter den verdunkelnden Wolken bricht bereits die Morgendämmerung eines neuen Zyklus von innerem Licht, von Frieden und Fortschritt an.
Die Meister der Weisheit sahen die heutigen chaotischen Verhältnisse voraus, unter denen wir jetzt auf der Erde leben – aufgrund ihrer Kenntnis und Einsicht in die Wirkungsweise des zyklischen Gesetzes. Sie sandten ihre Botin, H. P. Blavatsky, um die Menschheit auf die unabwendbare Verwirrung vorzubereiten, die mit jeder Übergangsperiode einhergeht. Sie gründete die Theosophische Gesellschaft mit dem Ziel, die vergessene Wahrheit über unser göttliches Geburtsrecht, das alle in einer Universalen Bruderschaft vereinigt, zurückzubringen. In Hinblick auf den gemeinsamen Ursprung der Menschheit, ihre gegenseitigen Interessen und ihre letztendliche Bestimmung ist es an der Zeit, von unwichtigen Dingen Abstand zu nehmen und mit dem neuen Zyklus vorwärtszuschreiten – mit dem Großen Plan zu arbeiten.
Während dieses zwanzigste Jahrhundert sein Tempo zu erhöhen scheint, erzählen uns die Astronomen, dass unser planetarisches Zuhause – die gute Erde – auf ihrer Reise durch den Raum ebenfalls ein neues Gebiet betritt. Mutter Erde bringt uns dahin, wo – in dem Zodiak genannten zwölfspeichigen Rad – der Einfluss von Aquarius vorherrscht. Tatsächlich bewegt sich alles entlang eines konischen, spiralförmigen Aufwärts-Pfades. Deshalb ist es unmöglich, dass irgendetwas – wie kurz oder lang sein Lebenspfad auch sein möge – an dieselbe Stelle zurückkehren kann wie in einem geschlossenen Kreis. Wir können an unseren Mond auf seinem monatlichen Lauf rund um die Erde denken, die ihrerseits jährlich eine Bahn um die Sonne beschreibt, deren Umlauf ein größeres Zentrum einer Galaxie umkreist, die auf ihrem Weg durch den grenzenlosen Raum herumwirbelt. Jeder Himmelskörper folgt – abgesehen von seinem eigenen Lauf – auch der größeren Bahn eines anderen, sich bewegenden Zentrums. In dieser ewigen Bewegung eines göttlichen Mechanismus gibt es unendlich viele Räder innerhalb von Rädern, die sich alle dem universalen Plan und dem universalen Ziel entsprechend drehen. Der Verstand ist zu beschränkt, um dieses großartige Bild überblicken zu können, aber es ist deutlich, dass die Bahn eines Himmelskörpers an jedem Punkt, den er erreicht, auf seinem Wege im Kosmos weiter fortgeschritten ist als bei seiner vorigen Runde. „Es gibt weder einen Anfang, noch ein Ende.“
Es ist ein stimulierender und befreiender Gedanke zu wissen, dass wir alle in solch guter Gesellschaft durch das Universum reisen, denn jeder Planet und jede Sonne und jeder Stern ist der Körper oder der Wohnsitz eines erhabenen himmlischen Wesens. ‘Ein freundliches Universum’ ist nicht nur so eine Redensart, sondern eine buchstäbliche Wahrheit. Der ganze Zweck der Dinge ist so vollkommen, so gerecht und so natürlich, dass die einzige Frage lautet: „Wie könnte es anders sein?“
Band 6: Der Tod: Was kommt danach?
Leonie L. Wriht
Der Tod ist der Eröffner, der Eine, der Vision schenkt; der Tod ist der größte und lieblichste Wechsel, den das Herz der Natur für uns bereithält.
– Gottfried von Purucker, Goldene Regeln der Esoterik, S. 63
Einleitung
„TOD, wo ist dein Stachel? Grab, wo ist dein Sieg?“ Wir alle sind mit diesen schönen Worten von Paulus vertraut, aber – ach – wie wenig wirklichen Trost haben sie betrübten Herzen gespendet! Denn es gibt keine Lehre oder Erfahrung, die dieses Versprechen mit göttlicher Gewissheit untermauert. Und doch ist die Wahrheit schon immer ganz nahe bei uns und flüstert unseren Herzen genau mit der Stimme unserer eigenen Liebe für die ‘Dahingegangenen’ zu: Der spirituelle Mensch ist ewig; es gibt keine Toten.
Die Liebe an sich ist der Beweis für das spirituelle Überleben des Menschen – wahre Liebe, die selbstlos ist, anspruchslos, rein, verzeihend und – unzerstörbar. Wenn wir auch irgendwann aufhören, ständig um jene zu trauern, die uns in das Land des Lichts vorausgegangen sind, können wir jemals aufhören zu lieben? Gerade weil unsere Liebe unzerstörbar ist, muss sie einem Element in uns entspringen, das gleichfalls unsterblich ist – denn wie kann eine Qualität größer sein als die Quelle, der sie entspringt?
Genau hier, in der Liebe, müssen wir nach Beweisen suchen, dass der Geist des Menschen für alle Zeit lebt. Aber wir dürfen dabei nicht vergessen, dass nur wahre Liebe, und nicht selbstsüchtiges emotionales Anhaften, uns die Tür zu wirklichem spirituellen Kontakt mit unseren Verstorbenen öffnen kann.
Die Theosophie sagt uns, dass die scheinbare Trennung von unseren Geliebten durch den Tod keine Realität ist und wir in Illusionen leben. Lehrt nicht auch die Naturwissenschaft, dass Materie ‘hauptsächlich aus Löchern’ besteht? Und doch scheinen Materie und das äußere Leben für uns alles geworden zu sein, was uns eigentlich interessiert. Wir leben fast ausschließlich für materielle Zwecke und die Interessen unserer Persönlichkeit – für den Gehirnverstand oder unser emotionales Denken. Und diese Persönlichkeit – die ganz und gar irdisch und mit physischen Dingen verwoben ist und die mit dem Körper zerfällt – stirbt und entschwindet aus dem menschlichen Gesichtskreis. Dass die Natur der Persönlichkeit flüchtig ist, das ist die große Lektion, die wir lernen müssen – wenn wir nicht nur in spiritueller Verbindung mit den Toten bleiben möchten, sondern mit all jenen, die körperlich von uns getrennt sind. Wir müssen unser persönliches Selbst als das vergängliche Ding verstehen lernen, das es ist. Wenn wir dann die hinter ihm und im Inneren stehende spirituelle Realität entdecken und danach leben, werden wir unser inneres Unsterbliches Selbst finden und beginnen, in und für diese bleibende Wurzel unseres Wesens zu leben. Wenn uns das gelingt, werden wir sehen: Wir werden dann uns selbst als bereits unsterblich erkennen – jetzt, in diesem Augenblick! Wir werden dann auch das wahre Selbst jener wahrnehmen, die wir lieben und in jedem Augenblick unseres Lebens die Wirklichkeit empfinden, dass wir immer zusammen sind; immer wirklich miteinander in Verbindung stehen, wenn auch die physischen Augen das geliebte Gesicht nicht sehen und die physischen Ohren die Stimme des Abwesenden nicht hören. Lediglich die Kenntnis unseres spirituellen Selbst und des inneren spirituellen Selbst unserer Lieben wird uns den Sieg über den Tod bringen.
Wir können tatsächlich Wahrheit erlangen. Jeder von uns hat die Fähigkeit, alle seine Probleme zu lösen und für jeden Schmerz Heilung zu finden. Der Tod ist kein Mysterium in dem Sinne, dass er nicht verstanden werden kann. Die Wahrheiten über den Tod liegen innerhalb unseres Verständnisses.
Die einzige Ursache, die den Tod mit so viel Leid, Angst und Furcht umgibt, ist unsere Unwissenheit über die hinter dem materiellen Leben stehenden spirituellen Tatsachen. Mit Mut und Entschlossenheit ist es uns möglich, den Schleier zu lüften und mittels unserer erwachten spirituellen Fähigkeiten zu entdecken, dass der Tod nur der Eingang zu einer höheren Daseinsform auf einer Ebene ist, auf der wir und unsere Lieben untrennbar sind; und dass wir, immer gemeinsam, „von Zeitalter zu Zeitalter und von Höhen zu noch größeren Höhen immer weiter fortschreiten“.
Unwissenheit ist der größte Feind des Menschen, vor allem Unwissenheit über seine eigene Natur. Mensch, erkenne dich selbst! Denn in dir liegen alle Möglichkeiten und Wirklichkeiten des Universums. Weil die meisten von uns praktisch nichts über sich selbst wissen – und nur die eingefahrenen Geleise unseres Lebens kennen, in denen sich unsere Gedanken und Gefühle täglich wiederholen –, haben wir keine Antworten auf die Fragen, warum wir hier sind und wohin wir gehen.
Der illusorische und trügerische Charakter materieller Dinge wurde den Nachdenklichen durch die Arbeit der modernen Wissenschaft allmählich verständlich gemacht. Die Naturwissenschaft erklärt uns zum Beispiel, dass unser Körper aus kleinen Teilchen aufgebaut ist, bekannt als Elektronen, Protonen, Neutronen usw., welche die Theosophie hingegen ‘Leben’ oder Lebensatome nennt. Wenn man die gesamte Materie des menschlichen Körpers zusammenpressen könnte, würde nicht mehr zurückbleiben als ein kleines Staubkörnchen, so sagen die Wissenschaftler. Und trotzdem formt dieses Körnchen – sozusagen von der Magie der Lebenskräfte ausgebreitet – unseren verhältnismäßig großen und scheinbar festen physischen Körper. So ist auch ein Tisch, ein Marmorblock oder jeder andere feste Gegenstand in Wirklichkeit aus einer unvorstellbaren Anzahl kleiner Teilchen zusammengesetzt, die mit unvorstellbarer Schnelligkeit schwingen und uns die Illusion von Festigkeit vorspiegeln, obwohl große Abstände zwischen ihnen existieren. Das, was wir immer als ‘feste Wirklichkeit’ ansehen, ist tatsächlich eine Illusion, obwohl es vom Standpunkt der Erfahrung aus real erscheint.
Man hat auch Formen der Materie entdeckt, die wir nicht sehen können, weil ihre Schwingungsraten für unsere Sinne nicht wahrnehmbar sind – wie die infraroten und die ultravioletten Lichtstrahlen, die einen mit einer zu langsamen und die anderen mit einer zu schnellen Schwingungsfrequenz, um für uns sichtbar zu sein.
Wenn wir also die Mysterien von Leben und Tod verstehen und die außerhalb des normalen Wahrnehmungsvermögens stehenden Dinge der spirituellen Reiche sehen und erkennen wollen, müssen wir die täuschende Natur der rein materiellen Dinge erkennen. Und wir müssen für uns die Bedeutung von Materieformen erkennen, die unsere gegenwärtige Wahrnehmungsfähigkeit übertreffen. Wir müssen verstehen, was die Wissenschaft gerade aufzuzeigen beginnt, jedoch die Theosophie – die alte Weisheits-Wissenschaft – seit Äonen gelehrt hat, nämlich dass das wirkliche Universum nicht aus Materie, sondern aus Bewusstsein errichtet ist. Der Mensch ist kein Körper, denn der ist illusorisch. Er ist ein Zentrum, eine Einheit von Bewusstsein, eingebettet in ein Gewand aus vergänglichem Fleisch.
Natürlich sollen wir den Körper und die Persönlichkeit oder den Verstand – unser gewöhnliches Selbst – nicht unterbewerten, denn sie bilden das Instrumentarium oder die Werkzeuge für Erfahrung in unserer Welt, in der unsere Evolution gegenwärtig stattfindet. Ein richtiges Verständnis unserer Persönlichkeit würde uns tatsächlich dazu befähigen, sie zu einem Instrument ungeahnter Schönheit und noch unvorstellbaren Nutzens zu entwickeln. Aber das gelingt uns nicht, noch können wir sie dazu bringen, uns richtig zu dienen, solange wir nicht gedanklich beiseite treten und sie in ihrer Beziehung zu dem tieferen, unsterblichen Selbst betrachten, in dem der Schlüssel zu all unseren ‘Mysterien’ liegt.
Oft staunen wir über unsere eigenen Launen und unsere mentale Verfassung. Wir verstehen nicht, weshalb wir von einem Tag auf den anderen so wechselhaft sind. Aber dennoch wissen wir, dass es in uns etwas Dauerhaftes gibt, das diese Veränderungen erkennt und beobachtet – etwas, das unser Identitätsgefühl von Jugend an bis ins Alter weiterträgt, durch alle Erfahrungen, die den Charakter so bedeutungsvoll umformen. Dieses dauerhafte Element in uns ist das wahre Selbst, das beständig ist – ungeachtet unserer Launen, gerade wie das Meer, das auch unter dem Einfluss von Gezeiten und Stürmen, welche die Oberfläche aufwühlen, unverändert bleibt. Diese im Inneren wohnende Wirklichkeit ist das spirituelle Selbst im Menschen.
Wenn wir darüber nachdenken, bemerken wir, dass der wahre Mensch am besten verstanden werden kann, wenn wir ihn nicht so sehr als einen Körper oder Denker betrachten, sondern als ein Bewusstseinszentrum. Mit dem Wort ‘Bewusstsein’ sollten wir uns vertraut machen, denn Bewusstsein ist der Stoff, mit dem die Evolution arbeitet. Es ist die Grundlage allen Lebens, allen Wachstums und allen Seins. Der Mensch ist in Wirklichkeit aus verschiedenen Bewusstseinsarten zusammengesetzt, in denen das spirituelle Selbst das bindende Element darstellt – den unsichtbaren Kern sozusagen. Auch einige prominente Wissenschaftler betrachten Bewusstsein nicht länger als ein Nebenprodukt des Gehirns, sondern als den fundamentalen Stoff der Existenz.1
Was verstehen wir nun unter Bewusstsein? Dem Wesen nach ist es die Empfindung des ICH BIN: Ich existiere, ich lebe, fühle und erfahre. Aber dieses ICH BIN ist nur unsere Wurzel, die unpersönliche, universale Grundlage. Während des Lebens entwickelt sich dieses Gefühl des Wurzel-Bewusstseins zu vielerlei Formen: körperliches Bewusstsein, emotionales und mentales Bewusstsein und – das wichtigste von allem – Selbstbewusstsein: das Gefühl des ICH BIN ICH – ich bin ich und kein anderer. Jede dieser verschiedenen Bewusstseinsarten wächst zu einem Komplex oder einem Bündel von Energien, die als Aktivitäts-Zentren in uns existieren.
Dass das wahr ist, erkennen wir in der Tatsache, dass jeder einzelne davon überzeugt ist, in einer bestimmten, charakteristischen Weise zu denken und zu empfinden. Bei einem Geizhals gehen wir nicht davon aus, dass er in einem plötzlichen Impuls von Großzügigkeit handelt. Er hat durch seine Gedanken und Gewohnheiten gewisse starke Gefühlszentren aufgebaut, die ihn beherrschen, sogar wenn Großzügigkeit seinem eigenen Vorteil dienen könnte. Die meisten von uns haben sich jedoch noch nicht in einer bestimmten Art entwickelt und sind sich deshalb des Wachstums des inneren, psychologischen Organismus – der aus einzelnen, lose verknüpften Gefühlszentren besteht – ebenso wenig bewusst, wie des Wachstums des Körpers.
Dennoch gibt es diese Zentren. Täglich identifizieren wir uns einmal mit diesem und einmal mit jenem Zentrum, je nach unseren Launen. Wir haben diese Zentren im Laufe der Zeit aufgebaut. Sie bilden die Basis unseres Charakters und Handelns. Die Tyrannei unseres Temperaments, die Schwierigkeit, mit Gewohnheiten zu brechen oder sich von Vorurteilen zu befreien, sind auf diese Energiezentren zurückzuführen, die wir in uns im Laufe all unserer Leben völlig unbewusst aufgebaut haben. Und so führt uns die Theosophie zunächst zu einem Studium des Bewusstseins. Das Mysterium des Todes ist eines der Mysterien des Bewusstseins.
Band 5: Evolution
H. T. Edge
Der Mensch ist tatsächlich ein Mysterium: Unter der Oberfläche und hinter dem Schleier liegt das Mysterium des Selbstes, der Individualität, eines Werdegangs, der sich bis in die weitest entfernten Ewigkeiten erstreckt. Der Mensch ist im Kern seines Wesens göttliche Energie, von Schleiern umhüllt.
– Gottfried von Purucker
Einleitung
In der Theosophie wird das Wort Evolution benützt, um den universalen Prozess anzudeuten, durch den alles entsteht und sich entwickelt. Das Thema ist zu umfassend, um hier vollständig behandelt werden zu können. Deshalb geben wir nur einen Abriss des gesamten Gebiets und beschäftigen uns mehr mit dem Besonderen, mit bestimmten Facetten, wie der Evolution von Mensch und Tier, dem Darwinismus und ähnlichen Themen, für die im Allgemeinen großes Interesse besteht. Das hat zur Folge, dass die hier gegebenen Lehren nur Ausschnitte des gesamten Themas darstellen. Wir werden – wie es üblich ist – mit den Grundlagen beginnen und ein tiefergehendes Studium auf einen späteren Zeitpunkt zurückstellen. Da die Evolution ein derartig weitreichendes Gebiet darstellt und die theosophischen Lehren umfassend sind, verweisen wir von Zeit zu Zeit auf andere theosophische Werke, die sich auf besondere Aspekte dieser Thematik beziehen.
Evolution ist ein universaler Prozess, demgemäß sich alles verändert, entwickelt und wächst. Einige einfache Beispiele können den Charakter dieses Prozesses verdeutlichen. Man pflanzt einen Samen, ein winziges Teilchen, das sich kaum von anderen Samen unterscheidet; er durchläuft verschiedene Stadien der Entwicklung, bis er ein ausgewachsener Baum geworden ist, der Blüten und Früchte trägt. Das ist Evolution – der Baum entwickelt sich aus dem Samen. Ein befruchtetes Ei im Mutterschoß entwickelt sich durch die verschiedenen Stadien hindurch zu einem vollständig geformten Kind, das sich weiter zu einem Erwachsenen entfaltet. Auch das ist Evolution – der Mensch evolviert aus einem Mikroorganismus. Ein Architekt hat eine Idee; die Idee nimmt auf dem Papier Form an und die Pläne werden gezeichnet; schließlich werden sie in Marmor und Granit verwirklicht, so dass – nachdem viele Stadien durchlaufen sind – sich durch die Arbeit vieler Hände eine prächtige, mächtige Kathedrale erhebt. Auch das ist ein Beispiel für Evolution – das Bauwerk entwickelt sich aus der Idee. Das menschliche Dasein illustriert dasselbe Evolutionsgesetz; es beinhaltet allerlei Einrichtungen, gesellschaftliche Klassen, Bräuche usw., die sich allmählich aus einer Idee oder einem Plan entwickelten. Kurz gesagt, die Evolution stellt die Verwirklichung von Ideen dar.
Was das bedeutet, kann auch auf andere Weise formuliert werden. Wir können sagen, dass Evolution das Sichtbarmachen des Unsichtbaren ist; das In-Aktivität-Setzen des zuvor Latenten; die Offenbarung des nicht Geoffenbarten. Aber Evolution bedeutet nicht das Schaffen von etwas, was vorher nicht existierte. Die Kathedrale war schon da, nicht als steinernes Gebäude, sondern als Idee im Denken des Architekten. Der Baum existierte, bevor er sich in materieller Form manifestierte; er war latent, potentiell, als Samen anwesend. Der vollständige, zukünftige Mensch war in der Keimzelle verborgen anwesend. Wäre das nicht der Fall, wie könnte es dann geschehen, dass der eine Samen eine bestimmte Pflanze und der andere eine gänzlich andere hervorbringt?
Wir wissen, dass wachsende Mikroorganismen Elemente aus der Erde, dem Wasser, der Luft und dem Licht aufnehmen und damit ihre materielle Struktur aufbauen. Biologen können mit Hilfe des Mikroskops die Entwicklung eines Mikroorganismus studieren und eine sehr ausführliche und detaillierte Beschreibung davon geben, was er sieht. Er kann jedoch die treibenden Kräfte, die er vielleicht als Eigenschaften der Materie oder irgendeines Lebensprinzips betrachtet, nicht bei ihrer Tätigkeit beobachten.
Das bleibt solange eine schwierige und unverständliche Angelegenheit bis wir erkennen, dass alle diese Aktivitäten von Intelligenz geleitet werden. Hinter allen Prozessen in der Natur stehen Geist, Intelligenz, Instinkt und Verlangen. Wenn wir dem nicht zustimmen können, werden wir uns wieder die Frage stellen müssen, wodurch all das in mysteriöser Weise zustande gebracht wird. Dazu kommt, dass Geist, Intelligenz usw. Attribute von lebendigen Wesen sind und nicht davon getrennt gesehen werden können; sie sind ein Teil von ihnen. Deshalb müssen wir die gesamte Natur als eine Ansammlung lebendiger Wesen betrachten. Wenn wir diesen Schritt einmal vollzogen haben, verschwinden die Probleme und es bietet sich uns eine verständliche Erklärung des Universums, des Lebens und der Evolution.
Der Evolutionsgedanke hat die Philosophen seit Urzeiten beschäftigt. Er ist eine Alternative zur Vorstellung von einer expliziten Schöpfung durch das Wort Gottes. Die Vorstellung, dass Gott das Universum in einem Zuge erschuf, an irgendeinem Zeitpunkt in der Vergangenheit, ist für den Intellekt wenig befriedigend. Wenn wir sehen, wie alles um uns herum wächst und sich verändert, ist es eine natürliche Vorstellung, dass das Universum, mit allem was darin enthalten ist, nach demselben Wachstumprozess enstand. Die Kontroverse zwischen denjenigen, die an eine spezielle Schöpfung glauben, und jenen, die der Meinung sind, dass Evolution eine fundamentale Arbeitsweise der Natur ist, zeigte sich überdeutlich in dem berühmten Prozess von Dayton in den Vereinigten Staaten, als vor Jahren ein junger Lehrer verurteilt wurde, weil er seine Schüler in der modernen wissenschaftlichen Evolutionslehre unterrichtete. Wahrscheinlich empfanden die meisten Menschen, dass die von der Anklage vertretene Meinung sehr reaktionär und engstirnig war und dass sie geringes Wissen und wenig Respekt für die Arbeit der Wissenschaft zeigte. Trotzdem kann man sich des Gefühls nicht ganz erwehren, dass sie gewissermaßen Recht hatten. Zwar war ihre Argumentation vielleicht sehr einfach, sie waren sich jedoch der Tatsache bewusst, dass es sich in diesem Konflikt zwischen den Anhängern der Evolutionslehre und den Gläubigen um wichtige Fragen handelte.
Das Problem wurde mit drei Worten auf den Punkt gebracht: ‘Engel oder Affe ?’ – mit anderen Worten, stammt der Mensch von den Engeln ab oder von den Affen? Man empfand, dass die Evolutionisten eine materielle und animalistische Auffassung der menschlichen Natur hegten, die im Widerstreit zur göttlichen und spirituellen Vorstellung lag, die von ihren Gegnern vertreten wurde. Es ist deshalb nicht ganz gerecht, es den religiösen Gruppierungen zu verübeln, dass sie sich lediglich aufgrund der biblischen Lehren so über diesen Prozess ereiferten, denn hinter ihrem Eifer stand mehr als das. Sie wurden von keinem Geringeren als W. J. Bryan verteidigt – sicherlich ein Mann von hoher Intelligenz und Bildung. Man war davon überzeugt, dass die wissenschaftlichen Theorien den Materialismus vertraten, den Animalismus, ein mechanisches, vernunftloses, seelenloses, gottloses Universum; und das war für viele der Grund ihres Widerstands. Eine erbitterte Feindschaft entstand in jener Zeit, als die moderne wissenschaftliche Theorie der biologischen Evolution zum ersten Mal verkündet wurde.
Viele ernsthafte Denker versuchten einen Weg zu finden, die konträren Standpunkte miteinander zu versöhnen. So wurde zum Beispiel gesagt, dass Gott, als er das Universum geschaffen hatte, alles weitere der Evolution überließ; oder dass Gott noch immer mit der Schöpfung des Universums beschäftigt wäre, weil seine Arbeit nie ein Ende fände. Auch wurde erwähnt, dass die Evolution für die göttliche Methode oder Arbeitsweise stehe. Das sind alles Schritte auf dem Weg der Annäherung verschiedener Ansichten, aber die Frage muss noch erheblich vertieft werden. Der theosophische Standpunkt, dass das Universum aus lebendigen Wesen besteht, wird uns bei der Lösung dieses Problems helfen.
Band 4: Die siebenfältige Konstitution des Menschen
Leonie L. Wriht
Die Monade
Damit wir die zusammengesetzte Natur des Menschen und seine sieben Prinzipien erklären können, muss als erstes eine kurze Skizze davon gegeben werden, was die Theosophie über die Evolution zu sagen hat.
Nach der Weisheitsreligion bedeutet Evolution ‘sich Entfalten’, ‘sich Entwickeln’; mit anderen Worten, es ist ein Prozess, in dem Qualitäten oder Eigenschaften, die latent und unsichtbar in der inneren Natur eines jeden Wesens verborgen liegen, in zunehmendem Maße zur Offenbarung kommen und tätig werden. Wenn ein Samen noch nicht gekeimt hat, sind seine Eigenschaften noch unsichtbar und nur latent vorhanden. Aber wenn die Zeit und die Umstände geeignet sind, beginnen die latenten Eigenschaften sich zu entwickeln und zu entfalten; und sie werden sichtbar. So bringt z. B. eine Eichel zuerst einen zarten Sprössling zum Vorschein und wird schließlich zu einer hoch gewachsenen, majestätischen Eiche.
Alle Organismen, das heißt alle Lebewesen – Pflanzen, Tiere, Menschen – wachsen aus einem Samen. Bei den Menschen und den meisten Tieren sind diese Samen so klein, dass man sie mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmen kann. Und trotzdem kann jede dieser äußerst kleinen vitalen Zellen zu einem 1,80 Meter großen Menschen mit all seinen komplexen Fähigkeiten oder zu einem riesigen Elefanten mit seinen hochspezialisierten Organen heranwachsen.
Wie ist es möglich, dass ein mit dem bloßen Auge nicht sichtbarer Same – auf magisch anmutende Weise – z. B. zu einem genialen Menschen, zu einem großen Musiker oder Erfinder heranwächst? Warum liegt dieses Gesetz der Entwicklung von innen nach außen, vom Unsichtbaren zum Sichtbaren, der Evolution zugrunde? Das rührt daher, dass dem Herzen eines jeden Samens ein Element oder Prinzip innewohnt, das wir die lebende ‘Geist-Seele’ nennen. Diese ‘Geist-Seele’ ist ein Funken der universalen Geist-Seele und wird in modernen theosophischen Schriften als ‘Ātman-Buddhi’ bezeichnet. Durch den Drang dieser unsichtbaren Geist-Seele nach Selbstausdruck beginnt der Kern eines Organismus sich auszudehnen und entfaltet seine eigenen Kräfte durch die Entwicklung von Fähigkeiten und Funktionen – von innen nach außen. Natürlich wird dieser Organismus durch den Einfluss der Umgebung und des Milieus genährt und unterstützt. Wäre jedoch dieser lebendige, spirituelle Drang nicht in dem Kern vorhanden, würde die Saat nicht aufgehen und keine Früchte tragen. Tote Saat wächst nicht, wie günstig die Lebensbedingungen und das Milieu auch sein mögen. Entdeckungen jüngeren Datums auf dem Gebiet der Archäologie und der Anthropologie haben dazu beigetragen, dass die ultramoderne Wissenschaft ihre Evolutionstheorien nicht länger auf die sichtbaren und äußeren Formen der Natur beschränkt. In diesem Zusammenhang kann man ohne weiteres davon ausgehen, dass weitere wissenschaftliche Untersuchungen auf dem Gebiet der Evolution und der Psychologie sowie der Parapsychologie allmählich zu einer Bestätigung der diesbezüglichen theosophischen Lehren führen werden. Denn nicht nur der Körper, sondern auch der Verstand und die Seele eines Wesens sind jeweils einem eigenen Evolutionsprozess unterworfen. Wenn die Evolution ein Naturgesetz ist, bleibt von der Wirksamkeit dieses Gesetzes nichts ausgeschlossen. In jedem Partikel der Materie ist ein Funke des einen, universalen, unvergänglichen LEBENS eingeschlossen. Dieser Funke wird in der Theosophie die Monade genannt. ‘Monade’ ist ein Wort, das dem Griechischen entlehnt wurde. Es bezeichnet eine Einheit, eine Unteilbarkeit. Diese Monade ist ein Punkt, ein Zentrum vollständigen, individualisierten, nicht zerstörbaren Bewusstseins, das, wie bereits gesagt, seinen Ursprung im zentralen universalen LEBEN hat. Solch eine Monade lebt im Kern eines jeden Organismus, vom Atom bis zum Stern.
Aber diese Monaden befinden sich auf sehr unterschiedlichen Stufen der Evolution. Beispielsweise ist die Monade eines Atoms aus dem Mineralreich weit weniger evolviert oder entfaltet als eine Monade, die auf ihrer aufsteigenden evolutionären Reise der Selbstentwicklung das Pflanzen- oder Tierreich erreicht hat. Die Monade im Zentrum eines Menschen ist unermesslich höher entwickelt als die beiden zuletzt genannten Reiche. Sie hat nach äonenlanger, immer weiter fortschreitender Selbstentwicklung sämtliche Stadien der Materie in den niederen Naturreichen durchwandert und ist schließlich an dem Punkt angelangt, wo sie ihre eigenen schlummernden intellektuellen und spirituellen Fähigkeiten bis zu einem so hohen Grade entwickelt hat, dass sie sich als ein menschliches Wesen offenbaren kann.1
Dem Kern eines jeden physischen Atoms wohnt eine Monade inne. Das physische Atom ist der äußere Körper oder das Vehikel, dessen sich die Monade bedient und mittels dessen sie sich zum Ausdruck bringt. Wenn die Monade ein chemisches Atom beseelt, beginnt sie ihre Reise am Fuße der evolutionären Leiter. Und sie wandert über unzählige Zeitalter hinweg von einem Naturreich zum nächsten und folgt dabei dem Pfad, der sie in immer höhere Stadien der Evolution führt.
Wir können diesen Prozess teilweise nachvollziehen, wenn wir das Wachstum einer Pflanze beobachen. Hinter, über oder in jeder Pflanze befindet sich das, was wir eine ‘Pflanzen-Monade’ nennen könnten, mit anderen Worten eine spirituelle Monade, die ihre evolutionäre Reise durch das Pflanzenreich unternimmt. Ein kleiner Same wird in die Erde gelegt. Sobald die richtigen Umstände eintreten, ‘erwacht’ die schlummernde oder latente Energie, die darin eingeschlossen liegt; und ein Prozess beginnt, in dem der Same aus der Erde heraus ein Pflanzen-Vehikel für sich selbst aufbaut. In ähnlicher Weise formt die Monade für sich selbst immer höhere Vehikel, während sie durch das Elemental-, Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich aufwärts schreitet, um schließlich in menschlichem Gewand zur Blüte zu kommen.
Es sind die Monaden, die durch ihre Tätigkeit nicht nur die Evolution hervorbringen, sondern auch selbst das Material der Evolution bilden. Die Monaden von hohem, mittlerem und niedrigem Entwicklungsgrad beseelen und erbauen alle für uns sichtbaren und unsichtbaren Manifestationen von Leben – spiritueller, intellektueller, psychischer und physischer Art. Sie folgen dabei dem spirituellen Drang, der im Herzen einer jeden Monade existiert, dem ursprünglich in der zentralen universalen Quelle des Lebens ausgelösten Drang.
Diese Monaden formen durch ihren inneren Lebensdrang, ihre Aktivitäten und die sich allmählich entfaltenden Wesensmerkmale die unsichtbaren Teile der Natur – die unsichtbare Welt, die von unvorstellbar größerem Umfang und Ausmaß ist, als die sichtbare. Hier, in diesen inneren Reichen, wirken die unzähligen Scharen unsichtbarer Monaden, die also die Ursache der sichtbaren Evolution sind.
Bevor wir zur Betrachtung des Menschen und seiner siebenfältigen Konstitution übergehen, müssen wir folgende Frage beantworten: ‘Worin liegt der Zweck dieser ganzen monadischen Evolution von einem Naturreich ins andere, von einer Ebene zur anderen?’ Die Antwort lautet wie folgt: Jede große solare Evolutionsperiode wird in den theosophischen Lehren als ein Manvantara bezeichnet. In dieser solaren Periode, oder dem Manvantara, tritt die Monade den Anfang ihrer Reise als ein nicht-selbstbewusster Gottesfunke an. Und das Ziel ihrer Reise durch alle Lebensformen in diesem solaren Manvatara ist, dass sie zu einem vollständig selbstbewussten, göttlichen Wesen heranreift. Wenn das Ende dieser solaren Periode kommt, wird eine Monade, die ihre Evolution erfolgreich vollendet hat, Kenntnisse aus eigener Erfahrung über sämtliche Lebensformen besitzen – sie wird in der Tat all diese Lebensformen in diesem Manvantara gewesen sein. Sie wird sich am Ende mit Hilfe von höher evolvierten Wesen die Fähigkeit angeeignet haben, selbstbewusst all diese Erfahrungen zu verstehen, zu assimilieren und zu benutzen. So wird sie in dem Manvantara, das sie gerade durchlief, ein selbstbewusster Gott, ein Meister der Weisheit und des Lebens. In einem nachfolgenden solaren Manvantara wird die Monade ihre Erfahrungen fortsetzen, um noch höhere Stufen der Evolution und des Wissens zu erreichen.
Die Monade im Innersten eines jeden von uns ist bereits weit auf ihrem Weg vorangekommen, ein solcher selbstbewusster Gott zu werden. Und das bedeutet natürlich, dass wir alle, die wir in Wirklichkeit – auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind – unsere eigene Monade sind, dazu bestimmt sind, am Ende des Sonnenmanvantaras, das wir jetzt durchlaufen, als herangereifte, alles verstehende Götter hervorzugehen.
Einer der schönsten Aspekte dieser Lehre ist, dass wir, indem wir diese evolutionäre Leiter des Seins hinaufsteigen, die evolutionären Möglichkeiten sämtlicher Atome und Wesen wachrufen und stimulieren, mit denen wir auf allen Erfahrungsebenen in Berührung kommen. Es ist ein Gesetz des Universums – mit anderen Worten, es ist im Wesen aller Dinge eingeschlossen –, dass wir selbst nicht höher steigen können, ohne alle anderen mehr oder weniger mitzuziehen.
Was das hinsichtlich unserer moralischen Verantwortung bedeutet, darüber sollten wir uns alle Gedanken machen.
Fußnoten
1. Dieser Vorgang ist deshalb spiritueller Art. Der Unterschied zwischen diesem Vorgang und den materialistischen, darwinistischen Evolutionstheorien wird in Man in Evolution von G. de Purucker umfassend erläutert. [back]
Band 3: Karma
Gertrude W. van Pelt
Der Weg des Wachstums ist kein schwieriger Weg. Er wird ein ‘steiler und dorniger Pfad’ genannt, der es aber nur so für den egoistischen, habgierigen, leidenschaftlichen, niederen Menschen ist. Der Weg des Geistes ist der Weg des Lichts, des Friedens, der Hoffnung. Er ist der Weg zur Sonne. Es ist ein wunderbares Gefühl, daß wir göttlichen Ursprungs sind und unsere Bestimmung in unseren Händen halten, daß im Herzen von uns allen ein Gott lebt, und daß wir die mystische Lebensleiter höher und höher klettern können. Dabei erweitern wir ständig unser Bewußtsein und das Gebiet unserer Tätigkeiten von einem Planeten zu einem Sonnensystem, von einem Sonnensystem zu einer Galaxie, von einer Galaxie zu einem Universum und von einem Universum zu anderen Kombinationen von Universen. Wir wachsen stets und erweitern endlos unser Bewußtsein, unsere Kraft, Weisheit und Liebe.
– Gottfried von Purucker, Quelle des Okkultismus, Band 3, S. 80 f.
Einleitung
Die Lehre von Karma ist eine der Grundlehren der Theosophie. Sie lehrt uns, den Sinn des menschlichen Lebens mit seinen scheinbaren Ungerechtigkeiten zu erklären und reicht uns den Schlüssel zur Lösung vieler Lebensrätsel. Karma ist ein Sanskritwort, das ‘Handlung’ bedeutet. Es hat dieselbe Bedeutung wie das Gesetz von Ursache und Wirkung. Es ist das Gesetz der nimmer versagenden Gerechtigkeit, dessen Wirkung sich vom kleinsten denkbaren Teilchen bis hin zum unvorstellbaren, ausgedehnten kosmischen Raum erstreckt und schließt alles ein, was sich darin befindet. Karma ist ein Begriff, dem wir heutzutage in der Literatur häufig begegnen; er wird oftmals in Filmen und Theaterstücken verwendet und nicht selten ist er Diskussionsgegenstand in Rundfunk und Fernsehen.
Im Neuen Testament finden wir in den bekannten Worten des Paulus in seinem Brief an die Galater, VI, 7: ‘Denn was ein Mensch sät, das wird er auch ernten.’ Obschon dieser Gedanke des großen christlichen Apostels und Eingeweihten deutlich genug ist, hat man im allgemeinen die tiefe Bedeutung der Formulierung des Gesetzes der ethischen Gerechtigkeit übersehen und es nicht als Grundlage für menschliches Verhalten auf gedanklicher und spiritueller Ebene akzeptiert. Auf der physischen Ebene dagegen erkennt man das Gesetz von Aktion und Reaktion als selbstverständlich an und betrachtet es unbewußt als unfehlbar. Das Leben würde unmöglich werden, wenn wir uns nicht darauf verlassen könnten, daß gewisse Handlungen die dazugehörigen Folgen hervorrufen. Überall sehen wir die Gesetzmäßigkeit und Ordnung sowie die fortwährende Wiederherstellung eines gestörten Gleichgewichts. Auf dem gesamten Gebiet der äußeren Natur ist dieses Gesetz wahrnehmbar, wie jede Handlung logische Folgen nach sich zieht, aber trotzdem hat ganz besonders die westliche Welt die universale Wirkung dieses Gesetzes nicht erkannt. Wir haben nicht verstanden, daß unser eigenes Leben von diesem Gesetz beherrscht wird.
Bei wissenschaftlichen Untersuchungen wurde auf der physischen Ebene der Zusammenhang von Ursache und Wirkung mit äußerster Sorgfalt erfaßt; das Studium dieser Gesetzmäßigkeit ermöglichte es, daß wir bestimmte Resultate voraussehen und uns unbedingt darauf verlassen können. Durch genaue Beobachtungen der Transformationen in der Natur, wobei über jedes, auch das kleinste Energieteilchen, Rechenschaft abgelegt werden mußte, kam man zu der Formulierung des ‘Energieerhaltungssatzes’. Wenn dieser auch nur teilweise richtig ist, bedeutet das, daß die materielle Welt von einem zuverlässigen Gesetz regiert wird. Aber jenseits der Grenzlinie, die von unseren normalen stofflichen Sinnen nicht überschritten werden kann, herrscht angeblich das Chaos, blinder Zufall, und man bedient sich für die Beschreibung dieser Zustände Begriffen wie ‘ein zufälliges Zusammentreffen von Atomen’. Schließlich kam man zu der sonderbaren Schlußfolgerung, daß der menschliche Verstand, der die materiellen Reaktionen so sorgfältig beobachtet und zu verstehen versucht, selbst nichts anderes ist als ein Produkt von dem, was er studiert!
Aber dieser Alptraum gehört zum größten Teil der Vergangenheit an, denn manche prominente Wissenschaftler haben bereits erklärt, daß das Grundprinzip im All eher ‘Geist-Substanz’ oder Bewußtsein ist und weniger Materie.1 Weil dem Menschen eine wirkliche Lebensphilosophie fehlt, wurden nur die Wirkungen untersucht, und man versuchte, mit ihrer Hilfe Rückschlüsse auf die Ursachen zu ziehen, was eine schwierige, ja fast unmögliche Aufgabe ist. Um die Wirkungen, die wir in der Welt auf allen Ebenen wahrnehmen, richtig interpretieren zu können, müssen wir die Ursachen kennenlernen.
Um ein richtiges Bild vom Begriff Karma zu bekommen, ist es notwendig zu verstehen, daß der Kosmos, das Universum, eine Einheit ist, ein Organismus – der aus einer unendlichen Anzahl kleinerer Organismen zusammengesetzt ist. All die vielen Organismen existieren in einer unvorstellbaren Vielfalt von Bewußtseins- und Entwicklungsgraden, die alle von dem Einen Bewußtsein, das alles umfaßt und in allem anwesend ist, zu einem Ganzen vereint werden. Dieser erhabene Gedanke wird durch den Menschen veranschaulicht, der selbst ein Universum darstellt, einen Kosmos im kleinen. Ist er nicht aus einer beinahe unendlich großen Zahl von Lebens- oder Bewußtseinszentren zusammengesetzt – Atomen, Molekülen, Zellen, Organen, Nervenknoten und so weiter – worüber das Bewußtsein des Menschen steht, das alle Teile durchdringt, vereint und leitet? Und so, wie eine Wunde am kleinen Finger vom ganzen Körper gespürt wird, so hat ein Gedanke des Hasses oder eine schmerzliche mentale Erfahrung ihre Wirkung auf den größeren kosmischen Organismus. Daß das Gesetz von Aktion und Reaktion, von Ursache und Wirkung, sich in dem begrenzten Bereich der lediglich materiellen Existenz so deutlich zeigt, ist nur ein oberflächlicher Beweis für das Wirken Karmas in den inneren, spirituellen und kausalen Bereichen. Normalerweise nehmen wir lediglich in der materiellen Welt wahr, daß Aktion und Reaktion dieselben Kräfte sind, aber das Auge des spirituellen Sehers erblickt hinter der materiellen Fassade dasselbe Gesetz, das dann eine viel dynamischere Wirkung hat. In ihrem Buch The Key to Theosophie [Der Schlüssel zur Theosophie] schreibt H. P. Blavatsky folgendermaßen über Karma:
“… das Grundgesetz im Universum, die Quelle, der Ursprung, die Basis aller anderen Gesetze, die in der Natur existieren. Karma ist das niemals irrende Gesetz, das auf den physischen, mentalen und spirituellen Ebenen des Seins die Wirkung der Ursache ausgleicht. Da vom Größten bis zum Kleinsten keine Ursache ohne entsprechende Wirkung bleibt, von einer kosmischen Störung bis hin zur Bewegung einer Hand, und da Gleiches Gleiches bewirkt, ist Karma das unsichtbare und unbekannte Gesetz, das jede Folge weise, intelligent und gerecht an ihre Ursache anpaßt und zum Verursacher zurückführt.’
–Der Schlüssel zur Theosophie, S. 201 [Übersetzung aus dem Englischen]
Hieraus geht deutlich hervor, daß Karma ein Grundgesetz des Universums ist, weil jedes Wesen ein Teil davon ist. Jeder Gedanke und jede Handlung beeinflussen jedes andere Wesen, je nach dem Ausmaß der verwendeten Energie, was unvermeidlich Rückwirkungen auf denjenigen hat, der den Gedanken aussandte oder die Handlung ausführte.
Auch eine Tat, die nur erwogen, aus einem beliebigen Grund aber nicht ausgeführt wird, hat ihre Wirkung, denn Gedanken und Begierden sind Energien, die um so realer und stärker werden, je näher sie der Verwirklichung kommen. Wenn jemand einem anderen Menschen gegenüber Gefühle des Hasses und böse Pläne hegt, und sie dann – aus welchem Grund auch immer – nicht ausführt, so wendet der dunkle Strom sich gegen seinen Erzeuger, welcher die auf das Böse gerichtete Energie erzeugt hat. Es ist klar, daß diese Kraft – zwar in materieller Hinsicht ohne Wirkung – jedoch in der Natur des Erzeugers wie ein Gift wirkt und seinen Charakter nachteilig beeinflußt. Der Prozeß, der dafür notwendig ist, den angerichteten Schaden wieder gutzumachen, wird gewiß schmerzhaft sein.
Die Lehre der Reinkarnation steht hiermit in engem Zusammenhang. Sie hat die Wiedergeburt des spirituellen Teils des Menschen auf der Erde zum Inhalt. Bei jeder neuen Geburt oder Reinkarnation bekommt der Mensch einen neuen Körper, der das karmische Resultat der Gedanken und Handlungen des vorausgegangenen Lebens ist.2 Das gleiche gilt für seine Umgebung und die Umstände, in welche er hineingeboren wird. Sie sind die unvermeidliche Folge von dem, wonach er sich sehnte, wofür er arbeitete und worin er versagte. Indem er in Leben um Leben auf der Erde die Folgen dessen erfährt, was er selbst in der Vergangenheit verursachte, lernt er allmählich seine Kräfte und Fähigkeiten zu beherrschen und zu entwickeln, und beginnt, sein eigenes Schicksal neu zu gestalten – er nimmt seine Evolution in die eigene Hand. Dieser Vorgang hat die selbstgesteuerte Evolution zur Folge. Sie wäre nicht vorstellbar, wenn wir, was unseren Charakter und unsere Umgebung anbelangt, nicht das ernten würden, was wir an Gedanken, Wünschen und Taten in vorigen Leben gesät haben. Man pflückt keine ‘Trauben von Dornen oder Feigen von Disteln’, und man sät auch nicht an der einen Stelle und erntet an einer anderen. In einem zukünftigen Leben auf der Erde werden diejenigen, die Bande der Liebe oder des Hasses miteinander geschmiedet haben, sich wieder begegnen und die Gelegenheit bekommen, wiedergutzumachen, was eventuell verbrochen wurde. Denn der Haß ist eine ebenso dynamische und magnetische Kraft wie auch die Liebe. Welche Energien auch immer in Bewegung gesetzt werden, eines Tages werden sie ihre Auswirkung haben und das Gleichgewicht oder die Harmonie wiederherstellen. Wir ahnen kaum, mit welchen dynamischen Kräften wir in diesem magnetischen Ozean des Lebens, worin wir uns befinden, spielen. Aktion und Reaktion, Ursache und Wirkung, Energie und was daraus hervorgeht, bringen nicht nur in der äußerlichen Welt der materiellen Wirkungen Gleichgewicht, sondern auch in den inneren, spirituellen und kausalen Welten, in welchen moralische und ethische Kräfte mit mathematischer Genauigkeit wirken. Diese majestätische Lehre von Karma, dieses barmherzige Gesetz, ist unser Lehrer, unser Freund und unser Retter.
Band 2: Reinkarnation
Leonie L. Wriht
Periodische oder zyklische Tätigkeit kann man mit bleibender Gültigkeit eine Gewohnheit der Natur nennen. Auf die gleiche Art und Weise werden auch menschliche Gewohnheiten erworben, nämlich durch Wiederholung, bis die betreffende Wesenheit schließlich automatisch der Gewohnheit folgt; dann ist sie das „Gesetz“, das ihr Handeln leitet. So sind auch Tod und Geburt wirklich tief verwurzelte Gewohnheiten der reinkarnierenden Wesenheit, und diese Reinkarnations-Gewohnheit wird die Zeitalter hindurch andauern, bis sie allmählich durch die wachsende Abneigung des reinkarnierenden Egos für materielles Leben zerbrochen wird, mit anderen Worten, weil die Anziehung zu dieser Sphäre und diesem Plan langsam ihre Macht über das sich wiederverkörpernde Ego verliert.
… Wir Menschen bilden keine Ausnahme hinsichtlich der kosmischen Methoden und Funktionen der Natur. Warum sollten wir – wie könnten wir? Wir sind nicht verschieden vom Universum, vielmehr sind wir ein untrennbarer und integraler Teil davon.
– Gottfried von Purucker, The Esoteric Tradition, S. 655
Wiederverkörperung – eine Gewohnheit der Natur
Der Mensch ist eine unsterbliche, spirituelle Monade, die den Geist und den Körper als ein Vehikel benützt, um sich in der Welt zum Ausdruck zu bringen und Erfahrungen zu sammeln. Viele neigen dazu, sich selbst als ein Produkt einer materiellen Evolution zu betrachten. Dies ist eines der größten Hindernisse im Leben, denn dadurch wird der spirituellen Natur des Menschen wenig oder gar keine Beachtung geschenkt und die Angst vor dem Tode verstärkt. Wie kann jemand wirklich glücklich sein und das Leben sinnvoll finden, wenn er daran glaubt, daß mit dem Tod alles aufhört? Wenn wir davon ausgehen, daß die sinnlich wahrnehmbare Welt die einzige Wirklichkeit ist, können wir die Tatsache des Fortbestehens nach dem Tode niemals vor uns selbst beweisen. Jemand, der sein gesamtes Leben in einem dunklen Kerker verbringt, kann nicht beweisen, daß es eine Sonne gibt. Noch weniger wird er einsehen, daß sein Leben in vielerlei Hinsicht von dem unsichtbaren, aber nichtsdestoweniger alles erhaltenden Leben der für ihn nicht wahrnehmbaren Sonne abhängig ist.
Wir müssen uns aus den Kerkern des Materialismus befreien und in das Sonnenlicht der spirituellen Wahrheit treten. Dann werden wir in uns selbst die Kraft entwickeln können, um uns vor uns selbst zu beweisen, daß der wirkliche, innere Mensch – der essentielle Kern in jedem von uns – immer existiert hat, unsterblich ist und ebensowenig vernichtet werden kann wie das grenzenlose Universum, von welchem er ein untrennbarer Teil ist.
Weiterhin muß es auch eine befriedigende Erklärung für die Ungerechtigkeiten geben, die das Leben in so großem Maße zu beherrschen scheinen. Es gibt kaum jemanden, der sich nicht dann und wann zurückgedrängt fühlt. Haben nicht viele Menschen angeborene Begabungen, die in diesem Leben keine Möglichkeit einer Entwicklung erfahren, und Wünsche, die nicht in Erfüllung gehen können? Und werden nicht auch viele mit einer Neigung zum Bösen geboren, ohne daß sie die Möglichkeit bekommen, diese zu überwinden? Die so deutliche Ungleichheit der Lebensmöglichkeiten ist ausreichend genug, um das menschliche Herz zu verbittern und seine moralische Kraft verkümmern zu lassen.
Es ist äußerst wichtig, daß der Mensch erkennt, welchen Platz er im evolutionären Plan einnimmt. Er muß einen besseren Einblick in das Ziel und die Bestimmung der menschlichen Rasse gewinnen. Die Theosophie bringt den Menschen in Beziehung zum Universum und zeigt, daß sein persönliches Bewußtsein ein Strahl des universellen, kosmischen Bewußtseins ist. Mit Nachdruck stellt sie fest, daß der Mensch essentiell ein Bewußtseinszentrum ist und nicht nur ein Körper, dem bei der Geburt auf die eine oder andere Weise eine Seele zugefügt wurde. Auch sind wir nicht das zufällige Produkt blinder, mechanischer Kräfte. Jeder Mensch ist Teil eines lebenden, organischen Universums. Das Universum selbst ist das Produkt der Evolution und trägt in sich seinen eigenen, sich entwickelnden Lebensplan, in dem alles enthalten ist – Atome, Menschen, Nebelhaufen, Welten, Sonnensysteme und Galaxien – in einem großen Entwicklungsplan, in dem das niedrigste Insekt wie das größte Genie seinen Platz hat.
In einer winzigen Eichel ist die Geschichte von Generationen von Eichen eingebettet. Als Reaktion auf die Einflüsse der Natur entfaltet sich aus dem Herzen der Eichel ein mächtiger Baum, der zum Ausdruck bringt, was die Eiche in ihrer Evolution in einer ungeheuren Vergangenheit entwickelt hat. Das gleiche gilt für den Menschen. In dem göttlichen Bewußtsein, das die Quelle unseres persönlichen Lebens ist, ist die Essenz einer ungeheuren Vergangenheit enthalten, die sich über unvorstellbare Zeiten zurück erstreckt. Unser Erscheinen als Mensch auf dieser Erde ist nur ein Akt im großartigen Drama unserer Evolution.
Die menschliche Rasse ist auch keineswegs eine neue Entwicklung der Natur. Der Mensch entstammt früheren evolutionären Zyklen und nahm hier auf der Erde, die sein gegenwärtiges Übungsfeld ist, wieder einen Körper an. Überdies muß angemerkt werden, daß all die Zeitalter hindurch nicht immer wieder neue Seelen „erschaffen“ wurden. Die Anzahl der sich entwickelnden Seelen auf dieser Erde, die unser Vorstellungsvermögen bei weitem übertrifft, ist festgelegt und stets gleichbleibend. Das bedeutet, daß alle Menschen als evolvierende Egos, in Übereinstimmung mit der Ökonomie der Natur, immer wieder auf der Erde wiedergeboren werden. Wir alle, die unsere heutige Zivilisation bilden, sind zuvor bereits viele Male hier gewesen. Wir waren die Männer und Frauen, welche die großen Kulturen der Vergangenheit formten und wir waren auch in den vielen großartigen vorgeschichtlichen Rasse1 verkörpert, worüber H. P. Blavatsky in ihrer Geheimlehre berichtet.
Die Theosophie geht deshalb von der Präexistenz als einem notwendigen Aspekt der Ewigkeit, etwas, das einen Anfang hat, muß notwendigerweise auch ein Ende haben. Die Natur macht das deutlich genug. Was wir Ewigkeit oder Unsterblichkeit nennen, muß sich endlos erstrecken, sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft. Das innerste Selbst des Menschen ist ein unsterbliches Wesen – ein Gott –, welches sich von Zeitalter zu Zeitalter in neue Körper oder Vehikel kleidet, um darin alle Erfahrungen zu machen, die in dem Universum, zu dem es gehört, möglich sind, und so das Größtmögliche an Wachstum und Selbstausdruck zu erreichen.
Dieses Wachstum und diese Evolution sind ohne Anfang und ohne Ende. Alle Wesen haben daran teil, und sie machen Gebrauch von jenen Körpern, die dem Stadium der Entwicklung, in dem sie sich gerade in diesem Moment befinden, angepaßt sind. Wachstum vollzieht sich nicht in einer geraden, aufstrebenden Linie, sondern in Kreisläufen, die von kurzer Dauer und Umfang sein können, aber auch Perioden und Gebiete umfassen, welche unser Vorstellungsvermögen überschreiten. Diese Zyklen werden durch einen Beginn oder eine Geburt gekennzeichnet, einen Aufstieg und Höhepunkt, gefolgt von einem Niedergang und Ende oder Tod, denen wiederum ein neuer Beginn nachfolgt, wonach sich alles wiederholt. Jede Geburt ist darum eine Wiedergeburt und jeder Tod eine Zeit der Ruhe, die einer neuen Lebensperiode voranschreitet.
Dies gilt für alles, was lebt – Universen, Sonnensysteme, Sonnen, Welten, Menschen, Tiere, Pflanzen, Zellen, Moleküle und Atome. Sie alle kennen einen Anfang, gefolgt von einer Periode geoffenbarter Existenz und einem Ende oder „Tod“, welcher, nach einer Periode der Ruhe in ungeoffenbarter Existenz, wieder durch einen neuen Anfang und eine neue Periode der Existenz abgelöst wird. Das, was wir wahrnehmen sind die Formen, die durch ein Bewußtseinszentrum beseelt wurden, welches das eigentliche evolvierende Wesen ist. Die Formen sind jedoch immer zusammengesetzt und bestehen aus kleineren Leben mit einer eigenen Form, einem eigenen Bewußtseinszentrum und einer eigenen Evolution. Im Falle des Menschen denken wir an die Zellen, im Falle des Universums an die zahllosen Himmelskörper, die zusammen das äußere Universum bilden. So erkennen wir, daß die Natur überall dem gleichen Muster folgt und daß das, was sich im Großen ereignet, sich im Kleinen wiederholt.
Das menschliche Leben ist ein notwendiger und sehr bedeutender Teil des kosmischen Entwicklungsplanes. Wiederverkörperung ist eine Äußerung des universalen Lebensrhythmus, das Wissen von dem Gewohnten in der Natur, das wir überall wahrnehmen, wie beispielsweise bei Ebbe und Flut, Tag und Nacht, Schlafen und Wachen, Leben und Tod, den Jahreszeiten, dem Aufkommen und Verfall von Kulturen usw. Beim Menschen bezeichnen wir den Prozeß der Wiedergeburt oder der Wiederverkörperung mit dem Ausdruck Reinkarnation, was „wieder zu Fleisch werden“ bedeutet oder abermals ein Gewand oder einen Körper von Fleisch anzunehmen. Für die verschiedenen Formen der Wiederverkörperung gibt es unterschiedliche Namen, die sich auf alle Wesen vom höchsten bis zum niedrigsten beziehen, aber hier haben wir es nur mit der Form zu tun, die den Menschen betrifft, und diese wird Reinkarnation genannt. Es ist die periodische Wiedergeburt des spirituellen Egos als Mensch auf der Erde.
Wir fragen uns natürlich, worauf der Zweck des Lebens beruht, denn in dem heutigen Durcheinander von Theorien und Auffassungen scheint es keinen klaren Hinweis auf das Wie und das Warum unserer Anwesenheit auf der Erde zu geben. Kurz gesagt, der Sinn des Lebens ist, das Sterbliche zum Unsterblichen zu erheben. Oder, um die Idee etwas zu erweitern, der unsterblichen, spirituellen Potenz im Kern des menschlichen Wesens Zeit und Gelegenheit zu geben, sich zu entwickeln, zu wachsen und sich zur Vollkommenheit zu entfalten. Der persönliche Mensch, das gewöhnliche, alltägliche Selbst, ist nicht unsterblich. Herr Müller und Frau Schmidt sind keine unsterblichen Wesen. Sie sind nichts anderes als Persönlichkeiten, und als solche reinkarnieren sie nicht. Sie sind nur ein unvollkommenes Abbild der Bewußtheit dahinter, und es ist dieses Bewußtsein, dieses Ego, das reinkarniert.
Wer hatte nicht auch schon einmal das Gefühl, daß das Leben zu kurz ist, zu unzureichend, um alles das zum Ausdruck zu bringen, was man an Inspiration und Fähigkeit in seiner eigenen Natur fühlt. Wie oft hört man, daß jemand sagt: „Nun, wo ich alt bin und der Tod naht, habe ich gerade gelernt, wie ich leben sollte.“ Aber so grausam und verschwenderisch arbeitet das Universum nicht. Allein die Tatsache, daß wir intuitiv wissen, daß große Reserven an Kraft und Möglichkeiten in uns schlummern, die nach Ausdruck suchen, und das tiefe Verlangen in uns, das größere Selbst zu entwickeln, es zu sein, zeugen täglich von dem wirklichen Ziel, das die Natur uns bereitgestellt hat. Nur weil wir von unserem begrenzten alltäglichen Bewußtsein derart beansprucht werden, und nur in seltenen Augenblicken in dem tiefen göttlichen Verlangen des größeren Wesens im Inneren leben, sind wir uns der größeren Möglichkeiten, die das Leben für uns bereithält, meistens nicht bewußt.
Wir sollten vor allem zuerst versuchen, zu erkennen, daß wir in unserem innersten Wesen ein göttliches Bewußtsein, ein göttliches Ego sind, und daß dieses Ego, das wir selbst sind, schon immer existiert hat und niemals aufhören wird zu sein und zu wachsen und sich zur Vollkommenheit hin zu entwickeln. Wir sollten unser ganzes Wünschen und Bestreben darauf richten, uns dieser Einheit mit dem göttlichen Ego bewußt zu werden, und es in unserem täglichen Leben als eine größere und tiefere Individualität als die unseres persönlichen Bewußtseins zu offenbaren. Dann werden wir ein neues Leben beginnen. Dann werden wir zu einem Schöpfer und werden aus uns selbst unsere eigene unbegrenzte, göttliche Bestimmung zum Vorschein bringen. Schließlich werden wir selbstbewußt an dem wirklichen Ziel der Evolution mitarbeiten. Nur durch die Reinkarnation kann der Mensch die Fülle seines verborgenen Reichtums an Kraft und Fähigkeiten, deren wir uns alle in gewissem Maße bewußt sind, zum Ausdruck bringen, gebrauchen und vervollkommnen.
Durch die Reinkarnation ist der Mensch in der Lage, alle Arten menschlicher Erfahrung zu durchlaufen, welche die Erde bietet. Mit jedem neuen Leben gestaltet sich der Charakter durch die Berührung mit der Umgebung vielseitiger. Neue Kräfte und Fähigkeiten entfalten sich aus dem Inneren. Durch das Leid, das wir durchleben, und das tatsächlich unser bester Lehrmeister ist, werden Schwächen und Selbstsucht überwunden, lernen wir unsere Begrenzungen zu erkennen und zu überwinden. Jedes neue Leben offenbart uns eine weitere Chance. Jeder Mensch bekommt auf diese Weise Zeit und Gelegenheit, sich selbst erneut zu formen, und kann durch Selbstbeherrschung und Wiedergutmachung des Schadens, den er möglicherweise anrichtete, zu Besserem gelangen. Jemand, der beispielsweise keine Möglichkeit hatte, seine musikalischen oder anderen Gaben zu entwickeln, weil er in diesem Leben völlig von der Sorge um andere beansprucht wurde, wird in einem folgenden Leben durch die moralische Kraft, die durch das Pflichtbewußtsein erweckt wurde, mehr Gelegenheit finden, seine bis dahin noch gesteigerte Begabung zu entwickeln.
Wenn wir unsere Möglichkeiten also gut wahrnehmen, werden wir von Leben zu Leben beständig wachsen, bis in einer zukünftigen Inkarnation auf dieser Erde der Charakter zum göttlichen Genius erblühen wird und wir in der Fülle unseres wahren spirituellen Seins leben und arbeiten werden.
Band 1: Was ist Theosophie?
Charles J. Ryan
Prüfe dich selbst; erkenne, daß Göttlichkeit in dir wohnt, nenne sie, wie es dir gefällt. … Prüfe deine eigenen inneren Bestrebungen, und du wirst erkennen, daß herrliche Dinge in dir sind. Sie sind das Wirken deines inneren Gottes, deiner spirituellen inneren Sonne.
Das ist die Botschaft der großen Weisen und Seher aller Zeiten. …
Die Theosophische Gesellschaft hat dieselbe alte Lehre abermals übermittelt … von diesem lebendigen Feuer in deiner Brust, sie spricht von der Einheit mit allem, was ist und von deiner Verwandtschaft mit allem, was besteht; denn wahrhaftig, du bist eng verwandt mit den Göttern, welche die Herrscher, Berater und Regenten des Universums sind.
– G. de Purucker: Questions We All Ask
Einleitung
Die Frage, was Theosophie ist, kann auf verschiedene Weise beantwortet werden. Allgemein gesprochen kann man sagen, daß sie die Kenntnis des Wissens darstellt, das die Evolution der gesamten Natur umfaßt, und daß sie in ferner Vergangenheit durch große Denker, Philosophen, Menschheitslehrer oder Religionsgründer verbreitet wurde, die sie auf systematische Weise formulierten. Sie wurde auch die alte Weisheits-Religion genannt, welche einst in jedem Land des Altertums bekannt war und die das geistige Erbe der Menschheit ist.
H. P. Blavatsky, die Gründerin der Theosophischen Gesellschaft, wählte im Jahr 1875 das Wort Theosophie für die moderne Wiedergabe der alten Weisheit. Dieses Wort ist griechischen Ursprungs und bedeutet ‘Gottes-Weisheit’ oder Weisheit hinsichtlich göttlicher Dinge. Es steht in Verbindung mit philosophischen Schulen wie jenen der Kabbalisten, der Gnostiker und der Neoplatoniker, welche die Gottheit als das Eine Leben ansehen, aus dem sich alles offenbart und womit sich schließlich alles wieder vereinigen soll. Im Alexandrien des dritten Jahrhunderts gründete der Inspirator des Neoplatonismus, Ammonius Saccas, eine eklektische theosophische Schule, welche die vielen Formen religiöser und philosophischer Wahrheiten des Westens und des Ostens in einem System zusammenbringen sollte.
In der gleichen Tradition strebte H. P. Blavatsky danach, ‘alle Religionen, Sekten und Völker in einem gemeinschaftlichen, auf den ewigen Wahrheiten basierenden ethischen System miteinander zu versöhnen’. In ihrem bedeutendsten Werk, Die Geheimlehre, beschreibt sie das Weltall als einen lebenden Organismus, der aus Bewußtsein auf vielen Ebenen besteht, die alle miteinander verbunden und voneinander abhängig sind, wobei jeder Lebensfunke seine göttlichen Möglichkeiten in aufeinanderfolgenden Leben zur Entfaltung bringt. Auf dieser gegenseitigen Verbundenheit von Mensch und Kosmos gründet sich der Begriff der Universalen Bruderschaft, welche den Menschen dazu anregt, mehr von sich für das Wohl aller zu geben.
Weiter erklärt sie, ‘daß die [in ihrem Werk] erwähnten Lehren … weder ausschließlich zu der hinduistischen, der zoroastrischen, der caldäischen oder der ägyptischen Religion gehören, noch zum Buddhismus, dem Islam oder der jüdischen Lehre des Christentums. Die Geheimlehre ist die Essenz von allen.’
Um zu begreifen, was die Herkunft dieser alten Weisheit ist, müssen wir uns ein umfassenderes Bild des Menschen und seines Platzes in der Natur formen. Eine der bedeutendsten Ideen der alten Weisheit ist der Gedanke der Evolution, einem auch in unserer Zeit vertrauten Begriff. Sie muß tatsächlich in einem umfassenderen Rahmen betrachtet werden, als bisher geschehen. In Kapitel VII wird dieses Thema behandelt. Wir wollen uns im Moment mit der Feststellung begnügen, daß der Kosmos mehr Leben und mehr lebende Wesen umfaßt, als unsere stofflichen Sinne wahrnehmen können. Die Kette der Wesenheiten von den Mineralien, Pflanzen, Tieren und Menschen muß sowohl nach unten, als auch nach oben erweitert werden, was bedeutet, daß die Menschheit nicht die Spitze der Evolution darstellt, sondern daß über ihr Reiche von Wesen in höheren Evolutionsstufen existieren, und daß sich unterhalb von ihr Reiche von Wesen befinden, die in ihrer Evolution unter den Mineralien stehen. Ob sie sichtbar oder unsichtbar sind, ist dabei ohne Belang. Es ist bekannt, daß unsere Sinne in ihrem Wahrnehmungsvermögen sehr begrenzt sind.
Das Wissen, welches die Menschheit besitzt, hat sie durch Erfahrung erworben. Im Vergleich mit uns, haben die Wesenheiten, welche auf einer geistigen Stufe über den Menschen stehen, eine viel tiefergehendere Weisheit erworben und verfügen über umfassendere Kenntnisse der Natur und des Menschen als wir. Sie sind die Bewahrer der Alten Weisheit, von der sie der Menschheit durch ihre uns unter verschiedenen Namen bekannten Vertreter oder Botschafter einen Teil bekannt machen, wenn die Zeit dafür reif ist. Erscheinungen wie Jesus, Buddha, Krishna, Śankarachāryā und viele andere gehören zu der Bruderschaft der Weisen, die sich für die Menschheit verantwortlich fühlt und sie unterstützt, wo immer dies möglich ist. Madame Blavatsky war die Botschafterin für unsere Zeit, die im Auftrag ihrer Lehrer, geleitet von dieser eben erwähnten Bruderschaft, einen Teil der Alten Weisheit in ihren Büchern zusammentrug.
Sie nennt in ihrer Geheimlehre drei fundamentale Grundsätze, welche die Grundlage der Alten Weisheit darstellen. Der erste ist das Bestehen eines überall anwesenden, ewigen, grenzenlosen und unveränderlichen Prinzips, welches die unerkennbare Ursache von allem ist und dem kein anderer Name gegeben werden kann als TAT.
Der zweite Grundsatz beinhaltet, daß das Weltall der Bereich ewiger, niemals endender zyklischer Bewegung ist, voller Offenbarungen des zyklischen Lebens, wodurch Sterne, Planeten und andere Himmelskörper erscheinen und wieder als ‘Funken der Ewigkeit’ verschwinden. Das heißt, daß Milchstraßensysteme, Sonnen, Planeten, Menschen, Tiere und Pflanzen fortwährend im Streben nach Vervollkommnung geboren werden und sterben.
Der dritte Grundsatz handelt von der fundamentalen Gleichheit aller Wesen und der notwendigen Pilgerschaft eines jeden Wesens durch den Zyklus der Wiedergeburten. Das gibt allen die Gelegenheit, durch einen langen Zyklus von Erfahrungen auf sämtlichen Ebenen Kenntnisse aus erster Hand zu erwerben, von den geistigsten bis hinunter zu den materiellsten.
Das Unsichtbare manifestiert sich in der Dualität von Geist und Materie in aufeinanderfolgenden Zyklen von Aktivität und Ruhe – über kosmische, solare oder der Erde entsprechende Zeiträume, bis hin zu den uns vertrauten Perioden von Schlafen und Wachen. Ein Beispiel des universalen zyklischen Wirkens ist die Evolution der menschlichen Seele durch wiederholte Inkarnationen in einem menschlichen Körper auf der Erde, die von Perioden der Ruhe in einem geistigen Zustand abgelöst werden.
Im Osten wird dieser Prozeß richtigerweise als der Große Atem bezeichnet. In den Zeiten des Ausatmens erwachen die Götter; Hierarchien ungezählter Abstufungen geistiger und anderer Wesen werden aktiv. Beim Einatmen vollzieht sich der Prozeß in entgegengesetzter Richtung: das geoffenbarte Weltall kehrt, bereichert an Erfahrung, zum ‘Vater’ zurück.
Der Mensch auf der Erde ist ein Lebensatom des Göttlichen, das in die stoffliche Welt hinabstieg, um Erfahrungen zu sammeln und als ein Pilger den Weg zur Quelle zurück zu suchen. In einem bestimmten Stadium seiner Entwicklung vollzieht sich ein innerliches Erwachen, und dann ist der Pilger in der Lage, bewußt den Pfad zu betreten, der zu dem Gott im Inneren führt. Der einzige Weg, diesen Pfad zu finden ist, das Persönliche zu überwinden und nach den Eingebungen des inneren Gottes zu handeln, das heißt, ein von Selbstsucht freies Leben des Mitleids und der Bruderschaft zu führen. Diese Botschaft der Liebe wurde in allen Jahrhunderten durch die der Menschheit Vorangegangenen verkündet. In Johannes 13,34 sagt Jesus: ‘Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander lieb habt.’
In seinem Buch Fragen, die wir alle stellen drückte G. de Purucker dies folgendermaßen aus:
Liebe ist das Bindemittel im Weltall; sie hält alle Dinge an ihrem Platz und unter ihrer ewigen Obhut; ihre wirkliche Natur ist himmlischer Friede, ihr Kennzeichen ist kosmische Harmonie, die alles durchdringt, die grenzenlos, unvergänglich, nicht endend, ewig ist … Liebe ist eine beschützende Kraft; Liebe ist mächtig, sie durchdringt alles; und je unpersönlicher sie ist, desto höher und mächtiger ist sie. Sie kennt keine Grenzen in Raum und Zeit, denn sie ist das fundamentale Wirken der Natur, das Grundgesetz der Natur, und sie ist das universale Band der Einheit zwischen allen Dingen.
– Levensfragen [Lebensfragen] (niederl. Ausgabe), S. 113/114
Diejenigen, welche den Pfad des Mitleids gegangen sind, die sich von jeder Spur persönlicher Selbstsucht gereinigt haben und lebende Verkörperungen der Liebe und Weisheit geworden sind, sind die Meister der Weisheit, des Mitleids und des Friedens, auch Mahatmas genannt. Sie haben die Wahrheit der fundamentalsten Lehre der Weisheits-Religion, die Einheit des Menschen mit dem Weltall, zur lebenden Wirklichkeit gemacht. Sie haben das Göttliche, den inneren Gott in sich selbst gefunden. Sie waren und sind die wirklichen Inspiratoren der Theosophischen Bewegung, ebenso wie von anderen wahren geistigen Bewegungen auf der Erde.