Die dritte Wurzelrasse – (Fortsetzung)

Wir kommen zurück auf die verschiedenen Entwicklungsstufen der menschlichen Rasse, wie sie in der auf Seite 38 abgedruckten Strophe VII der Geheimlehre erwähnt werden. Die Gruppe, die nur einen ‘Funken’ empfing, bildet unsere gegenwärtige Durchschnittsmenschheit. Diejenigen, die nicht bereit waren, deren Evolution nicht bis zu dem notwendigen Punkt fortgeschritten war, blieben verstandeslos. In der langen Übergangsperiode, als sich im Menschen- und Tierreich die Trennung der Geschlechter vollzog und die Trennungslinie zwischen den beiden Reichen noch nicht so scharf war, vermischten sich die verstandeslosen Menschen mit den Tieren. Aus dieser Verbindung gingen die Urahnen der verschiedenen Affenarten hervor. Sie werden als grässliche, behaarte Ungeheuer beschrieben – „eine Rasse, die stumm blieb, um die Schande nicht zu verkünden“. Sie stellen die zuvor erwähnten Ausnahmen dar und sind dazu bestimmt, in einer Zeit nach dem kritischen Mittelpunkt dieser vierten Runde in die menschliche Familie aufgenommen zu werden. Da sie teilweise menschlicher Natur sind, ist es möglich, dass einige von ihnen in der siebten Wurzelrasse auf diesem Globus D vollständig menschlich werden, aber die meisten müssen auf die fünfte Runde warten.

In einem Teil der menschlichen Familie inkarnierten die Mānasaputras vollständig, und sie wurden die Führer und Lehrer der Menschheit in der dritten Wurzelrasse. Worte können die Veränderung kaum angemessen beschreiben, die im Leben der Menschen nach diesem Ereignis stattfand. Die träge, halbbewusste und sich in einer Art Traumzustand befindende Welt erwachte und begann, sich selbst kennenzulernen. Der schlafende Same des Denkens wurde von einer mächtigen Kraft wachgerüttelt. Der Funke traf das, womit er verwandt war – und siehe, das Tier wurde zum Menschen!

Diese Rasse von Arhats (die im obigen Absatz erwähnten Führer der Menschheit) pflanzten sich nicht durch Vereinigung der Geschlechter fort – wie diejenigen, die nur einen Funken empfangen hatten –, sondern durch die Kraft des Willens. Es wird gesagt, dass diese Fähigkeit in uns allen latent vorhanden ist, dass allerdings bis zu ihrer Entwicklung in der Menschheit noch viele Zeitalter vergehen werden. Die Nachkommen dieser Rasse sind bekannt als die ‘Söhne von Wille und Yoga’. Sie leben noch immer und wachen über die Menschheit; sie fördern und behüten die künftigen menschlichen Adepten auf Erden. Man nennt sie auch die ‘unsterbliche Rasse’. Es wird gesagt, sie könnten ebenso gut im Wasser, in der Luft oder im Feuer leben, weil sie die Naturkräfte vollkommen kontrollieren. Sie waren eine heilige Rasse von göttlicher Kraft und Schönheit. Sie wurden zu Lehrern der heranwachsenden Menschheit und inspirierten sie; sie sind die wahren spirituellen Eltern der Menschheit. Sie waren es, welche die frühen Rassen, während sie heranwuchsen, in der alten Weisheitsreligion unterrichteten. Diese Weisheitsreligion wurde schon immer in zyklischen Perioden der Menschheit gebracht und ist heute unter dem Namen Theosophie bekannt.

Dieser unsterblichen Rasse wurde auch das Zeichen und der Beweis ihres göttlichen Ursprungs und ihrer göttlichen Abstammung eingepflanzt – das dritte Auge. Mit seiner Sehkraft ist das Leben ein offenes Buch. Die bedeutende Vergangenheit, die ruhmreiche Zukunft, sie waren wie das ewige Jetzt. Jene Tage waren das Goldene Zeitalter, in dem die Götter – die spirituellen Väter der Menschheit – unter ihren Kindern wohnten. Anfangs kannten diese das Gefühl des Getrenntseins nicht und fühlten sich in Harmonie mit allem, was existierte. Liebe, Ehrfurcht und Freude erfüllte ihre Herzen. Streit hatte in das menschliche Leben noch nicht Einzug gehalten, aber so konnte es nicht bleiben. Auf diese Weise werden keine Götter geboren. Dieser Himmel auf Erden muss mit Gewalt genommen werden, um ein bleibender Besitz sein zu können. Durch eine lange und mühevolle Pilgerfahrt muss der Mensch den verlorenen Zustand der Reinheit und des Glücks zurückgewinnen, der spirituelle Kraft, ein reiches und vollkommenes Verständnis des Lebens in all seiner Vielfalt und grenzenloses Mitleid für alle Lebewesen mit sich bringt.

Langsam kamen Wolken auf und die Sonne des Lebens verdunkelte sich. Als diese Kinder der Unschuld und Freude begannen, ihre Kraft zu spüren, als ihr latenter Verstand von den Wesen über ihnen erweckt worden war, wuchs das Animalische in ihnen schnell heran. Der Krieg nahm seinen Anfang. Das dritte Auge wurde schwach; und im Laufe der Zeit wurde der Mensch, der erst einäugig und später dreiäugig war, ein Wesen mit zwei physischen Augen. Das dritte Auge zog sich in das Gehirn zurück. Davon zeugt heute die Zirbeldrüse. Bei den ‘Großen’ ist dieses Auge tätig, wenngleich auch unsichtbar. Und in ferner Zukunft wird es bei der Menschheit in ihrer Gesamtheit wieder aktiv werden. Legenden aller Rassen, die das ‘Gedächtnis’ der Vergangenheit bilden, erwähnen die Geschichte des dritten Auges auf verschiedene Art. Die drei ‘Einäugigen’ Zyklopen, von denen Hesiod berichtet, symbolisieren die letzten drei Unterrassen der dritten Rasse oder Lemurier. In Mythen begegnen wir ab und zu Gestalten, deren Vision keine Grenzen kannte.

Die Götter zogen sich zurück, und das Goldene Zeitalter verging. Es gab keinen ewigen Frühling mehr. Das Klima wurde kalt. Tiere, die den Menschen wohlgesinnt waren, wurden gefährlich. Allmählich gaben Schmerz und Leiden dem Gedankenstrom der Menschen eine andere Wendung, und ihren Herzen entrang sich eine flehentliche Bitte um Hilfe. Ihre spirituellen Eltern antworteten darauf. Göttliche Dynastien wurden gegründet, worauf eine ruhmreiche Zivilisation folgte.

Der Kontinent der dritten Rasse, bekannt als Lemurien, liegt heute unter dem Stillen Ozean, dessen Inseln, die sich wie Punkte auf der Oberfläche ausnehmen, einst die Gipfel der Berge dieses alten Landes waren. Es erstreckte sich von den beiden Amerikas bis an die Küsten des heutigen Asiens und darüber hinaus. Die ersten Städte waren aus Steinen und Lava gebaut. Bevor sich jedoch der Lebenszyklus dieser Rasse seinem Ende zuneigte, erhoben sich riesige Städte. Unter der Führung ihrer göttlichen Herrscher blühten Künste und Wissenschaften. Astronomie, Architektur und Mathematik wurden bis zur Perfektion erlernt. Die Zivilisation, die mit der dritten Wurzelrasse begann, war so glorreich, reich und glänzend, dass im Vergleich dazu die griechische, römische und sogar die ägyptische Zivilisation völlig unbedeutend sind. Verglichen mit der langen Zeit, die bis zur Entstehung dieser Zivilisation verstrichen war, schien es, als sei sie schnell und sogar plötzlich erschienen. Aber sie entwickelte sich nur allmählich und überdauerte viele Jahrtausende bis in die vierte Wurzelrasse hinein. Unterschiede gab es selbstverständlich damals genauso wie heute. Primitive und Genies kennzeichneten die beiden Extreme.

Vor dem Ende dieser Wurzelrasse hatte die Mehrheit der Menschen ihre spirituelle Reinheit verloren und sie versündigten sich auf diese oder jene Weise. Trotzdem gab es immer Menschen, die dem inneren Licht folgten und auf diese Weise die Grundlage für die Zukunft formten. Wenn die Rassen am Ende ihres Zyklus angelangt sind, werden sie abwechselnd durch Feuer oder Wasser zerstört. Nicht plötzlich, ausgenommen lokal, sondern langsam und über Zeiträume von hundertausenden von Jahren, während sich gleichzeitig die nachfolgenden Rassen allmählich entwickelten. Die dritte Wurzelrasse fand ihr Ende durch Feuer, das heißt durch die Wirkung unterirdischer Erdbeben und Vulkanausbrüche, denen Überschwemmungen folgten.

Zyklen der Sprache

… So wie Sprachen ihre zyklische Entwicklung haben, ihre Kindheit, Reinheit, ihr Wachstum, ihren Fall in die Materie, ihre Vermischung mit anderen Sprachen, ihre Reife, ihren Verfall und schließlichen Tod, so verfiel die ursprüngliche Sprache der höchstzivilisierten atlantischen Rassen – jene Sprache, welche in alten Sanskritwerken als „Rākshasi-bhāshā“ bezeichnet wird – und starb fast aus. Während die „Auslese“ der vierten Rasse immer mehr dem Höhepunkt physischer und intellektueller Evolution zustrebte und so der entstehenden fünften (arischen) Rasse die flektierenden, hochentwickelten Sprachen als Erbe hinterließ, verfielen die agglutinierenden und blieben als ein bruchstückhaftes fossiles Idiom zurück, das jetzt zerstreut und nahezu auf die eingeborenen Stämme Amerikas beschränkt ist.

The Secret Doctrine, II: 199

… Aber eine Sprache, die zyklisch fortschreitet, ist nicht immer geeigent, spirituelle Gedanken zum Ausdruck zu bringen.

– Ebenda, Fußnote

Das Gehör war der erste der fünf Sinne der Menschheit, die sich entwickeln sollten. Die Sprache war dazu bestimmt, ihre wichtige Rolle in den immer wiederkehrenden ‘Ereignissen’ des sich auf der Erde entfaltenden Lebens zu spielen. Da Sprache gleichrangig mit dem Verstand ist, ähnelten die Laute, welche die ersten Rassen hervorbrachten, bevor das Feuer des Denkens von den Sonnengöttern entzündet wurde, mehr Naturlauten als einer artikulierten Sprache. Die letzten Unterrassen der dritten Rasse, die unter der Leitung ihrer göttlichen Lehrer ganze Städte bauten und Zivilisationen entstehen ließen, benutzten nur eine einsilbige Sprache.

Selbstverständlich hielt die Entwicklung der Stimme als Mittel zum Ausdruck menschlicher Gedanken und Gefühle mit der zyklischen Ausweitung des Bewusstseins Schritt. Während der Mensch seine menschliche Natur mehr und mehr entwickelte, eignete er sich allmählich die Mittel an, die ihn befähigten, seine Sprache zu erweitern. Zur Zeit der späten Vierten Rasse hatten sich die ersten flektierenden Sprachen entwickelt. Diese Sprachen – von der überlappenden frühen fünften Wurzelrasse übernommen – wurden die Wurzel des Sanskrit. Die Devanāgarī-Schrift wurde von den Kabiri erfunden (siehe The Secret Doctrine, II: 364).

H. P. Blavatsky sagt über ihr großes Werk Die Geheimlehre:

Der Versuch, in einer europäischen Sprache das große Panorama des ewig periodischen Gesetzes darzustellen – das dem plastischen Denkvermögen der ersten mit Bewusstsein begabten Rassen von jenen eingeprägt wurde, die es aus dem Universalen Denken reflektierten –, ist ein Wagnis, denn keine menschliche Sprache, ausgenommen Sanskrit – welches die Sprache der Götter ist –, vermag das auch nur annähernd.

The Secret Doctrine, I: 269

Der antike Ursprung des Sanskrit wird in einem Artikel mit dem Titel „War das Schreiben vor Pānini bekannt?“ dargestellt, den man in Five Years of Theosophy finden kann (Ausgabe 1885, S. 419-20). In diesem von einem ‘Chela’ geschriebenen Artikel wird erklärt, dass das klassische Sanskrit nicht von dem berühmten Grammatiker Pānini erschaffen, sondern lediglich von ihm verbessert und möglicherweise vervollkommnet wurde. Diese Sprache hatte bereits seit vielen Zyklen existiert und würde auch weiterhin eine Rolle spielen. Der Autor fährt fort:

Jeder sieht – muss es einfach sehen und wissen –, dass eine Sprache, die so alt und so vollkommen ist wie das Sanskrit, um als einzige unter allen Sprachen zu überleben, Zyklen der Vervollkommnung und Zyklen des Verfalls durchlebt haben muss. Und mit ein wenig Intuition kann man erkennen, dass das, was man eine „tote Sprache“ nennt, als etwas Abnormales, etwas Unnützes, in der Natur nicht überlebt hätte, auch nicht als „tote“ Sprache, wenn sie nicht ihren bestimmten Zweck im Reich der unveränderlichen zyklischen Gesetze hätte. Das der Welt beinahe verloren gegangene Sanskrit breitet sich nur langsam wieder in Europa aus und wird eines Tages wieder dieselbe Verbreitung haben wie vor vielen Jahrtausenden – die einer universalen Sprache. Dasselbe gilt für Griechisch und Latein: Es kommt die Zeit, in der das Griechisch des Aischylos (und in seiner künftigen Form sogar perfekter als heute) in Südeuropa von allen gesprochen werden wird, während Sanskrit in seinem periodischen Pralaya ruhen wird; und die attische Sprache wird später vom Latein des Virgil gefolgt werden.

In Übereinstimmung mit den oben gegebenen Informationen sollte diese heilige Sprache – die aus dem nach innen gekehrten und philosophischen Osten gebracht wurde – erhalten bleiben und gemeinsam mit der Alten Weisheit einen neuen Aufstieg erleben. Als die Theosophische Gesellschaft im Jahr 1875 gegründet wurde, waren die Lehren für den prosaischen Westen so neu, dass man oft keine geeigneten Worte fand. So wurden zur Erklärung von tiefgehenderen oder universaleren Begriffen in der Literatur und in Vorträgen Sanskritworte gebraucht. Das Wort Karma (oder besser Karman, obwohl beide Wörter gebraucht werden) mit der Bedeutung ‘Handlung’, ‘Folge’ oder ‘Ursache und Wirkung’ wurde bald allgemein gebraucht, besonders in Zusammenhang mit dem menschlichen Leben. Dieses eine Wort beinhaltet die Bedeutung des biblischen Satzes: „Was der Mensch sät, das wird er ernten.“ Außerdem wurde der logische Vorgang des Erntens durch die periodische Aufeinanderfolge von Reinkarnationen erklärt, obwohl die Lehre von den Zyklen damals weniger betont wurde als heute, wo sie sowohl in der Wissenschaft als auch in der Philosophie anerkannt wird. Anfangs jedoch stießen die Fremdwörter auf viel Kritik, wie sich aus W.Q. Judges prophetischer Anwort an einen Reporter ersehen lässt:

Das Sanskrit wird einst wieder die Sprache sein, die von den Menschen auf der Erde angewendet wird – zunächst in der Wissenschaft und Metaphysik und später auch im täglichen Leben. Selbst der geistreiche Autor der Sun wird es noch erleben, wie die Ausdrücke, die jetzt in dieser edelsten der Sprachen erhalten sind, in die Literatur und Tagespresse Einzug halten, wie sie in Artikeln aufkreuzen und in verschiedenen Büchern und Vorträgen erscheinen. … So wird diese neue Sprache … eine Sprache sein, die in allem, was eine Sprache ausmacht, wissenschaftlich ist und die von Zeitaltern des Studiums der Metaphysik und wahrer Wissenschaften angereichert wurde.

The Path, I, 58

Das Vertrauen, das William Quan Judge in die Aufnahme von Sanskrit-Begriffen in westliche Sprachen hatte, wurde ganz und gar gerechtfertigt. Sie treten nicht nur in der Presse und der heutigen Literatur auf, sondern an den Universitäten erfreuen sich Sanskrit-Lehrgänge einer wachsenden Popularität. Das bedeutet mehr als bloßes literarisches „Licht aus dem Osten“ zu erhalten. Es zeigt eine wachsende Notwendigkeit für Begriffe, um größeren Idealen und tieferen Gefühlen von Männern und Frauen, die nach Wahrheit und Licht suchen, Worte zu verleihen. Diese Suchenden sind es, die den Kern einer Unterrasse des neuen Zyklus mit seiner Unterströmung natürlicher Mystik bilden und dabei ihr eigenes, schlummmerndes Bewusstsein einer inneren Realität erwecken werden.

Die Wiederbelebung dieser alten Sprache bewirkt eine bessere Beziehung zwischen der denkenden Welt des mystischen, nach innen gewandten Ostens und dem praktischen, intellektuellen Westen. Beide Welten haben einander viel Wertvolles zu schenken und können gegenseitig davon profitieren. H. P. Blavatskys Verständnis für die inneren Schätze der Wahrheit, die im Besitz gelehrter indischer Pandits war, sicherte ihr und ihrer Arbeit die Unterstützung einiger der besten indischen Gelehrten und gebildetsten Bürger. Sie beteiligte sich schon bald an der Gründung von Schulen für indische Jungen und später für Mädchen, an denen Sanskrit unterrichtet wurde – zu jener Zeit etwas völlig Neues. Diese Arbeit, die in den frühen Ausgaben ihres Magazins The Theosophist beschrieben wird, ist typisch für ihre Methoden, einen Kern für eine universale Bruderschaft zu bilden. Anstatt den verschiedenen Völkern eine neue Religion oder eine fremdartige Philosophie zu bringen, richtete sie ihren Appell an jeden einzelnen, um sie alle auf die verborgenen und befreienden Wahrheiten in ihren eigenen Lehren zu verweisen. Die Vibrationen ihres Leitgedankens des internationalen Verständnisses sind seitdem lebendig geblieben und klingen heute stärker und klarer als je zuvor – ein hoffnungsvoller Beginn der Harmonie in einer chaotischen Welt.

Worte sind lebendige Dinge. Eine Sprache spiegelt die Zeit, die Ereignisse und den Charakter des Volkes wider, in dem sie als Mittel zum Austausch von Gedanken und Gefühlen gebraucht wird. Ein fast alltägliches Beispiel liefern neue Worte und Schlagworte, die auf typische Weise entstehen, eine Spiegelung des modernen Lebens mit seiner Unruhe und seinen Spannungen darstellen und nach einiger Zeit ihren Platz im offiziellen Sprachgebrauch einnehmen.

Die Sprache ist einer der wertvollen Schlüssel der Ethnologen. Manche von ihnen, die die Evolution als eine mehr oder weniger durchgehende Bewegung sehen, können nicht verstehen, dass bestimmte barbarische und wilde Stämme auftreten, die – wenn auch unvollkommen – sowohl dem Wortschatz als auch dem Satzbau nach eine komplizierte Sprache sprechen. Würden diese Völker einem affenartigen Urahnen näher stehen als einem Europäer, wäre ihre Sprache dementsprechend primitiv und einfach. Dieser scheinbare Widerspruch erweist sich jedoch als ein Paradoxon, das durch das Gesetz der Zyklen erklärt werden kann. Diese Fälle bilden einen deutlichen Beweis für den spiralförmigen Verlauf der Evolution, dem die großen Runden und Rassen folgen. Diese Völker befinden sich auf der letzten Umdrehung eines Rades von unsagbarem Alter.

Man weiß zum Beispiel, dass australische Ureinwohner „eine komplizierte Grammatik mit drei Geschlechtern gebrauchen“. Einige dort lebende Weiße, die Sympathie und Verständnis für die einheimischen Menschen haben, sind der Auffassung, dass ihre Natur Wesenszüge aufweist, die sie in die Lage versetzt, äußerst dürftigen äußeren Umständen die Stirn zu bieten und zu überleben. Jedem Menschen ist es bestimmt, letztendlich Vollkommenheit zu erreichen. Die Natur arbeitet getreu dem Universalplan, damit wir dieses Ziel selbstbewusst erreichen.

Dr. de Purucker schreibt über die Hinweise, die wir in den Sprachen gewisser Völker auf verlorene Zivilisationen finden, in The Esoteric Tradition (S. 403, Fußnote Nr. 177):

Der springende Punkt ist dabei nicht, dass der Wilde oder Barbar diese Begriffe seiner Sprache versteht, sondern dass er sie nicht versteht, da es Wörter oder Namen aus der Vorgeschichte seiner Sprache sind. Seiner Auffassung nach sind sie entweder völlig unerklärlich oder es handelt sich um Wörter, die bei mystischen Stammes-Zeremonien gebraucht wurden, oder bei Stammes-Einweihungen, oder die in der Mythologie der Stämme zur Bezeichnung ihrer Gottheiten oder der Kräfte, Werkzeuge oder Instrumente der Götter benutzt wurden. Die Wörter wurden überliefert, aber ihre wirkliche Bedeutung geriet völlig in Vergessenheit.

Man darf aber nicht übersehen, dass solche linguistischen Fossilien außergewöhnlich selten vorkommen, soweit es sich um Dinge oder Ereignisse rein physischen oder materiellen Charakters handelt. Sehr zahlreich sind aber jene Fossilien, die mehr von abstrakten Dingen handeln, von solchen, die der Philosophie, der Religion, der Mystik und dergleichen angehören. Der Grund dafür ist, dass Wörter, die physische Dinge betreffen, eher und wahrscheinlicher aussterben und zwar mit dem Verschwinden der Dinge selbst, wenn diese nicht mehr in Gebrauch sind; dagegen bleiben Wörter der Religion oder Mystik erhalten.

Diese unglücklichen Mitmenschen liefern unbewusst den Beweis, dass etwas anderes als das menschliche Gehirn sich tatsächlich an die vergangenen Leben erinnert. Keiner kann seinen Prozess des ‘Werdegangs des Selbst’ in der astralen Schrift auf dem Bildschirm der Zeit ausradieren. Ebenso wenig kann ein Mensch ‘rückgängig’ machen, was er aus sich gemacht hat. Nur eine primitive oder verarmte Phantasie kann sich keine Vorstellung von der Allgegenwärtigkeit einer mystischen Realität machen. Die kulturellen Echos im Leben dieser Völker datieren sowohl aus der Zeit ihrer früheren Erfahrungen in Zyklen, in denen die Weisheit zunahm, als auch aus Perioden, in denen man sich der üblen Magie hingab.

Der Tod und die Monade

Der Gedanke an den Tod der von uns geliebten Menschen und die Aussicht auf unseren eigenen ist jedem von uns so vertraut, dass wir leicht die weitreichenderen und wirklich tiefen Erfahrungen übersehen, die der Tod für einen spirituellen Menschen birgt. Aber die Theosophie, die eine Erklärung der Tatsachen der Existenz darstellt, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf diese erweiterte Sichtweise; denn das, was wir den Tod nennen, und die Lebenszustände, die ihm folgen, sind für die Evolution des Individuums und der Rasse von äußerster Wichtigkeit.

Die Theosophie behauptet, dass die Probleme des Lebens erst gelöst werden können, wenn unsere Forscher erkennen, dass das Geheimnis allen Lebens vielmehr in der unsichtbaren als in der physischen Welt liegt. Die Wissenschaftler selbst beginnen das zu vermuten. Einer von ihnen, Professor J. Y. Simpson, ehemaliger Professor für Physik in Edinburgh, machte diese bedeutsame Bemerkung:

Mit physikalisch-chemischen Instrumenten und Methoden ist es schwer vorstellbar, irgendetwas anderes als physikalisch-chemische Ergebnisse zu messen; und wenn sie für die Untersuchung des Lebens angewendet werden, stellt eine solche Praxis naturgemäß keinen Beweis dafür dar, dass es in den Charakteristika des Lebens nichts gibt, was über ein physikalisch-chemisches Ereignis hinausgeht. Dass das Denken – welches jegliches Experimentieren ersinnt – selbst das Nebenprodukt analoger physikalisch-chemischer Ereignisse sein kann, scheint darüberhinaus eine Annahme zu sein, welche für die Voraussetzungen schwer haltbar ist.

The Listener, 8. März 1933

Wir wollen diesen wichtigen negativen Standpunkt durch die positive Sichtweise in Dr. de Puruckers Worten ergänzend zum Ausdruck bringen.

Um das äußere Universum zu kennen, muss man den Erkenner im eigenen Inneren in rege Tätigkeit versetzt haben. … Um das Universum zu verstehen, muss man das Verständnis des Herzens haben, die Fähigkeit des Verstehens. Können Sie die Idee erfassen? Während also beispielsweise die Wissenschaftler großartige Arbeit leisten, … versagen sie doch in dem Punkt, dass sie selbst nicht Erkennende sind, dass sie nicht ursprünglich verstehen, was sie entdecken. Wir müssen unser eigenes Inneres kultivieren.

The Theosophical Forum, April 1933, S. 230

Das Geheimnis der Evolution ist daher in der inneren Natur des Menschen zu suchen und in den unsichtbaren Welten, von denen unser sichtbares Universum nur der physische Beweis ist, so wie der Körper des Menschen der sichtbare Ausdruck seines unsichtbaren, jedoch ursächlichen Selbst ist – seiner Monade.

Wir wollen uns hier ins Gedächtnis rufen, was wir unter der Monade verstehen, worüber wir bereits in Kapitel III gesprochen haben. Eine Monade ist eine Einheit von Bewusstsein, eine unzerstörbare Einheit von Individualität. Im Herzen eines jeden Wesens existiert eine Monade – vom Atom bis zur Sonne. In einem Atom ist die Monade weit weniger evolviert als im Menschen, der begonnen hat, vollkommen selbstbewusst zu werden. Die Monade im Herzen einer Sonne ist bis zum Zustand des Göttlichen evolviert. Im Menschen können wir sein spirituelles Selbst als die Monade betrachten.

Evolution wird grundsätzlich durch Monaden zustande gebracht. Die Monaden, die heute das Menschenreich bilden, begannen ihre Evolution in längst vergangenen Zeitaltern, indem jede für sich ein Vehikel in jeder der niederen Ebenen und Reiche aufbaute – zunächst im Mineral- und Pflanzenreich, später evolvierte die Monade eine animalische Natur mit einem physischen Körper. Schließlich entfaltete sie aus ihrem Inneren eine Kraft, die wir das egoische Bewusstsein oder das selbstbewusste Ego nennen. Die unterhalb des Menschen stehenden Naturreiche bestehen aus Monaden, die noch kein Selbstbewusstsein entwickelt haben. Im Großen und Ganzen können wir sagen, dass der Mensch nun eine Monade oder ein spirituelles Selbst (Ātman-Buddhi) ist, das sich mittels eines selbstbewussten, reinkarnierenden Egos (Manas, dual, höheres und niederes) zum Ausdruck bringt; diese Egos ihrerseits wirken durch eine niedere Triade: Kāma, einen Modellkörper und einen physischen Körper, wobei Prāṇa für beide als Lebensatem dient (siehe das Diagramm auf Seite 25).

Der gesamte Zweck dieser evolutionären Reise durch alle Reiche ist zweifach: Erstens wird die Monade befähigt, die Früchte des Selbstbewusstseins auf den Ebenen zu ernten, die unterhalb ihrer eigenen spirituellen Ebene stehen; zweitens wird die Evolution der Lebensatome – jedes Atom mit seiner eigenen, beseelenden Monade – unterstützt, und sie formen die verschiedenen Vehikel auf den unterschiedlichen Ebenen der Evolution – materiell, emotional, intellektuell und spirituell. Um den Tod, das erhabenste aller Mysterien, begreifen zu können, müssen wir etwas über diesen Evolutionsprozess und seinen Zweck wissen.

Der Mensch hat im Kern seines Wesens einen Gott im Inneren, der er nicht selbst ist, sondern seine Wurzel und sein spiritueller Ursprung – die Monade, aus der er unbewusst seine spirituelle Vitalität schöpft. Dieses göttliche Wesen in uns ist unser Anreger, Beschützer und Leitstern, die Stimme des Mitleids und des Gewissens in unserem menschlichen Herzen. Sein heiliges Licht erweckt in uns alle Ideale und wahren Bestrebungen. Ohne diese uns umgebende und alles durchdringende Anwesenheit würden wir schnell wie hilflose menschliche Nachtfalter in der heißen Flamme materieller Trugbilder verbrennen.

Die Monade ist also ein Teil von uns oder, besser gesagt, wir sind ein Teil von ihr; und dennoch sind wir nicht die Monade. Wir können nicht getrennt von ihr existieren, weil sie unser Bindeglied oder unser Verbindungskanal mit dem universalen kosmischen Leben ist.

Nun ist die Monade selbst ein Individuum auf ihrer eigenen (für uns) unsichtbaren Daseinsebene. Manchmal, wenn wir vielleicht kurz über die Beschränkungen unseres täglichen Selbst durch eine Tat der selbstlosen Liebe, das Bemühen um besondere Selbstdisziplin oder durch starke Sehnsucht nach dem Göttlichen in uns hinauswachsen – in solch einem Augenblick ergreift manchmal eine Schwingung der Freiheit, der Einsicht, des reinen Glücks oder Friedens von uns Besitz. Eine Zeitlang atmen wir den Äther einer reineren Welt, und alle Dinge erscheinen uns auf einmal möglich. Das ist das Licht des Gottes, der Monade in uns. Dieser Gedanke oder diese Tat wirkt wie ein Klopfen an die verschlossene Tür ihres Reiches der spirituellen Erleuchtung, die Tür öffnet sich kurz, um einen Strahl des Lichts in das nach oben strebende Herz zu werfen.

So hat der Gott in uns seine eigene spirituelle Welt. Er lebt auch dort und macht seine Erfahrungen, wächst und erhellt gleichzeitig das reinkarnierende Ego auf seiner Reise durch die Schatten des Erdenlebens. Sein eigenes Reich liegt in der ursächlichen göttlichen Welt, von der diese physische Sphäre das äußere Kleid oder Vehikel ist.

Es hat wenig Zweck zu fragen: „Wo befindet sich diese innere, unsichtbare Welt?“ Man könnte genauso gut das unsichtbare Selbst eines Freundes fragen: „Wo bist du?“, den mental-spirituellen Menschen damit meinend, welcher der wahre Herzensfreund ist. Denn die spirituelle, innere Welt existiert auf einer anderen Ebene, in einem anderen Zustand der Materie, sie hat eine andere Schwingung als die Welt, die wir um uns wahrnehmen.

Wir müssen daran denken, dass der Mensch ein zusammengesetztes Wesen ist: Körper, Ego, spirituelles Selbst. Jedes dieser drei muss – wie wir gesehen haben – für ein genaueres Studium wiederum unterteilt werden, wodurch wir zu sieben Prinzipien oder Elementen gelangen. Dasselbe trifft auch auf die Planetenwelt zu, in der wir evolvieren. Eine Planetenkette besteht aus sieben Globen, und unsere Erde ist der physische und niederste Globus, der einzige, den wir sehen können, und das trifft analog auf den physischen Körper des Menschen zu.1

Jeder Planet im Raum ist ebenso siebenfältig – er wird von sechs anderen, für uns jedoch unsichtbaren Globen begleitet. Hätten wir also ein für die innere Wahrnehmung geeignetes Organ, könnten wir in der Nacht bis tief hinein in den Sternenhimmel blicken, um im kosmischen Raum eine unzählige Schar ätherischerer Welten zu sehen. Diese inneren, ätherischeren Welten sind die ursächlichen Wurzeln des physischen Universums, so wie beim Menschen das spirituelle Selbst die Wurzel seiner sichtbaren Erscheinung ist.

H. P. Blavatsky sagt uns Folgendes über diese Welten:

… Der Okkultist definiert diese Sphären weder außerhalb noch innerhalb der Erde, wie es die Theologen und die Dicher tun; denn ihre Lage ist nirgends in dem den Profanen bekannten und von ihnen verstandenen Raum. Sie sind gewissermaßen mit unserer Welt vermischt – sie durchdringen dieselbe und sind von ihr durchdrungen. Es gibt Millionen und Abermillionen für uns sichtbare Welten; eine noch größere Anzahl existiert außerhalb der für das Fernrohr sichtbaren; und viele von der letzteren Art gehören nicht unserer objektiven Daseinssphäre an. Obwohl so unsichtbar, als ob sie Millionen von Kilometern jenseits unseres Sonnensystems wären, sind sie doch bei uns, uns nahe, innerhalb unserer Welt, ebenso objektiv und materiell für ihre betreffenden Bewohner, wie die unserige für uns. … Sie unterstehen gänzlich ihren eigenen Gesetzen und Bedingungen und keine hat eine unmittelbare Beziehung zu unserer Sphäre. …

Nichtsdestoweniger existieren solche unsichtbaren Welten. Ebenso dicht bewohnt wie unsere eigene, sind sie im scheinbar leeren Raum in unermesslicher Anzahl verstreut; einige sind viel materieller als unsere eigene Welt, andere stufenweise etherischer, bis sie formlos werden und wie ‘Atem’ sind. Die Tatsache, dass unser Auge sie nicht sieht, ist kein Grund dafür, nicht an sie zu glauben. …

Wenn wir uns aber eine Welt vorstellen, aus einem Stoff bestehend, der für unsere Sinne feiner als der Schweif eines Kometen ist und dessen Einwohner im Verhältnis zu ihrer Kugel ebenso etherisch sind, wie wir im Verhältnis zu unserer felsigen, hartkrustigen Erde – dann ist es nicht verwunderlich, dass wir sie nicht wahrnehmen und dass wir ihre Gegenwart oder auch nur Existenz nicht fühlen. …

– Secret Doctrine, I:605-607

In den höheren und innersten Regionen dieser unsichtbaren Welten weilt die Monade, das spirituelle Selbst des Menschen. Und dennoch bedeutet das nicht, dass die Monade nicht bei uns ist. Auch von den wahren Egos unserer Freunde können wir nicht sagen, sie seien nicht bei uns, obwohl wir nur ihren physischen Körper sehen. Wie bereits vorher gesagt, müssen wir lernen, Lebewesen mehr im Sinn von Bewusstsein zu betrachten. Das spirituelle Selbst des Menschen ist ein Wesen reinen Bewusstseins, verkörpert in seinem buddhischen Vehikel; das Ego ist ein intellektuelles Bewusstseinszentrum, verkörpert in einem persönlich-animalischen Vehikel; entsprechend ist die niedere Triade aus Elementarbewusstsein zusammengesetzt, verkörpert in einer astral-physischen Form. Und alle diese verschmelzen zu einer Einheit durch ihren gemeinsamen Ursprung in der Monade im Herzen von allen.

Wir sehen also, dass diese verschiedenen Zentren während des irdischen Lebens ein Wesen formen. Wenn es ein sonderbarer Gedanke zu sein scheint, dass der Gott in uns unentwegt auf seiner eigenen Ebene evolviert, können wir es besser verstehen, wenn wir bedenken, dass der Verstand und der Körper sich ebenfalls zur gleichen Zeit auf zwei verschiedenen Ebenen entwickeln, von denen eine für unsere äußeren Sinne unsichtbar ist. Jedes Prinzip oder Element in uns erleuchtet und unterstützt das Prinzip, das unmittelbar unter ihm steht. Wenn das Niedere in seiner Evolution voranschreitet, bietet es den Bewusstseinszentren über ihm größeren Handlungsspielraum – vergleichbar einem Menschen, der seine körperlichen Verlangen besiegt hat und damit von ihnen befreit ist; jemand, der noch nicht so weit ist, ist in einem gewissen Grad deren Sklave. Und das gilt in weit größerem Maße für die Laster des Verstandes und der Emotionen. Wenn wir uns von ihnen befreien, schreitet die gesamte Natur zu einer weiteren und tieferen Art des Handelns fort. Andersherum betrachtet kann niemand einen Gedanken hegen oder etwas tun, das ohne Einfluss bleibt – weder zum Guten noch zum Bösen – auf die unzähligen niederen Lebensformen seines eigenen Organismus, welcher ganz und gar von seinem Bewusstsein durchdrungen ist. Der Einfluss menschlicher Laster auf die Gesundheit ist ein Beispiel dafür. Und um den Gedanken zu vervollständigen: Unsere täglichen Gedanken und Handlungen unterstützen oder behindern die spirituelle Evolution unserer höheren Prinzipien, die mit ihrer größeren Reichweite des Bewusstseins unser gewöhnliches menschliches Selbst ganz durchdringen und inspirieren. So gibt es eine evolutionäre Wechselbeziehung zwischen allen Existenzebenen.

Der Tod ist der große Freund, der das spirituelle Selbst des Menschen von seinem materiellen Gewand erlöst und für die ermüdete menschliche Seele das herrliche Tor zu spiritueller Selbsterfüllung und zu Frieden öffnet.

Fußnoten

1. Eine vollständigere Erklärung befindet sich in Band 8 Runden und Rassen dieser Reihe. [back]

Ist der Mensch die Krone der Evolution?

Es gibt keinen Hinweis in der Evolutionstheorie, dass der Mensch das Endprodukt der Evolution ist; vielleicht ist er die jüngste, aber nicht notwendigerweise die letzte Entwicklung. Wenn wir annehmen, der Mensch habe sich aus niedrigeren Arten durch einen bestimmten Prozess oder durch eine unbekannte Ursache entwickelt, dann können wir daraus mit Recht schließen, dass auf diese Weise ebenso Wesen hervorgebracht werden können, die weiter evolviert sind als der Mensch. Und wenn wir davon ausgehen, dass die menschliche Intelligenz sich aus einem sehr rudimentären Anfang entwickelt hat – welche Grenze können wir dann für die Möglichkeiten der Zukunft ziehen? Welche Höhe kann der menschliche Intellekt nicht erreichen? Wer kann wissen, welche glänzenden Fähigkeiten ein künftiges Wesen, das sich dann aus uns entwickelt haben wird, einmal haben wird? Wenn solche Spekulationen manchen Menschen als Unsinn erscheinen, kann man uns das nicht vorwerfen. Wir versuchen lediglich, die logischen Folgen der uns vorgebrachten Argumente zu zeigen. Wenn die gesamte existierende und beseelte Schöpfung aus einem kleinen Körnchen geleeartiger Substanz in einem Urmeer hervorgekommen ist, sehen wir keinen einzigen Grund, weshalb mit dem Fortschreiten der Zeit nicht noch viel mehr zum Vorschein kommen könnte.

Es ist tatsächlich wahr, dass sich das spirituelle Wesen – das sich jetzt in einem Vehikel, welches wir als den gewöhnlichen Menschen kennen, manifestiert – höhere Evolutionsstadien aneignet. Bei solchen höheren Stadien denken wir an Bezeichnungen wie Adepten, Meister der Weisheit, Eingeweihte, Götter, Planetengeister …; unsere Sprache ist darauf nicht eingestellt, deshalb klingen diese Wörter vielleicht vage.

Wenn wir unser eigenes Bewusstsein studieren, erkennen wir, dass in uns noch viel mehr vorhanden ist, als bisher entwickelt wurde. Es gibt keinen Grund, um den in dieser Richtung erreichbaren Möglichkeiten Grenzen zu setzen. Wie im Leben eines Kindes der Moment kommt, da sein Selbstbewusstsein – das Gefühl, ein Einzelwesen zu sein und die Fähigkeit, über die eigene Existenz nachzudenken –, zum ersten Mal zu dämmern beginnt, so erwartet uns vielleicht ein neues Erwachen zu einer noch vollständigeren Selbstwerdung. Wir werden dann durch die Tore der Einweihung gegangen sein und das ‘Himmelreich’ betreten haben. Die Kräfte in unserer Natur, denen wir jetzt noch unterworfen sind, werden uns nicht länger beherrschen. Und wenn wir dann Meister in unserem eigenen Haus geworden sind, werden wir über Kräfte außerhalb unseres Selbstes verfügen – in einer Weise, zu der wir jetzt nicht imstande sind. Wir werden dann im Besitz von dem sein, was wir ‘okkulte Kräfte’ nennen. Dies ist ein Schritt in einer höheren Evolution. Unsere bewusste Wahrnehmung wird dann nicht mehr von den Grenzen der materiellen Sinne begrenzt sein. Unsere Gedanken werden sich nicht mehr um das Selbst drehen, denn der Irrglaube des Sonderseins wird überwunden sein. Vielleicht wird ein materieller Körper für uns nicht länger erforderlich sein; und wir werden als Vehikel einen Körper benützen, der aus Materie in einem höheren Zustand gebildet wird.

Es ist jedoch wichtig zu bedenken, dass diese höhere Evolution nicht in der Zukunft stattfindet – davon ausgenommen sind jene Wesen, die dieses höhere Evolutionsstadium noch nicht erreicht haben. Denn die Evolution hat bereits in vergangenen Zyklen Wesen zu diesen höheren Stadien geführt. Und diese Wesen können wir mit Recht als unsere älteren Brüder bezeichnen. Es ist auch nicht richtig anzunehmen, es habe eine Zeit gegeben, in der nur niedere Tierarten existierten – gefolgt von einer Periode, in der die höheren Tiere auftraten; und noch später sei zum ersten Mal der Mensch erschienen. In der großen Evolutionsperiode, in der wir uns jetzt befinden und die wir im vorigen Kapitel als die vierte Globenrunde bezeichneten, haben die erwähnten Arten von Wesen gleichzeitig existiert – jede in ihrem eigenen Evolutionsstadium.

Karma und Strafe

Nicht Zorn, noch Gnade kennt’s; es mißt sein Maß
Untrüglich, fehlerlos ist seine Waag’;
Zeit gilt ihm nichts: es richtet morgen wohl,
Vielleicht nach manchem Tag.

– EDWIN ARNOLD, Die Leuchte Asiens

Der Sinn für Gerechtigkeit ist im menschlichen Denken tief verwurzelt, denn sein Denkvermögen ist ein Teil des Kosmos, dessen Aktionen und Reaktionen alle auf Gerechtigkeit gründen. Es gibt nichts, was ein Kind mehr empört oder einen Erwachsenen mehr verbittert als das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Ein Mensch akzeptiert ein Unglück zumindest dann ohne Bitterkeit, wenn er weiß, daß er es verdient hat. Im Hinblick auf die herrschende Lebensauffassung, die allgemein herrschende Selbstsucht und den Grundsatz ‘jeder für sich allein’, schenkt man in der westlichen Welt dem Vertrauen in die Gerechtigkeit der Dinge wenig Beachtung. Wie könnte dies auch möglich sein, nach Jahrhunderten der falschen Lehre und der Gefühle der Rache, von denen nur wenige frei blieben? Nur eine wirkliche Lebensphilosophie kann den Menschen veranlassen, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Es muß eine erhabenere Sichtweise des Lebens geben, als es die Vorstellung von einem einzigen Leben bietet. Häufig sieht man, daß das Gute bestraft und das Schlechte belohnt wird. Solange man nicht erkennt, wie dies mit Gerechtigkeit in Einklang zu bringen ist, wird es nicht möglich sein, das Herz von Bitterkeit zu befreien, Mißtrauen in Vertrauen zu wandeln und den trügerischen Schein zu besiegen, durch welchen man in jedem anderen Menschen einen Feind sieht. Da die Theosophie Ordnung im menschlichen Denken schaffen kann und damit die Ordnung und die Harmonie enthüllt, die die Natur immer anstrebt, kann sie uns vor uns selbst beschützen.

Gerechtigkeit fordert keine Bestrafung und schon gar nicht durch unsere Hand. Karma wird dafür Sorge tragen und zwar effizienter als wir es tun könnten, indem es jedem genau das bringt, was er verdient. Warum sollte man dem noch etwas hinzufügen? Unsere einzige Sorge muß sich darauf beschränken, die Menschen zu lehren, dem, was sie verdienen, tapfer ins Auge zu sehen. Was könnten wir erreichen, wenn unsere Gefängnisse sich mehr auf Erziehung als auf eine Bestrafung richteten? Zum Glück setzt sich diese Erkenntnis allmählich durch, und wir sind uns in zunehmendem Maße bewußt, daß eine ‘Strafe’ keine Besserung zustande bringt. Eine der schlimmsten Formen der Pflichtverletzung gegenüber unseren Mitmenschen ist die leider noch in einigen Ländern angewandte Todesstrafe. Für jene, welche die Verantwortung dafür tragen, muß ein solcher der Natur entgegenarbeitender Eingriff ein schweres Karma zur Folge haben. Selbstverständlich muß die Gesellschaft vor Verbrechern geschützt werden, aber in einer solchen Weise, daß diese sich bessern und nicht noch schlechter werden.

Die Theosophie zeigt genau auf, welche Folgen es hat, jemandem das Leben zu nehmen, eine Widrigkeit gegen die Ordnung, die in gewissem Sinne noch schlimmer ist, wenn der Staat der Mörder ist, weil dann so viele Menschen an der Tat beteiligt sind. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, kann man sagen, daß jene, die auf gewaltsame Weise des Lebens beraubt werden, nicht wirklich sterben, d. h. die Erdatmosphäre nicht verlassen, sondern auf der astralen Ebene verweilen und hier in gewisser Weise freier als hinter den Gefängnisgittern sind, bis ihre natürliche Lebenszeit abgelaufen ist. Hier können sie schwache Naturen zu Verbrechen anspornen und ihre Gefühle des Hasses der Gesellschaft gegenüber, die sie so schlecht behandelte, in die Gedanken lebender Menschen übertragen. Bedenken Sie einmal das schreckliche Karma aller Beteiligten und vergleichen es mit dem Ergebnis eines überlegten und aufrichtigen Versuchs, den Übeltätern aus ihrer mißlichen Lage zu helfen. Es steht fest, daß durch falsche Methoden Verbrecher erschaffen werden können.

Widerstehe dem Übel nicht und vergelte Böses mit Gutem ist eine buddhistische Vorschrift, die ursprünglich im Hinblick auf das unerschütterliche karmische Gesetz gepredigt wurde. Auf jeden Fall ist es eine verwegene Entweihung, wenn der Mensch das Gesetz in seine eigene Hand nimmt. Menschliche Gesetze dürfen einschränkende Maßnahmen ergreifen, aber keine Strafmaßnahmen anwenden; ein Mensch aber, der an Karma glaubt und sich dennoch rächt und weigert, jedes Unrecht zu verzeihen und Böses mit Gutem zu vergelten, ist ein Übeltäter und schadet nur sich selbst. Da Karma den Menschen, der ihm Unrecht tat, sicher bestrafen wird, wird jener, der versucht, anstelle der Bestrafung durch das große Gesetz seinem Feind noch eine zusätzliche Strafe zuzufügen, nur die Grundlage für eine zukünftige Belohnung seines Feindes und eine Bestrafung seiner selbst schaffen.

– H. P. BLAVATSKY, The Key to Theosophy, S. 200

Es gibt noch einen weiteren Aspekt in Bezug auf das komplexe karmische Gesetz. Neben der Mehrheit der Menschen, die unwissend und ungefragt Mißgeschicke erleiden müssen gibt es Menschen, welche diese Mehrheit in der Lebensschule hinter sich gelassen haben. Manchmal nehmen deren Egos ganz bewußt sogenanntes schlechtes Karma auf sich, um sich darin zu üben, Schwächen zu besiegen und Kräfte zu stärken. Oder aber sie übernehmen eine mühevolle und wenig erfreuliche Aufgabe, indem sie freiwillig in Elendsvierteln oder Entwicklungsgebieten leben, ausschließlich um ihren Mitmenschen zu helfen. Zum Glück begegnen wir immer öfter derartigen Beispielen, die Lichtblicke vor dem dunklen Hintergrund unserer Zivilisation sind.

Daß unser Gefühl für Gerechtigkeit bis zu einem gewissen Grade verdunkelt ist, zeigt sich vielleicht auch in dem Glauben an das Gebet zu einem Gott ‘außerhalb von uns selbst’. Das hat nichts mit Streben zu tun oder dem Bemühen, den ‘Gott in uns’ zu erreichen – letzteres sollte immer im Hintergrund, oder besser im Vordergrund unseres Bewußtseins stehen –, sondern mit dem Bitten um persönliche Vorteile. H. P. Blavatsky nennt dies töricht und sinnlos, es sei denn, es ist mit Willenskraft verbunden; wenn dies geschieht, wird es zur schwarzen Magie. Stellen Sie sich zwei Armeen vor, deren Ziel es ist, einander umzubringen, und die beide Gottes Segen für den Sieg erflehen! Ein aufrichtiges Gebet für persönliche Vorteile wirkt schwächend und herabsetzend; wenn es nicht aufrichtig ist, ist es reine Heuchelei. Wieviel gesünder, stimulierender und erhabener ist die Lehre von Karma. Sie appelliert an die angeborene Würde des Menschen und lehrt ihn, daß er der Meister seines eigenen Schicksals ist; daß er ernten wird, was er gesät hat; daß es keinen Zufall im Universum gibt; daß es keine ‘bevorzugten’ Wesen gibt, sondern daß die unbegrenzten Schatzkammern der Natur all jenen offenstehen, welche die Bedingungen erfüllen. Es gibt für uns alle noch eine gütigere Seite der Gerechtigkeit, die wir nicht vergessen sollten. Nach einem Leben des Kampfes, der Übung, vielleicht des Schmerzes und der Enttäuschung, folgt Devachan, ein Ausgleich von Segen und Ruhe, eine Vorbereitung auf den neuen Tag.

Dies ist das Gesetz; es wirkt Gerechtigkeit,
Niemand entgeht ihm, keiner hemmt’s zuletzt;
Sein Urgrund ist die Liebe, und sein Ziel
Fried’ und Vollendung. Ihm gehorchet jetzt!

– EDWIN ARNOLD, Die Leuchte Asiens

Reinkarnation in der Geschichte

Die Tatsache, daß die Reinkarnation zur Zeit von Christi Geburt praktisch überall auf der ganzen Welt gelehrt wurde, überrascht nahezu jedermann in den westlichen Ländern. Das kommt daher, daß wir nicht gelernt haben, diese Lehre geschichtlich mit den Juden oder den alten Griechen und den Römern in Verbindung zu bringen. Noch erstaunlicher ist die Tatsache, daß sie von einigen Kirchenvätern akzeptiert wurde, und im frühen Christentum bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts n. Chr. so weit verbreitet war, daß ein besonderes Kirchenkonzil einberufen werden mußte, um die Lehre schließlich zu unterdrücken. Danach verschwand sie langsam aus dem intellektuellen und religiösen Leben Europas, und obschon hier und da eine Sekte oder einzelne große Denker und Mystiker ihr weiterhin anhingen, wurde sie nicht wirklich ins westliche Denken zurückgerufen, bis sie durch die Lehren der Theosophie wieder in das Denken eingeführt wurde. In unserer Zeit nimmt sie schnell ihren Platz als weltweiter Glaube wieder ein.

Der Reinkarnationsgedanke war für die großen östlichen Religionen immer charakteristisch. Wir müssen nur an die brahmanischen oder buddhistischen Lehren zu denken. In dem Buddhismus wurde die Lehre reiner bewahrt als in einigen anderen Religionen; unter anderem durch eine größere Toleranz. In dem exoterischen Brahmanismus hat die Lehre viel von ihrer Ursprünglichkeit verloren, wie die Irrlehre der Transmigration des menschlichen Egos in die Körper von Tieren bezeugt, worüber schon gesprochen wurde.

Die größten Menschen des Altertums lehrten die Reinkarnation; unter ihnen waren so bedeutende Namen wie Orpheus, Pythagoras, Empedokles, Plato, Apollonius von Tyana, während sie bei den Römern von Ennius und Seneca unterwiesen wurden. Wir finden die Lehre im alten Persien wieder, auch bei den Druiden und im Deutschland des Klassizismus. Sie war ein Eckpfeiler der großen, mystischen Religion des alten Ägypten. In China machte sie einen Teil des Taoismus aus, und durch die Ausbreitung des Buddhismus wurde ihr Einfluß dort vertieft.

Der Leser mag sich vielleicht über die abweichenden Formen wundern, die diese Lehre in den verschiedenen Epochen des menschlichen Denkens angenommen hat. Das folgende Zitat gibt jedoch eine Andeutung, wie die Veränderungen und Unterschiede entstanden.

Im Verlaufe der Zeitalter verlor man zuweilen den großen Hintergrund der essentiellen esoterischen Philosophie mehr oder weniger aus den Augen. Dann wurde die eine oder andere Seite der allgemeinen Lehre, hier Wiederverkörperung genannt, so wichtig, daß faktisch andere ihrer Formen und Aspekte verschwanden: eine Tatsache, die praktisch in jedem einzelnen historischen Fall zu einer Verdunklung oder zum völligen Vergessen der allumfassenden grundlegenden Lehre führte. Dieser historische Verlust der fundamentalen oder allgemeinen Lehre, der gewöhnlich mit der Überbetonung einer Form oder eines Aspektes dieser Lehre einherging, erklärt den Unterschied in der Form der Darstellung und die inhaltlichen Fehler, welche die Lehren über die nachtodlichen Erlebnisse des menschlichen Egos in der verschiedenartigen archaischen Weltliteratur aufzeigen.

– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 593

Wenn wir uns den Zeiten der Völker des Mittelmeerraums nähern, die unmittelbar der christlichen Zeitrechnung vorausgingen, denken wir natürlich zuerst an die Juden, deren religiöse Auffassungen den wahren Geist der christlichen Botschaft so sehr beeinflußt und verändert haben. Im Alten Testament finden wir sehr wenige überzeugende Aussagen über das Fortleben des Menschen nach dem Tode, zumindest nicht in unserer üblichen Vorstellung von Unsterblichkeit. Hierin zeigt sich, wie unzulänglich diese Schriften der christlichen Tradition sind, da sie uns kein wirklich umfassendes Bild vom jüdischen Denken zu jener Zeit geben können. In der Kabbala jedoch, der esoterischen Philosophie der Juden, ihrer geheimen, mystischen Lehre, wurde die Reinkarnation erklärt. Auch Philo, einer der größten Philosophen des Judentums und ein berühmter Neoplatoniker, lehrte sie. So auch der berühmte jüdische Geschichtsschreiber Josephus. Denn Josephus war ein Pharisäer, und er selbst verbürgte sich dafür, daß die Pharisäer an Reinkarnation glaubten und sie lehrten. (Nachzuschlagen in seinem Buch Jewish War, Band II, Kapitel 8 und Buch III, Kapitel 8.)

Dr. de Purucker zitiert in The Esoteric Tradition einen Abschnitt aus dem Werk des Josephus, wo die Lehre der Wiedergeburt erwähnt wird. Er kommentiert:

Man wird die Beweiskraft des obigen Zitats sofort erkennen, weil der Hinweis auf die besondere Art der metempsychotischen Reinkarnation, die Josephus im Sinn hat, in den Fluß seiner Erzählung so natürlich und einfach eingefügt ist. Es ist hier keine Rede von einer Lehre, die der Sprecher als etwas Fremdes und Neues herbeizieht, … jedoch in jedem Falle wird der Hinweis, daß ein neuer Körper angenommen wird, als völlig selbstverständlich für seine Zuhörer oder Leser als ein Teil der Psychologie, in welcher sie lebten, akzeptiert.

– S. 615

Diese Tatsachen müssen uns nicht allzu sehr verwundern, da die Lehren von der Wiederverkörperung und der Reinkarnation in der einen oder anderen Form von den die jüdische Nation umgebenden Völkern allgemein angenommen wurden. Hier und da zeigt sich sogar in der Bibel, daß diese Idee im Hintergrund der Gedanken des Schreibers oder Sprechers war, wie zum Beispiel als die Jünger Jesus fragten: „Wer sündigte, dieser Mann oder seine Eltern, daß er blind geworden ist?“ (Johannes 9, 2). Wie hätte dieser Mann jedoch sündigen können, außer in einem früheren Leben, wenn er blind geboren wurde? Für die Jünger war die Wahrheit der Reinkarnation offenbar selbstverständlich, auch Jesus ermahnte sie nicht in seiner Antwort. In Matthäus XI, 14 sagt Jesus von Johannes dem Täufer: „Und so ihr’s wollt annehmen, er ist Elia, der da kommen soll“, eine Feststellung, die er in Markus IX, 13 zu wiederholen scheint.

Von diesen Dingen hatten natürlich jene ernsthaften Menschen des Mittelalters keine Ahnung (die, was die historische Entwicklung betrifft, völlig unwissend waren), die das Alte Testament ihren eigenen unvermeidlichen Beschränkungen entsprechend auslegten.

Ein verläßliches Bild der intellektuellen Welt in den frühen Tagen der Christenheit ist tatsächlich aufschlußreich. Ein solches Bild können wir aus dem Material gewinnen, das von vielen großen Schriftstellern geliefert wurde. Wenn diese auch nichts von Theosophie wußten (wie z. B. Legge, der das Buch Forerunners and Rivals of Christianity schrieb), so stellten sie doch ein sehr aussagekräftiges Zeugnis dar, daß viele Lehren, die in unserer Bildung als so kennzeichnend für das Christentum betrachtet wurden, unmittelbare oder entstellte Widerspiegelungen der Mysterienlehren der Alten Weisheit sind.

Die beiden Hauptquellen, aus welchen das frühe Christentum seine mystischen Lehren herleitete, wie zum Beispiel die Jungfräuliche Geburt, die Leidenszeit Christi, die Eucharistie, die Apostolische Nachfolge u.a., waren die Gnostische Philosophie und die Mithras-Religion. Diese beiden Systeme waren natürliche Entwicklungen aus der ursprünglichen, esoterischen Weisheit, und sie blühten in den ersten Jahrhunderten unserer Ära. Es fehlte nicht viel und die Mithras-Religion wäre die offizielle Religion des Römischen Reiches geworden.

… die Mithras-Religion hatte sich im dritten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung so weit ausgebreitet, daß sie beinahe die offizielle Staatsreligion des damals weltumspannenden Römischen Reiches geworden wäre. Diese Religion enthält so viel, sowohl in der Lehre als auch in der Form, was mit dem frühen Christentum ähnlich war, daß alle bedeutenden Schriftsteller der Zeit, christliche wie auch ‘heidnische’, dies vermerkten. Schließlich jedoch behielt die christliche Lehre durch eine Reihe interessanter Ursachen die Oberhand als herrschende Religionsform von Europa …

– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 863

Mit seinen Dogmen von der stellvertretenden Erlösung, der Errettung durch den Glauben und die Praktiken, die sich daraus ergaben, befreite das Christentum die große Masse der Menschen von der mühsamen, moralischen Anstrengung und gab sich der Gestaltung des zeitlichen und politischen Aufstieges hin.

Die Reinkarnation war eine der bedeutendsten Lehren des Gnostizismus und bildete einen integralen Bestandteil der Mysterien-Lehren der Mithras-Religion. Viele der ersten Christen übernahmen die Lehre aus dieser einflußreichen und populären Quelle. Einige der großen Kirchenväter lehrten sie zu Anfang in der einen oder anderen Form, darunter Bischof Synesius und noch früher Origines und Clemens – alle aus Alexandrien, und die beiden letzteren gaben an, daß sie in die Mysterienschulen der damaligen Zeit eingeweiht worden seien. Es scheint so, als hätten diese weisen Männer danach gestrebt, in der neuen Kirche die Verbindung mit der lebendigen Weisheitsreligion aufrecht zu erhalten. Die Manichäer, in jenen frühen Tagen eine mystische Sekte Vorderasiens, bekannten sich zur Reinkarnation, und indem sie ihr sozusagen eine christliche Färbung gaben, trugen sie dazu bei, einen Aspekt der Reinkarnation zu popularisieren. Selbst im 12. und 13. Jahrhundert trat noch ein Zweig dieser Sekte auf, nämlich die Albigenser von Languedoc, welche die Lehre wieder aufleben ließen. Aber sie war dann für über siebenhundert Jahre verbannt worden, während die Albigenser, wenn auch nur mit Mühe, ausgerottet wurden.

Man könnte eine lange Liste der Gelehrten, Dichter und Mystiker aller Zeiten und aller Länder Europas anführen, die an Reinkarnation glaubten und sie lehrten. Das gesamte historische Glaubensthema der Reinkarnation ist es wert, sich damit zu beschäftigen, wenn auch nur, weil überraschende und interessante Tatsachen über den Ursprung von dem, was wir Christentum nennen, ans Licht kommen – Tatsachen, die so lange unterdrückt und vergessen waren. (Vgl. The Esoteric Tradition, Teil II, Kapitel XIX und XX).

Theosophie und Evolution

Wir können uns die Erde als den Wohnort des Menschen, der Tiere und der Pflanzen vorstellen, oder als einen Himmelskörper, der mit vielen anderen um die Sonne wandert und einen Teil des großen Milchstraßensystems ausmacht. Im ersten Fall sehen wir die Länder und Seen vor uns, die Berge und Ozeane, den schneebedeckten Nord- und Südpol, und vielleicht wandern unsere Gedanken weiter, unter die Oberfläche, zu den Stoffen, die wir zu unserem Nutzen ausgraben. Im zweiten Fall leben wir auf einem kleinen Globus, der seine Achsenrotation und Wanderung um die Sonne vollbringt und, verglichen mit einigen anderen Himmelskörpern, nicht mehr ist als eine Anhäufung von Materie.

Wir bleiben meist nicht bei der Aussage stehen, daß das, was wir Erde nennen nichts anderes ist als der materielle Aspekt, der äußere Körper, in welchen die Erde als Ganzes mindestens ebenso einbezogen ist wie der Mensch. Die übrigen Aspekte des Planeten befinden sich auf einer Ebene, zu welcher unsere äußeren Sinne keinen Zugang haben, wo sich aber in Wirklichkeit all jene Elemente befinden, welche die innere Struktur des Planeten formen. Planeten und Sonnen sind ebenso Offenbarungen der lebendigen Natur wie Menschen, Tiere und Pflanzen, von denen wir einst glaubten, daß sie die einzigen Wesen seien, die ‘lebendig’ genannt werden können.

In der theosophischen Philosophie spricht man häufig von einer ‘Planetenkette’, wenn von einem Planeten die Rede ist, weil ein Planet, und so auch die Erde, nicht ein einzelnes Wesen ist, sondern ein Organismus von sieben Globen. Nur einer dieser Globen befindet sich auf der Ebene, auf welcher wir heute als materielle Wesen tätig sind und auf welcher wir mit unseren gewohnten Sinnen wahrnehmen können. Unsere vertraute Erde ist nur ein Globus einer Kette von sieben Globen, die zusammen den ganzen Planeten, die Erdkette, formen. Die anderen sechs Globen befinden sich auf höheren Ebenen und sind daher für uns nicht wahrnehmbar.

‘Höhere’ Ebenen müssen wir uns nicht als Ebenen irgendwo über uns vorstellen, denn die Ebenen, und so auch die Globen, durchdringen einander.

Die sieben Globen der Erde sind der Wirkungsbereich und Lebensraum eines Stromes unzähliger menschlicher und anderer Monaden, die darauf ihre Evolution vollbringen.

Auf jedem Globus vollzieht sich diese Evolution in sieben aufeinanderfolgenden großen Wurzelrassen, von denen jede ihre Möglichkeit der Entfaltung bietet. Wenn auf einem bestimmten Globus die sieben Wurzelrassen durchlaufen wurden, und die Wesen, die ein Teil davon waren, alle ihnen möglichen Erfahrungen gemacht haben, rückt der Monadenstrom zum nächsten Globus vor, der wiederum seine eigenen Entwicklungsmöglichkeiten in sieben großen Wurzelrassen bietet. Siebenmal zirkuliert der Strom der Monaden um die sieben Globen; man nennt dies die sieben Runden, wonach die ‘Erdkette’ das Ende ihrer Existenz erreicht hat und schließlich als ein toter Körper in Auflösung übergeht, womit natürlich für das menschliche Begriffsvermögen sehr lange Zeitperioden gemeint sind. Wir Menschen befinden uns augenblicklich auf dem vierten Globus der Erdkette (dem materiellsten), in der fünften Wurzelrasse des Globus und in der vierten Runde.

In den ersten drei Runden war der Mensch kaum mehr als eine schattenhafte Andeutung dessen, was er geworden ist; es würde jedoch den Umfang dieses Büchleins sprengen, das Thema weiter zu erörtern. Wir müssen uns auf die Vierte Runde, in der wir uns jetzt befinden, beschränken. Leichter verständlich gesagt, vollzieht sich die Evolution in diesen sieben großen Wurzelrassen.

Jede Wurzelrasse ist – mit ihren zahlreichen Unterrassen und Verzweigungen – praktisch selbst eine Menschheit mit ihrer eigenen speziellen Entwicklung und Umgebung. In der Mitte jeder Wurzelrasse treten große geologische Veränderungen auf. Aus der gegenwärtigen Wurzelrasse beginnt die Entwicklung der nachfolgenden, so daß die Wurzelrassen einander überlappen.

Selbst in der Vierten Runde trat die Schar der menschlichen Monaden anfangs in sehr nebelhaften und ätherischen Formen auf, den heutigen physischen Körpern durchaus nicht ähnlich. Da die Monaden Manas oder das Denken noch nicht evolviert hatten und die Geschlechter in dieser ersten Wurzelrasse der Vierten Runde noch nicht getrennt waren, waren sie wenig mehr als ein vager Schatten der späteren Menschheit.

Die Erste Rasse entwickelte sich nach und nach auf ihre eigene Weise, dann machte sie der Zweiten Rasse Platz, die mehr substantieller Natur war; diese ging in die Dritte über, die an ihrem Ende ziemlich materiell war. Damals wurde die gegenwärtige Art der Fortpflanzung zur Regel, und die Morgendämmerung der Zivilisation brach an.

Auf die Dritte Wurzelrasse folgte die Vierte, eine hoch intelligente, aber träge materialistische Menschheit. Sie bewohnte großenteils weite Länder, die jetzt vom Atlantischen Ozean bedeckt sind. Durch intellektuelle Entwicklung wurden große Fortschritte gemacht, doch die spirituelle Evolution ging nur langsam voran. Ungefähr in der Hälfte der Vierten Rasse wurde unsere gegenwärtige Fünfte Rasse geboren; aber sie vermehrte sich nur sehr langsam, bis die Atlantische Zivilisation durch geologische Katastrophen, die sich im großen Maßstab ereigneten, praktisch völlig verwüstet wurde. Die moderne Wissenschaft beginnt nun, einen sehr kleinen Einblick in die frühere Geschichte der Fünften Wurzelrasse zu erhaschen, der einzigen Rasse, die uns bekannt ist, denn von den früheren Rassen und ihren ‘Welten’, wie man ihre Umgebung bezeichnen könnte, wurde fast jede Spur ausgelöscht.

In fernen zukünftigen Zeiten werden auch wir verschwinden und der Sechsten Rasse Platz machen, einer viel höher entwickelten Menschheit; und diese wiederum der Siebten Rasse, in der die Menschen fast wie Götter auf der Erde wandeln werden. Zudem sind wir jetzt auf dem nach oben führenden Bogen, denn der tiefste Punkt wurde etwa in der Mitte der Atlantischen Periode erreicht.

Wenn auch fast jede greifbare Spur der archaischen Rassen verschwunden ist, wurden doch Überlieferungen von ihrer Existenz und ihrem Charakter bewahrt. Man findet sie in den verschiedenen heiligen Büchern des Ostens, einschließlich der Bibel; diese sind unverständlich, wenn sie wörtlich genommen werden, aber sie bieten echte und wertvolle Mitteilungen für diejenigen, die den Schlüssel zu ihrer wahren historischen Bedeutung haben. H. P. Blavatsky widmete viele Kapitel ihrer Geheimlehre der Interpretation dieser historischen Allegorien.

Obgleich die Alte Weisheit sehr zuverlässig die Evolution lehrt, eine Evolution im umfangreichsten Sinne, welche sowohl den Kosmos als auch den Menschen betrifft, verwirft sie jede Theorie, die rein mechanistisch ist und sich nur mit dem sterblichen Körper befaßt, dabei aber das wirklich Evolvierende, die Monade oder den Geist im Menschen, ignoriert.

Die Evolution vollzieht sich nicht in einer aufsteigenden geraden Linie. Die Monade stieg aus ‘ätherischen’ Zuständen herab und trat allmählich in einen dichteren Zustand ein; schließlich benützte sie in Übereinstimmung mit dem niedersten Teil des Zyklus physische Formen. Wenn der Mensch wieder aufsteigt und in ätherischere Bereiche zurückkehrt, werden seine körperlichen Formen auch umgewandelt werden. Die Monade, Buddhi, und auch Manas sind keine ‘Nebenprodukte’ eines fleischlichen Gehirns; noch weniger sind sie das Ergebnis ‘natürlicher’ Evolution der niederen Tiere. Die Menschenaffen haben tatsächlich sowohl menschliches als auch tierisches Blut in ihren Adern, aber sie sind nicht unsere Vorfahren. Man kann den Ursprung der Anthropoiden praktisch bis zu frühen und entarteten menschlichen Anfängen zurückführen; sie sind das Produkt von Rassenmischung.

Da die Frage vom Ursprung des menschlichen Körpers derartig kompliziert ist und die Existenz der Menschenaffen eine solche Verwirrung verursacht, kann es nicht verwundern, daß die Wissenschaft sie nicht gelöst hat. Dieses Thema wird von H. P. Blavatsky ausführlich behandelt. Obwohl die Evolution in der Theosophie eine fundamentale Rolle spielt, wies H. P. B. nie mit Nachdruck darauf hin, daß sie nicht als bloße Transformation von körperlichen Formen durch stets komplizierter werdende Organismen betrachten werden darf, welche durch mechanisch wirkende Naturgesetze verursacht wird. Während das Ego in der äußeren Hülle Erfahrungen sammelt, entfalten sich neue, verborgene Kräfte im Innern, und das physische Vehikel verändert sich ganz natürlich. Der Körper besitzt keinen Selbstzweck, sondern er ist das Instrument, durch das sich die sich entwickelnden Kräfte des inneren Menschen zum Ausdruck bringen. Die menschliche Evolution reflektiert in ihrem zyklischen Vorgehen die größere kosmische Evolution.

An dieser Stelle muß noch etwas über die Hilfe gesagt werden, welche der evolvierenden Menschheit von spirituellen Intelligenzen aus höheren Ebenen angeboten wird; von Intelligenzen, die weiter vorangeschritten sind und die in den sich entwickelnden Menschen inkarnieren oder diese überschatten. Es ist ein universales, okkultes Gesetz, daß sich das Höhere sozusagen opfert, um dem Niedrigeren zu helfen, seine latenten Möglichkeiten zu entwickeln. Dies bezieht sich auf andere Reiche ebenso wie auf das menschliche Reich. Bei der Menschheit geschah dies, als gegen Ende der Dritten Rasse der gegenwärtigen Vierten Runde das Denkvermögen erwachte. Die Alten Überlieferungen berichten diese sehr wichtige evolutionäre Tatsache; ohne dieses Geschehen kann die wahre Entwicklung des Menschen nicht verstanden werden.

Selbstverständlich blieben viele Aspekte dieses Themas unbesprochen, so zum Beispiel die Herkunft und Bestimmung der Tiere, die Evolution und Involution des Menschenreiches, geologische Zeitspannen, geistige, intellektuelle und psychomentale Entwicklung, die Embryologie als Prüfstein und geologische Überreste. Diese und andere Themen werden ausführlich in den Büchern Dr. G. de Puruckers Man in Evolution und The Esoteric Tradition behandelt.