8 – Karma und/oder Gnade

Das Dogma, dass ein Erlöser „für unsere Sünden starb“, wurde und wird oft missverstanden, denn es liegt eine große Schönheit in der Lehre der Inkarnation einer Göttlichkeit in menschlicher Gestalt: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab“ (Johannes 3:16). Das ist die christliche Weise zu sagen, dass die Götter mit der Menschheit Mitleid hatten und einen Strahl aus sich in die Seele eines edlen Menschen sandten, so dass er unter den Menschen das Licht der Göttlichkeit auf mächtigere Art manifestieren konnte – aber nicht in dem Sinne, dass er uns von unseren Sünden erlösen oder das Karma unserer Übertretungen gegen uns und andere hätte wegwaschen können. Für das, was wir getan haben, sind wir verantwortlich. Das, was wir denken, müssen wir wieder gut machen oder Nutzen daraus ziehen. Es gibt keine Absolution außer durch uns selbst. Paulus’ Aussage über das universal anwendbare Gesetz von Ursache und Wirkung, Kismet oder Karma, weist klar auf diesen Punkt hin:

Wenn wir aus diesem Geist leben, dann wollen wir dem Geist auch folgen …

Täuscht euch nicht: Gott lässt keinen Spott mit sich treiben; was der Mensch sät, wird er ernten. Wer im Vertrauen auf das Fleisch sät, wird vom Fleisch ernten; wer aber im Vertrauen auf den Geist sät, wird vom Geist ewiges Leben ernten. Lasst uns nicht müde werden, das Gute zu tun; wenn wir darin nicht nachlassen, werden wir ernten, sobald die Zeit dafür gekommen ist. Deshalb wollen wir, solange wir noch Zeit haben, allen Menschen Gutes tun …

Galater 5:25, 6:7-10

Kurz gesagt, in jedem Augenblick jeden Tages setzen wir neue Ursachen in Bewegung und ernten die Wirkungen vergangener Handlungen. Es ist die Qualität unserer Beweggründe, die unseren Charakter und unsere Zukunft gestaltet und weiterhin gestalten wird. Und weil wir eine Menschheit und nicht getrennt voneinander sind, beeinflussen wir nicht nur das Geschick derer, mit denen wir zu tun haben, sondern auch das Schicksal von Tausenden anderen, die für unsere Wellenlänge empfänglich sind. Wenn unsere Motive altruistisch sind, werden wir im spirituellen Bereich säen. Wenn wir an uns selbst denken, bringen wir unsere Saat auf dem Feld unseres persönlichen Selbst aus. Wir ernten, wie wir säen, denn die Natur reagiert unpersönlich, ohne den Säenden zu begünstigen oder ihn zu missbilligen. Die Ernte wird der Saat entsprechen, weil jeder Mensch seine eigene Ernte einbringt und sein Aufzeichner ist, wobei den Gedächtnis-Zellen des Charakters und tatsächlich jeder Ebene seines Wesens das eingeprägt wird, was er ist.

Wie passt das mit der Idee von Gnade zusammen? Im Neuen Testament bedeutet Gnade fast ausschließlich das Vermögen Gottes, Sünden durch die Mittlerschaft von Jesus Christus zu vergeben. „Wer glaubt, … wird gerettet werden“ (Markus 16:16). Was der Einzelne auch gewesen sein oder getan haben mag – wenn er Christus als seinen Erlöser annimmt, werden ihm die Freiheit von Schuld und der Segen der göttlichen Gnade zugesichert. Wörtlich gelesen – wie bei den eher orthodoxen Christen – erscheint das gewissenlos: Welche Art von Gerechtigkeit soll das sein, wenn das Vorleben eines Verworfenen nur durch die Anerkennung von Jesus als dem einzigen Sohn Gottes weggewischt und sein Charakter von Sünden gereinigt wird? Gibt es kein Sühneopfer für falsches Handeln? Und wie steht es mit der Verletzung, die man anderen durch seine brutalen und gedankenlosen Handlungen zugefügt hat? Vom Standpunkt menschlicher, ganz zu schweigen göttlicher Gerechtigkeit aus ist es undenkbar, den Sündenerlass durch Gottes Vergebung, noch dazu nur für Gläubige, zu billigen; dies steht im Gegensatz zu allem, was die Menschheit für ethisch und gerecht erachtet. Wenn es jedoch im Zusammenhang mit der Aufforderung von Jesus interpretiert wird: „Geh hin und sündige fortan nicht mehr“, gewinnt der Vers von Markus eine tiefe Bedeutung – umso mehr, wenn er mit der Aussage Jesu an Nikodemus in Verbindung gebracht wird: „Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“

Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich das sagte: Ihr müsst von Neuem geboren werden.

Johannes 3:3, 5-7

Die Geschichte von Saul von Tarsus ist ein passendes Beispiel. In den Traditionen seines Volkes aufgewachsen, wurde Saul die Last der vergangenen Sünden unerträglich – und zwar so sehr, dass er sich nicht mehr mit seinem Gott identifizieren konnte. Als Hebräer wusste er, dass er die Gunst Gottes durch moralische Rechtschaffenheit und durch die Erfüllung seiner Gebote verdienen müsste. Er war so sehr verstört, dass er seinen Zorn und seine Verzweiflung an denen ausließ, die diesem Fremdling Jesus folgten. Eines Tages nun, als er auf dem Weg nach Damaskus war, hüllte ihn plötzlich ein Licht ein; es leuchtete so intensiv, dass er erblindet hinfiel, und er hörte, wie der Herr ihn rief. Nach drei Tagen war er ‘ein neues Geschöpf’ geworden, sein Sehvermögen war wieder hergestellt, das Vergangene vorbei, nach einiger Zeit hatte er selbst seinen Namen verloren. Hatte seine intensive Suche nach dem Sinn des Lebens plötzlich seine Seele für sein eigenes innerstes Licht geöffnet?

Als Paulus wandte er sich dann mit außerordentlicher Vitalität seinem neuen Leben zu. Er ermahnte alle, mit denen er sprach und an die er schrieb, dem Weg des Geistes zu folgen und nicht dem des Fleisches: „Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden“ (2 Korinther 5:17). Wo es eine echte Bekehrung, eine ‘Umkehr’ von den hemmenden Wegen der Vergangenheit gibt und die Seele vollständig in das Leben des Geistes eintaucht, ist man wie ein ‘neu geborenes Kind’ – nicht weil vergangenes Karma ausgelöscht ist, sondern weil man selbst innerlich erneuert ist, ‘aus dem Geist geboren’. Von jetzt an begegnet man dem Leben mit einer neuen Vision und gestärktem Willen.

Es ist eine wunderschöne, altbekannte Wahrheit, dass auf jede ganz und gar ernsthafte Bewegung in die Richtung der eigenen inneren Gottheit diese auf entsprechende Weise antwortet und ein Glanz auf das Herz und Denken des Aspiranten strahlt. Es steht außer Frage: Die anhaltende Bemühung, das Leben durch ernsthaftes Streben und Kultivierung des Willens für selbstlose Ziele zu erneuern, ermöglicht, dass eine ‘Klärung’ stattfindet und dass die Stimme der Intuition hörbar wird. Ob das die Stimme des Herrn oder einer anderen Gottheit ist oder jene des eigenen inneren Gottes, tut nichts zur Sache. „Geht und sündigt fortan nicht mehr“ beinhaltet viele Anwendungsmöglichkeiten, aber wehe dem Menschen, der nicht versucht, den übernommenen Verpflichtungen entsprechend zu leben: die Gnade der göttlichen Zustimmung zu verdienen.

Was ganz wichtig ist: Ein Akt der Gnade – was auch immer ihre Ursache ist und wie sie auch immer erfahren wird – umfasst in keiner Weise eine Annullierung des Gesetzes von Karma oder dass die Dummheiten und Irrtümer vergangener Tage aus dem individuellen Schicksalsbuch gestrichen werden. Was auch immer wir vor unserer Verwandlung getan oder unterlassen haben, muss in diesem oder in zukünftigen Leben ausgeführt werden – und dem sollten wir mit Frohsinn begegnen, denn Kummer ist eine willkommene Gelegenheit, die Tafel zu reinigen und alte Fehler zu begleichen. Genauso bedeutend ist alles, was wir gerne hätten tun und sein wollen – all die stillen, unerkannten Sehnsüchte, in der Finsternis unserer Umgebung ein Licht zu sein –, getreulich in den unvergänglichen Berichten der Ewigkeit eingetragen, um zur richtigen Zeit in Form von Segnungen zurückzukehren – ein Geschenk der Gnade für uns selbst und andere, in völliger Harmonie mit dem karmischen Gesetz hervorfließend.

Wir können das Dogma vom ‘Sterben Jesu für unsere Sünden’ aus einer anderen Perspektive betrachten. Die Tatsache, dass große Lehrer in zyklischen Perioden ausgesandt werden, um unter dem einen oder dem anderen Volk zu wirken, legt nahe, dass sie zu einem heiligen Zweck kommen: die Aspiration in den Seelen aller zu stimulieren, die auf den Ruf hören. Das Erscheinen einer solchen Inkarnation eines göttlichen Strahls zeugt vom Abstieg einer göttlichen Energie auf die Erde, die mit dem aufwallenden Ruf aus menschlichen Herzen zusammenfällt. Der Schnittpunkt menschlicher und göttlicher Zyklen hat so einen zweifachen Zweck. Wenn die Geist-Seele des ausgewählten Gefäßes mit der Göttlichkeit verschmilzt, kommt es zu einer derart gewaltigen Explosion, dass der Blitz der Götter über die Menschheit hereinbricht, um unsere Gedankenwelt mit göttlich-spirituellem Magnetismus aufzuladen. Es ist in der Vergangenheit geschehen; es wird wieder geschehen, wenn wir es hervorrufen.

Überall auf dem Weg gibt es eine Verknüpfung der Karmas, eine Verknüpfung zwischen den Welten der Götter und uns. Der Überlieferung nach betreten göttliche Wesen oder Avatāras die Erde als eine Art Unterwelt und ‘sterben’ auf diese Weise in ihren eigenen höheren Reichen. Dabei durchlaufen sie eine Initiation – ein majestätischer Gedanke. Indem sie absichtlich unter den Irdischen zur Geburt kommen, stirbt ein Teil von ihnen – es gibt ein ‘Sterben für unsere Sünden’ – buchstäblich und metaphorisch. Wie ein Strom aus Licht und Mitleid hinterlassen sie ihre Prägung auf die Menschheit. Weil sie einen Teil ihrer göttlichen Energie der Welt hinterlassen haben, nehmen sie in einem bestimmten mystischen Sinn einen Teil des Karmas der Menschheit auf sich. Während wir uns tatsächlich selbst befreien müssen, verbindet jeder, der sich dem Licht zuwendet und davon berührt wird – wie gering auch immer –, in diesem Ausmaß sein Karma mit jenem der Großen.

Wenn wir dann für unsere eigene ‘Erlösung’ verantwortlich sind, bestimmt Gott die Menschen nicht zu einem ewigen Leben entweder im Himmel oder in Verdammnis. Und doch können wir es dabei nicht belassen, denn es liegt ein Körnchen Wahrheit in der Vorstellung der Vorherbestimmung, insofern wir uns selbst aus der Vergangenheit zu dem bestimmt haben, was wir jetzt sind. Das impliziert, dass bestimmte karmische Linien der Ereignisse und des Charakters vorherbestimmt sind – nicht von einem Gott oder außerhalb von uns, sondern durch uns selbst. Wie Shakespeare sagte: „… Dass eine Gottheit unsre Zwecke formt / Wie wir sie auch entwerfen.“1 Jene Gottheit ist unser innerstes Selbst; wir sind diejenigen, die unser Schicksal mit unserem freien Willen gestalten. Wie wir den Ereignissen und Bedingungen des Lebens begegnen und die Beziehungen zu unseren Mitmenschen gestalten, liegt in jedem Augenblick in unseren Händen. Dabei gestalten wir wieder und wieder unseren Charakter und unser zukünftiges Schicksal. Nichts kann außerhalb der Gesetze Karmas geschehen; und da jeder von uns sein Karma ist, sind wir die Frucht, das Resultat, die Ausdrucksform unserer gesamten Vergangenheit. Jeder von uns ist deshalb der Aufzeichner seines eigenen karmischen Geschicks.

Das Leiden Christi stellt eine tiefe, heilige Erfahrung dar, die von jedem Erlöser willentlich durchgemacht wird – als eine Tat reinen Mitleids, damit das Ideal spiritueller Selbstüberwindung fest im Gewissen der Menschen bewahrt werden möge. Die Evangeliums-Erzählung ist eine Geschichte der menschlichen Seele, und Jesus stellt den göttlichen Höhepunkt dessen dar, was jeder Mensch auf Erden eines Tages erreichen wird – die Christus-Sonne in seinem eigenen Herzen zur Geburt zu bringen. Das bedeutet kein Versprechen eines Sieges ohne Verdienst; jeder muss sich selbst durch individuelles Streben meistern. Mögen wir auch in Ketten geschlagene spirituelle Wesen sein – so sind wir doch spirituelle Wesen, und keine Ketten, keine Macht auf Erden oder im Himmel können den menschlichen Geist für immer einkerkern. Während die Geschichte die Tragödie menschlicher Irrtümer aufzeichnet, legt eine höhere Geschichte Zeugnis ab von dem unbesiegten menschlichen Geist, denn das Leiden und der Triumph eines Christos zeigen den Sonnen-Pfad auf, den jeder Mensch schließlich wählen muss.

Fußnoten

1. Hamlet, 5. Akt, 2. Szene, Übers. August Wilhelm Schlegel. [back]

8 – Die Größeren Mysterien

In den Größeren Mysterien, in welche der Neophyt nach dem erfolgreichen Abschluss der vorbereitenden Grade eingetreten ist, wird er zu dem – durch individuelle Erfahrung –, was er in den Kleineren Mysterien gelernt hat. In diesem höheren Bereich esoterischer Schulung gibt es keine Schonung. Der Neophyt muss sich selbst gegenübertreten und siegen – oder sterben. Alle Ebenen seiner komplexen Natur – von der göttlich inspirierten bis zur grob materiellen – müssen erforscht und beherrscht werden. Zu diesem Zeitpunkt muss der Aspirant genügend spirituelle Vitalität entwickelt haben, um der Wirklichkeit Stand halten zu können. Er muss die Natur in ihren niederen und höheren Bereichen werden, die höchste Prüfung der Selbst-Erkenntnis bestehen und doch die Integrität seiner Seele bewahren.

Noch im zweiten Jahrhundert wurden die Riten der ägyptischen Mysterien, wie stark sie auch immer durch griechischen Einfluss modifiziert waren, mit entsprechender und angemessener Verehrung weitergeführt. Schüler aus den umliegenden Ländern suchten dort als eine geeignete Förderung nach einer Form der Initiation, welche ihren eigenen Zeremonien entsprach. Apuleius, ein römischer, platonischer Philosoph, beschrieb in seinen Metamorphosen oder Der Goldene Esel die Initiation in die Isis-Mysterien eines gewissen Lucius Patras, von dem man nun allgemein annimmt, er wäre Apuleius selbst:

Höre, nun, und glaube, denn was ich erzähle ist wahr. Ich bin den Grenzen des Todes nahe gekommen, ich betrat die Schwelle von Proserpine [Hades], ich wurde durch alle Elemente geboren und kehrte wieder zur Erde zurück. Ich sah im Tode der Nacht die Sonne leuchten mit strahlendem Glanz, ich näherte mich den Göttern oben und den Göttern unten und huldigte ihnen von Angesicht zu Angesicht. Höre, ich habe dir von Dingen erzählt, von denen du – obwohl du sie gehört hast – noch nichts wissen darfst.

Ich werde deshalb nur das erzählen, was ohne Sünde dem Verständnis des nicht Eingeweihten verkündet werden kann. Sobald der Morgen anbrach und die Riten ausgeführt waren, trat ich hervor, gekleidet in zwölf Mäntel, die der Initiierte trägt, ein heiliges Gewand. … Das kostbare Gewand hing von meinen Schultern, meinen Rücken hinunter, gar bis zu den Fersen, und ich war geschmückt, wohin auch immer du deine Augen wenden magst, mit den Bildern von Tieren, rundum bestickt in verschiedenen Farben. 1… Diesen Mantel nennen die Initiierten den Mantel des Olymp. In meiner rechten Hand trug ich eine Fackel mit flammendem Feuer, und mein Kopf war umschlungen mit einer makellosen Siegeskrone, deren Blätter wie Strahlen herausragten … geschmückt wie die Sonne und aufgestellt wie das Bild eines Gottes.

– Zitiert von Lewis Spence, The Mysteries of Egypt, S. 70-1

In den Größeren Mysterien ist der Übergang in die Unterwelt kein bloßes Ritual der Kleineren Mysterien mehr, an welchem der Kandidat teilnimmt. Er muss sich nun in vollem Wissen „den Grenzen des Todes“ nähern und im Gewand des Seelen-Bewusstseins jenseits des Schleiers der sichtbaren Natur in die Arena der unsichtbaren Welten übergehen:

Es ist eine der grundlegenden Lehren des Okkultismus, dass nichts wirklich gewusst werden kann, das nicht erfahren, durchlebt wird. … verschiedene Stadien oder Grade der Initiation sind tatsächlich eine Art von Schmiede-Prozess für bestimmte auserwählte Geister, bestimmte auserwählte Seelen, die sich als würdig erwiesen haben: … Diese verschiedenen Stadien oder Grade der Initiation werden zuerst durch vorbereitende Reinigungen gekennzeichnet. Dann folgt der ‘Tod’, ein mystischer Tod. Der Körper und die niederen Prinzipien werden sozusagen gelähmt, und die Seele vorübergehend befreit. In einem gewissen Grad wird der befreite innere Mensch geleitet und geführt und durch die Initiatoren unterstützt, während er in andere Sphären und Ebenen übergeht und deren Natur lernt, indem er zu ihnen wird; das ist der einzige Weg, durch den das Wissen darüber in der Seele, in dem Ego, Wurzel schlägt: indem man dasjenige wird.

FEP, S. 258-9

Dieser mystische Tod bildet die vierte Initiation, die nicht nur in der Fähigkeit besteht, das spirituelle Licht zu empfangen, sondern ebenso in der Kraft, der Dunkelheit des Bösen mit Gleichmut und erwachter Moral gegenüberzutreten. Etwas zu werden bedeutet tatsächlich, seine erkennende Intelligenz mit der Essenz dieses Wesens oder dieser Sache zu vereinen; mit anderen Worten, die Natur einer solchen Wesenheit für einen Zeitraum anzunehmen. Daher bedeutet das Verschweißen des eigenen Bewusstseins mit einem Wesen niedererer Sphären als der menschlichen hauptsächlich eine Prüfung der Widerstandskraft des Individuums: Werden die bösartigen Dünste der niederen Sphären die zarten Blütenblätter des keimenden Adepten ersticken? Werden die sinnlichen Vergnügungen der niederen Hölle irgendeine Anziehung auf den Neophyten haben, der in seinem Entschluss unnachgiebig ist? Die Natur von Wesen aus höheren als der menschlichen Sphäre anzunehmen, verlangt umgekehrt nach einer gleichermaßen ausgewogenen Konstitution: Werden das Leuchten und der Glanz von ungetrübter Wahrheit die Seele blenden? Wird die Vision der Wirklichkeit das erwachende Auge der Weisheit zerstören?

Dieser vierte Grad kann als ein Vorspiel, eine geringere Reflexion, für den letzten und siebten Grad der Initiation betrachtet werden, in welchem das Individuum die Prüfung der Einswerdung mit allen Sphären des Seins durchmachen muss. Um den vollständigen Initiationszyklus zu vollenden, bedarf es also des Erweckens und Stärkens aller sieben menschlichen Prinzipien. Der Kandidat muss seine siebensaitige Lyra so eingestimmt haben, so mit spiritueller Harmonie belebt haben, dass sie mit der spirituellen Essenz der sieben Prinzipien oder den sieben Sphären des Kosmos vollkommen synchron schwingt. Wie der Meister KH im indischen Simla 1882 an Allan O. Hume schrieb: „Die Grade der Initiation eines Adepten kennzeichnen die sieben Stadien, in denen er das Geheimnis der siebenfältigen Prinzipien in der Natur und im Menschen entdeckt und seine schlummernden Kräfte erweckt“ (ML, Brief xv, S. 99).

Über diese höheren Grade wissen wir kaum etwas. Das ist natürlich und wirklich angemessen; denn wie könnten Worte das beschreiben, was nur der Initiierte verstehen kann? Wie könnte das, was essenziell esoterisch ist, offenbart werden und doch seine mystische Integrität behalten? Jedenfalls sind bezüglich des fünften, sechsten und siebten Grades wichtige Hinweise gegeben worden.

Bei der fünften Initiation „begegnet der Initiand seinem eigenen Gott-Selbst von Angesicht zu Angesicht, und für eine längere oder kürzere Zeit wird er eins mit ihm“ (FEP, S. 283). Diesen Grad nannten die Griechen Theophanie, ein Wort mit der Bedeutung ‘göttliche Erscheinung’ oder ‘die Offenbarung einer Göttlichkeit’, die Erscheinung oder Manifestation von

des Menschen eigenem höheren Selbst für ihn selbst. Und obwohl beim Durchschnittskandidaten dieser erhabene Augenblick intellektueller Extase und hoher Vision nur eine kurze Zeit andauerte, wurde die theophanische beim weiteren spirituellen Fortschritt des Kandidaten dauerhafter und anhaltender, bis sich schließlich zuletzt der Mensch selbst erkannte – nicht nur spirituell als das Kind seines eigenen inneren Gottes, sondern als der innere Gott selbst in seinem essenziellen Wesen.

FEP, S. 447

Die sechste Initiation war die unvermeidliche Vollendung des Laufs der Dinge, die einer erfolgreichen Spiritualisierung der gesamten Natur folgten. Das wurde von den Griechen als Theopneustie bezeichnet – ein Wort, das buchstäblich ‘Gott atmend’ oder ‘göttliche Inspiration’ bedeutet –, wobei der Schüler

das Einatmen seines eigenen inneren Gottes verspürte und so inspiriert wurde – das Wort Inspiration bedeutet ‘einatmen’. Im Laufe der Zeit und mit der umfassenderen Reinigung des Seelen-Vehikels, welches der Mensch selbst ist, wurde dieses Einatmen oder diese Inspiration dauerhaft.

– ebenda

In diesem Grad „atmet der innere Gott des Kandidaten – für kürzere oder längere Zeit – die Weisheit und das Wissen des gesamten Universums in ihn hinein …“; und „im sechsten Grad begegnet der Initiand anstatt seinem eigenen Höheren Selbst einem anderen, …“ (FEP, S. 284, 260). 2

Dann kommt der siebte oder letzte Grad der Initiation, bevor die Meisterschaft erlangt wird. Diese Initiation ereignete sich gewöhnlich während der Wintersonnenwende. Die alten heidnischen Initiierten betrachteten die vier Punkte des Jahres – die Winter- und Sommersonnenwende und die Frühlings- und Herbst-Tag-und-Nachtgleiche – als Stellvertreter heiliger Vorgänge im Kosmos. Die Geburt der Sonne am Beginn des Jahres symbolisierte für sie die mystische Geburt des Initiierten, und es ist bedeutsam, dass fast alle großen Weltretter – wie Jesus, der Christus, Krishna, der Avatāra, Apollonius von Tyana und andere – ihre ‘Geburtstage’ zu dieser heiligen Zeit feiern: die Wiedergeburt der solaren Gottheit.

Der siebte Grad, der Theopathie genannt wird – ein griechisches Wort mit der Bedeutung ‘Gott-leidend’ oder ‘göttliches Erdulden’ –, ist das

erhabenste aller Mysterien, … der Initiand, der Kandidat, litt selbst, um zu werden, gab sich vollständig auf, um ein wahrhaft selbstloser Kanal der Kommunikation seines eigenen inneren Gottes, seines eigenen höheren Selbst, zu sein; er verlor sich sozusagen im größeren Selbst seines eigenen höheren Selbst.

FEP, S. 447

Es sind wenige, deren Seelenstärke ausreicht, die Gegenwart des Göttlichen vollständig ertragen zu können. Das ist der Lohn der höchsten Adepten, deren Opfer und Weisheit die Menschheit mit einer diamantgleichen Schutzmauer aus Mitleid und Sicherheit umgeben.

Beim siebten Grad durchschreitet der Neophyt die Tore der Sonne: „Für einen flüchtigen Augenblick wird er zu dem Wunderbaren Wächter“ (FEP, S. 260). Die solare Initiation ist vollständig: Der Neophyt stirbt und der Hierophant ist geboren.

Fußnoten

1. Die Bezugnahme auf die zwölf Gewänder und die Gestalten der Tiere deutet auf die mystische Reise durch die zwölf Zeichen des Zodiak hin. [back]

2. Für den interessierten Leser hier das englische Original-Zitat: „We are further told that in the sixth degree, instead of one’s own higher self, the initiant meets another One, a matter which we will tonight pass over in silence.“ – FEP, Seite 260. D.Ü. [back]