Yoga in Tibet

Es ist noch gar nicht solange her, dass Berichte von okkulten Mysterien und über Magie in Tibet oder anderswo von seriösen Gelehrten aus dem Westen lächerlich gemacht wurden. In guten akademischen Kreisen wurden sie ganz einfach nicht zugelassen. Die Verfolgungen, denen sich H. P. Blavatsky im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts ausgesetzt sah, ergaben sich teilweise aus dem geringschätzigen Leugnen solcher Möglichkeiten seitens der westlichen, gebildeten Gesellschaftsschichten, die sich durch die materialistischen Vorstellungen und die glänzenden praktischen Erfolge der modernen Wissenschaft in einer Art Rausch befanden. Sogar die allegorische Interpretation verwirrender Legenden über Götter und Helden in den hinduistischen und buddhistischen Schriften wurden verworfen.

Oberst H. S. Olcott, der damalige Präsident der Theosophischen Gesellschaft, sprach vor einem Jahrhundert mit dem berühmten Orientalisten Professor Max Müller über diese Angelegenheit. Professor Müller riet den Anhängern der Theosophie, den Behauptungen der abergläubischen Pandits, dass die Hinduschriften solche verborgenen Bedeutungen enthielten, keine Beachtung zu schenken. Heute jedoch lassen sich engagierte Orientalisten finden, die nicht nur mit mehr Ehrfurcht und Verständnis über diese Dinge sprechen, sondern auch die Tatsache akzeptieren, dass manche Yogis sogenannte ‘übernatürliche Kräfte’ besitzen. Es gibt Menschen, wie beispielsweise Frau David-Neel, die sogar übereinstimmend behaupten, dass sie tatsächliche, wenn auch begrenzte Kenntnis von der Grundlage bestimmter, elementarer, psycho-magischer Vorgänge besitzen. Dr. Richard Wilhelm, Sinologe, Dr. Carl Jung, Psychologe, Sir Wallis Budge, ehemaliger Direktor der ägyptischen Abteilung des Britischen Museums, Dr. Alexis Carrel, Autor von Der unbekannte Mensch und andere prominente Gelehrte und Reisende haben bezeugt, dass okkultes Wissen existiert, das im Westen für groben Aberglauben gehalten wurde, bis H. P. Blavatsky damit begann, ‘die Denkstrukturen zu zerbrechen’.

Die Berichte von Frau David-Neel über ihre Erfahrungen hinter dem Schleier Tibets haben viel dazu beigetragen, dass die Augen der westlichen Menschen sich für die Tatsache öffneten, dass das Leben der Menschen in diesem geheimnisvollen Land von psycho-okkulten Aktivitäten durchdrungen ist, die nicht nur Einbildung sind.

Die wissenschaftlichen Bücher von Dr. W. Y. Evans-Wentz über die Tibetische Religion lenkten überall auf der Welt die Aufmerksamkeit auf die seltsame Vermischung von tiefen spirituellen Lehren mit niedrigeren magischen Praktiken, die in Tibet und den benachbarten Ländern blühen. Der philosophische und geistige Aspekt entspricht fast ganz den Grundsätzen der Theosophie, was nicht sehr verwunderlich ist, da beide der gleichen Quelle entspringen, nämlich der alten Weisheitsreligion, behütet von der großen Weißen Loge, deren bedeutendstes esoterisches Zentrum das geheimnisvolle ‘Śambhala’ in Tibet ist.

Allgemein nimmt man an, dass der Buddhismus im siebten oder achten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung zum erstenmal in Tibet eingeführt wurde. Padma Sambhava, ein bekannter Hindulehrer, wird als sein bedeutendster Vertreter betrachtet. Seine Wiedergabe der Lehren beinhaltet zweifelsohne eine große Verbesserung der abergläubischen einheimischen Bon-Religion, aber sie trug trotzdem das Zeichen der niedrigeren tantrischen Magie und wich deshalb wesentlich von den reinen Lehren Buddhas ab. H. P. Blavatsky bringt jedoch zum Ausdruck, dass der Buddha, der die zukünftige Gefahr für den Buddhismus in Indien vorhersah, einige seiner Arhats tausend Jahre früher zu den Hängen des Kailas Gebirges in Tibet sandte, um den Kern seiner Lehre, den wahren ‘esoterischen’ Buddhismus, dort zu verankern. Sie sagt auch, dass die tibetische Bevölkerung in jener Zeit zu tief in Zauberei versunken war, um die reinen Lehren annehmen zu können, und dass aus diesem Grund erst zu einem späteren Zeitpunkt „der Buddhismus schließlich durch seine zwei verschiedenen Schulen geprägt wurde – die esoterischen und die exoterischen Abteilungen – im Lande des Bon-pa“. Aus chinesischen Quellen ist gleichwohl bekannt, dass einzelne Adept-Lehrer längere Zeit in der ‘verschneiten Gebirgskette Tibets’ gelebt hatten.

Über Padma Sambhava, der noch heute von vielen in Tibet bewundert wird, sagt der Orientalist Colonel Yule: „Er war ein großer Meister der Zauberei“, womit er wahrscheinlich auf seine niedrigeren tantrischen Arbeitsmethoden hinweist. H. P. Blavatsky unterscheidet die niedrigeren folgendermaßen von den höheren Tantras:

„Außerhalb Bengalens ist über tantrische Riten und Zeremonien so wenig bekannt, dass man dieser bemerkenswerten Schrift [Sāva-Sādhanā] Raum schafft, trotz der widerlichen und abscheulichen Zeremonien, die sie beschreibt. Da es sowohl Magie (reine, psychische Wissenschaft) als auch Zauberei (deren unreinen Gegenpol) gibt, gibt es auch das, was als die ‘Weißen’ und ‘Schwarzen’ Tantras bekannt ist. Das eine ist eine klare und äußerst wertvolle Darstellung des Okkultismus in seiner edelsten Form, das andere ein teuflisches Volksbuch mit bösen Anweisungen für den Möchtegernhexenmeister und -zauberer. Manche von den darin beschriebenen Zeremonien sind noch viel schlimmer als das Sāva-Sādhanā … .“

– H. P. Blavatsky: Collected Writings , 4:615

Auch W. Q. Judge spricht von der „edlen Philosophie“ vieler tantrischer Schriften, aber selbstverständlich verurteilt auch er den niedrigeren Tantrismus mit all seinen Greueln. Es ist bedauerlich, dass die „äußerst wertvolle Darstellung des Okkultismus in seiner edelsten Form“, wie H. P. Blavatsky die „Weißen“ Tantras nennt, durch das Dominieren der schwar-zen Magie unter den Tantrikern dermaßen verdunkelt wurde, dass heute sogar der Name einen schändlichen Klang hat.

Das religiöse Denken in Tibet ist leider noch immer durch Aberglauben, durch magische Praktiken und übermäßige Rituale befleckt – menschliche Schwächen, die sich auch in anderen Religionen einschleichen. Die gute Seite Tibets liegt in der Tatsache, dass die am meisten bewunderten nationalen Helden keine Soldaten oder gar Staatsmänner sind, sondern große spirituelle Lehrer und Reformatoren.

Von Zeit zu Zeit wurde versucht, Reformen zustande zu bringen, mit einigem Erfolg. Aber erst im vierzehnten Jahrhundert bewirkte der große Adept und Avatāra Tsong-kha-pa eine wesentliche Umkehr und säuberte das religiöse Milieu, indem er 40 000 Mönche und Lamas, die aus Eigennutz handelten und aus dem Buddhismus eine Handelsware machten, verbannte. Tsong-kha-pa ist der edelste und weiseste Reformator des nördlichen Buddhismus, und obschon ursprünglich ein Apostel der teilweise reformierten Kargyütpa Schule, schloss er sich dem anderen Orden, den Khadampas an, ‘sie, die durch Vorschriften gebunden sind’, um das neue System aufzubauen, das sich zum Orden der Gelugpas oder Gelbkappen entwickelte, welcher zur etablierten Kirche Tibets wurde. Er reorganisierte auch die esoterische oder mystische Bruderschaft (die von H. P. Blavatsky erwähnte ‘esoterische Abteilung’, worauf schon früher verwiesen wurde). Einzelne der höchsten Lamas besaßen das Vorrecht, dieser Abteilung anzugehören. In der Außenwelt ist sehr wenig über diese Bruderschaft bekannt.

Seit der Reform durch Tsong-kha-pa ist der Zustand niemals mehr so tief gesunken, aber wie bereits angemerkt, ist er auch heute noch immer nicht ideal. Die Gelugpas stehen jedoch weit über manchen der Rotkappensekten des westlichen Tibet, die sich noch der alten schwarzen Magie der Bon-Religion widmen.

Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, die interessanten Entwicklungen des buddhistischen Yoga in Tibet zu beschreiben, aber Interessenten werden in Werken wie jenen von Dr. Evans-Wentz, der im Westen viel zum Wissen über den Lamaismus beigetragen hat, Informationen erhalten. Sein Buch Tibetan Yoga and Secret Doctrines berührt ein vorher unbekanntes Gebiet mit Informationen aus erster Hand. Er behauptet, dass die sieben wichtigsten Abhandlungen, die aus dem Tibetischen übersetzt wurden, eine umfangreiche Wiedergabe des Mahāyāna oder nördlichen Buddhismus, des ‘großen Fahrzeugs’, darstellen. Für die nach spiritueller Erleuchtung Suchenden sind sie jedoch nicht alle von gleichem Wert.

Die Abhandlungen wurden von dem früheren Lama Kami Dawa-Samdup aus dem Tibetischen übersetzt, einem Professor der tibetischen Sprache an der Universität von Kalkutta, einem eingeweihten Lama des Kargyütpa Ordens des Mahāyāna Buddhismus, dessen wichtigste Lehren rein und von hohem Gehalt sind. Er war äußerst kompetent und interpretierte die außerhalb der Lamaklöster wenig oder überhaupt nicht bekannten Lehren und Yoga-Methoden. Selbst mit Hilfe seiner sorgfältigen Übersetzungen und den wertvollen Kommentaren von Dr. Evans-Wentz werden westliche Studierende mit den Themen Schwierigkeiten haben, weil nur wenige eine leise Ahnung von den sehr unterschiedlichen Gebieten der Natur und den dazugehörigen Bewusstseinszuständen haben, mit denen der Okkultist jedoch vertraut ist.

Wir können hier noch hinzufügen, dass der Lama Dawa-Samdup zur Verteidigung von H. P. Blavatsky ein bemerkenswertes Zeugnis ablegte, da man sie zu ihren Lebzeiten beschuldigte, dass sie die alten Weisheitslehren der Theosophie erfunden habe. In einem anderen Werk, The Tibetan Book of the Dead, schreibt Dr. Evans-Wentz:

„Der damalige Lama Kazi Dawa-Samdup war der Meinung, dass trotz der feindseligen Kritik gegenüber den Werken H. P. Blavatskys genügend Beweise vorliegen, dass die Autorin gründliche Kenntnisse der höheren lamaistischen Lehren besaß, in die sie eingeweiht war, wie sie behauptete.“

– S. 7

Aber H. P. Blavatsky gehörte zu einem höheren Orden der Schulung als dem, den man gewöhnlich als den lamaistischen bezeichnet, es sei denn, dass mit den Worten ‘höhere lamaistische Lehren’ die Alte Weisheit gemeint ist, der ‘Esoterische Buddhismus’, wie sie die Lehren der ‘großen Weißen Loge’ nannte. Es wäre aber nicht gerechtfertigt, daraus abzuleiten, dass sämtliche lamaistische Institutionen in Tibet ihr spirituelles Leben verloren hätten, denn Meister KH und H. P. Blavatsky nennen bestimmte Lamaklöster in Lhasa und anderswo, in welchen wahre und eingeweihte Okkultisten leben und in welchen Chela-Schulen für wahren spirituellen Yoga arbeiten. H. P. Blavatsky merkt an, dass viele Orientalisten die echten Lamas bestimmter Lamaklöster in Lhasa usw. mit den zahlreichen Scharlatanen und Zauberern der Bon-Religion verwechseln.

Sowohl Dr. Evans-Wentz wie Frau David-Neel erwähnen, dass die am höchsten geachteten Lehrer in Tibet den Besitz von okkulten Fähigkeiten sowie das Hervorbringen okkulter Phänomene als vollkommen unwichtig ansehen und diese nur als Nebenprodukte im Prozess der spirituellen Entwicklung erachten.

In Bezug auf die oben erwähnten Abhandlungen über Yoga schreibt Dr. Evans-Wentz, dass die beiden ersten Teile „im Grunde nicht tantrischer Natur seien“. Die siebte Abhandlung sei ebenfalls rein und ist eine der verbreitetsten Schriften des Mahāyāna. Sie ist eine verkürzte Wiedergabe des in Sanskrit verfassten Prajñā Pāramitā (vollkommene Weisheit) und behandelt die übersinnliche Lehre von Śūnyatā, der ‘Leere’. Diese Abhandlung stützt die Erklärung von H. P. Blavatsky, dass Buddha die innere Gruppe seiner Anhänger in einer geheimen Lehre unterwies. Manche buddhistische Gelehrte verneinen dies und behaupten, dass die einzige wirkliche geheime Lehre, welche die tibetischen Lamas besitzen, den Unterricht in praktischer Magie betrifft, der keinen spirituellen oder philosophischen Wert besitzt. In ihrem Kommentar über die sieben Abhandlungen weist Dr. Evans-Wentz darauf hin, dass sie sich irren, denn Nāgārjuna, der dreizehnte der buddhistischen Patriarchen, veröffentlichte im zweiten Jahrhundert nach Christus einige esoterische Lehren. Dr. Evans-Wentz schreibt darüber:

Laut Nāgārjuna stellte der Buddha Śākya-Muni selbst die Lehren zusammen und übergab sie der Obhut der Nāgas (Schlangengötter), damit sie in den Tiefen eines großen Sees oder eines Meeres verborgen bleiben, bis die Zeit kommen werde, in der die Menschen bereit sind, sie zu empfangen. Dies scheint auf eine symbolische Weise zu erklären, dass Buddha die Lehren esoterisch weitergab und dass sie seit Zeitaltern auch von Buddhas auf diese Weise gelehrt wurden, die Śākya-Muni vorausgingen, wie auch vom Bodhi-Orden der großen Yoga-Adepten, den weisesten der Weisen, die lange Zeit durch die Nāgas oder Schlangen-Halbgötter symbolisiert wurden. … Auch die Lamas behaupten, dass sie sich auf mündliche Überlieferungen berufen, von welchen gesagt wird, dass sie von den vertrauten Jüngern Buddhas zunächst im Geheimen weitergegeben wurden und dass Buddha die Prajñā Pāramitā sechzehn Jahre nach seiner Erleuchtung unterrichtet, … und weiter, dass Mahākāshyapa, sein gelehrigster Schüler und apostolischer Nachfolger, die Lehren im Geheimen festhielt. Die Japaner besitzen gleichfalls eine Überlieferung, die besagt, dass Buddha seine Schüler esoterisch, die breite Masse aber exoterisch unterrichtete. …“

Tibetan Yoga and Secret Doctrines, S. 344

In der dritten bis zur sechsten Abhandlung werden zum größten Teil die psychologischen und körperlichen Übungen für die Entwicklung der persönlichen Willenskraft und dergleichen behandelt; diese Lehre ist völlig verschieden von dem, was von Buddha dem Herrn und den Meistern der Weisheit als der gesunde, unpersönliche und heilsame Yoga gelehrt wurde. Diese Teile behandeln die verführerischen Seitenwege des Okkultismus, die vom geraden und schmalen Pfad abzweigen, der zum Leben hinführt; sie sind von den früheren, unreinen vorbuddhistischen Bon-pa Quellen abgeleitet. H. P. Blavatsky beschreibt die Bon-Religion wie folgt:

… ein degenerierter Rest der chaldäischen Mysterien aus alten Zeiten, nun eine Religion, ganz und gar gegründet auf schwarze Magie, Zauberei und Wahrsagerei. Dass der Name von Buddha darin erwähnt wird, hat nichts zu sagen.“

– H. P. Blavatsky: Collected Writings, 4:15 (Fußnote)

Die fünfte Abhandlung gibt den „Chöd“ Ritus des ‘kurzen Pfades’ wieder, eine energische und verzweifelte Methode, um durch ein mystisches Opfer der Persönlichkeit an die Elementale zur Adeptschaft zu gelangen, ein grauenhafter Vorgang, der den unbesonnenen Abenteurer leicht in den Wahnsinn oder gar Tod führen kann. Das falsche Ziel des grausamen und widerlichen Ritus ist es, den Ausübenden über eine Abkürzung von der Notwendigkeit der Wiedergeburt zu befreien! Wahrscheinlich wird dieser Ritus jedoch vor allem mit dem Ziel ausgeführt, eine niedrige Ordnung von Elementalen zu beherrschen und dadurch zu magischen Fähigkeiten zu gelangen. Frau David-Neel fand heraus, dass viele bösartige Menschen in Tibet solche verachtenswerten und zerstörerischen Methoden anwenden, um zum Beispiel ihre Begierde nach Rache zu stillen.

Die erste Abhandlung (Kargyütpa, „Der höchste Pfad der Schülerschaft“) ist bedauerlicherweise sogar mit gewissen Anweisungen über Phänomene in Zusammenhang gebracht worden, die die schwächere Seite des Lamaismus offenbaren und nicht in ein Werk gehören, dessen Grundton im Allgemeinen erhaben ist. Pseudo-okkulte Ideen solcher Art können in einer Welt keinen Einfluss haben, die nach der Ausbeutung psychischer Kräfte für rein selbstsüchtige Zwecke strebt oder deren Interesse im besten Fall auf die Befriedigung der Neugierde abzielt, die sich hinter wohlklingenden Namen verbirgt. Vielleicht vermögen sie ein paar westliche Gelehrte aufzuwecken, welche die Existenz der okkulten Seite der Natur ableugnen, und ihnen zu der Einsicht zu verhelfen, dass die östliche Ansicht nicht unbegründet ist – wie merkwürdig sie manchen auch erscheinen mag –, dass diese Seite der Natur ebenso ‘natürlichen’ Gesetzen unterworfen ist wie die physische Welt.

Die Wirkungsweise solcher Gesetze wird in Tibet auf einem niedrigeren Gebiet durch Phänomene angedeutet, wie die Beherrschung des Feuers oder des Wassers, Levitation, Telepathie oder die Fähigkeit, Körperfunktionen zu ändern. „Tummo“, die Beherrschung der Körpertemperatur, ist für manche Lamas oder Einsiedler in Tibet ein wohlbekannter halbokkulter Prozess. Wer diese Kunst beherrscht, ist imstande, sich warm und behaglich zu fühlen, auch wenn er ohne warme Kleidung eisiger Kälte ausgesetzt ist. Frau David-Neel und andere Beobachter bezeugen die Existenz des Tummo aus persönlicher Erfahrung, und in wenigstens einem Fall wandte sie es mit Erfolg an, als sie ohne Brennstoff in die bittere Kälte einer bergigen Wildnis geraten war.

Solche Dinge werden aber von den Weisen nicht als spirituelle Errungenschaften oder von wahrhaftigem Wert erachtet, obschon sie unter gewissen Umständen nützlich sein können. Im Orient ist eine merkwürdige Geschichte über dieses Thema im Umlauf. Ein Händler und ein Yogi eines niedrigeren Ordens begegneten sich am Ufer eines Flusses. Letzterer erzählte ausführlich über die große Mühe, die er hatte, um zu erlernen, wie man die Levitation ausüben könnte. Danach erhob er sich mit seinem Körper in die Luft und schwebte über den Fluss. Der eher praktisch veranlagte Händler bezahlte einen Fährmann, damit er ihn übersetze. Als sie sich am anderen Ufer wieder trafen, erwartete der triumphierende Yogi, vom Händler bewundert zu werden. Er war jedoch sprachlos, als dieser ihm ein kleines Geldstück zeigte und bemerkte: „Dies ist der Wert deines Wunders!“

Wie bereits erwähnt, enthält der höhere Lamaismus viele der wichtigsten Grundsätze der Theosophie, und die Verbreitung solcher Lehren erklärt die wohlbekannten positiven Eigenschaften der Tibeter im Allgemeinen. Lama Yongden schreibt in seiner aufschlussreichen und romantischen Geschichte Mipam folgendes über eine Donquichotterie der Freundlichkeit: „Er meinte, dass sein junger Gefährte verrückt war, aber in Tibet erweckt jede Tat, die vom Mitleid inspiriert ist, ein intuitives Gefühl der bewundernden Ehrfurcht, sogar bei den gröbsten und äußerst materialistisch denkenden Bauern und Handelsleuten. Chenrezigs1 mit den tausend Armen, das Symbol unendlichen Mitleids, wurde nicht umsonst als der Höchste Herr und Beschützer des imposanten Landes des Schnees gewählt.

Den lockeren Humor der Tibeter illustriert folgender Aphorismus, welchen Dr. Evans-Wentz in seinem Buch Tibetan Yoga and Secret Doctrines erwähnt:

„Wenn ein Mensch, der seiner Religion ergeben ist, versucht, andere anstatt sich selbst zu verbessern, ist das ein großer Fehler.“

– S. 87

„Wer eine Religion predigt und nicht ausübt, gleicht einem Papagei, der ein Gebet aufsagt, und das ist ein ernsthafter Fehler.“

– S. 77

Viele Schriftsteller und Reisende aus dem Westen urteilen positiv über den Charakter der tibetischen Bevölkerung. So studierte ein Engländer einige Jahre lang die buddhistischen Lehren der Lamas, die an der Südgrenze Tibets leben. Er sagt, dass die Lamas und andere Tibeter, denen er begegnete, einen Geist der Liebe und Freundlichkeit besitzen, der durch einen ungewöhnlich ruhigen Ton gekennzeichnet ist, was neu für ihn war. Er erkannte schnell, dass diese außergewöhnliche Eigenschaft nicht auf unspezifischen Emotionen gründete, sondern die Folge ihrer Lebensanschauung war, die Folge einer umfassenden Einsicht in die Struktur des Universums, wodurch sie den engen Zusammenhang aller Dinge und Prinzipien erkennen. Für den aufgeklärten Lama sind die Naturgesetze und die Ethik oder die Regeln für rechtes Leben nicht zwei verschiedene Dinge, sondern ein und dasselbe. Dies ist ein wesentlicher Punkt in der theosophischen Yoga-Lehre. Wir machen einen verhängnisvollen Fehler, wenn wir Religion und Wissenschaft voneinander trennen. G. de Purucker beschreibt das in wenigen Worten:

„ … Ethik ist nicht reine Konvention, so sehr die Menschen sie auch in konventionelle Worte kleiden mögen, sondern sie beruht auf der Harmonie und der Liebe im Herzen des Universums. … Ethik ist etwas sehr Wesentliches, weil sie aus der Natur selbst stammt. Ethik bedeutet, gut zu handeln; gut bedeutet Harmonie; gut heißt Gesetz; und Gesetz ist kosmische Gerechtigkeit, die universale Liebe ist.“

Fußnoten

1. Aussprache Tsjen-re-zi. Im Sanskrit Avalokiteśvara, der ‘Herr, der wahrgenommen wird’, das Höhere Selbst, der Dritte Logos, sowohl himmlisch als auch menschlich, immer darauf bedacht, Schmerz zu entdecken und jenen, die in Not sind, beizustehen. [back]

Die Bibel – I

Wo liegt die Wahrheit zwischen der extremen Auffassung, die Bibel buchstäblich als das Wort Gottes zu betrachten, und der Meinung, sie sei eine Sammlung ziemlich merkwürdiger folkloristischer Erzählungen? Die Bibel ist eine esoterische Schrift, und wenn sie in der richtigen Weise interpretiert und neben anderen, der Welt bekannten heiligen Schriften studiert wird, wird der tiefe Sinn deutlich, der sich hinter vielen Erzählungen verbirgt, die jedoch nur wenig sagen, wenn man sie buchstäblich auffasst.

Das Alte Testament ist eine Sammlung alter jüdischer Schriften, die – nachdem die Juden aus der babylonischen Gefangenschaft zurückgekehrt waren – von dem Schriftgelehrten Ezra gesammelt wurden. Er sammelte so viele alte Bücher wie möglich und erstellte damit den jüdischen Kanon. Nach Änderungen und Auslassungen wurde schließlich aus dieser Quelle das christlische Alte Testament zusammengestellt. Die Juden haben ihre eigenen Interpretationen in ihren kabbalistischen Büchern, wie dem Zohar, dem Sepher Jezirah und in einem großen Schatz von Kommentaren; aber die Christen halten sich im Allgemeinen buchstabengetreu an den Text. Das hat dem Charakter des Christentums nicht gut getan, denn einige dieser Bücher enthalten, wenn sie buchstäblich interpretiert werden, viel Grausamkeit, Betrug, Grobheit und Kriegsgewalt.

Der Pentateuch oder die ersten fünf Bücher des Alten Testaments nehmen eine sehr wichtige Position ein. Obschon man lange Zeit annahm, dass sie das Werk von Moses wären, hat eine kritische Untersuchung gezeigt, dass er nicht der Autor gewesen sein kann. Manche sind der Meinung, sie seien größtenteils das Werk von Ezra. Scheinbar enthalten diese Bücher die Geschichte über die Schöpfung und die Sintflut, die Abstammung des hebräischen Volkes, seine Wanderungen, seine schließliche Niederlassung und das Gesetz des Moses. Der Versuch, mit anderen historischen Informationen einen gewissen Zusammenhang herzustellen und dort die Geschichten einzufügen, ist für Bibelkritiker ein Problem. Das ist kein Wunder, denn das Alte Testament ist eine Sammlung allegorischer Legenden, die mit dem Hauptziel zusammengetragen wurden, die esoterische Bedeutung weiterzureichen. Wenn man sie aber esoterisch im Licht des Zohar und anderer heiliger Bücher liest, dann enthüllen sie einen Schatz okkulter Wahrheiten.

Das Alte Testament enthält auch die Bücher der Propheten, und bei Ezechiel und Daniel finden wir leicht erkennbare okkulte Symbolik. Von denjenigen, die darin Prophezeiungen über die Wiederkunft Christi und das Ende der Welt sehen wollten, wurde in dieser okkulten Symbolik ziemlich viel entstellt. Wir finden dort auch die poetischen und fantasievollen Teile – wie die Bücher der Lehrweisheit und die Psalmen, darunter das Buch Hiob – eine sehr alte Allegorie über die Prüfungen eines Initianden.

Das Neue Testament

Zum heutigen Kanon ist man infolge einer Reihe von Entscheidungen gekommen, er ist eine Auswahl aus einer größeren Anzahl von Büchern, von denen manche unter dem Namen das ‘Apokryphe Neue Testament’ veröffentlicht wurden. Es gab mehr als die vier bekannten Evangelien, und Kritiker konnten nachweisen, dass die heutigen Evangelien offenbar älteren Evangelien entnommen wurden. Wir geben hier einzelne Zitate aus The Esoteric Character of the Gospels von H. P. Blavatsky wieder, die in ihrer Zeitschrift Lucifer im November 1887 veröffentlicht wurden:

… Daher ist die Bibel nicht das ‘Wort Gottes’, sondern sie enthält bestenfalls die Worte fehlbarer Menschen und unvollkommener Lehrer. Wenn sie aber esoterisch gelesen wird, dann enthält sie – wenn auch nicht die ganze Wahrheit – so doch ‘nichts als die Wahrheit’, einerlei unter welchem allegorischen Gewande. …

… Die Bibel kann so wenig wie irgendeine andere Schrift der großen Weltreligionen von jener Klasse allegorischer und symbolischer Schriften ausgenommen werden, die seit vorgeschichtlichen Zeiten in mehr oder weniger verhüllter Form Behälter für die geheimen Lehren der Einweihungsmysterien gewesen sind. Die ersten Schreiber der ‘Logia’ (jetzt die Evangelien) kannten bestimmt die Wahrheit, und zwar die ganze Wahrheit; aber ihre Nachfolger hatten – ebenso bestimmt – nur Dogma und Form, welche im innersten Kern eher zu hierarchischer Macht führte, als in den Geist der Lehren des sogenannten Christus. Daher auch die allmähliche Verdrehung. …

… Er weiß auch, dass der christliche Kanon, besonders die ‘Evangelien’, die ‘Apostelgeschichte’ und die ‘Briefe’ aus Fragmenten gnostischen Wissens zusammengestellt worden sind, deren Fundament vorchristlich ist und auf den MYSTERIEN der Initiation basiert. …

… Denn je mehr man alte religiöse Texte studiert, desto klarer erkennt man, dass die Quelle des ‘Neuen Testaments’ dieselbe ist, wie das Fundament der ‘Veden’, der ägyptischen Theogonie und der mazedonischen Allegorien. …

Man kann sagen, dass die Evangelien symbolische Erzählungen sind, heilige Schriften, die von unbekannten Autoren aus dem Gedächtnis oder anhand von Notizen niedergeschrieben wurden. Später wurden sie zu einer kanonischen Sammlung zusammengetragen und als buchstäbliche anstatt als symbolische Wahrheit angenommen. Aber über dieses Thema können wir mehr sagen, wenn wir auf die einzelnen Lehren eingehen.

Was die Briefe des Paulus anbelangt, ist klar, dass er das lehrte, was jetzt als das Christentum angesehen wird. Für ihn ist Christus der allen Menschen innewohnende Geist. Er spricht wie ein Initiierter, der die Menschen mahnt, das alte, körperbetonte Leben abzulegen und das neue Leben zu wählen, durch das sie sich des innewohnenden Christus bewusst werden und zum Leben erwachen. Was Paulus beschäftigt ist die Vollendung und die Errettung in diesem Leben, nicht in einem zukünftigen. Als initiierter Lehrmeister, der er offensichtlich ist, kann er nicht sein gesamtes Wissen weitergeben, schon gar nicht in öffentlichen Briefen. Er bemüht sich jedoch, seine Botschaft den Möglichkeiten der verschiedenen Gemeinden anzupassen, an die er sich wendet.

Die Schöpfung

Die Schöpfung des Universums und des Menschen nimmt in allen Kosmogonien einen sehr wichtigen Platz ein und stellt eigentlich das erste Kapitel in den Lehren der alten Weisheitsreligion dar. Es wäre von Vorteil, wenn im Christentum anstatt von ‘Schöpfung’ von ‘Evolution’ gesprochen würde, da das Wort ‘Schöpfung’ mit der Auffassung von einem persönlichen Gott verbunden ist, der das Universum aus dem Nichts erschaffen hat. Wir werden uns hier im Rahmen der christlichen Schriften ausschließlich mit dem Thema Evolution beschäftigen.

In den ersten Kapiteln der Genesis (in der Bedeutung von ‘entstehen’ oder ‘werden’) finden wir eine ziemlich verwirrende und verkürzte Version dessen, was in älteren Schriften in einer vollständigeren und genaueren Form gefunden werden kann. Sie ist direkt den chaldäischen Schriften früheren Datums entnommen. Einige dieser Schriften wurden von Archäologen entdeckt. Es gibt jedoch noch ältere Spuren in den heiligen Schriften des alten Persien und Indien. Gleichartige Abhandlungen finden wir ebenso in China, in der Mythologie des alten Skandinavien und sogar im Alten Amerika. Wir nennen hier zwar nur einige Quellen, aber ohne Übertreibung kann man sagen, dass überall auf der ganzen Erde dieselben Überlieferungen vom Beginn der Welten und von der Evolution des Menschen gefunden werden können.

Das Wort ‘Gott’ ist im Hebräischen Elohim. Dies ist ein Plural und bedeutet ‘Götter’ oder ‘Geister’; es bezieht sich auf die schöpferischen Kräfte. Zuerst existierte nichts als Chaos, Leere, oft angedeutet durch die Wasser oder die Große Tiefe. Die schöpferischen Geister schwebten über den Wassern, und als erstes wurde das Licht geschaffen. Aus diesem Licht kommen die Welten und alle lebendigen Geschöpfe hervor. Bezüglich der Schöpfung des Menschen lesen wir:

Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.

Genesis 2,7

Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn; männlich und weiblich schuf er ihn.

Genesis 1, 26-27

Im Allgemeinen gibt es zwei Bedeutungen der Schöpfung des Menschen. Er wurde erstens als eine lebendige Seele (oder besser als eine animalische Seele) erschaffen, und zweitens wurde er göttlich. Diese beiden Bedeutungen hat man in der Bibel umgestellt. Aus theosophischer Sicht allerdings ist die Schöpfung des irdischen Menschen eher dreifältig: zuerst der Träger aus dem Staub der Erde; dann wird dieser mit dem Atem des Lebens beseelt; schließlich wird diese animalische Seele mit göttlichen Fähigkeiten begabt – erschaffen nach dem Bild der Götter (Elohim). Die Pluralform Elohim wurde aus einem unerfindlichen Grund mit Gott oder Gott der Herr übersetzt; es bedeutet schöpfende Geister, göttliche Wesen. Die Lehre über die zweifältige Schöpfung des Menschen hat ihre Berechtigung, denn sie verweist auf die duale Natur des Menschen und wodurch er sich von der animalischen Schöpfung unterscheidet. Die ersten Menschen waren ‘vernunftlos’, nicht selbstbewusst; und in einem gewissen Stadium der Evolution des Menschen wurde sein innerer Gott von den Manasaputras oder Söhnen des Denkens, welche in die werdende menschliche Rasse inkarnierten und ein selbstbewusstes, verantwortliches Wesen aus dem Menschen machten, zum Leben erweckt.

Die Geschichte wird in der Legende vom Garten Eden fortgesetzt. Dieser Garten stellt den Zustand des Menschen dar, bevor er selbstbewusst wurde; er war ohne Sünde, aber auch ohne die Fähigkeit sich weiterzuentwickeln, denn er konnte nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden. Dann begegnet dem Menschen das, was man die Verführung nennt. Eine Schlange, die als sehr weise beschrieben wird, erscheint ihm und überredet ihn, seinen freien Willen anzuwenden und sich gegen Gott aufzulehnen. Um diesen freien Willen zu erwerben, muss er vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse essen. Er tut das und verliert damit den Zustand des unschuldigen Glückes, wird selbstbewusst und kann zwischen Gut und Böse unterscheiden. Er wird aus dem Garten Eden vertrieben und beginnt in der äußeren Welt ein mühevolles Leben.

Diese Lehre ist von der Theologie zu einem Fluch und Sündenfall verstümmelt worden. Adam wurde als Sünder dargestellt und übertrug seine Sünde auf all seine Nachkommen. Alle Menschen sind somit in Sünde geboren und bedürfen eines besonderen göttlichen Opfers, um gerettet zu werden. Aber in der ursprünglichen Lehre sind dieser sogenannte Sündenfall und das Auf-die-Probe-Stellen ein notwendiges Stadium in der Evolution des Menschen. Die Schlange (die von der Theologie zu einem Teufel gemacht wurde) ist nichts anderes als Gott, wenn auch in anderer Form; denn dieser Gott, der Herr, ist nicht die allerhöchste Gottheit, sondern die schöpfenden Geister (Elohim,) welche die ersten, nicht erleuchteten Menschen schufen. Die Schlange ist nicht der Teufel, sondern stellt die Söhne des Denkens dar, die – wie gesagt wurde – die Menschheit erleuchteten und sie lehrten, wie sie an der Frucht der Erkenntnis Teil haben und ‘wie die Götter werden’ könnten. Wir finden dieses Mysterium in der griechischen Mythologie, in der Geschichte des Prometheus, der sich gegen Zeus auflehnt und das Feuer aus dem Himmel zur Erleuchtung der Menschen bringt. Prometheus und die Schlange aus dem Garten Eden sind eins mit Luzifer, dem Lichtbringer. Auch er wurde von der Theologie in einen Teufel verwandelt.

Satan oder der Rote Feurige Drache, der ‘Herr des Phosphors’, und Luzifer oder der ‘Lichtträger’ sind in uns: Er ist unser Denkvermögen – unser Versucher und Erlöser, unser intelligenter Befreier und Retter aus dem rein Animalischen. Ohne dieses Prinzip – der Emanation aus der eigentlichen Essenz des rein göttlichen Prinzips Mahat (Intelligenz), welches unmittelbar aus dem Göttlichen Denkvermögen ausstrahlt – würden wir sicherlich nicht besser sein als die Tiere. Der erste Mensch Adam war nur zu einer lebendigen Seele (Nephesch) gemacht, der letzte Adam war zu einem beseelten Geist gemacht – sagt Paulus, dessen Worte sich auf die Bildung oder Schöpfung des Menschen beziehen.

The Secret Doctrine, II:513

Weil diese wunderschöne Wahrheit nicht mehr verstanden und falsch ausgelegt wurde, fing man an, die menschliche Natur herabzusetzen. So begann der Mensch, sich selbst als verdorben zu betrachten. Er glaubte, dass zwischen ihm und seiner eigenen Natur Feindschaft bestünde. Er misstraute seiner eigenen Intelligenz und Freiheit des Denkens, und er verfluchte sich selbst für die Ausübung der einfachen und natürlichen Handlung des Denkens, was jedoch nur im Falle des Missbrauchs als Sünde angesehen werden kann oder wenn der menschliche Geist selbst es mit Schuld und Unreinheit verbindet.

Diese Erzählung von der Schöpfung des Menschen und seinem sogenannten Sündenfall steht in natürlichem Zusammenhang mit der Geschichte von der Erlösung, welche ebenfalls eine großartige Lehre darstellt, jedoch im Laufe von jahrhundertelanger Verdunklung verloren ging und zu einer ganz anderen Geschichte wurde.

Die Sintflut

Auch dies ist eine heilige Allegorie, die alle Völker gemeinsam haben. Die Geschichte von der universalen Sintflut ist wohlbekannt, und man begegnet ihr überall. Sie wird als eine Überlieferung der Überschwemmungen betrachtet, die auf Teilen der nördlichen Halbkugel der letzten Eiszeit folgten. Und wenn es auch völlig richtig ist, dass eine wirkliche Sintflut stattfand – eine von den vielen, wie Geologen einräumen –, verbirgt sich dennoch in der Legende viel mehr als nur ein materieller Aspekt. In seinem Buch Myths of the New World hat Daniel Brinton bei verschiedenen Stämmen Nord-, Mittel- und Südamerikas verschiedene Erzählungen von Überschwemmungen zusammengetragen. Bemerkenswert ist die große Ähnlichkeit von Besonderheiten wie der Arche, das Stranden auf einem Berg und dass Vögel ausgesendet werden.

Im sumerischen Schöpfungsepos, das tausend Jahre älter ist als die Genesis, geht die Sintflut dem Sündenfall voraus. Erzählungen über Sintfluten mit Archen und anderem findet man im alten Indien, der nordischen Edda, der finnischen Kalevala, dem mexikanischen Popul Vuh, bei afrikanischen Stämmen und bei den Polynesiern. Auch die griechische Geschichte über Deukalion und Pyrrha, die der Sintflut entkamen und die Erde aufs Neue bevölkerten, indem sie Steine hinter sich warfen, ist den Lesern der Klassiker wohlbekannt. Solche Überlieferungen sind immer mit einer Reinigung der Erde durch die Vernichtung der verdorbenen Menschen verbunden; und immer gibt es da eine Arche oder ein heiliges Fahrzeug, in dem sich einige Menschen für die Gründung einer neuen Rasse retten können.

Ist das ausschließlich materiell und historisch oder ist es allegorisch? Beides, denn dem allgemeinen Muster entsprechend reflektieren physische Geschehnisse die spirituellen. Tatsächlich haben periodisch Veränderungen der Erdkruste stattgefunden, die mit dem Versinken von altem und dem Auftauchen von neuem Land zusammentrafen, was die Geologie bestätigt hat. Aber diese Ereignisse waren nur die äußeren Begleiterscheinungen von großen moralischen Veränderungen. Sie traten auf, als große Rassen sich ihrem Ende näherten und neue Menschenrassen mit ihrer Entwicklung begannen. Mit Rasse meinen wir hier eine der großen Wurzelrassen, von denen jede mehrere Millionen Jahre besteht. Das ist die allgemeine Bedeutung der Flut, aber die zahlreichen, von uns angesprochenen Erzählungen beziehen sich gewöhnlich vor allem auf die letzte große Sintflut, die zum Untergang von Antlantis oder dem zuletzt davon übrig gebliebenen Festland führte. Atlantis war die Heimat der vierten Wurzelrasse, welcher die gegenwärtige fünfte folgte. Als die atlantische Rasse das Ende ihres Zyklus erreicht hatte, waren viele dem groben Materialismus verfallen und zu Schwarzmagiern geworden; sie hatten die Gestalt von Riesen, die Bibelgeschichte erzählt davon; und sie bildeten den Ursprung für die universale Überlieferung der schlechten Riesen. Der Untergang dieser verdorbenen Menschen war eine Notwendigkeit, und die Guten sollten überleben, um den Samen für die kommende Rasse zu bilden. Die griechische Mythologie kennt viele Erzählungen über halbgöttliche Gründer von Städten und Zivilisationszentren; hier wird berichtet, dass diese Gründer aus dem fernen Westen von „hinter den Säulen des Herkules“ einwanderten; und oft wird davon berichtet, dass Länder, in denen sich die Einwanderer niederließen, in den Ozean versinken und andere auftauchen.

Dass solche Erzählungen über Sintfluten überall zu finden sind und weitgehend mit denen der Bibel in Übereinstimmung stehen, wurde lange Zeit kaum in Erwägung gezogen, weil damit die Bibelgeschichte als etwas Einzigartiges und besonders Wichtiges dargestellt werden sollte. Wie jedoch bereits weiter oben erwähnt, ist das Alte Testament nichts weiter als eine Sammlung alter heiliger Schriften, die von den Juden aus den noch älteren Quellen entnommen und aufbewahrt wurden.

Erlösung und Rettung

Die Evolution von Welten oder Menschen beinhaltet den Abstieg des Spirituellen in die Materie und den Aufstieg der Materie zum Spirituellen. Ursprünglich war der Mensch ein spirituelles, aber vernunftloses und unentwickeltes Wesen, das in einem ‘Goldenen Zeitalter’ lebte, dargestellt als Garten Eden. Dann wurde in ihm von bereits selbstbewussten Wesen das Selbstbewusstsein erweckt. Der Sündenfall des Menschen ist in gewissem Sinn ein Fall, in einem anderen Sinn jedoch ist er ein wichtiger Schritt in seiner Evolution. Er verliert während einiger Zeit den Kontakt mit dem Spirituellen, um mittels der Inkarnation in dieser Welt die nötigen Erfahrungen zu sammeln. Die neue Fähigkeit des freien Willens wird nicht immer richtig angewendet. Der Missbrauch desselben ist die Ursache von Leiden und Schwierigkeiten, die ihm begegnen und manchmal ‘schlechtes Karma’ genannt werden. In Wirklichkeit jedoch sind das die Mittel, um seine Unzulänglichkeiten zu überwinden und seinen freien Willen in den Dienst des höheren Menschen zu stellen. Schließlich wird, durch die Kenntnis und Weisheit, die er aufgrund seiner Erfahrungen erworben hat, das Göttliche in ihm siegen, und er wird dann als ein größeres und vollkommeneres Wesen erscheinen. Dieser Vorgang bedeutet die wirkliche Rettung und Erlösung der gesamten Menschheit – jeder einzelnen Rasse und jedes individuellen Menschen. Im letzten Fall müssen wir natürlich berücksichtigen, dass der Mensch viele Male auf der Erde inkarniert.

Die großen Weltenlehrer sind oft auf Erden erschienen, um erneut die frohe Botschaft zu bringen oder besser gesagt, um den Menschen an sein in die Vergessenheit versunkenes Geburtsrecht zu erinnern. Denn der Mensch ist wie ein Märchenprinz, der unter dem einfachen Volk aufgewachsen ist und sich seiner königlichen Herkunft nicht bewusst ist. Selbst in den dunkelsten Jahrhunderten gab es immer einzelne Mystiker und intuitive Menschen, welche die Wahrheit erkannten. Der Große Weise (wer er auch gewesen sein mag), der das Christentum ins Dasein rief, war einer dieser Lehrer. Sogar aus den verstümmelten Fragmenten seiner uns überlieferten Lehren können wir schließen, dass er diese alte Wahrheit verkündigte. Und wir sehen, was Jahrhunderte spiritueller Verdunklung daraus gemacht haben! Während der Lehrer die Göttlichkeit des Menschen lehrte und seine Hörer auf den uralten Weg der Erlösung hinwies, erzählt uns die Bibel, dass wir im Grunde verdorben sind und es sinnlos ist, sich auf die eigene Kraft zu verlassen – wir, die nach Gottes Ebenbild erschaffen sind! Es ist die Aufgabe der Theosophie, den Christos wieder aus seinem Grab auferstehen zu lassen, in das ihn seine Jünger gelegt hatten. Denn sie ist – zweitausend Jahre nach der Entstehung des Christentums – eine neue Offenbarung derselben Weisheitsreligion. Das, was Jesus über die Pharisäer seiner Tage sagte, ist auf vieles anwendbar, was jetzt unter dem Namen von Religion angeboten wird.

Die Versöhnung oder ‘Wie Eines’ machen – theologisch als eine Versöhnung zwischen Gott und Menschen durch das Sühneopfer seines Sohnes angesehen – bekommt im Licht des vorher Gesagten einen tieferen Sinn. Es bedeutet die Vereinigung des menschlichen mit dem spirituellen Ego – mit dem eingeborenen Christos, wobei der Mensch sich bewusst wird, dass nicht sein persöhnliches Ego, sondern sein spirituelles Ego sein wahres Selbst ist.

Die Sakramente: Das Abendmahl

Und er nahm Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und reichte es ihnen mit den Worten: Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis. Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sagte: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.

Lukas 22, 19-20

Jesus sagte zu ihnen: Amen, amen, das sage ich euch: Wenn ihr das Fleich des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben, und ich werde ihn aufwecken am letzten Tag. Denn mein Fleisch ist wirklich eine Speise, und mein Blut ist wirklich ein Trank. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir, und ich bleibe in ihm.

Johannes 6, 53-56

Das Sakrament des Heiligen Abendmahls bedeutet für diejenigen, welche sich hingebungsvoll daran beteiligen, sehr viel; aber es könnte wesentlich mehr bedeuten. Es verdankt seine Heiligkeit und Kraft dem erhabenen Ursprung in einem der schönsten Riten in den Mysterienschulen der Vergangenheit. Dass sein Einfluss zum Guten in der Welt nicht größer ist und dass es allmählich zu einer Quelle der Uneinigkeit wurde, ist eine Folge der Tatsache, dass es uns in einer entstellten und falsch verstandenen Form überliefert wurde. Das Studium der alten Mysterien macht deutlich, dass Brot und Wein eine wichtige Rolle im Initiationsritual und ebenso in den kleineren Mysterien spielen, die für das Publikum dargestellt wurden. In den größeren Mysterien werden die Kandidaten in das eingeweiht, was Jesus das Königreich Gottes oder das Himmelreich nannte. Oft wird von Wein oder Blut gesprochen und beide Worte stehen für das spirituelle Leben. In diesem Sinne werden sie auch im Neuen Testament gebraucht. Ebenso finden wir im Neuen Testament auch die Begriffe Brot und Getreide oder Fleisch. Diese beziehen sich auf das irdische, sterbliche Leben. Gemeinsam deuten sie auf die höhere und niedere Natur des Menschen hin.

Es handelt sich hier um Symbole, die in den alten Mysterien gebraucht wurden, wobei eine zweifache Einweihung stattfand – symbolisiert durch Brot und Wein oder durch Fleisch und Blut. Der Körper und die niedrigeren Prinzipien des Kandidaten mussten rein sein, bevor er die Taufe mit dem Blut oder dem Wein des Geistes empfangen konnte. Diese Tatsachen aus den griechischen und anderen Mysterien können anhand jeder Enzyklopädie oder jedes Buches über dieses Thema verifiziert werden. In der Bibel finden wir häufig Hinweise. Wir wollen hier noch ein Zitat anführen, diesmal aus dem Gespräch mit Nikodemus (Johannes 3, 3-5):

… Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus entgegnete: Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, geboren werden? Er kann doch nicht in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und ein zweites Mal geboren werden. Jesus antwortete: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen.

Hier haben wir die zwei Geburten, die erste aus Fleich und die zweite aus Wasser und Geist. Diese Lehre über die zweite Geburt ist das Hauptthema bei Paulus. Es ist überraschend, dass man ihr nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat. Man hat höchstens an eine Geistes- oder Gemütsverfassung gedacht, die von reiner Selbstzufriedenheit bis zu wahrhaftiger Heiligkeit des Charakters schwankt. Aber durch den Glauben an die Erbsünde und das stellvertretende Sühneopfer und das Nichtwissen über Reinkarnation wurde die wirkliche Bedeutung verdunkelt und ging verloren.

Diese alten Lehren sind dennoch unsterblich. Deshalb überdauern sie die Jahrhunderte, wenngleich nur als Ritual. Die Zeit wird kommen, in der sie wieder zu Ehren gelangen. Das Abendmahl wird immer noch gefeiert, um göttliche Gnade zu bitten und auch als eine Erinnerung. Manche legen großen Wert auf den Glauben an die wunderbare Wandlung von Brot und Wein in das wirkliche Fleisch und Blut Christi.

Die Sakramente: die Taufe

Auch die Taufe ist ein Ritus, der den alten Mysterien entnommen ist. Es war die äußere und sichtbare Form eines Reinigungsprozesses, dem sich der Kandidat vor seiner Einweihung unterziehen musste. Jeder Kult kannte diese Einweihungswaschungen. Im Christentum bedeutet es die Zulassung zur Kirche und wird als eine Reinigung von Sünden, eine Verbindung mit Gott und als eine Gabe des Geistes betrachtet.

Die Sakramente werden im Katechismus als die äußeren und sichtbaren Zeichen einer inneren und spirituellen Gnade umschrieben; sie wiederholen körperlich, was spirituell bereits stattgefunden hat, sonst wäre die Zeremonie nicht mehr als eine leere Form. Die Taufe kann auf zwei Arten stattfinden: durch Wasser oder durch Feuer – in Übereinstimmung mit den beiden Formen des Abendmahls, die bereits erwähnt wurden. Der Kandidat für die Taufe sollte eigentlich in einem Alter sein, in dem er die Bedeutung der Zeremonie völlig verstehen kann. In der heutigen Zeit, in der sich unser Wissen über die Natur so sehr auf Äußerlichkeiten beschränkt, haben wir das innere Wissen über die Natur, über den Menschen und seine Verbindung zu ihr verloren, Wissen, das der Mensch in alten Zeiten besaß. Die Riten und Gebräuche, über die wir in der griechischen und römischen Geschichte lesen oder die bei alten und orientalischen Rassen üblich waren, kommen uns wie Aberglauben vor, weil wir die wahre Bedeutung nicht verstehen. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass die Griechen und Römer selbst in späteren Zeiten die Bedeutung aus den Augen verloren hatten und die Zeremonien einfach fortsetzten, weil es der Brauch war. Aber ein tiefergehendes Studium zeigt, dass sie ihren Ursprung in den Lehren der Alten Weisheit haben. Es ist merkwürdig, dass wir diese alten Rituale noch immer pflegen. Die Ursache liegt in dem unsterblichen Leben, das hinter Zeremonien verborgen liegt und so über die Zeitalter hindurch erhalten blieb – gleich einem Samen, der vom Schnee verdeckt ist –, bis für sie die Zeit anbricht, zu neuem Leben erweckt zu werden.

Vom Mond zur Erde

Genauso wie die Erdkette am Ende der siebten Runde sterben und nach einer Ruheperiode wiedergeboren werden wird, ist sie selbst die Wiederverkörperung einer früheren Planetenkette von einer niedrigeren Evolutionsstufe. Der Mond stellt den Rest von Globus D dieser früheren Kette dar, und daher nennen wir diese frühere Gruppe von Globen die Mondkette. Heute ist sie nicht mehr als ein Schatten oder Phantom, aber einst war der Mond ebenso lebendig wie die Erde heute. Als vitale Globenkette war er einst die Bühne für die Entwicklung von sieben Lebenswogen.

Als die Lebenswogen sieben Mal die sieben Globen der Mondkette durchlaufen und alle Erfahrungen assimiliert hatten, die dort möglich waren, begann der Sterbeprozess dieser Kette, ein Prozess völliger Auflösung der kohäsiven Kräfte aller sieben Globen. Nach einer langen Periode der Inaktivität begannen diese Energien, neue Zentren im kosmischen Raum zu vitalisieren. Diese sieben Zentren könnten wir die sieben Lebenssamen nennen, die dazu bestimmt waren, die sieben Globen der Erdkette zu werden, als sie Äonen später während der ersten Runde der neuen Kette von den zyklisch wiederkehrenden Lebenswogen erweckt wurden.

H. P. Blavatsky gibt in ihrem tiefgründigen Werk Die Geheimlehre (GL) eine schematische Darstellung, welche diesen Übergang der Lebenskräfte von einer Kette zur anderen darstellt (GL I). Wir übernehmen diese Darstellung, die natürlich nicht buchstäblich zu betrachten ist, obwohl aus ihr viele Anregungen gewonnen werden können.

TP 8 Diagramm 2

Abbildung 1 stellt die sterbende Mondkette dar, während Abbildung 2 für eine noch nicht manifestierte Reihe von Globen steht – die künftige Erdkette.

Von A nach D werden die Globen immer dunkler, was auf die stufenweise Vergröberung von Substanz und Bewusstsein von Ebene I bis IV hinweist. Jeder Globus der Erdkette ist heller als der entsprechende Globus der Mondkette dargestellt, was darauf hinweist, dass die Erde etwas etherischer ist als der Mond. Die neue Erdkette ist also eine etwas feinstofflichere Offenbarung als die alte Mondkette. Dies beweist das Naturgesetz der Wiederholung in Verbindung mit einer gleichzeitigen Vorwärtsbewegung –das Prinzip der Spirale. Dies ist kein willkürliches Gesetz, sondern wird von dem inneren Drang jeder Wesenheit verursacht, das zum Ausdruck zu bringen, was sie im Inneren ist.

Der Mond ist jetzt ein toter Astralkörper und trotzdem sendet er noch immer etwas zur Erde, was man als die Überreste von Lebenskräften bezeichnen könnte, die das Leben auf diesem Planeten stark beeinflussen. Diese Tatsache trägt zur Erklärung vieler Phänomene bei, die uns rätselhaft erscheinen. Die Wirkung der Gezeiten ist allgemein bekannt, genauso wie die Rolle, die der Mond bei der Empfängnis und bei der Schwangerschaft spielt. Der Zyklus vieler Krankheiten stimmt mit den Mondphasen überein, und der Einfluss des Mondes auf das Pflanzenwachstum kann beobachtet werden. Heute wird immer mehr über diese Beziehung gesprochen und geschrieben.

Seit Äonen ist es dem Mond bestimmt, seinen ‘Sprösslingen’ zu folgen. Aber bevor die siebte Runde dieser Erdkette beginnt, wird er sich völlig aufgelöst haben, weil die letzten Reste seiner Energie von der Erde aufgenommen und zu erneuernden Kräften umgewandelt sein werden, die beim allmählichen Aufstieg der ganzen Kette jetzt eine Rolle spielen und den Lebenswogen helfen, die auf dem Weg zu ihrem spirituellen Ziel sind. Da Merkur und Venus in ihren Runden weiter fortgeschritten sind als die Erde, haben sie keine Monde mehr.

Die Geschichte der sieben Lebenswogen während der dreieinhalb Runden, die sie bereits zurückgelegt haben, gehört zu den schwierigsten Lehren der Alten Weisheit. Wir umreißen hier einige allgemeine Ideen, die denjenigen als Einführung dienen können, die das Thema in weiterführenden theosophischen Werken studieren wollen.

An erster Stelle müssen wir bedenken, dass alle Wesenheiten, die nach dem Ende der Mondkette und einer entsprechenden Pause für ihr Wachstum und ihre Evolution eine passende neue Umgebung suchten, zwei Dinge vollbringen mussten. Sie mussten Körper gestalten – innere und äußere –, mit denen sie arbeiten konnten, und sie mussten die Globen der Kette selbst aufbauen. Sie fingen sozusagen hüllen- und obdachlos an. Alle Klassen von Wesenheiten halfen beim Aufbau, jede lieferte ihren Beitrag in Form von Fähigkeiten, die sie während des langen Aufenthalts auf der Mondkette erworben hatte. Auf diese Weise wurde in der Ersten Runde die Strecke markiert, und die Bahnen für den siebenfältigen Planetenumlauf wurden festgelegt.

Was jedoch den Prozess komplizierter macht und ihn gleichzeitig von einem rein mechanischen Vorgang unterscheidet, ist die Tatsache, dass am Anfang jede Klasse von Wesenheiten – wie zum Beispiel die Klasse, die dazu bestimmt war, die Menschheit dieser Erdkette zu werden – ihre früheren Erfahrungen in Kürze wiederholen musste, indem sie erst alle niedrigeren Formen zu durchlaufen hatte. Das ist eine in der Natur immer wiederkehrende Regel, und zwar eine sehr weise: nämlich dass zu Beginn einer neuen Lebensperiode die Wesen, die den Lebensfaden da wieder aufnehmen, wo sie ihn in der vorhergehenden Periode zurückließen, erst kurz auf die früher erreichten Zustände zurückblicken müssen. So weben die Wesen alle in der Vergangenheit erworbenen Kenntnisse in das Gewebe ihres gegenwärtigen Bewusstseins ein und helfen damit gleichfalls den weniger fortgeschrittenen Klassen von Wesenheiten.

Das bedeutet, dass diejenigen, denen es bestimmt war, zum Menschenreich zu gehören, in ihrem Wachstum nicht ohne Unterstützung blieben. Woher kamen diese höheren Wesen, die uns geholfen haben?

Als das Leben des Mondes zu Ende ging, waren nicht alle seine Bewohner in gleichem Maße evolviert – was jetzt auch auf die Erde zutrifft. Und so muss es notwendigerweise sein, wenn unser Planet seine Lebensspanne beendet. Immer schon gab es einige Wesen, die in ihrer Entwicklung die Gesamtheit an Möglichkeiten in einem bestimmten Manvantara oder in einer bestimmten Entwicklungsperiode repräsentierten. Sie waren die Führer, sie trugen die schwerste Verantwortung und am Ende waren sie die für jenes Stadium der Evolution vollkommen gewordenen Wesen.

Solche vollkommenen Wesen – die entwickelte Menschheit der Mondkette – waren die ersten, die auf Globus A der Erdkette ankamen und die in den dreieinhalb Evolutionsrunden die Führung übernahmen, in denen sich die neue Menschheit entwickelte. Sie beaufsichtigten die Erbauer von Formen. Diese letztere Gruppe waren Wesen, die nach der Vollendung ihrer Reise im Tierreich der Mondkette nun versuchten, das Menschenreich zu betreten. Sie waren es, welche die Elementalreiche, das Mineralreich, das Pflanzen- und Tierreich durchwanderten, so dass sie ein instinkthaftes Wissen über diese niederen Formen besaßen. Als sie jedoch in der vierten Runde (und besonders zu der Zeit, als sie Globus D erreichten) bereit waren, den Bau des menschlichen Vehikels zu vollenden, erwiesen sich ihre Fähigkeiten als zu eingeschränkt. Sie waren nicht imstande, etwas Besseres oder Höheres hervorzubringen, als den astralen, leidenschaftlichen Menschen; das entsprach ihrem Erbe von der Mondkette.

Das Wachstum der menschlichen Rasse wäre vollständig zum Stillstand gekommen ohne die Vermittlung und die Hilfe jener spirituellen Wesen, die das Höchste der Mondkette repräsentierten und die in der unvollkommenen Menschheit das Feuer des Denkens entzündeten. Sie ermöglichten es der Menschheit, die Lücke zwischen dem niederen Vehikel und dem inneren göttlichen Funken zu überbrücken, wodurch sie sich aus den Mühsalen der Materie zu den strahlenden Reichen des Geistes emporheben kann.1

Bisher haben wir jedoch den wahren Wert dieses göttlichen Geschenks noch nicht erkannt. Zu oft haben wir es für niedere Zwecke preisgegeben. Nur zu oft beschränken wir uns in unserem Bewusstsein auf den Menschen, der isst, persönlich liebt und hasst, der leidet und sündigt, der sich abmüht, um für die Bedürfnisse seines Körpers zu sorgen, und für den alles, was seine kurze Lebensspanne übersteigt, ein Mysterium ist.

Diese niedere Natur ist in sich unfassbar komplex, mit trügerischen Kräftezentren, die jene Menschen, deren Bewusstsein hauptsächlich im Gehirnverstand zentriert ist, in ein Labyrinth der Verwirrung führen, wenn sie versuchen, sie zu erforschen. Trügerische Kräfte, die beim Schlafwandeln, in der Hypnose, bei einer gewissen Art von Hellsehen zutage treten; geheimnisvolle, ans Licht kommende Aspekte des Bewusstseins, wie die doppelte Persönlichkeit und andere abnormale Phänomene – sie alle gehören zu dem unentwickelten, wachsenden, niederen Teil des Menschen, zu seiner Mondnatur.

Es ist diese Natur, die mit Hilfe höherer Wesen innerhalb und oberhalb von uns im heutigen Erdzyklus geschult wird und dazu bestimmt ist, verfeinert, gestärkt und gereinigt zu werden, um sich schließlich mit der spirituellen Sonne innerhalb der menschlichen Konstitution zu vereinen und damit die vollkommene Menschheit der siebten Runde dieser Erdkette hervorzubringen.

Fußnoten

1. Das Erwachen des Denkvermögens wird später in diesem Buch ausführlicher besprochen. [back]

Runden und Rassen

Aus dem Ozean der Zeit und aus dem Ozean des Lebens geht die Manifestation der menschlichen Rasse zu Leben und Licht hervor. Von alters her stand es geschrieben, in den ältesten Büchern. Das Verständnis dafür ist jedoch dem Auge und dem Verstand verborgen.

– Aus dem Vorwort des Popul Vuh (Altes Amerika)

Nach den alten Lehren über die Evolution des Menschen gibt es sieben Wurzelrassen, von denen unsere Rasse die fünfte ist. Unsere Rasse als solche begann vor etwa 1 000 000 Jahren, und wir befinden uns jetzt ungefähr in der Mitte ihres Zyklus. Jede Wurzelrasse ist in sieben Unterrassen unterteilt, die wiederum in Familienrassen mit einer Dauer von ungefähr 30 000 Jahren unterteilt sind.

Jede Rasse und Unterrasse durchläuft ihre eigenen Runden von Geburt, aktiver Reife und Verfall. Dieselben Perioden finden wir sowohl in den Zivilisationen jeder Unterrasse als auch in den sich fortsetzenden Aufteilungen der Menschheit in verschiedene Nationen, Staaten, Gesellschaften und Familiengruppen. In Übereinstimmung mit den verschiedenen Zyklen der menschlichen Existenz vermehrt sich die Anzahl sich manifestierender Formen und Kräfte in den Naturreichen, wenn der spirituelle Mensch in das materielle irdische Leben herabsteigt.

Diesen Abstieg nennt man den Schattenbogen eines Entwicklungszyklus. In der Mitte oder am niedersten Punkt dieses Zyklus beginnt sich die irdische Materie zu verfeinern, und die menschlichen Egos beginnen ihre allmähliche Reise aufwärts – dem aufsteigenden Bogen zu einem erhabenen, spirituellen Zustand folgend. Der gesamte Vorgang wird als planetarisches Manvantara bezeichnet, das alle neunundvierzig Runden der sieben Rassen der Menschheit enthält und auch die Lebensdauer der Erde kennzeichnet. Die Alten nannten diesen planetarischen Zyklus einen Tag Brahmās, eine Periode manifestierten Lebens von 4 320 000 000 Jahren. Dieser grobe Umriss einer sich wiederholenden Zeitperiode zeigt dieselbe rhythmische Bewegung im großen Rad, welche die gesamte irdische Reihe von ‘Ereignissen’ kennzeichnet. Dieses Universalgesetz des Fortschritts, das durch aufeinanderfolgende Perioden der Aktivität und der Ruhe wirkt, deutet in jeglicher Evolution auf ein und dasselbe Ziel hin. H. P. Blavatsky sagt über das Verhältnis zwischen der Menschheit und der Erde:

… es ist eine Sache des Abstiegs in die Materie, der Anpassung – sowohl im mystischen als auch im physischen Sinn – der beiden und ihrer Vermischung für den großen, kommenden „Kampf ums Dasein, der beide Wesenheiten erwartet“. „Wesenheit“ mag als ein sonderbarer Ausdruck erscheinen, wenn er für einen Globus gebraucht wird; aber die alten Philosophen, die in der Erde ein mächtiges „Tier“ sahen, waren in ihrer Generation weiser als unsere modernen Geologen in der ihren; und Plinius, der die Erde unsere gütige Amme und Mutter nannte, das einzige Element, das dem Menschen nicht feindlich gesinnt ist, stand der Wahrheit näher als Watts, der in seiner Phantasie in ihr den Fußschemel Gottes sah. Denn die Erde ist bloß der Fußschemel des Menschen bei seinem Aufstieg in höhere Regionen, … .

The Secret Doctrine, I: 154.

Unsere Erde muss sieben Runden durchlaufen.

Während der ersten drei [Runden] bildet und konsolidiert sie sich; während der vierten gewinnt sie an Festigkeit und wird härter; während der letzten drei kehrt sie stufenweise zu ihrer anfänglichen, etherischen Form zurück. Sie wird sozusagen spiritualisiert.

Ihre Menschheit entwickelt sich erst in der vierten – unserer gegenwärtigen Runde – vollständig. Bis zu diesem vierten Lebenszyklus wird sie nur in Ermangelung eines angemessenen Ausdrucks als „Menschheit“ bezeichnet. Gleich der Raupe, die zur Puppe und zum Schmetterling wird, geht der Mensch während der ersten Runde – oder vielmehr das, was zum Menschen wird – durch alle Formen und Reiche. Während der zwei folgenden Runden durchschreitet er alle menschlichen Formen. Mit dem Beginn der vierten Runde erreicht der Mensch unsere Erde und ist in der gegenwärtigen Reihe von Lebenszyklen und Rassen die erste Form, die auf derselben erscheint, wobei ihm lediglich das Mineral- und das Pflanzenreich vorausgehen – selbst das letztere muss seine weitere Evolution durch den Menschen entwickeln und fortsetzen.

– Ebenda, I:159

Wenngleich das Absolute, aus dem die Universen hervorgehen, für den begrenzten Verstand immer das Unbekannte bleiben muss, können wir doch im Falle des Menschen und der Erde etwas über den periodischen Anfang ihrer Manifestation wissen. Das betrifft und interessiert uns natürlich am meisten. Die Erde stellt die Wiederverkörperung jener Lebensatome dar, jener Kräfte und bewusster Wesenheiten, die einst die Planetenkette des jetzt toten Mondes beseelten. Die Lebenswogen vieler Arten – von den Mineralien bis zum Menschen – verließen die Globenkette des Mondes, als die Zeit für seine lange, interplanetarische Ruhe im Raum gekommen war.

Als das kosmische Uhrwerk die Stunde für den Anbruch einer neuen Manifestationssperiode schlug, fühlten die Atome und die intellektuellen, materiellen und spirituellen Kräfte des schlafenden Universums den Drang, sich zu einem neuen ‘Tag’ planetarischen Lebens zu versammeln. Wie immer arbeiten Natur und Mensch für den großen neuen Zyklus zusammen. So wie die künftige Erde anfangs ‘formlos und leer’ war, so waren die frühesten Formen des künftigen Menschen vage und etherisch. Dann, als der innere Mensch seine zyklische Reise durch immer dichter werdende Stufen von Materie hinab machte und sich in einen physischen Körper kleidete, war es die Erde, die ihn mit ‘Kleidern von Fellen’ versah. Diese physischen ‘Kleider’ tragen wir heute, mit dem unsichtbaren Astral- oder Modellkörper im Inneren, Zelle um Zelle.

Der Mensch drückt den materiellen Atomen, die in seinem Körper zirkulieren, seinen Stempel auf; und sie nehmen diesen Eindruck mit sich, wenn sie ihn wieder verlassen, um aufs Neue als Bausteine in der Natur benutzt zu werden. Daraus lässt sich die große Verantwortung des Menschen und seine Verbundenheit mit allen übrigen Naturreichen erkennen.

Hilf der Natur und arbeite mit ihr zusammen. Dann wird die Natur dich als einen ihrer Schöpfer betrachten und dir gehorsam sein.

– H. P. BLAVATSKY, Die Stimme der Stille, S. 29

So wie alles in der Natur ist die Erde eine siebenfältige Wesenheit. Darum besitzt die sichtbare Erde, die ihre eigenen sieben verschiedenen Abstufungen von Substanz und Charakter hat, noch sechs weitere Globen, die mit ihr durch das Universum kreisen. Gemeinsam bilden sie das, was eine Planetenkette – und in diesem Fall die ‘Globenkette der Erde’ – genannt wird. Die Globen stimmen mit den verschiedenen Zuständen des menschlichen Bewusstseins überein, das dazu bestimmt ist, in seiner evolvierenden siebenfältigen Natur tätig zu sein. Für den Menschen ist nur sein grober Körper sichtbar, weil er auf dem vierten, festen Globus Erde verkörpert ist, der seinen Körper repräsentiert. Die Globen durchdringen einander und „sind MITEINANDER VERBUNDEN, aber nicht SUBSTANZGLEICH MIT UNSERER ERDE“ (The Secret Doctrine, I: 166).

Dieses Thema betrachtet man am besten in seinem metaphysischen und spirituellen Aspekt, der mit dem inneren Reich unseres Wesens korrespondiert. Sind nicht die Zyklen der materiellen Existenz mit den unsichtbaren Welten des Denkens und Fühlens verbunden? Und ist es nicht auch im Traumzustand so, dass wir dann in einer Welt sehen, denken und handeln, in der Zeit, Raum und Schwerkraft vollständig auf astrale Vibrationen eingestellt sind, unabhängig von den bekannten Gesetzen der Physik? Im tiefen, traumlosen Schlaf und in extatischen Visionen betritt man eine spirituelle Welt. Der Mensch ist letztendlich dazu bestimmt, seinen Zyklus durch all diese Globen hindurch bewusst in Übereinstimmung mit den verschiedenen Zuständen seiner eigenen zusammengesetzten Natur zu vollenden. Und dann, am Ende des großen planetarischen Zyklus, wird der Horizont des vollkommen gewordenen Menschen alle seine früheren Erfahrungsrunden in vollem Bewusstsein miteinschließen.

Der dreifältige evolutionäre Drang, der sich im Menschen physisch, mental und spirituell entfaltet, stammt aus dem göttlich-spirituellen, monadischen Einfluss oder Strahl, der im Herzen jedes Dings und jedes Lebewesens ist. Der Strom menschlicher Egos, der auf unserer Erdkette evolviert, ist begrenzt, obwohl die tatsächliche Zahl für uns nicht berechenbar ist. Diese Egos kamen als eine ‘Lebenswoge’ in aufeinander folgenden Strömen von der Mondkette. Der erste Strom von ‘Leben’ begann auf dem ersten Globus A und durchlief dort sieben lange Runden der Evolution in Körpern, die für den Zustand der Materie auf diesem Globus geeignet waren. Als dieser Strom zu Globus B, oder dem zweiten Globus, weiterging, begann ein anderer ‘Strom’ von weniger entwickelten Egos seinen Weg auf Globus A. In einer geordneten Reihe durchliefen alle den Zyklus von Globen, die gewöhnlich der Einfachheit halber mit A, B, C, D, E, F und G bezeichnet werden.

Im kosmischen Drama, das jede Menschheit selbst gestaltet, hat alles seine eigene Zeit, seinen eigenen Platz und seine eigenen Voraussetzungen. Mehr Einzelheiten über unsere Reise bis heute können wir in dem kleinen Buch Runden und Rassen finden und in der Geheimlehre und anderen Standardwerken der theosophischen Literatur. W. Q. Judge schildert den Prozess mit folgenden Worten:

Diese Reise ging weiter, wobei das Ganze viermal umrundet wurde, womit dann der gesamte Strom oder die ganze Armee von Egos von der alten Mondkette angelangt war; da die Armee damit komplett war, traten nach der Mitte der vierten Runde keine weiteren Egos mehr über. Der gleiche Kreislaufprozess dieser zu verschiedenen Zeiten eingetroffenen Klassen geht weiter, bis sieben vollständige Runden durch alle sieben planetarischen Bewusstseinszentren durchlaufen sind; und wenn diese sieben Runden beendet sein werden und die in dieser ungeheuren Zeit mögliche Vollkommenheit erreicht sein wird, dann wird diese Kette oder Masse von ‘Globen’ ihrerseits sterben, um wiederum einer weiteren Siebenerkette ein neues Dasein zu geben.

Jeder der Globen dient dem Evolutionsgesetz zur Entwicklung von sieben Rassen, Sinnen, Fähigkeiten und Kräften, die den jeweiligen Zuständen der Materie entsprechen. Für eine vollständige Entwicklung ist die Lebenserfahrung aus allen sieben Globen notwendig. Daher durchlaufen wir die Runden und Rassen. Eine Runde ist ein Umlauf durch die sieben Zentren des planetarischen Bewusstseins; eine Rasse bedeutet die rassische Entwicklung auf einem dieser sieben Zentren. Es gibt sieben Rassen für jeden Globus, aber die Summe von 49 Rassen ergibt tatsächlich nur sieben große Rassen, weil die speziellen sieben Rassen auf jedem Globus oder planetarischen Zentrum in Wirklichkeit nur eine Rasse mit sieben Konstituenten oder speziellen Eigenheiten der Funktion und Kraft bilden.

Das Meer der Theosophie, S. 42-43

Es hat keinen Sinn, eine Darstellung der frühen Zustände des Menschen und Globus zu versuchen. Das Leben und die Materie waren gänzlich verschieden von allem, was wir jetzt kennen. H. P. Blavatsky sagt, dass erst in unserer Rasse auf unserem heutigen Globus D, in unserer vierten Runde, die Zustände für uns einigermaßen verständlich werden.

Der lange Werdegang jeder der großen Wurzelrassen spielte sich auf einem besonderen Kontinent ab. Der erste Kontinent wurde ‘das Unvergängliche Heilige Land’ genannt. Geografisch liegt es am Nordpol und soll bis an das Ende des planetarischen Manvantara bestehen bleiben. Über diesen geheimnisvollen Ursprung des ersten Menschen wird sehr wenig gesagt.

Für den zweiten Kontinent wurde der Name hyperboräisches Festland gewählt. Es war „das Land, dessen Vorgebirge sich südwärts und westwärts vom Nordpol erstreckten, um die zweite Rasse aufzunehmen, und umfasste das gesamte jetzt als Nordasien bekannte Land“. Die ältesten Griechen sprachen von den ‘Hyperboräern’, die irgendwo im fernen Norden wohnten und jedes Jahr von Apollo besucht wurden, der astronomisch die Sonne war – der Gott des Lichts.

Lemurien war der riesige dritte Kontinent, der „einst die Oberherrschaft über den Indischen, Atlantischen und Stillen Ozean hatte“ und die Heimat der dritten Wurzelrasse war. Die Lemurier waren die Nachfolger oder die Nachkommen der zweiten Wurzelrasse. Sie waren dieselben sich verkörpernden Egos, die gemeinsam den zyklischen Abstieg in die irdische Materie begonnen hatten. Sie brauchten enorme Zeitperioden, bis sie an den Punkt gelangten, an dem ihre gigantischen Astralkörper allmählich materiell wurden und Formen annahmen, die auf ihrem weiteren evolutionären Weg zunehmend fester und kleiner wurden, was in den gegenwärtigen Zustand der Menschheit mündet. Die Kontinente wurden abwechselnd durch Feuer und Wasser vernichtet. Lemuriens Schicksal wurde durch Vulkanausbrüche, durch eine Reihe unterirdischer Erschütterungen und das Auseinanderreißen des Meeresbodens vollzogen. Einige Überreste von Lemurien sind ein Teil Kaliforniens, Australien mit seinen Ureinwohnern und seiner zurückgebliebenen Fauna und Flora und einige jener Inseln, „die über die Oberfläche des Stillen Ozeans verstreut liegen“.

Atlantis ist der vierte Kontinent, dessen Geschichte in den alten Überlieferungen aller Völker beschrieben wurde. Sein Schicksal wird in der biblischen Geschichte von Noah und der Sintflut dargestellt. Platos berühmte Insel Atlantis war nur der letzte Teil des Kontinents, der unterging.

Der fünfte Kontinent war Amerika; aber da es bei den Antipoden gelegen ist, so sind es Europa und Kleinasien, die mit ihm fast gleichaltrig sind, welche allgemein von den indoarischen Okkultisten als der fünfte bezeichnet werden. Wenn ihre Lehre dem Erscheinen der Festländer nach ihrer geologischen und geographischen Ordnung folgen würde, so müsste diese Klassifikation geändert werden. Aber da die Reihenfolge der Kontinente der Entwicklungsfolge der Rassen angepasst ist, von der ersten bis zur fünften, unserer arischen Wurzelrasse, so muss Europa der fünfte große Kontinent genannt werden.

The Secret Doctrine, II: 8

Die großen rassischen Zyklen überschneiden sich, so dass die Geschichte der beiden ersten wirklich menschlichen Rassen – das heißt der letzten Lemurier und der ersten auftretenden Atlantier – mehr oder weniger vermischt ist. Die frühe dritte Rasse war hermaphroditisch und ‘vernunftlos’ in dem Sinne, dass ihr Bewusstsein mehr intuitiv als mental und physisch beschaffen war. Aber während die Zeitalter der Entwicklung verstrichen, wurde das Feuer des Verstandes von den Mānasaputras, von erhabenen Wesen aus höheren Sphären, entzündet. Die Geschlechter wurden getrennt, und die Körper bekamen ein knöchernes Skelett, während der Astralkörper zum inneren Modellkörper wurde – heute der Sitz der fünf Sinne. Diese evolutionären Veränderungen sind eine Erklärung für die Allegorie vom ‘mentalen’ Schlaf Adams, welcher der ‘Trennung’ der Rippe voranging,◊√ aus der dann Eva entstand.

Die späteren Lemurier wurden von göttlichen Dynastien regiert. Diese erhabenen Herrscher lehrten sie die Künste und Wissenschaften, so dass sie „Astronomie, Architektur und Mathematik vollkommen beherrschten“.

Diese ursprüngliche Zivilisation [der Lemurier] entstand nicht – wie man annehmen könnte – unmittelbar nach ihrer physiologischen Umwandlung. Zwischen dem Abschluß dieser Entwicklung und der ersten erbauten Stadt verstrichen viele hundertausende von Jahren. Und doch stellen wir fest, dass die Lemurier in ihrer sechsten Unterrasse ihre ersten Felsenstädte aus Stein und Lava erbauten. Eine dieser großen Städte von ursprünglicher Struktur war ganz aus Lava errichtet, etwa dreißig Meilen westlich von der Stelle, wo jetzt die Osterinsel ihren schmalen Streifen unfruchtbaren Bodens erstreckt. Die Stadt wurde durch eine Reihe von vulkanischen Ausbrüchen vollkommen zerstört.

The Secret Doctrine, II: 317

Als Beweis für die Kenntnisse und das Können dieser gigantischen Erbauer verweist die Geheimlehre auf die zyklopischen Ruinen und Monumente, die überall auf der Erde verstreut zu finden sind. Diese archäologischen Überreste legen nicht nur Zeugnis von der außergewöhnlichen Kraft und dem außergewöhnlichen Können ihrer Erbauer ab, sondern auch von ihrer größeren Kenntnis mächtiger, unsichtbarer Kräfte, als der moderne Mensch sie heute kontrollieren kann. Weitere Untersuchungen der Archäologie, Geologie, Ethnologie und der feineren Naturkräfte werden einstimmig die alte Geschichte der menschlichen Rasse bestätigen, die uns in universalen Traditionen überliefert ist.

Es war das „Goldene Zeitalter“ in jenen Tagen des Altertums, das Zeitalter, da die „Götter auf Erden wandelten und sich frei unter die Sterblichen mischten“. Danach verschwanden die Götter (das heißt, sie wurden unsichtbar) und spätere Generationen wurden zu Verehrern ihrer Reiche – der Elemente. …

So teilten sich die ersten atlantischen Rassen, die auf dem lemurischen Kontinent geboren waren, von ihren frühesten Stämmen an in die Gerechten und die Ungerechten; in jene, welche den einen, unsichtbaren Geist der Natur verehrten, dessen Strahl der Mensch in sich fühlt – oder die Pantheisten; und in jene, welche den Geistern der Erde fanatische Verehrung entgegenbrachten, den dunklen kosmischen, anthropomorphen Mächten, mit denen sie sich verbündeten. Diese waren die frühesten Gibborim, „die Helden der Vorzeit, die berühmten Männer“ (Genesis, 6, 4), die bei der fünften Rasse zu den Kabirim wurden, zu den Kabiren bei den Ägyptern und Phöniziern, Titanen bei den Griechen und Rākshasas und Daityas bei den indischen Rassen.

So war der geheime und mysteriöse Ursprung aller folgenden und modernen Religionen,… .

The Secret Doctrine, II: 273-4

Hier wird mit wenigen Worten erklärt, wie die Menschen das Böse in die Welt brachten. Als ihnen von spirituellen Führern ihre ‘Augen geöffnet wurden’, wurden sie mit dem Licht des Verstandes begabt, welches ihnen Kenntnis von Gut und Böse verlieh. Selbst in der dritten Rasse benutzte eine Anzahl von Menschen ihren freien Willen und wählte den Pfad der rechten Hand, den Pfad des Lichtes. Einige ihrer Brüder wandten sich ab und folgten dem Pfad der linken Hand, dem Pfad des Schattens. Letztere missbrauchten immer wieder ihre Kenntnisse und ihre Macht – Leben um Leben. Das waren die Lemuro-Atlantier, die „stolzerfüllt prahlten“. Sie benützten ihre Kontrolle der Natur mit selbstsüchtigem Ehrgeiz und zu schlechten Zwecken. Sie wurden zu einer mächtigen Rasse von Zauberern, stets im Krieg mit ihren rechtschaffenen Brüdern. Der Streit dauerte an, Zeitalter um Zeitalter, während die Menschheit in immer dichtere Ebenen der Materie abstieg, bis zur Mitte des atlantischen Zyklus. Zu dieser Zeit hatte die Rasse eine glänzende Zivilisation entwickelt, die zum größten Teil aus schwarzen Magiern bestand.

Schließlich gingen die Übeltäter nach kleineren Überschwemmungen, die sich über mehrere Millionen Jahre erstreckten, in einer letzten großen Flutkatastrophe unter. Inzwischen hatten sich ihre weiseren Brüder von ihnen getrennt und waren unter spiritueller Führung in ferne Länder gezogen, die von der Sintflut nicht betroffen waren. Von diesen Auswanderern stammen die Anfänge der heutigen fünften oder sogenannten arischen Rasse ab. Der Anfang unserer Rasse geht auf die Mitte des atlantischen Zyklus zurück. Ebenso entsteht der Keim der sechsten Wurzelrasse gegenwärtig unter uns in unserer vierten Runde.

Die unglücklichen, bösen atlantischen Egos waren durch ihre eigenen Taten dazu verurteilt, in wiederholten Inkarnationen die Folgen ihrer früheren Untaten zu erleiden. Durch Karma der mentalen und spirituellen Gaben, die sie verraten hatten, beraubt, verfielen viele von ihnen in unheilvolle Unkenntnis und Degeneration. Degenerierte Überreste dieser Rasse kann man unter manchen wilden und barbarischen Stämmen auf der Erde finden, die in ihrem Verhalten das Gegenteil der kindlichen Einfalt wirklich primitiver Völker sind. Spuren von ihnen findet man zum Beispiel in den verlassenen Höhlen in Frankreich und Spanien. Diese paläolithischen Menschen, die in einen primitiven Zustand zurückfielen, hinterließen Beweise einer hohen Kultur. Ihre Zeichnungen und Gravierungen auf den Felsenwänden ihrer Höhlenwohnungen sind Zeugen einer entwickelten Technik und eines künstlerischen Vermögens, das in kindlichen Kritzeleien nicht zu finden ist. Andere archäologische Funde einer Kultur auf einem niedrigeren Niveau aus viel späteren Zeiten können am besten durch die immer wiederauftretenden Höhen und Tiefen im zyklischen Verlauf der rassischen Evolution erklärt werden. Natürlicher Fortschritt vollzieht sich nicht in einer geraden Linie.

Andere Hinweise auf einen antiken Hintergrund finden sich bei bestimmten degenerierten afrikanischen Stämmen und bei einzelnen polynesischen Gruppen. Wenngleich Aberglaube und Betrug sicherlich bei vielem, was sie tun, eine Rolle spielen, beherrschen ihre Priester und Medizinmänner oft bestimmte Naturkräfte psychischer Art. Europäer besitzen diese Macht nicht, noch können sie diese bei anderen erklären. Die unwissenden Ausführenden verstehen die logische Grundlage der von ihnen hervorgerufenen Phänomene selbst nicht. Aber die gewöhnlich niedrigen Methoden, die sie in ihren Übungen befolgen, um ihren Willen und ihre Vorstellungskraft zu entwickeln, und ihre selbstsüchtigen oder schlechten Motive legen einen Niedergang mystischer Kenntnisse nahe. Ihre Kunststücke erscheinen wie armselige Echos der atlantischen schwarzen Magier, die spirituelles und intellektuelles Wissen und Kräfte zu ihren eigenen Zwecken missbrauchten.

Glücklicherweise haben manche der jüngeren menschlichen Egos keine alten Rechnungen schlechten Karmas mehr zu begleichen.

Dr. G. de Purucker spricht zum Beispiel über

… die Schwarzen, die anstatt degenerierte Abkömmlinge einst mächtiger Ahnen zu sein, ‘primitiv’ lediglich in dem Sinne sind, dass sie eine sich noch in ihrer Kindheit befindende menschliche Rasse darstellen, die dazu bestimmt ist, in der Zukunft einmal eine wahrhaftig zivilisierte Rolle in der Weltgeschichte zu übernehmen. Doch dann wird der Schwarze kein Schwarzer mehr sein, denn er wird sich mit vielen verschiedenen Rassenzweigen vermischt haben – ein Prozess der Rassenmischung, der sich schon jetzt vollzieht, trotz der Gesetze, die der weiße Mann in vielen Ländern erlassen hat – in dem hoffnungsvollen Bemühen, ihn aufzuhalten.

The Esoteric Tradition, I: 404

Überall weist die gemeinsame Wirkung von Karma, Reinkarnation und den Zyklen auf das ursprüngliche Ziel hin, alles in einen ausgeglichenen Zustand der Vollkommenheit zu bringen. In den niederen Reichen vollzieht sich die Entwicklung unter der Führung der Natur in normalerer und reinerer Art als beim Menschen. Nicht immer führen unsere menschlichen Eigenschaften zur Bildung eines ausgeglichenen Charakters. Der Tag der Begleichung kommt gewiss – je früher um so besser für unseren Fortschritt. Wie oft sehen wir, wie begabte und würdige Menschen scheinbar durch beschränkende und unangenehme Lebensumstände gehemmt werden! Vermutlich sind sie dabei, eine unbezahlte Rechnung aus früheren Leben zu begleichen. W. Q. Judge erklärt, dass

… wir in einem Leben vielleicht in einer fortgeschrittenen Unterrasse inkarnieren, entsprechend unseren zur Auswirkung kommenden Eigenschaften, jedoch dann bestimmte Mängel zum Vorschein bringen oder bestimmte Ursachen erschaffen können, die es nötig machen, im nächsten Leben in eine weniger fortgeschrittene Unterrasse zu wechseln – mit dem Ziel, die Fehler auszumerzen oder die Ursachen abzuarbeiten.

Auf diese Weise wird für genauen Ausgleich, für vollkommene Entwicklung, Regelmäßigkeit und Abrundung im weitesten Sinne vorgesorgt.

The Path, VII, 257

Würde sich nicht die Verarbeitung einer solchen Erfahrung einfacher, friedvoller und schneller vollziehen, wenn wir den Sinn der Gesetze unseres eigenen Wesen kennen würden? Nehmen wir einmal an, wir wären uns bewusst, dass Etwas in uns, das wirklich erkennt, nach nichts Geringerem als einer vollkommenen Arbeit ruhen wird!

Warum sterben wir?

Der Mensch stirbt, weil er in seinem Innersten ein spirituelles Wesen ist. Das Leben auf der Erde stellt nur einen Teil seiner Evolution dar. Die Geist-Seele des Menschen ist in den unsichtbaren spirituellen Welten zu Hause und verweilt nur kurze Zeit hier, um ihre Erfahrungen abzurunden und den zahllosen, weniger entwickelten Wesen sowie den Lebensatomen, die sein irdisches Vehikel zusammensetzen, eine Gelegenheit zum Wachstum zu bieten.

Der spirituelle Mensch reinkarniert hier Leben um Leben; aber zwischen diesen Leben kehrt er in seine Heimat in den inneren Welten zurück und setzt dort auf höheren Ebenen seine Evolution fort.

Der wahre Grund, warum wir sterben, liegt darin, dass tief in unserem Inneren das spirituelle Selbst den Ruf aus seiner ‘Heimat’ verspürt. Es kommt die Zeit, in der es durch die Last der physischen Existenz ermüdet ist und sich nach der Freiheit und dem Licht der spirituellen Reiche sehnt. So löst sich der Geist des Menschen normalerweise allmählich von seinem irdischen Zuhause und bereitet sich darauf vor, sich auf seine erhabene Heimreise zu begeben.

Was die Menschen ‘Tod’ nennen, bedeutet weit mehr, als die meisten von uns realisieren. Das Ablegen des physischen Körpers oder der Hülle ist nicht alles, was der spirituelle Bewohner zu tun hat, um sich für die Reise in die inneren Sphären bereit zu machen. Denn der Mensch ist ein zusammengesetztes Wesen. Er hat nicht nur einen physischen Körper, sondern seine Geist-Seele benutzt auch ein psychologisches Vehikel – seine Persönlichkeit. Diese besteht aus mentalen und emotionalen Bewusstseinszuständen. Sie stellt ein komplexes Gewebe dar, das durch ihre Selbstsucht und ihren Materialismus den Geist sogar stärker nach unten zieht als der grobe physische Körper. Dieses Kleid der Persönlichkeit muss ebenfalls abgeworfen werden und unterliegt der Auflösung. Diesen Prozess nennt man in der esoterischen Philosophie den ‘zweiten Tod’.

Der Tod ist deshalb das Auflösen dieser beiden niederen Bewusstseinsaspekte – des physischen und des psychologischen Aspekts – in ihre entsprechenden Elemente. Der Körper löst sich auf und verschwindet. Alle flüchtigen Energiezentren der psychologischen Natur – die Leidenschaften, die irdischen Wünsche und Begierden und rein persönliche, mentale Aktivitäten – lösen sich in die Lebensatome auf, aus denen diese Zentren durch die Gedanken und Taten der sie benutzenden Individualität aufgebaut wurden. Der wahre Mensch, das spirituelle Selbst, kann – nachdem er auf diese Weise das ihn umhüllende irdische Vehikel abgeworfen hat wie ein Schmetterling seinen Kokon – seine Flügel ausbreiten und in die Freiheit und Freude seiner spirituellen Heimat aufbrechen.

Der gesamte wunderbare, mystische Prozess des Todes wird durch das Gesetz der Periodizität unterstützt, welches das Leben aller Dinge regiert. Denn Tod und Geburt selbst sind Zwillings-Manifestationen dieses Universalgesetzes der Periodizität. Alles Leben hat zwei Pole, den positiven und den negativen. Alles bewegt sich wie ein Pendel zwischen Tag und Nacht, Hitze und Kälte, Ebbe und Flut, Regen und Sonnenschein, Systole und Diastole, Schlafen und Wachen – und ebenso zwischen Geburt und Tod. Aber genau so wie der zweite Pol dieser Gegensatzpaare – Ebbe, Kälte, Systole, Schlaf usw. – auch nur eine Amplitude und keine Endphase darstellt, so ist auch der Tod kein Ende, sondern der Anfang einer Lebensperiode anderer Art. Und da diese auch nur eine Periode ist, muss ihr wieder eine Geburt folgen.

Diesem Gesetz der Periodizität liegt also die Manifestation aller aktiven und zusammengesetzten Wesen zugrunde; und dieses Gesetz ist dem spirituellen Selbst behilflich, sich von seinem irdischen Tabernakel zu befreien. Dieses Ereignis aber, dieser sogenannte ’Tod’, den wir beobachten können, ist nur die Umkehr der Gezeiten, über die hinaus das unsterbliche, für das Auge unsichtbare Selbst durch die spirituelle Ebbe hinausgetragen wird – auf den grenzenlosen Ozean unendlichen Seins.

Jedenfalls sollten wir Folgendes im Auge behalten:

In den meisten Fällen geht dem Tod eine gewisse Zeit voraus, in der sich die monadische Individualität oder vielmehr das sich wiederverkörpernde Ego zurückzieht. Dies findet gleichzeitig mit der Trennung des sieben Prinzipien enthaltenden Wesens, das der Mensch ist, statt. Das sich wiederverkörpernde Ego gehorcht der Anziehung nach innen zu der unaussprechlichen Seligkeit der inneren Welten so stark, dass der goldene Faden des Lebens, der es mit der niederen Triade verbindet, abreißt. Danach folgt sofortige Bewusstlosigkeit; denn die Natur ist in diesen Dingen sehr barmherzig, da sie sozusagen durch unendliche Weisheit geleitet wird.

Das Alter ist folglich nur das physische Resultat davon, dass sich das wiederverkörpernde Ego von der selbstbewussten Teilnahme an den Angelegenheiten des Erdenlebens vorbereitend zurückzieht. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit kann dies mit der Periode – die sich über Monate, ja sogar Jahre erstreckt – verglichen werden, die der Geburt eines Kindes vorausgeht. In dieser Zeit hat sich das zurückkehrende Ego quasi bewusst auf seinen ‘Tod’ im Devachan und seinen Abstieg durch die niedrigeren Zwischenreiche in den für seine Verkörperungen auf dieser Erde geeigneten Zustand vorbereitet. Die charakteristischen Bedingungen dessen, was als zweite Kindheit bekannt ist, stellen einen Aspekt der verschiedenen natürlichen Wege des Hinscheidens aus diesem Erdenleben dar. Es ist nichts Nachteiliges damit verbunden; das Leben verebbt ganz einfach, während sich in den unsichtbaren Welten eine ‘Geburt’ vorbereitet.

– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, III:93

Die sieben Prinzipien des Menschen

Um besser verstehen zu können, was nach dem Tod geschieht und wie der innere Mensch, das spirituelle Selbst, die für seine Erfahrung hier notwendig gewesenen Gewänder oder Vehikel eines nach dem anderen abwirft, wollen wir kurz die sieben Prinzipien der zusammengesetzten Natur des Menschen betrachten.

Das folgende Diagramm, mit dem Spirituellen als dem ersten und höchsten Prinzip beginnend, gibt einen kurzen Überblick.

TP 6 Diagramm 1

Ātman-Buddhi ist die Monade, die spirituelle Seele des Menschen. Das Wort ‘Monade’ bezeichnet eine Einheit von Leben oder Bewusstsein – ein Individuum. Im Herzen eines jeden Wesens lebt eine Monade, sei es ein Stern, ein Planet, ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, ein Atom oder ein Elektron – ganz gleich, was. Im Menschen können wir sie deutlicher als sein spirituelles Selbst beschreiben, die Empfindung von Ich bin. Ātman ist ein Strahl des reinen Universalgeistes, der uns mit dem ALL verbindet. Buddhi ist reine Intelligenz, Weisheit und Liebe. Sie dient als Vehikel oder Kanal, um das Licht des Universalen in die Konstitution des Menschen herunter zu ‘transformieren’. Aus Buddhi entspringen alle unsere höchsten Eigenschaften: Mitleid, Unterscheidungsvermögen, Sympathie und das Gewissen; ebenso die Visionen einer wahren, spirituellen Schau oder erhabene Genialität. Ātman-Buddhi ist reines Bewusstsein, das allen Wesen gemeinsam ist, auch wenn es ohne Manas (wie bei den Tieren) intellektuell nicht funktionieren kann.

Manas ist der Denker im Menschen. Es ist sein Ego, der Sitz des Selbstbewusstseins, wodurch das Empfinden von Ich bin ich und kein anderer entsteht. Manas ermöglicht uns, mit anderen Menschen und unserer Umgebung bewusste Beziehungen einzugehen; wir sind dadurch imstande, unsere eigene, selbstgeleitete Evolution fortzusetzen. Manas sammelt die Erfahrungen des individuellen Lebens in allen Welten und erinnert sich daran. Und wenn diese Erfahrungen schließlich durch den Universalgeist absorbiert werden, bereichern sie fortwährend die Entfaltung kosmischen Bewusstseins. Diese drei höheren Prinzipien sind göttlichen Ursprungs.

Die niedere Vierheit bildet das aus den animalisch-vitalen Eigenschaften der Natur zusammengesetzte Vehikel, das die Evolution auf dieser Erde in vergangenen Zeitaltern gestaltet hat, damit wir Manas, den selbstbewussten Denker, benützen können. Im Diagramm auf Seite 25 sehen wir, dass Manas dual ist, denn dieser selbstbewusste Denker oder das Ego muss sich – sobald es auf der Erde zu arbeiten beginnt, um sich durch den physischen Körper zum Ausdruck zu bringen – in seinem niederen Aspekt mit der animalischen Vierheit verbinden. Diese Verbindung ist es, welche die Persönlichkeit oder das menschliche Ego bildet, das wir das niedere Manas nennen.

Der höhere Aspekt von Manas jedoch steht in Verbindung mit der Weisheit und dem Licht von Buddhi; und dieser höhere Aspekt von Manas stellt das reinkarnierende Ego – das höhere Manas – dar. Das reinkarnierende Ego erfährt den Tod nicht; anders dagegen das niedere Manas, welches nur das Produkt der Verbindung des Denkprinzips mit dem sterblichen Teil der menschlichen Natur ist, es existiert lediglich während des Erdenlebens und löst sich mit dem zweiten Tod auf.

Die niedere Vierheit

Nun wollen wir den Kāma-Rūpa betrachten, den höchsten Aspekt der niederen Vierheit und eines der stärksten und wichtigsten Elemente der menschlichen Natur. Kāma-Rūpa bedeutet buchstäblich ‘Wunsch-Körper’; und es ist jenes Zentrum von animalischen Begierden, von Leidenschaften und Emotionen, das im Leben der meisten Menschen die treibende Kraft bildet. Sind nicht die meisten von uns viel stärker durch ihre Leidenschaften und Begierden, durch Selbstsucht und Vorurteil beherrscht als durch Selbstlosigkeit und unpersönliche Weisheit?

Der Kāma-Rūpa wurde – wie eben gesagt – durch vergangene Evolution während vieler Zeitalter entwickelt. Während des menschlichen Lebens ist es dieses Bündel oder dieser Komplex von Energien, den die höhere Triade benötigt, um mit den niederen, den materiellen Naturreichen auf dieser Erde, in Verbindung zu treten. Diesen Wunsch-Komplex zu überwinden und in ein Zentrum spirituellen Wollens umzuwandeln – anstelle der animalischen und selbstsüchtigen Neigungen – ist eine der evolutionären Aufgaben von Manas, dem reinkarnierenden Ego.

Die Entscheidung des Denkers im Inneren – entweder vom spirituellen Selbst oder von der niederen Vierheit beherrscht zu werden – schafft gutes oder schlechtes Karma, das sein gegenwärtiges und seine künftigen Leben formt. Der Zweck der Reinkarnation liegt darin, dass der Denker über eine lange Reihe von Erdenleben hinweg durch Erfahrung und selbstgeleitete Anstrengung, durch Freude und durch Schmerz die flüchtige und unbefriedigende Natur aller mit der niederen Vierheit in Zusammenhang stehenden Dinge unterscheiden lernen kann. Wenn er schließlich entdeckt, wie er sich mit seinem spirituellen Selbst verbinden kann, wird er seine sterblichen Teile zu Unsterblichkeit erheben.

Ein anderes wichtiges Prinzip der menschlichen Konstitution, das wir verstehen sollten, ist der sogenannte Astralkörper oder Liṅga-Śarīra. Liṅga bedeutet Modell oder Muster und Śarīra eine nicht dauerhafte Form. Dr. de Purucker beschreibt ihn in seinem Okkulten Wörterbuch als das sechste Substanz-Prinzip der menschlichen Konstitution,

das Modell oder Gerüst, um das sich der physische Körper aufbaut und aus dem in gewissem Sinn der physische Körper hervorfließt oder sich mit fortschreitendem Wachstum entwickelt.

Prāṇa können wir uns wie das ‘Feld’ vitaler Kräfte vorstellen, das unser astral-physischer Organismus beinhaltet. Es ist ein Aggregat vitaler Lebensatome, die dem Reservoir der Natur entnommen werden, und es wird in Bezug auf die Art und die Aktivität durch die karmischen Affinitäten und Eigenschaften des betreffenden Menschen bestimmt. Beim Studium der nachtodlichen Zustände ist das Verständnis dieser Prinzipien nicht so wichtig wie das der höheren, denn beide zerstreuen sich fast unmittelbar nach dem Tod. Dasselbe gilt für den physischen Körper.

Zustände nach dem Tod

Was geschieht nun mit diesen Prinzipien nach dem Tod? Zunächst trennt sich die höhere Triade von der niederen Vierheit, und letztere beginnt sofort zu zerfallen. Die Auflösung des physischen Körpers setzt sofort ein, wodurch ihr astraler Modellkörper oder Liṅga-Śarīra befreit wird, der sich ebenfalls auflöst. Prāṇa oder Vitalität zieht sich in das Reservoir der Natur zurück.

Beim Zurückziehen der höheren Triade und dem Auseinanderfallen der drei niederen Prinzipien wird der Kāma-Rūpa sozusagen als ein Bündel oder Rūpa (Form) von Wunsch-Energien abgetrennt. Er ist natürlich seelenlos, denn die höhere Triade, das wahre Selbst, ist gegangen; aber er wird für kürzere oder längere Zeit weiter existieren, je nachdem, ob die leidenschaftliche, selbstsüchtige Natur des Menschen während des gerade beendeten Lebens gefördert oder kontrolliert und verfeinert wurde.

Wo aber existiert dieser Kāma-Rūpa? Ist er noch lebendig und aktiv? Diese Schale des verstorbenen Menschen existiert in dem weiter, was in der Theosophie als Kāma-Loka bezeichnet wird – das heißt der ‘Ort’ oder die ‘Welt’ des ‘Verlangens’.

Es ist wichtig für uns, den Kāma-Loka-Zustand nach dem Tod zu verstehen, denn er übt eine sehr starke Wirkung auf den Fortschritt und das Glück des Menschen aus. Der gesamte psychologische Bereich, der sich im Bewusstsein vom Erdenleben bis zum Devachan – der spirituellen Himmelswelt – erstreckt, ist in der Theosophie als Kāma-Loka bekannt. Das Okkulte Wörterbuch gibt folgende Erläuterung zu diesem Begriff:

Ein zusammengesetztes Wort, das mit ‘Wunsch-Welt’ übersetzt werden kann; … . Es ist eine halbmaterielle Ebene oder vielmehr Welt – subjektiv und für den Menschen in der Regel unsichtbar –, die unseren physischen Globus umgibt und einschließt. Es ist der Aufenthaltsort der astralen Formen verstorbener Menschen und anderer toter Wesen – das Reich der Kāma-Rūpas oder Wunsch-Körper verstorbener Personen. Wie H. P. Blavatsky sagt, ist es „der Hades der Griechen und das Amenti der Ägypter, das Land der schweigenden Schatten“. In Kāma-Loka findet der zweite Tod statt, … . Die höchsten Regionen von Kāma-Loka gehen unmerklich in die niedersten Regionen oder Reiche von Devachan über … .

Wenn der physische Körper beim Tod zerfällt, verbleiben die astralen Elemente der entkörperten Wesenheiten in Kāma-Loka oder der ‘Schattenwelt’, wobei noch die gleichen Lebenszentren wie im irdischen Leben an ihnen haften und sie noch weiter beleben; hierbei finden gewisse Prozesse statt. Die niedere menschliche Seele, die mit irdischen Gedanken und den niederen Instinkten befleckt ist, kann sich nicht leicht aus Kāma-Loka erheben, da sie verunreinigt und schwer ist; ihre Neigung zieht sie infolgedessen nach unten. In Kāma-Loka findet die Trennung der Monade vom kāma-rūpischen Spuk oder Phantom statt; und wenn diese Trennung vollständig ist, was den oben erwähnten ‘zweiten Tod’ bedeutet, nimmt die Monade das ‘Reinkarnierende Ego’ in sich auf, in der es seine lange Ruheperiode der Glückseligkeit und Erholung genießt.

Der zweite Tod ist ein allmählicher Prozess, dessen sich der Durchschnittsmensch überhaupt nicht bewusst ist. Es ist ein völlig normaler Prozess. Wir sollten nicht vergessen, dass wir mit ‘Tod’ einfach den Zerfall der Elemente eines Körpers meinen. Wir sind uns dieses zweiten Todes nicht mehr bewusst, als wir uns der täglichen und ganz normalen und gesunden Auflösung unseres Körpergewebes bewusst sind oder der allmählichen und subtileren Veränderungen, die in unserem Charakter stattfinden. Denn dieses Bündel von Energien, das wir als Kāma-Rūpa oder Wunsch-Körper bezeichnen, arbeitet instinktiv. Obwohl es uns im Allgemeinen nicht bewusst ist, bewahrt es für einige Zeit die Prägung, den charakteristischen, persönlichen Eindruck des Menschen, zu dem seine Kräfte gehörten – kurz das menschliche Individuum, das den Kāma-Rūpa ins Dasein brachte. Und gerade das Verständnis dieser Tatsache ist so wichtig.

Eine große Anzahl spiritistischer Manifestationen entstehen daraus, dass das Medium und die anderen Anwesenden durch den Magnetismus intensiven Verlangens, durch Schmerz oder Neugierde diese Hüllen oder Masken oder Kāma-Rūpas der Verstorbenen anziehen, welche als deren Reste in den Sphären von Kāma-Loka zurückgeblieben sind. Solche Hüllen können magnetisch zur Gedankenatmosphäre eines Seancezimmers hingezogen werden und von dem Medium und ‘Kreis’ der Anwesenden Lebenskraft und eine bestimmte Richtung bekommen, wodurch sie zu einer Art fiktivem Leben stimuliert werden. Danach können diese Automaten – eine Art Schallplatte – Sätze, Erinnerungen und Gedanken wiedergeben, die eng mit dem Leben und der Persönlichkeit des Verstorbenen verbunden sind. Oder sie können – wie ein Film – die Gedanken der in dem Kreis Anwesenden wiedergeben. Zweifellos ist ein großer Teil der sogenannten ‘Mitteilungen von Verstorbenen’ von dieser Art.

Dass diese Mitteilungen selten etwas anderes als automatische Wiederholungen sind, zeigt sich in der Tatsache, dass noch nie so etwas wie eine kreative Philosophie dieser oder der kommenden Welt, Anweisungen für neue Wege der wissenschaftlichen Forschung oder für archäologische und historische Entdeckungen aus den Seancezimmern gekommen sind. Die wenigen vorsichtigen neuen Wege der Forschung, die der Spiritismus einbrachte, waren das Ergebnis von lebenden, nicht von verstorbenen Denkern.

Aber dies ist nur die negative Seite der Sache, wie wir in einem späteren Kapitel sehen werden.

Das folgende Diagramm gibt einen kurzen Überblick über die verschiedenen Prozesse und Zustände, die nach dem Tode durch das Auseinanderfallen der sieben Prinzipien des Menschen auftreten.

TP 6 Diagramm 2

Die Astralebene

Die Erklärungsversuche der Evolutionisten werden in hohem Maß durch die Tatsache erschwert, dass sie die Existenz anderer als der uns vertrauten Formen der Materie nicht in ihre Forschung einbeziehen. Es ist unmöglich, die Phänomene der gewöhnlichen Materie zu erklären, ohne die Existenz subtilerer Arten von Materie in Betracht zu ziehen. Wie bereits gesagt scheint es, als baue sich eine Pflanze in ihrem Wachstum in mysteriöser Weise auf, nach ihrem eigenen Muster, ohne eine sichtbare regelnde Kraft. Die Erklärung liegt in der Tatsache, dass die vollkommene Form der Pflanze bereits in der astralen Materie existiert. Beim Wachstum richten sich die physischen Atome nach diesem bestehenden Modell und bauen so die physische Struktur auf. Bei den Pflanzen und den Tieren finden die Veränderungen in den Astralformen der Organismen statt, nicht in der physischen Struktur; und hiermit werden die fehlenden Glieder in der Kette erklärt. Dies lässt sich anhand nachfolgender Analogie erklären: Wenn Menschen eine Wendeltreppe hinaufsteigen, wird ein einseitig beobachtender Zuschauer sie auf verschiedenen Stufen stehend sehen, aber er sieht nicht, wie sie von der einen Stufe zur nächsten gelangen. Er kann annehmen, dass sie springen oder allmählich aufwärts steigen, aber es gelingt ihm nicht, dem tatsächlichen Vorgang zu folgen. Tatsächlich steigen sie allmählich auf der Rückseite einer Spirale empor, die unseren Blicken entzogen ist. Die physischen Arten, die auf der Erde vorkommen, bleiben lange Zeit unverändert, aber das heißt nicht, dass keine Evolution vonstatten ginge. Diese physischen Formen sind lediglich die aufeinanderfolgenden Häuser, in denen die Monade wohnt; aber die Monade selbst evolviert unaufhörlich. Ihre evolutionären Veränderungen finden in der astralen Form statt und dann inkarniert sie in einer entsprechenden physischen Form.

An diesem Punkt angelangt ist eine eingehendere Betrachtung sinnvoll, was wir eigentlich unter einem Tier oder einer Pflanze verstehen. Die Annahme, diese Erscheinungen würden nicht mehr als einen physischen Organismus darstellen, ist nicht richtig und wir können die Evolution nicht von einem falschen Ausgangspunkt aus erklären. Die Pflanze oder das Tier ist in Wirklichkeit eine Monade – eine lebende Seele, ein Funke des kosmischen Feuers, ein Atom des universalen Lebens. Sie unternimmt eine Pilgerfahrt durch die Materie, wobei sie allmählich und stufenweise verschiedene Formen entwickelt, um ihren eigenen, in ihr schlummernden Fähigkeiten Ausdruck verleihen zu können. Sie ist ein wachsendes und lebendiges Wesen, ein Samen, der alle Möglichkeiten seines göttlichen Ursprungs in sich trägt. Die Monade oder der Lebensfunke ist verkörpert, aber nicht nur in einem physischen Körper, denn außer dem physischen Körper gibt es andere, feinstofflichere Verkörperungen der Materie. Sie besitzt eine psycho-mentale Verkörperung, die aus ihr eine Tier- oder Pflanzenseele macht; diese wiederum besitzt eine astrale Verkörperung, was wieder eine Verkörperung in der gewohnten physischen Materie zur Folge hat. Wir müssen dies berücksichtigen, wenn wir die Evolution verstehen wollen.

Würden wir unser eigenes Bewusstsein studieren, bekämen wir ein klareres Bild als bei der bloßen Betrachtung der Außenseite der Dinge. Wir stellen fest, dass wir in erster Linie selbstbewusst denkende Wesen sind; unsere Organe und unsere Körper sind Instrumente, die wir für uns selbst aufgebaut haben, um mit der Außenwelt in Verbindung treten und uns dort zum Ausdruck bringen zu können. Wir wachsen von innen nach außen. So ist es überall; alles wächst, und alles wächst von innen nach außen. Sichtbare Pflanzen und Tiere kommen aus dem Unsichtbaren, und auf den unsichtbaren Ebenen finden die evolutionären Veränderungen statt. In dem Maß, in dem die Seele eines Wesens sich nach und nach entwickelt, ändert sich die astrale Form; und die Veränderungen werden auf die physische Form übertragen.

Man kann unmöglich erklären, wie es geschieht, dass der Körper einer Pflanze oder eines Tieres ein Leben lang derselbe bleibt, während die physischen Atome ständig ersetzt werden – es sei denn, es gäbe ein bleibendes Muster, in das sich die physischen Atome einordnen und das die Gesamtheit des Organismus – trotz des Austausches der physischen Atome – bewahrt. Wir können die Evolution daher nicht ohne Berücksichtigung der Existenz der Astralebene und des Astralkörpers der Organismen erklären.

Die niedere Vierheit

Die bisherigen Ausführungen betrafen die Prinzipien Ātman und Buddhi, sowie Manas, das Ego. Es folgt eine nähere Betrachtung der Seite der menschlichen Natur, mit der wir vertrauter sind – den Prinzipien, aus denen unsere niedere Vierheit zusammengesetzt ist. Diese ‘Niedere Vierheit’ besteht aus den vier Prinzipien Kāma (Wunschprinzip), Prāṇa (Lebenskraft), Linga-Śarīra (Astralkörper) und Sthūla-Śarīra (Physischer Körper). Diese vier bilden zusammen das Vehikel, worin das Ego, überschattet und geführt von Ātman-Buddhi, sich auf der Erde wiederverkörpert – oder reinkarniert.1

 

 

Kāma (Wunschprinzip)

 

Das Sanskritwort Kāma bedeutet Verlangen. Der erste Eindruck könnte sein, dass Kāma zu den niedersten menschlichen Eigenschaften gehört, aber das ist nicht notwendigerweise der Fall.

Kāma ist die antreibende Kraft in der Konstitution des Menschen. An sich ist sie farblos, weder gut noch schlecht. Erst der Gebrauch, den das Denkprinzip und die Seele davon machen, bestimmen die Qualität. Kāma ist der Sitz der lebendigen elektrischen Impulse, Wünsche und Bestrebungen von ihrer Energieseite aus gesehen. Gewöhnlich jedoch, obwohl es göttliches und infernalisches Kāma gibt, wird dieses Wort fast ausschließlich und zu Unrecht oft nur auf üble Begierden beschränkt.

– G. DE PURUCKER: Okkultes Wörterbuch, S. 76

In der Bhagavad-Gītā sagt Krishna, der das personifizierte Selbst des Kosmos ist, zu seinem Schüler Arjuna:

… in allen Geschöpfen bin ich das durch Moral gelenkte Verlangen …

– VII:11

Beim Durchschnittsmenschen beschränkt sich die Begierde üblicherweise auf rein persönliche Interessen, und sie ist dann auch nicht von besonders erhabener Art. Wir können die Reichweite dieses Prinzips einigermaßen verstehen, wenn wir einen Vergleich zwischen dem Verlangen von Jesus oder Buddha anstellen, die sich den Nöten der Welt in Mitleid widmeten, und den Begierden eines ‘Gangsters’. Diese Beispiele stellen selbstverständlich extreme Aspekte des menschlichen kāmischen Prinzips dar.

Beim Durchschnittsmenschen sind die Begierden weder besonders hoch, noch sehr niedrig entwickelt. Es ist das Werk der Evolution, die uns durch viele Zyklen der Erfahrung lehrt, die Qualität unserer Begierden anzuheben, denn diese Begierden haben selbstverständlich großen Einfluss auf die Entwicklung des Charakters und dadurch auch auf die Evolution. Leider nutzen wir aus Unwissenheit und Selbstsucht die vitalen Kräfte der Begierde und des Willens zu oft zugunsten des eigenen Vorteils, ohne die Rechte und das Wohlergehen anderer zu beachten. Damit schaffen wir Disharmonie, und früher oder später müssen wir die Folgen daraus erleiden. Da unser Universum auf dem Fundament der Ethik basiert, lernen wir meistens durch Leiden.

 

 

Prāṇa (Lebenskraft)

 

Prāṇa bedeutet Lebensprinzip – Vitalität. Es bildet das psycho-elektrische Feld, das sozusagen vom Organismus begrenzt wird, so wie die Luft in der Lunge. Prāṇa erhält die astral-physischen Organismen aller Wesen am Leben und lässt sie wachsen. Es durchdringt den Astralkörper und den physischen Körper – von der Geburt an bis zum Tod – fortwährend mit neuen Strömen vital-magnetischer Energien.

Der Tod eines Organismus wird an erster Stelle durch den andauernden Verschleiß durch die prāṇischen Energien verursacht, die ihn durchströmen und am Ende seine Zerstörung bewirken. Sowohl der Tod als auch der Schlaf werden nicht durch einen Mangel an Lebenskraft, sondern durch deren Überschuss verursacht.

Tatsächlich ist es so, dass nicht ein Mangel an Vitalität den physischen Tod und seinen Zwillingsbruder, den Schlaf, verursacht, sondern vielmehr ein Überschuss an prāṇischer Aktivität. …

Es wurde oft gesagt, dass jedes Individuum einen bestimmten begrenzten Vorrat an Vitalität besitzt, und dass, wenn dieser erschöpft ist, der Mensch sterben muss. Gemeint ist, dass der vital-astral-physische Organismus als eine zusammengesetzte Wesenheit nicht nur eine gewisse Widerstandskraft gegenüber den Strömen des prāṇischen Lebens, die durch ihn fließen, besitzt, sondern er hat auch seine eigene kohäsive Kraft, die aus den Prāṇas der einzelnen Moleküle und Atome stammt, die in ihrer Vereinigung den Körper bilden. …

… In der Tat beruht der Tod, der durch ein Übermaß an Vitalität verursacht wird, und ebenso das In-den-Schlaf-fallen des Menschen auf der Tatsache, dass die Lebensatome des Körpers einen Punkt erreicht haben, wo deren Widerstand dahinschwindet oder abnimmt wie im Schlaf. Daher kommt es, dass die Lebensatome in einem Moment als Erbauer oder Erhalter und in einem anderen als Zerstörer – in einem gewissen Sinn sogar als Erneuerer – funktionieren.

– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, III: S. 92, 93

 

 

Linga Śarīra (Astralkörper)

 

Der Astralkörper ist der Modellkörper oder das Muster, nach dem der materielle Körper gebildet wird. Er ist eine Art Matrize oder Gussform aus ätherischem Stoff, worin die Atome des materiellen Körpers ihren Platz finden. Üblicherweise wird er heute Astralkörper genannt.

Dies ist der allgemein gebräuchliche Ausdruck für den ‘Modellkörper’, den Linga-Śarīra. Er ist nur wenig feinstofflicher als der physische Körper und bildet in der Tat das Modell oder Gerüst, um das herum der physische Körper aufgebaut ist und aus dem der physische Körper in gewissem Sinn hervorgeht, entsprechend dem Wachstumsprozess. Er ist der Träger des Prāṇa oder der Lebenskraft und enthält daher auch alle Kräfte, die mittels des prāṇischen Stroms von den höheren Teilen der menschlichen Konstitution herabfließen. Der Astralkörper geht zeitlich dem physischen Körper voraus und bildet das Muster, nach dem der physische Körper aufs genaueste, Atom für Atom, geformt wird. In einer Hinsicht kann man den physischen Körper eine Ausscheidung, Ablagerung oder einen Niederschlag des Astralkörpers nennen. Der Astralkörper ist in gleicher Weise seinerseits nur ein Niederschlag des Aurischen Eies.

– G. DE PURUCKER, Okkultes Wörterbuch , S. 17

Dieses astrale Modell, das sozusagen von Prāṇa durchströmt wird, erhält unsere physische Identität. Die Wissenschaft hat erkannt, dass die den physischen Körper bildende Materie etwa alle sieben Jahre völlig ausgetauscht wird. Jeden Tag verlieren wir Atome, die durch andere ersetzt werden. Deshalb sind wir heute in materiellem Sinne andere Wesen als vor etwa zehn Jahren. Woher kommt es, dass ein Körper trotz dieses niemals versiegenden, ein Leben lang andauernden Stroms von aus- und eingehenden Atomen dennoch seine eigenen charakteristischen Strukturen behält? Dieses Wunder geht auf die Funktionen des Modellkörpers zurück, der innerhalb des materiellen Körpers existiert und der – Molekül um Molekül und Zelle um Zelle – seine Form bewahrt, wodurch sogar Narben, Missbildungen oder Falten bestehen bleiben. Er steuert die physische Materie, indem er die Zellen und Nervensysteme kontrolliert und jedem Element den ihm entsprechenden Platz zuweist. Er ist ein feinstofflicheres Ebenbild des physischen Körpers, zumindest von seiner äußeren Form her.

Einen weiteren Aspekt hebt W. Q. Judge hervor:

Der Astralkörper trägt die wirklichen Organe der äußeren Sinneswerkzeuge in sich. In ihm liegen die Kräfte des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und der Tastsinn. …

Das Meer der Theosophie, S. 61

… Bei einem Menschen jedoch, der immer noch sein Bein fühlt, das ihm chirurgisch entfernt wurde, oder seine amputierten Finger noch spürt, liegt dies daran, dass die Astralglieder durch die Operation nicht betroffen wurden. Der Betroffene hat daher das Gefühl, diese Glieder befänden sich noch immer am Körper. Messer und Säuren können das Astralmodell nicht verletzen. In den ersten Stadien seines Wachstums können Gedanken und Vorstellungen jedoch wie Säuren und geschliffener Stahl wirken.

– Ebenda, S. 60

Der Astralkörper oder Linga-Śarīra besteht aus astraler Materie oder Substanz, die zum Astrallicht – oder zu Ākāśa gehört, dem dafür in der Theosphie verwendeten technischen Ausdruck. Ākāśa ist, wie alles andere auch, von siebenfältiger Natur. Seine höchsten oder innersten Ebenen sind die Heimat unserer höheren Prinzipien. Seine niederen und gröberen Bereiche umgeben und durchdringen unsere Erde, und wir nennen diesen Bereich das Astrallicht. Wir können das Astrallicht nicht sehen, weil wir die dazu notwendigen astralen Sinnesorgane nicht entwickelt haben.

Medien oder Hellseher können einen schwachen Schimmer davon wahrnehmen. Dieser sternenhaften Lichtausstrahlung verdankt es seinen Namen ‘astral’. Sensitive Menschen haben die astralen Sinne teilweise entwickelt. Aber die sogenannten Visionen der Hellseher stellen nur selten mehr dar als einen flüchtigen Blick in die niederen Bereiche des Astrallichtes. Diese Bereiche sind der Erde am nächsten und umgeben sie. Sie enthalten ein Chaos von Bildern und Einflüssen, die durch unbeherrschte und oft negative Emotionen, Gedanken und Begierden der Menschen auf und in der astralen Materie erregt werden. Daher sind diese ‘Visionen’ nicht nur trügerisch, sondern im Allgemeinen auch gefährlich.

Im Augenblick des Todes, wenn die Geist-Seele alle niederen Prinzipien ‘loslässt’, beginnen diese zu zerfallen. Der Astralkörper trennt sich dann vom physischen Körper, aber er verlässt ihn nicht, weil beide zusammen gehören. Und in dem Maße, wie der physische Körper zerfällt, geht auch der Astralkörper langsam in Auflösung über.

Das menschliche Leben auf Erden ist nur eine Station auf der Reise eines sich ständig entfaltenden bewussten Ego, des sich wiederverkörpernden Ego durch die physische Sphäre, und der Tod ist lediglich die Fortsetzung dieser Reise aus der Sphäre des irdischen Daseins in eine andere. Der physische Tod wird zu einem sehr großen Teil dadurch herbeigeführt, dass das sich entfaltende Feld des menschlichen Bewusstseins sich über das Fassungsvermögen des Körpers hinaus ausbreitet, der dieses Bewusstsein enthält. Der Körper fühlt dann die dieserart auf ihn ausgeübte Beanspruchung und altert allmählich, um schließlich wie ein abgetragenes Gewand beiseite gelegt zu werden. Kurze Zeit bevor das Ende eintritt, fangen die inneren Prinzipien der niederen Vierheit an, sich auf ihren eigenen Ebenen zu trennen, und der Körper antwortet automatisch auf diese beginnende Trennung. Dadurch tritt der physische Verfall des Alters ein. Dieser Punkt ist von großer Bedeutung, denn er zeigt, dass nicht der physische Tod die Auflösung der Verbindung der niederen Element-Prinzipien verursacht. Im Gegenteil, der Körper stirbt, weil diese niederen unsichtbaren Kräfte, Substanzen und Energien – insgesamt gesehen, das innere und kausale Leben der menschlichen Vierheit – bereits begonnen haben, sich zu trennen, und der physische Körper sich mit der Zeit natürlich und unvermeidlich anschließt.

– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, III:91

 

 

Sthūla-Śarīra (Physischer Körper)

 

Hinsichtlich des physischen Körpers, oder Sthūla-Śarīra, gibt es einige interessante Tatsachen, welche von der Theosophie immer gelehrt wurden, die aber auch der Wissenschaft nicht verborgen blieben. Eine dieser Tatsachen besteht darin, dass die physische Materie größtenteils aus ‘Löchern’ besteht. Würden wir die gesamte unseren scheinbar festen Körper aufbauende Materie zu einer kompakten Masse komprimieren, wäre er nicht größer als ein Stecknadelkopf!

Der Körper ist also, obschon er richtig Sthūla-Śarīra oder der ‘grobe Körper’ genannt wird, in Wirklichkeit schaumartig – leerer Raum, ungefähr wie ein Schwamm. Dies ist eines der vielen Paradoxa oder scheinbaren Gegensätze, denen wir überall in der Natur begegnen und die das Studium ihrer Prozesse so interessant machen. Je gröber eine Substanz scheint, desto schaumartiger ist sie in Wirklichkeit, und deshalb ist sie um so illusorischer.

Daraus folgt, dass die wirklichen Dinge, die unvergänglichen Dinge, für unsere Sinne nicht wahrnehmbar sind. Wir sehen nicht einmal die physische Materie, sondern nur den Teil des Lichtspektrums, das die Körper nicht absorbieren sondern reflektieren und sie so unserem physischen Auge sichtbar machen.

Der physische Körper illustriert noch eine andere fundamentale spirituelle Tatsache im Kosmos. Er ist ein geeignetes Beispiel für das Gesetz der Analogie: „Wie oben – so unten“. Mit anderen Worten, der materielle Körper, der – was seine Substanz, seinen Bau und seine Wirkungen anbelangt – dem universalen, kosmischen Leben entspringt, ist selbst ein Miniatur-Universum. Darum kann die Kenntnis der in den physischen Körpern stattfindenden Prozesse die unsichtbaren, spirituellen Welten im Lichte der archaischen Lehren der Theosophie entschleiern und illustrieren. H. P. Blavatsky sagt darüber:

Analogie ist das leitende Gesetz in der Natur, der einzig wahre Ariadnefaden, welcher uns durch die unentwirrbaren Pfade ihres Reiches zu ihren ersten und letzten Geheimnissen führen kann.

The Secret Doctrine, II:153

Wenn wir die Funktion des Nervensystems und des Blutkreislaufes betrachten, den atomaren Aufbau der Zellen und viele andere Tatsachen, verschafft uns das Gesetz der Analogie einen wundervollen Schlüssel zum besseren Verständnis der tieferen Lehren über den Bau und die Wirkungen der unsichtbaren und ursächlichen Welten. Es mag so scheinen, als ob der Körper ein großes Hemmnis für spirituelle Erfahrung wäre, aber wenn er den Platz bekommt, der ihm zusteht, und wenn er in intelligenter Weise beherrscht und gebraucht wird, kann er seine fundamentale Rolle in unserer Evolution wahrnehmen. Der Körper passt genau zum gegenwärtigen Evolutionsstadium und verschafft uns die Gelegenheit, im menschlichen Leben täglich wichtige Lektionen der Erfahrung und Entwicklung durchzumachen. Die Beziehung zwischen physischem Körper und unserer Evolution kann man von zwei Seiten betrachten:

1) Er ist der Mittler zwischen den geistig-spirituellen Prinzipien und der physischen Ebene der Natur, in deren Bereichen wir die notwendigen Erfahrungen machen können und die daraus resultierende Entwicklung schöpfen. Ohne die vollständige Kenntnis der Natur in göttlicher, spiritueller, mentaler, emotionaler, vitaler, astraler und physischer Hinsicht könnte der Mensch niemals die vollständige Evolution all seiner Fähigkeiten erreichen.

2) Der physische Körper ermöglicht es dem eigentlichen Menschen, der menschlichen Monade, sich mit der ganzen Welt, mit allen anderen auf ihr befindlichen Geschöpfen, physisch, psychisch und mental auszutauschen. Dabei beeinflusst der eigentliche Mensch natürlich auch unmittelbar die physischen Atome des eigenen Körpers. Und dieser dynamische Einfluss unterstützt oder behindert unbewusst die Evolution der gesamten Schöpfung, und ganz besonders die der Lebensatome seines eigenen Körpers. Wir dürfen nicht vergessen, dass im Herzen eines jeden Atoms eine Geist-Seele oder Monade wohnt, die ihren Drang zur Entfaltung und zum Wachstum durch dieses Atom zum Ausdruck bringt. Die Auswirkungen des Willens und des Verlangens des Menschen auf diese sich entwickelnden Lebensatome sind ungeheuer groß und gerade darum haben wir eine besondere Verantwortung für unseren physischen Körper.

Fußnoten

1. Siehe Band 2 dieser Reihe: Reinkarnation. [back]

Wir sind unser eigenes Karma

Säe eine Tat, und du wirst eine Gewohnheit ernten. Säe eine Gewohnheit, und du wirst ein Schicksal ernten, weil Gewohnheiten den Charakter aufbauen. Dies ist die Reihenfolge: eine Tat, eine Gewohnheit, ein Charakter, ein Schicksal. Du bist der Schöpfer deiner selbst. Wozu du dich jetzt machst, das wirst du in der Zukunft sein. Was du jetzt bist, eben dazu hast du dich in der Vergangenheit gemacht. Was du säst, das wirst du ernten.

– G. DE PURUCKER, Goldene Regeln der Esoterik, S. 114

Es ist eine der Lehren der Weisheitsreligion, daß jedes Atom, da es ein untrennbarer Teil des Universums ist, in sich selbst alle Entwicklungsmöglichkeiten dieses Universums birgt, ebenso wie im Samenkorn der zukünftige Baum eingeschlossen ist. Daher wird jedes Atom mit der Zeit ein Mensch werden, danach ein Gott, dann wird es noch höhere Stufen des göttlichen Lebens erreichen.

Es ist klar, daß im Falle des Menschen diese Möglichkeiten bis zum menschlichen Stadium entwickelt sind, wo die Verantwortung für das Schaffen des persönlichen Karmas beginnt. Von diesem Punkt an wird der mit Verstand begabte Mensch sein eigenes Schicksal bestimmen. In jener frühen Phase, bevor die Menschheit die lange Pilgerfahrt zu einer höheren Ebene begonnen hatte, wurde sie über das Ziel des Lebens von großen Lehrern unterrichtet. Seitdem hat der Mensch viele Male in unterschiedlichen Rassen und Zivilisationen gelebt. Niemals fehlten ihm Hilfe oder Licht, um den Weg zu finden. Er kann auf die Stimme seines Gewissens hören; die Folgen seiner guten und schlechten Taten sind die Lektionen für die Zukunft; er besitzt Verstand, um die Dinge zu interpretieren und einen freien Willen, um zu wählen. Deshalb kann man sagen, daß der Mensch sich selbst geschaffen hat und sein eigenes Karma ist.

Das zuletzt Gesagte beinhaltet, daß jede Tat und jeder Gedanke den Charakter verändert. Wir verändern uns fortwährend. Nichts bleibt auch nur für einen Moment gleich, so daß der Mensch deshalb fortwährend das Resultat, die Frucht von all seinen Gedanken, Emotionen und Handlungen ist, je nachdem, ob er seinen Willen gebraucht oder nicht. Er ist stets sein eigener Biograph, er ist der große Künstler, der die Werkzeuge für das Schmieden seiner Zukunft in seinen eigenen Händen hält, und er muß diese gerade so lange gebrauchen, bis das Äußere zu einem würdevollen Tempel für den inneren Gott wird. Das Leben ist in der Tat eine große Kunst.

Jeder Augenblick kann daher als ein neuer Anfang betrachtet werden, und es ist klar, daß man sich nur von dem Punkt an, den man erreicht hat, weiterentwickeln oder wachsen kann. Ganz gleich, welche Kraft oder Anschauung wir erworben haben, sie kann uns nicht mehr genommen werden, und was wir uns an überflüssigem Ballast, verkehrten Gewohnheiten oder minderwertigen Eigenschaften anerzogen haben, kann nur durch den Einsatz des Willens wieder verschwinden. Diese Eigenschaften wurden zu einem Teil von uns und keine von außen kommende Kraft kann sie durch magische Mittel aus dem Charakter verbannen. Aber die Helfer der Menschheit versuchten in jedem Zeitalter, den Kämpfer im Herzen eines jeden vom Weg abgekommenen Pilgers zu erwecken. Wenn dieses Erwachen stattfindet, ändert sich der Einfluß von Karma. Man lenkt seine Aufmerksamkeit auf ein anderes Lebensziel, so daß sich allmählich konstruktive Kräfte entwickeln, welche die alten zerstörerischen Kräfte verwandeln.

Wir müssen den bereits erweckten Kräften entgegentreten, aber wir sind dann in der Lage, dies mit Mut und Verständnis zu tun, ausgestattet mit einer neuen Rüstung, welche sie nicht durchdringen können, und die vielleicht eine gleich starke, entgegengesetzt gerichtete Kraft besitzt, welche die negativen Kräfte neutralisiert. Labile Charaktere bieten Karma einen schwachen Brennpunkt. Sie nehmen die Dinge leicht, lassen sich auf dem Lebensstrom treiben, genießen und leiden, ohne nach dem Warum zu fragen und verlassen ihren Körper ebenso, wie sie in ihn eintraten.

Aber das geht nicht immer so weiter. In jedem Menschenleben ereignen sich Dinge, manchmal nur kleine Ereignisse, die wachrütteln, meistens Dinge, die Kummer und Schmerz verursachen und die wir zur dunklen Seite des Lebens rechnen. Wenn wir sie nicht allein als etwas Negatives erdulden, sondern sie so akzeptieren wie sie sich ereignen und versuchen, aus allen Umständen das Beste zu machen, werden wir lernen und wachsen. Anstatt die Dinge passiv zu betrachten, erachten wir dann alles, was uns widerfährt, als ein Mittel, um auf dem Weg, den wir alle gehen müssen, einen Schritt vorwärts zu tun. Es reizt uns zur Aktivität, und wenn wir uns nicht wehren oder uns willenlos führen lassen, sondern mit der Natur zusammenarbeiten, die versucht, uns zur Entwicklung anzuspornen, dann geben wir unserem Leben eine Wendung, die Aussicht auf eine größere Zukunft bietet. Die Vergangenheit entscheidet über zukünftige Ereignisse. Möglicherweise werden sie uns ein Gefühl der Freiheit bringen, tiefere Sympathien, neue Freunde und neue Gelegenheiten; vielleicht aber werden Unglück, Leiden oder Feinde aus der geheimnisvollen Vergangenheit hervorgerufen; denn keiner von uns konnte Zusammenstöße mit dem Gesetz vermeiden. Doch das alles dient nur dazu, den Weg frei zu machen. Eines Tages wird diese selbstgeleitete Evolution zu großer Freiheit, zu wunderbaren Möglichkeiten und der Freundschaft mit jenen Großen führen, die gesiegt haben.

Wir stehen fortwährend am Rande großer Möglichkeiten und entscheidender Momente; aber anstatt diese Gelegenheiten zu ergreifen und zu einer tieferen Einsicht und zu einem erweiterten spirituellen Leben voranzuschreiten, schrecken wir zurück, zögern wir aus Scheu – und so verlieren wir sie alle. Die Gegenwart ist ein außergewöhnlicher Zyklus, und wir werden den gegenwärtigen Gelegenheiten in diesem Leben niemals wieder begegnen …

Fürchten Sie nichts, denn jeder erneute Versuch erhebt alle früheren Fehlschläge zu Lektionen, alle Sünden zu Erfahrungen. Verstehen Sie mich richtig, wenn ich sage, daß sich im Lichte eines erneuten Versuchs das Karma Ihrer ganzen Vergangenheit ändert; es stellt keine Bedrohung mehr dar. Vor dem Auge der Seele ist es der Übergang von der Ebene der Buße zu der des Lernens. Es steht da als ein Denkmal, als Erinnerung an frühere Schwächen und als Warnung vor künftigem Versagen.

Fürchten Sie daher nichts für sich selbst; Sie stehen hinter dem Schild Ihres erneuten Bestrebens, auch wenn Sie hundertmal versagten. Versuchen Sie allmählich treu zu werden, mit keinem anderen Motiv, als daß auch andere treu sein werden. Fürchten Sie nur, in Ihrer Pflicht gegenüber anderen zu versagen, und selbst dann soll Ihre Sorge den anderen gelten, und nicht Ihnen selbst.

– KATHERINE TINGLEY, Theosophy, The Path of the Mystic, S. 68/9, überarbeitete Auflage 1977.

Manchmal offenbart früheres Karma sich in physischen Krankheiten. Es äußert sich sogar bei Kindern, die mit einer bestimmten Krankheit oder körperlichen Gebrechen zur Welt kommen. Die Verfasser des Neuen Testaments haben diese Tatsache erkannt, was man aus der Frage im Johannesevangelium (Joh. IX, 2) entnehmen kann: ‘Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren ist?’

G. de Purucker sagte folgendes, als er über Krankheit sprach:

Sowohl Gesundheit als auch Krankheit sind die karmischen Folgen der Wesenszüge und der Neigungen, die wir den Lebensatomen aufgeprägt haben, welche die verschiedenen Hüllen zusammensetzen, in denen wir, die menschlichen Egos, während des Erdenlebens eingekleidet sind. Sie sind ihnen durch unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere Wünsche und unsere Gewohnheiten eingeprägt.

Zu behaupten, daß Selbstsucht die Ursache aller Krankheit sei, ist eine zu allgemeine Feststellung. Genauer gesagt ist es jene Form der Selbstsucht, die man Leidenschaft nennt – unbesiegte heftige Leidenschaft, wie Haß, Zorn, Lust, etc –, welche die sich auswirkende Ursache der Krankheit ist, ob bewußt oder unbewußt. Jede derartige mentale oder physische Leidenschaft erschüttert die niedrige Konstitution des Menschen. Sie entschlüpft der führenden Kontrolle seines höheren Wesensteils, ändert die Richtung der prānischen Lebensströme, indem sie sie hier und da verdichtet oder verdünnt. Sie stört daher das normale ruhige Wirken der Natur, das in diesem Zusammenhang Gesundheit bedeutet. Selbstsucht ist in der Tat nicht nur die Wurzel der meisten Krankheiten, sondern auch der meisten üblen Taten, und beide werden ursprünglich nicht durch unbesiegbare, sondern durch unbesiegte Leidenschaften verursacht.

Die Symptome der Krankheit, die nur zu häufig für die Krankheit selbst gehalten werden, sind nicht selten die Bemühungen der Gesundheitskräfte, das Gift aus dem Körper hinauszuschaffen. Eine Krankheit sollte als ein Reinigungsprozeß verstanden werden, weil das Ende eine Reinigung sein wird. Sie sollte ruhig und mit Verständnis für die Situation willkommen geheißen werden, ohne jegliche Furcht oder einen Versuch, den Vorgang zu komplizieren oder zu hindern. Aber viele Leute glauben, daß man eine Krankheit heilt, indem man sie zurückdämmt und die Tore gegen ihren Ausbruch aus dem System verschließt. Ein solches Zurückdämmen erlaubt es jedoch den Wurzeln der Krankheit, festeren Halt zu finden, sich auszubreiten und Energie zu sammeln, so daß, wenn sie wiedererscheint – sie wird dies unvermeidlich tun, denn ihre Wurzeln sind noch nicht entfernt worden –, ihre Reaktion auf den Körper weit heftiger sein wird, als es der Fall wäre, wenn man der Krankheit erlaubt hätte, ihren natürlichen Lauf zu nehmen.

Dies alles hat eine ethische Seite, die noch nicht genügend berührt worden ist. In vielen Fällen können Krankheiten eine vom Himmel gesandte Wohltat sein: sie heilen Egoismus, sie lehren Geduld und führen zu der Erkenntnis, daß es wichtig ist, richtig zu leben. Wenn wir mit unseren unbeherrschten Emotionen Körper besäßen, die nicht krank werden könnten, dann wäre es sehr wohl möglich, daß sie durch Exzesse geschwächt und getötet werden könnten. Krankheiten sind eigentlich Warnungen, damit wir unsere Gedanken verbessern und in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen leben.

In der Medizin begann weltweit in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein neuer Zyklus: Man verabreichte den Menschen nicht mehr länger Arzneien, bis sie mit einem kräftigen Schluck von diesem oder jenem Trunk starben. Die Doktoren begannen zu erkennen, daß es die Natur ist, die heilt, und daß der weise Arzt viel eher führend und ausgleichend wirken sollte, als Arzneien zu verteilen. Trotzdem sind Krankheiten im akuten Stadium oft tödlich, weil das Wissen der Ärzte immer noch unvollkommen ist. Die Krankheiten verlaufen für das menschliche System zu rasch, um der Belastung widerstehen zu können, aber andererseits werden die medizinischen Fachleute der fernen Zukunft sehr gut verstehen, was Krankheiten sind, und die Methoden kennen, sie zu heilen – und wie sie zu verhüten sind. Sie werden eine Krankheit derart behutsam herausleiten, daß sie zu verschwinden scheint, während sie sich in Wirklichkeit manifestiert, geradeso, wie der Körper sich heute oftmals von einer Krankheit durch seine eigenen, nicht unterstützten Kräfte befreit.

Wir müssen im Gedächtnis behalten, daß alles, was einem Menschen geschieht, das Wirken Karmas ist, und daß Krankheiten die Folge von disharmonischen Gedanken und Emotionen in diesem oder in einem vergangenen Leben sind, die sich jetzt durch den Körper auswirken. Genauer ausgedrückt, alle Krankheiten werden durch die Mitwirkung von Elementalen herbeigeführt. Dies ist die alte Lehre und daran glaubte die ganze Welt, bis der Westen in seiner erhabenen Weisheit begann, diese allgemein übereinstimmende Ansicht der menschlichen Rasse als Aberglauben zu betrachten.

Im Neuen Testament werden Krankheiten der Tätigkeit von Teufeln oder Dämonen zugeschrieben – ein grotesker Übersetzungsfehler. Es sind fehlerhafte Übersetzungen, die aus einem Mißverständnis dessen entstanden, was die frühen christlichen Schreiber sagen wollten, als sie diese Traktate schrieben. Diese Daimonia, wie das griechische Wort lautet, stellen lediglich die niedrigste Ordnung belebter und empfindender Kreaturen dar – in der Theosophie gewöhnlich Elementale genannt –, welche die unterste Stufe der hierarchischen Leiter bilden. Ihre höchste Stufe ist der Zustand sowohl der spirituellen Existenz als auch einer wirklichen, von den Göttern bewohnten Welt. Zwischen einem Elemental und einem Gott besteht ein großer Unterschied im evolutionären Fortschritt. Im innersten Wesen oder Ursprung gibt es jedoch keinen Unterschied. Der Mensch nimmt auf dieser Lebensleiter eine Zwischenstufe ein.

Alle Krankheiten, von der Epilepsie oder dem Krebs bis zu einer gewöhnlichen Erkältung, von der Tuberkulose bis zu Zahnschmerzen, vom Rheumatismus bis zu einer anderen physischen Unpäßlichkeit, werden daher durch Elementale herbeigeführt, die als Instrumente des karmischen Gesetzes wirken. Dasselbe gilt auch für Geisteskrankheiten: ein Wutausbruch, eine üble Laune, eine anhaltende Melancholie und die Manien verschiedenster Art sind dem Ursprung nach alle elemental. Die Mordlust ist ein passendes Beispiel: Ihrem Wesen nach ist sie so grausam wie unmenschlich – sie ist elemental. In diesem Fall besitzt ein Elemental die Herrschaft über den menschlichen Tempel und hat für den Augenblick seinen rechtmäßigen menschlichen Bewohner verdrängt. Ein derartiger Zustand tritt durch Schwäche und Nachgiebigkeit sich selbst gegenüber ein.

Es gibt aber ein sicheres Schutzmittel gegen alle Krankheiten, das sowohl physiologische als auch psychologische Eigenschaften besitzt, und das ist die Ausübung der uralten Tugenden …

Da die Krankheiten die karmische Auswirkung vergangener Irrtümer der Lebensführung, des unharmonischen Arbeitens mit der Natur sind, ist der Weg zur Gesundung das Arbeiten mit der Natur. Und dies ist möglich, weil wir ein wesentlicher Teil von ihr sind. Alle Weisen und Seher haben diesen Weg gelehrt. Die Methode wurde in jeder großen Religion und Philosophie immer wieder zum Ausdruck gebracht. Aber kein wahrer Weiser oder Adept greift jemals in das karmische Gesetz ein, denn sie sind die Diener dieses Gesetzes und offenbaren es durch ihr Handeln unter den Menschen. In gewissem Sinne sind sie auch diejenigen, welche das karmische Gesetz ans Licht bringen, denn dadurch wird ein natürliches Gleichgewicht erreicht und die Evolution beschleunigt. Daher sind sie Heiler der Menschenseelen. Heile die Seele und du heilst den Körper …

– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, Bd. 2, S.215-223

Jede Disharmonie sucht sich gemäß den normalen Prozessen der Natur ihren Weg nach außen, an die Oberfläche. Manchmal beobachten wir bei uns selbst oder bei anderen eine Reihe größerer oder kleinerer Unglücke, die gewöhnlich dem Mißgeschick zugeschrieben werden. Ein anderes Mal ändert Fortuna ihre Taktik, und alles was wir unternehmen, gelingt uns. Das kann bedeuten, daß das, was wir schlechtes Karma nennen, aufgearbeitet ist. Aber im Grunde ist es nur dann schlecht, wenn wir die Lektion nicht gelernt haben und unser Leben weiterhin ziellos und inkonsequent führen, so daß ‘Mißgeschick’ und ‘Glück’ sich abwechseln. Wenn wir uns darüber im Klaren wären, daß wir selbst das Resultat dessen sind, was wir dachten, fühlten oder taten, sowohl in diesem als auch in früheren Leben, daß wir durch unsere Gedanken und Taten das Gewebe des Charakters selbst veränderen – ein Charakter, der oft Unglück herausforderte – würden wir Selbstbeherrschung, Freundlichkeit und Zusammenarbeit erlernen und zu einer wohltätigen Kraft in der Natur werden.

Die menschliche Natur ist sehr komplex, und die Folgen von Disharmonie werden natürlich durch die Kanäle zum Ausdruck kommen, in denen die Störung entstand. Das ganze Thema ist in seiner Auswirkung sehr kompliziert, doch im Prinzip einfach, es wäre im heutigen Stadium unserer Evolution sinnlos, den Details nachzugehen. Manchmal erkennen wir bei ein und derselben Person einen mißgebildeten Körper, dazu einen feinen Geist und einen sonnigen Charakter; oder einen robusten Körper, der einen verworrenen Geist und einen selbstsüchtigen Charakter beherbergt. Im ersten Fall sind die Krankheitserreger dabei, sich auszuwirken, während sie im zweiten Beispiel eingepflanzt werden, auch wenn die physischen Kräfte in dieser Inkarnation stark genug sind, ihnen zu widerstehen. Oft sehen wir, daß jemand mit einem guten, reinen und sympathischen Charakter angestrengt für andere arbeitet, seinen Körper aber vernachlässigt. In einem solchen Fall scheint es so, daß Karma auf der physischen Ebene beginnt und endet, wenn es auch immer eine Reaktion von der einen zur anderen Ebene geben muß. Es ist auch möglich, daß man seine Energie so stark auf die eigene Gesundheit konzentriert, daß man die Leiden der Mitmenschen übersieht. Solche Menschen haben vielleicht zeitweilig einen sehr kräftigen Körper, aber um welchen Preis! Überall herrscht Gesetzmäßigkeit. Wir erhalten das, wonach wir uns sehnen. Die unendlichen Möglichkeiten des Universums liegen vor uns, aber nur der, dessen Ton mit dem über alles herrschenden Gesetz des Mitleids harmonisch ist, kann den Sieg davontragen.

Wenn am Ende dieses große Ziel erreicht ist, dann, so heißt es, erhebt sich der Mensch über Karma. Karma wirkt immer und überall, aber wenn wir uns nicht länger gegen die großen Strömungen des Universums wehren, empfinden wir keine Reibung mehr und erlangen Fortschritte leichter und schneller.

Ja, „unser Schicksal steht in den Sternen geschrieben!“ Nur, je enger die Vereinigung zwischen dem sterblichen Wiederschein MENSCH und seinem himmlischen VORBILD ist, desto weniger gefährlich sind die äußeren Bedingungen und die folgenden Wiederverkörperungen – denen weder Buddhas noch Christusse entgehen können. Das ist kein Aberglaube, am wenigsten ist es Fatalismus. Der letztere schließt in sich ein blindes Ablaufen einer noch blinderen Kraft ein, aber der Mensch handelt während seines Verweilens auf der Erde frei. Er kann seinem beherrschenden Schicksal nicht entrinnen, aber er hat die Wahl zwischen zwei Pfaden, die ihn in dieser Richtung führen, und er kann das Endziel des Elends – wenn ihm ein solches bestimmt ist – entweder in den schneeweißen Gewändern des Märtyrers erreichen, oder in den beschmutzten Kleidern eines Freiwilligen auf dem bösen Wege; denn es gibt äußere und innere Bedingungen, welche die Bestimmung unseres Willens auf unsere Handlungen beeinflussen, und es liegt in unserer Macht, dem einen oder dem anderen von beiden zu folgen. Jene, die an Karma glauben, müssen an das Schicksal glauben, daß von der Geburt bis zum Tode ein jeder Mensch Faden um Faden um sich selbst webt, wie eine Spinne ihr Netz; und dieses Schicksal ist gelenkt, entweder von der himmlischen Stimme des unsichtbaren Vorbildes außerhalb von uns, oder von unserem mehr vertrauten astralen oder inneren Menschen, der nur zu oft der böse Genius der verkörperten Wesenheit, genannt Mensch, ist. Diese beiden führen den äußeren Menschen voran, aber einer von ihnen muß vorherrschen; und von dem ersten Anfange des unsichtbaren Aufruhrs an setzt das strenge und unerbittliche Gesetz der Vergeltung ein und nimmt seinen Lauf, getreulich dem Hinundherwogen des Kampfes folgend. Wenn der letzte Faden gesponnen und der Mensch anscheinend in das Netzwerk seines eigenen Handelns verwickelt ist, dann findet er sich vollständig unter der Herrschaft seines selbstgeschaffenen Geschickes. Dasselbe heftet ihn dann entweder wie die schwerfällige Muschel an den unbeweglichen Felsen, oder es trägt ihn wie eine Feder hinweg in dem durch seine eigenen Handlungen erregten Wirbelwind, und das ist – KARMA.

– H. P. BLAVATSKY, Die Geheimlehre, Bd.I, S. 700-701

Erinnerung an vergangene Leben

Warum erinnern wir uns nicht an unsere vergangenen Leben? Das tun wir sehr wohl. Die Frage wird häufig gestellt, aber sie ist eigentlich nicht gut formuliert. Sie müßte lauten: „Warum ist es uns nicht möglich, die Umstände unseres vergangenen Lebens ins Gedächtnis zurückzurufen?“ Unser Charakter selbst ist bereits Erinnerung.

In einer bestimmten Familie werden zwei Kinder geboren, die, was in einer Familie häufig vorkommt, große Charakterunterschiede besitzen. Lassen Sie uns annehmen, daß das eine Kind aufrichtig und vollkommen ehrlich ist, während der Charakter des zweiten Kindes diesbezüglich viel zu wünschen übrig läßt. Das erste Kind hat durch Erfahrung in vergangenen Inkarnationen gelernt, daß Unehrlichkeit minderwertig ist, und es wird daher mit dieser Erkenntnis als einem Teil seines Charakters geboren. Das andere Kind muß diesen Sieg erst noch erringen. Da es nun in einer Familie geboren wird, in der die Umstände zur Verbesserung günstig sind, kann es sich der Tatsache sicher sein, daß es in seiner vorigen Inkarnation bereits einen ersten Versuch in Richtung Verbesserung unternommen hat. So gesehen können wir sagen, daß der Charakter Erinnerung ist. Genialität ist ebenfalls Erinnerung. Alle angeborenen Eigenschaften, gute wie schlechte, sind die Folge vergangener Selbstschulung oder ehemaliger Schwächen in früheren Erdenleben. Es ist ein Segen, daß wir uns nur selten der Umstände erinnern, durch welche diese Siege und Niederlagen ein Teil unseres Charakters wurden. Da wir fast immer durch Leiden und Fehlschläge lernen, die wir machten, wären diese Erinnerungen meistens schmerzlicher Art.

Wir sollten auch nicht vergessen, die Erblichkeit als ein Element der Erinnerung anzuführen. Wie kommt es beispielsweise, daß in ein und derselben Familie mit drei Kindern eines ein Genie ist, das andere ein Geschick für kaufmännische Dinge hat, während das dritte Kind ganz durchschnittlich ist? Wenn wir den Gegenstand der Erblichkeit im Lichte der Reinkarnation betrachten, erhält dieser eine gänzlich andere und tiefere Bedeutung. Wir erben unsere Charaktereigenschaften, oder auch nur einen Teil davon, nicht von unseren Eltern, sondern wir beerben uns selbst aus unserer eigenen Vergangenheit. Wir werden in die Familie geboren, die jene Eigenschaften besitzt, welche zu unserem Karma passen. In seinem Buch Bewußtsein ohne Grenzen schreibt James A. Long hierüber:

Alles, was wir als Vererbung ansehen, ist nichts anderes als der Prozeß eines sich wiederverkörpernden menschlichen Egos, das sich für eine Lebensspanne ins Dasein bringt durch die Vermittlung der Eltern, die selbst gewisse Eigenschaften haben, die mit seinen eigenen korrespondieren. Die einzelnen Kinder in einer großen Familie sind zum Beispiel ganz verschieden, und doch besitzen alle Eigenschaften, die dem Familienstrom gemeinsam sind. Mit anderen Worten, die zur Welt kommende Seele verwendet das Familienkarma als Ausdrucksmöglichkeit; die Eltern erschaffen jedoch das Kind nicht, weder physisch noch geistig noch intellektuell. Sie sorgen für das umweltliche Bühnenbild.

Charakter ist in allen seinen Aspekten Erinnerung, ohne diese gespeicherten, aufbewahrten Erinnerungen, die von Leben zu Leben herübergebracht werden, wäre keine Entwicklung des Organismus, weder physisch, geistig oder moralisch möglich. Evolution hängt von kontinuierlicher Reihenfolge ab, mehr noch, alles wiederholt sich. Die Natur arbeitet mittels der Erinnerung, wodurch Charaktere festgelegt und Typen entwickelt werden. Durch die Erinnerung lernt der Mensch seine Lektion und sein Charakter wird hierdurch geformt. Diese Gewohnheit der Natur, sich fortdauernd zu erinnern, kann als ‘Naturgesetz’ begriffen werden.

Wie bereits im ersten Kapitel gesagt wurde, hat das Ego in jedem Leben eine andere Persönlichkeit. Das muß notwendigerweise so sein, weil wir in jedem Leben etwas Neues lernen, uns geistig und moralisch entwickeln und gefühlsmäßig oder spirituell entfalten, so daß die alte Persönlichkeit nicht mehr genügt – das Ego wächst über seine Möglichkeiten, die ihm als Übungsfeld dienen, hinaus. Daher formt das Ego, wenn es wiedergeboren wird, aus sich selbst eine neue Persönlichkeit, die nach den Erfahrungen gestaltet ist, die ihm in vergangenen Leben einverleibt wurden.

Es gibt noch einen anderen Grund, warum bei der Rückkehr des Ego zur Inkarnation die Erinnerungen noch anhaften und weiterbestehen, aber Einzelheiten vergessen werden. Charakterzüge und Eigenschaften, die in die innere Natur aufgenommen wurden, werden als unbewußte Erinnerungen mitgebracht, aber die neugeborene Persönlichkeit kann sich an keine bestimmten Gegebenheiten aus dem vergangenen Leben zurückerinnern, denn sie war daran nicht beteiligt. Geradeso wie ein Schauspieler nicht sagen kann: ‘Ich war Hamlet’ oder ‘Ich war Macbeth’, sondern vielmehr: ‘Ich spielte die Rolle von Hamlet oder Macbeth’; ebenso kann kein Ego sagen: „Ich war dieser oder jener in einem vorherigen Leben.“ Denn die Persönlichkeit ist nicht das wahre Ich. Sie ist nichts anderes als die Maske oder das Vehikel oder die zeitweise Rolle, durch die das wahre Ich einen seiner Aspekte zum Ausdruck bringt. Wir können den Vergleich erweitern und an einen Schauspieler denken, der während seiner langen Laufbahn viele Rollen gespielt hat. Der Schauspieler kennt Hamlet, Lear und Shylock, aber was wissen Hamlet, Lear und Shylock voneinander?

Was für die Persönlichkeit gilt, gilt ebenso für das Gehirn. Wenn auch dieselben Atome, die das Gehirn in einem früheren Leben formten, jetzt von dem reinkarnierenden Wesen wieder verwendet werden, so ist doch das Gehirn der neuen Persönlichkeit eine völlig neue Verbindung. Denn diese Lebensatome haben selbst eine Veränderung durchgemacht.

Ein weiterer wesentlicher Grund, warum wir uns nicht an die Umstände vergangener Leben erinnern, ist, daß das Universum, zu dem wir gehören, ein Ausdruck von Intelligenz, Weisheit und Mitleid ist. Es ist ein Organismus, eine ungeheure Reihe unendlich abgestufter lebender Wesen, der als Zentrum oder Herz eine Göttliche Intelligenz besitzt, einen der kosmischen Götter. Die ‘Gesetze’ des Universums sind die spirituellen, intellektuellen und vitalen Lebensrhythmen der kosmischen Gottheit; sie strömen über die Zirkulation des Kosmos aus und leiten und kontrollieren alle Dinge, von der mächtigen Sonne bis zu den Elektronen des Atoms.

Diese wohltätigen Gesetze beschützen den Menschen vor Dingen, die seine Evolution behindern, soweit sein freier Wille dem nicht entgegensteht. Die Evolution ist immer auf die Zukunft ausgerichtet; sie ist aufbauend und erneuernd und arbeitet nach Mustern, die selbst ebenfalls eine Entwicklung durchlaufen. Die ständige Beschäftigung mit der Vergangenheit kann der Evolution ernsthaft im Wege stehen. Der Mensch ist durch die Gesetze des Kosmos mit einer hinreichenden Erinnerung an seine eigene Vergangenheit ausgestattet, das ist alles, was er braucht. Er wird durch die Natur der Dinge vor einer Erinnerung an Einzelheiten beschützt, die ihn belasten, ablenken und seiner aufwärts strebenden Natur Leiden zufügen würden. Es ist eine der Wachstumsbedingungen, die ‘niedrigen Wohnungen’ der Vergangenheit hinter sich zu lassen. Wir sind Kinder eines lebenden Universums. Wir legen das Verschlissene immer ab, entwickeln das Neue aus dem Alten und kommen gut damit zurecht.

Zweifelsohne haben wir als spirituelle Egos in unserem menschlichen Drama auf dieser wunderbaren Bühne unseres Planeten Erde viele Rollen gespielt. Durch diese vielfältigen Rollen haben wir den sehr komplizierten psychologischen Apparat entwickelt, die menschliche Natur genannt, ein Apparat, der sich in den meisten Fällen jedem Zustand des menschlichen Daseins unter allen klimatischen Bedingungen und in jeder Umgebung anpassen kann. Daß dem so ist, kann man aus der großen Unruhe, die unter den Menschen herrscht, ersehen, hervorgehend aus dem allgemeinen Gefühl, daß das uns vertraute Leben nichts mehr zu bieten hat und daß die Möglichkeiten erschöpft sind. Die Menschheit fühlt unausgesprochen, daß sie an der Schwelle zu einer neuen Entdeckung steht. Dies ist eine reine Intuition, eine Vorausschau eines neuen Zeitalters, welches gerade heraufdämmert. Natürlich wird eine Zeit kommen, in der jeder von uns imstande ist, sich klar an alle Ereignisse seiner vergangenen Leben zu erinnern. Die Erinnerungen an alles, was uns je geschah, sind unauslöschlich auf die unsterbliche, göttliche Seite der menschlichen Natur eingeprägt worden. Aber wir haben die spirituelle Fähigkeit noch nicht entwickelt, die es uns ermöglicht, die mystischen Aufzeichnungen zu lesen. Wir werden diese Fähigkeit auch nicht entwickeln, solange wir uns immer nur mit dem Verstandesleben und der Persönlichkeit identifizieren. Solange uns Eigeninteressen gänzlich gefangen halten, werden Leidenschaften uns mit Blindheit schlagen und unsere Intuition und schöpferische Kraft durch Vorurteile verschleiert. So verkümmern wir in dem engen Gefängnis unserer Persönlichkeit. Nur gelegentlich erhaschen wir einen Schimmer der Morgendämmerung jenseits unserer Gefängnismauern, wenn die Sonne der wahren Liebe oder der Geist der Selbstaufopferung uns beseelt. Der Mensch muß seinen spirituellen Willen gebrauchen, um die Göttlichkeit seines Wesens zu verwirklichen, und die Fesseln der Selbstsucht und der Unwissenheit abstreifen, um eine neue Welt zu betreten, wozu er nur die Schwelle seines Alltagsbewußtseins überschreiten muß.

Reinkarnation

Die Reinkarnation ist eine sehr alte, über die ganze Welt verbreitete Lehre. Sie stellt im Rahmen des allgemeinen Gesetzes der Wiederverkörperung einen besonderen Fall dar. Dieses Gesetz betrifft nicht nur die menschlichen Wesen, sondern auch die Planeten, Sonnen und Universen.

Es ist noch nicht so lange her, daß Reinkarnation für die westliche Welt eine neue und fremdartige Vorstellung war, wenn sie auch in der östlichen Welt allgemein bekannt war. In der öffentlichen Presse wurde der Gedanke lächerlich gemacht und mit der irrigen Vorstellung der Transmigration ins Tierreich vermischt, was die Theosophie ablehnt. Die Theosophische Lehre besagt: „Einmal ein Mensch, immer ein Mensch“, bis ein noch höherer Zustand erreicht ist. Die Arbeit von H. P. Blavatsky hat das westliche Denken so stark verändert, daß die Reinkarnation bereits von unzähligen Menschen angenommen wurde, die erkannten, daß sie die einzige vernünftige Erklärung für die Rätsel des Lebens darstellt, insbesondere für die Ungleichheiten der Geburt und der Erziehung. Die Reinkarnation wird jetzt in der Literatur von allen fortgeschrittenen Denkern ernsthaft dargestellt; sie wurde zu einem beliebten Thema und kommt auch in Radio- und Fernsehsendungen zur Sprache.

Als H. P. Blavatsky dem Westen die Reinkarnationslehre brachte, gab sie uns eine neue Einstellung zum Leben, einen neuen Schlüssel zur göttlichen Natur des Menschen, eine verständliche Erklärung der Evolution. Die Reinkarnationslehre kann mit wenigen Worten so umrissen werden, daß der Mensch viele Male als ein menschliches Wesen auf Erden zu leben hat. Die Bedingungen jeder Inkarnation sind das natürliche Resultat der Ursachen, die in früheren Leben gelegt wurden. Zwischen den Verkörperungen erfreut sich die höhere Natur in einem subjektiven Zustand eines glückseligen Intervalls der Ruhe und des Friedens. Wenn die Evolution des Menschen auf diesem Globus bis zu ihren höchsten Grenzen fortgeschritten ist, wird er zu höheren Sphären weitergehen.

Diese konzentrierte Erklärung könnte ohne die klare Bezeichnung dessen, was mit „Mensch“ gemeint ist, irreführen. Es wurde bereits gesagt, daß der Mensch ein zusammengesetztes Wesen ist, in seinen höheren Elementen beständig, doch in seinen niedrigeren sterblich. Der höhere spirituelle Teil erschafft, wenn er inkarniert ist, sozusagen eine vorgetäuschte, zeitgebundene Persönlichkeit mit dem Empfinden „Ich bin ich“.

In dieser ‘Persönlichkeit’ leben wir gewöhnlich, obgleich Funken des höheren unsterblichen Bewußtseins, welche unsere hohe Abstammung bezeugen, den Schleier durchdringen, je nachdem, wie wir geistig fortschreiten.

Es ist nicht ganz richtig zu sagen, daß die gegenwärtige Persönlichkeit, das Alltagsbewußtsein des Selbst, früher gelebt hat oder wieder leben wird. Die Natur ist zu weise, zu barmherzig, um uns zu gestatten, diese Persönlichkeit mit ihren Begrenzungen, ihren Schwächen und vor allem mit den unglücklichen Erinnerungen, für immer mit uns herumzuschleppen. Glücklicherweise verändern wir uns ständig, wir wachsen und lernen. Das Wort „Persönlichkeit“ (von persona, Maske) beschreibt das vorübergehende Instrument gut, welches vom Höheren Selbst hervorgebracht wurde, um Erfahrungen in dieser Welt zu sammeln. Aber die Persönlichkeit wird nicht unbedingt vernichtet. Während sie kämpft und leidet und sich reinigt, bekommt sie immer mehr Licht von oben und nähert sich dem Bild des ‘Vaters’ an. Selbst wenn die Persönlichkeit irgendeines Lebens weit davon entfernt ist, rein zu sein, sind ihre edleren Eigenschaften und Erinnerungen nie verloren, sondern sie werden beim Tod in das Innere des wahren Menschen eingezogen. Was stirbt, ist das, was nicht wert ist, erhalten zu werden.

Viele akzeptieren den Gedanken an ein zukünftiges Weiterbestehen der Seele, wenn jedoch im Menschen wirklich ein unsterblicher Teil existiert, kann man sich fragen, ob diese Unsterblichkeit (oder Unendlichkeit – was dem entspricht) sich nur in eine Richtung erstreckt. Kann Unsterblichkeit einen Anfang haben? Diese Frage kann nur auf der Grundlage einer Präexistenz beantwortet werden, und das führt zu dem Gedanken, daß wenn die Seele von einem mehr ätherischen Zustand in dieses physische Leben herabstieg, sie dies auch zu einem früheren Zeitpunkt getan haben kann, dem universalen Wissen der Periodizität oder der zyklischen Evolution Gehör schenkend.

Das menschliche Leben ist ein kontinuierlicher Prozeß, und die Periode zwischen den Inkarnationen, wenn die Seele in weniger stoffliche Verhältnisse zurückkehrt, kann mit der uns so vertrauten Unterbrechung des Schlafes verglichen werden. Die Reinkarnation in einer körperlichen Form ist nur ein besonderes Beispiel des universellen, kosmischen Prinzips der Periodizität oder des zyklischen Wissens, welches überall wirksam ist und worauf der früher erwähnte zweite Grundsatz der Alten Weisheitslehre hinweist.

Uns allen sind die Kreisläufe von Tag und Nacht, von Wachen und Schlafen, vom Wechsel der Jahreszeiten und ihrer Wirkungen vertraut; der Aufstieg und Fall von Nationen; die Schwankungen des Marktes; die Mondphasen; die größeren astronomischen Zyklen und viele andere im Menschen-, Tier- und Pflanzenleben. Der Mensch als Seele ist keine Ausnahme von dem großen Gesetz, und sein Voranschreiten durch Inkarnationen auf Erden, das mit den Ruhepausen auf spirituellen Ebenen abwechselt, ist nur ein Teil der größeren und erhabeneren Kreisläufe.

Wenn der physische Körper abgenutzt ist, wenn seine Partikel eine Zeitlang zerstreut sind und der höhere Teil der gereinigten Persönlichkeit in das Wahre Selbst zurückgezogen ist, dann ist die Verbindung des menschlichen Ego zur Erde keineswegs gelöst. Es ist für die Vergangenheit verantwortlich, es hat viele unvollendete Aufgaben zurückgelassen, und es hat noch nicht einmal einen Bruchteil der in einer verkörperten geistigen Wesenheit schlummernden göttlichen Möglichkeiten verwirklicht. Die Menschheit als eine Rasse befindet sich noch – mit sehr wenigen Ausnahmen – in ihrer Kindheit und wird in diesem Zustand bleiben, bis ihre wirkliche Göttlichkeit in ihrer Fülle offenbart wird. Die menschliche Persönlichkeit, wie wir sie heute kennen – die Maske des eigentlichen Menschen –, ist nur ein dürftiges Abbild des herrlichen Wesens, das er einst sein wird. Reinkarnation ist die einzig mögliche Methode für eine solche Evolution.

Aber nach dem „unsteten Fieber des Lebens“ sind Ruhe und Erholung notwendig; und das reinkarnierende Ego wird in Kāma-Loka, der Welt des Verlangens, gereinigt, indem alle niederen Elemente abgeworfen werden. Befreit von allem, was es durch Anziehung an die Erde bindet, durchschreitet es den ‘zweiten Tod’ und geht in die Ruhe und Glückseligkeit von Devachan ein. Die Leidenschaften, Fehler und die leidvollen Erinnerungen vergehen mit dem Körper. In diesem Zustand des hohen spirituellen Bewußtseins bleibt es annähernd hundertmal so lange, wie die letzte Verkörperung dauerte, in Abhängigkeit vom Charakter des Individuums. Dann beginnt in Übereinstimmung mit dem zyklischen Gesetz eine neue Inkarnation. Wir bekommen eine „neue Gelegenheit“, um die Vergangenheit auszugleichen, bis wir unsere Lektion der spirituellen Erkenntnis gelernt haben.

Wir können vor den Verantwortlichkeiten dieses Lebens nicht in einen ewigen Himmel der Glückseligkeit entfliehen, sondern müssen unsere Aufgabe in einer erneuten Existenz auf der Erde zu Ende führen. Jedesmal bekommen wir erneut die Gelegenheit, für das Wohl der großen menschlichen Familie zu arbeiten, zu welcher auch wir gehören. Sobald ein gewisses hohes Stadium spiritueller Entwicklung erreicht ist, erübrigt sich die Inkarnation auf der Erde; dann erwartet uns der unaussprechliche Segen Nirvānas (nir aus, vāna geblasen); die Seele wird frei, und Inkarnation wird dann zu einer Frage der freiwilligen Entscheidung. Man kann sich nichts Edleres vorstellen, als freiwillig auf Nirvāna zu verzichten, um zurückzukehren und der Menschheit auf ihrem mühevollen Weg zu helfen. Das ist das Ideal der vollkommenen Liebe, welches einzelne der würdigsten, erhabensten Seelen, welche die Erde kannte, erreichten.