15 – Wer wird uns erlösen?

Das 20. Jahrhundert wurde Zeuge einer unsäglichen Tyrannei von Seele und Körper. Es ist, als würde sich ein Harmagedon vor unseren Augen abspielen – zwischen dem altruistischen Drängen des Herzens und den selbstsüchtigen Forderungen der persönlichen Natur, zwischen den kreativen Energien und den destruktiven, zwischen den spirituellen und den psychischen/materialistischen. Als evolvierende Wesen schreiten wir entweder vorwärts oder rückwärts, es gibt keinen Stillstand; da wir in jedem Augenblick entweder Schöpfer oder Zerstörer sind, ist es essenziell, dass wir periodisch durch einen Schock zu einem tieferen Bewusstsein unseres göttlichen Ziels gebracht werden.

Ideen sind mächtiger als Speere oder Bomben, um uns aus unserer Lethargie wachzurütteln, und was hätte revolutionärer sein können als die Wiederbelebung längst vergessener Vorstellungen – von der universalen Bruderschaft, vom Einsseins allen Lebens, vom Göttlichen an Stelle des Materiellen als dem kinetischen Vermittler hinter der Evolution? Es sind diese im 19. Jahrhundert in das Denken der Menschheit eingeflößten Ideen, die während des 20. Jahrhunderts mit unterschiedlichen Ergebnissen langsam und stetig keimten: Auf der einen Seite bewirkten sie eine wütende Reaktion fest verwurzelter Vorurteile und auf der anderen Seite trafen sie auf Widerhall bei der Suche ernsthafter Männer und Frauen jeden Alters und jeder Herkunft.

Die schrecklichen Unsicherheiten der Zeiten sind insofern ein Segen, als sie uns zwingen, unser Denken und unsere Motive erneut zu überprüfen und mit den zentralen Angelegenheiten des Lebens und des Todes zurechtzukommen; und wie wir unsere Kinder auf die Welt, die sie erben, am besten vorbereiten können. Die Wissenschaft mit ihrer ‘Staunen erweckenden Wundertüte’ hat damit unsere gegenseitige Abhängigkeit bestätigt, nicht nur als eine Menschheit, sondern – noch wichtiger – als Teilhaber an einer Ökosphäre, deren Familien von Wesen zu einem einzigen Lebensfluss gehören. Und doch haben wir mit all unserem Wissen nicht entdeckt, was wir am meisten brauchen: wie wir mit uns und miteinander in Harmonie leben können. Als Ergebnis sind viele verzagt, besorgt um sich selbst und um die Zukunft und fragen sich ernstlich, wohin unsere Zivilisation steuert.

Es sollte uns nicht überraschen, dass verschiedene Fundamentalisten uns drängen, zu ‘glauben und erlöst zu werden’, bevor es zu spät ist: Denn die „gefährlichen Zeiten“, über die sowohl Paulus als auch Petrus schrieben, werden bald kommen, wenn die Ruhestörer und Habgierigen, die Waffenstillstandsbrecher und Verächter all dessen, was gut ist, auf Erden wandeln, dann „wird der Himmel prasselnd vergehen, die Elemente werden verbrannt und aufgelöst, die Erde und alles …“.1 Wir würden gut daran tun, solche Warnungen nicht völlig in den Wind zu schlagen, denn keine Spezies kann den Folgen des Handelns entrinnen; sicherlich nicht wir Menschen, die es besser wissen und die Naturgesetze nicht absichtlich verletzen sollten. Da jedes Lebewesen im Universum der Geburt, dem Tod und der Wiedergeburt in einer neuen Form unterlegen ist, werden natürlich auch unsere gegenwärtige Zivilisation, unser Planet und seine Lebensreiche schließlich verschwinden – nach Erfüllung ihrer entsprechenden Lebenszyklen.

Die Zerstörung der Erde und das Zurückziehen der Götter, während sich die menschliche Rasse immer enger an die Materie bindet, stellen ein in alten Kulturen immer wiederkehrendes Thema dar. Die Erzählungen unterscheiden sich in Äußerlichkeiten: Einmal können sie sich auf ein Zeitalter und ein Volk beziehen, die seit langem verschwunden sind, ein anderes Mal auf Vorhersagen darüber, was noch nicht eingetreten ist. Auf den ersten Blick sind die Erzählungen über die verheerende Zerstörung durch Naturgewalten erschreckend – ob wir über die kryptischen Verse von Nostradamus (1503-1566) nachdenken, die Offenbarung oder andere apokalyptische Schriften. Wenn wir jedoch in den heiligen Schriften der Welt weiterlesen, entdecken wir, dass dem Sterben des alten Zyklus zur rechten Zeit das Auftauchen eines neuen folgt: Die Erde kommt neu und makellos hervor, und eine neue Menschheit ersteht. Das wird auf poetische Weise in der isländischen Edda, in der Prophezeiung von Vala, der Sibylle, vorausgesagt, welche die Ankunft von Ragnarök ankündigt („Untergang und Wiederkehr der Götter“), wobei „die Sonne allmählich schwach wird; die Erde sinkt in die Wasser; die funkelnden Sternschnuppen fallen vom Firmament“, begleitet von hoch aufsteigendem Feuer, um die Zerstörung zu vollenden.2 Schließlich taucht eine andere Erde aus den Wassern auf, der Adler fliegt und Götter verfügen wieder Frieden im Land und was heilig zu halten ist.

Ein ähnliches Muster von Niedergang, Tod und Erneuerung ist in dem Gespräch zwischen Asklepios und seinen Freunden zu finden, das dem Hermes Trismegistos, dem „dreimal Größten“, zugeschrieben wird. Wenn im Laufe der Zeit „alle Dinge, die dem Wesen der Seele feindlich sind“, von der Menschheit verübt werden, wird die Erde „nicht länger unerschüttert bleiben – der Himmel wird die Sterne nicht länger in ihren Bahnen halten, alle Stimmen der Götter werden notwendigerweise verstummen – … Aber wenn all das geschehen ist, wird Asklepios, dann der Meister und Vater, Gott, der Erste vor allen … der Unordnung durch das Zuwiderhandeln seines Willens Einhalt gebieten“. Er wird alle auf den Pfad zurückrufen, die sich verirrt haben, und die Erde vom Bösen reinigen – bald mit einer Flut, bald mit Feuer oder auch, „indem er es durch Krieg und Seuchen vertreibt“. Dann wird im Laufe der Zeitalter „Gott, der Erschaffer und Erneuerer des gewaltigen Gefüges“, den Weg frei machen für „die neue Geburt des Kosmos – eine heilige und Ehrfurcht erweckende Wiederherstellung der gesamten Natur“.3

Das Vishṇu-Purāṇa des alten Indien bietet ein anschauliches Bild vom Niedergang und der Erneuerung der Menschheit und der Erde. Nach einer detaillierten Darstellung der Missetaten der Menschheit, „bis sich die menschliche Rasse ihrer Vernichtung nähert“ – gegen Ende des Kali Yuga, unseres gegenwärtigen Zeitalters –, prophezeit es die Erneuerung, die stattfinden wird, wenn „ein Teil jenes göttlichen Wesens, das aus seiner eigenen spirituellen Natur im Wesen Brahmas existiert, welcher der Anfang und das Ende ist und alle Dinge versteht, auf die Erde niedersteigen wird“. Das ist Kalki, der zehnte Avatāra oder die göttliche Inkarnation, der in der Stadt Śambhala geboren wird, um alles, was falsch und unrecht ist, zu zerstören und das Dharma wieder herzustellen, das Gesetz von Wahrheit, Reinheit und Pflicht. Diejenigen, deren Denkvermögen aufgrund jener bemerkenswerten Periode erweckt und verändert wird, „werden wie die Samen der Menschen sein und eine Rasse gebären, die den Gesetzen des Kṛita-Zeitalters (des Zeitalters der Reinheit) folgen werden“, auch bekannt als Satya Yuga (Zeitalter der Wahrheit).4

Laut den brahmanischen Berichten begann das Kali Yuga – das niedrigste der vier Zeitalter mit einer Dauer von 432.000 Jahren – im Jahre 3.102 v. Chr. mit dem Tod Krishnas, des achten Avatāras des Vishnu. Vorausgesetzt, dass diese Zeitzyklen ziemlich genau sind, bedeutet das, dass wir nur etwas mehr als 5.000 Jahre des Kali Yuga abgeschlossen haben und noch 427.000 Jahre vor uns haben! Da angeblich das Kali Yuga – im Gegensatz zu den vorhandenen vier Vierteln der Wahrheit im Kṛita-Zeitalter – außerdem nur ein Viertel des Satya Yuga oder des Zeitalters der Wahrheit enthält, entsteht der Eindruck, als würde die Menschheit abwärtsgleiten – eine sehr entmutigende Aussicht, wenn wir nicht unser gegenwärtiges Zeitalter im größeren Zusammenhang des evolutionären Erdenzyklus betrachten. Der springende Punkt hier ist, dass die Erde und ihre Bewohner über den Mittelpunkt ihrer Evolution hinaus fortgeschritten sind; sie haben ihren Abwärtsschub vollendet, den Tiefpunkt überschritten – wenn auch nur geringfügig – und haben begonnen, aus der Materie zu einer immer verfeinerten Spiritualität aufwärtszusteigen. So ist das Kali Yuga ein kleinerer Zyklus des Abstiegs innerhalb eines großen Zyklus des Aufstiegs, den wir und die Erde in Angriff genommen haben; tatsächlich treten während unseres gegenwärtigen Kali-Zeitalters Perioden von relativer Spiritualität auf.

In einem 1882 an Allan O. Hume geschriebenen Brief erklärt KH, der Mentor HPBs, dass – wenn die Menschheit den „Axialpunkt“, den Mittelpunkt ihres siebenfältigen Laufs, überschreitet – „die Welt von den Ergebnissen intellektueller Aktivität und spiritueller Herabsetzung strotzt“ und dass in der letzten Hälfte des langen evolutionären Bogens „das spirituelle Ego seinen wirklichen Kampf mit dem Körper und Verstand beginnen wird, um seine transzendenten Kräfte zu offenbaren“. Er schließt seinen langen Brief mit der Frage: „Wer wird in dem kommenden gigantischen Ringen helfen? Wer? Glücklich der Mensch, der einer helfenden Hand hilft.“5 In der Tat: Wer wird seine helfende Hand in diesem Kampf der Zeitalter ausstrecken?

Viele Menschen sehnen sich heute nach einem Erlöser, um die Zerstörer in die Flucht zu schlagen und Harmonie und brüderliche Liebe unter uns wieder herzustellen. So weit in die Zeit zurückreichend wie Legende und heilige Schrift, hat fast jedes Volk am Ende des dunklen Zeitalters das Versprechen eines Erlösers gehegt, der die Übeltäter bezwingen und die Unschuldigen auf eine erneuerte Erde führen wird – ein goldenes Zeitalter, in dem die Wahrheit verehrt und alles Leben heilig gehalten wird. Die Christen blicken auf das Zweite Kommen, wenn die schließliche Trennung stattfindet; orthodoxe Juden erwarten den Messias; die Parsen zählen auf Saoshyans, der Ahriman (Dunkelheit) bezwingt und Ahura Mazda (Licht) den Thron übergibt. In Indien drehen sich ähnliche apokalyptische Ereignisse um den Kalki Avatāra am Ende des Kali Yugas; buddhistische Schriften beschreiben einen künftigen Buddha, Maitreya, den „Freundlichen, Wohltätigen“, der von den himmlischen Regionen zur Erde kommt, um wiederum das Dharma (das heilige Gesetz) in seiner Reinheit zu verkünden; und tibetische Legenden erzählen von der Rückkehr der Könige von Śambhala. Keine zwei stimmen in Bezug auf den Zeitpunkt überein: Die orientalischen Völker stufen das Ereignis in ferner Zukunft ein, während westliche Völker das Kommen eines Erlösers oder Weltlehrers praktisch als unmittelbar bevorstehend verkünden.

Bei unserer begrenzten Sicht auf das menschliche Schicksal, die teilweise von der Ablehnung der Reinkarnation als einer begründeten philosophischen Hypothese herrührt, ist es kein Wunder, dass während der letzten Jahrzehnte im Westen eine Art Messianismus aufgekommen ist, der sich in einer hysterischen Sehnsucht nach irgendeiner erleuchteten Persönlichkeit manifestiert, die sich erhebt und unsere Zivilisation von der Selbstzerstörung abhält.

Dass Lehrer und Führer für unsere innere Entwicklung so notwendig sind wie liebevolle Eltern und Schullehrer für Kinder, ist offenkundig, aber die andere Seite der Gleichung ist ebenso wichtig. So wie dem heranwachsenden Kind gestattet werden muss, seine eigene Stärke zu finden, so braucht die Menschheit als Ganzes Zeit und Raum, um durch ihre eigenen Anstrengungen Reife zu erlangen. Wir sind fast wie Jugendliche, die verfügbare Hilfe zurückweisen und dann – sich entfremdet fühlend – zu dummen und manchmal zerstörerischen Mitteln greifen, um die Einsamkeit zu füllen. Während es gegenwärtig eine außerordentliche Sehnsucht nach höherer Führung gibt, gibt es folglich auch einen erstaunlichen Mangel an Einschätzungsvermögen dafür, was in Geistesangelegenheiten vernünftig und was falsch ist.

Heute reißen die Stürme Nāradas, des Boten Karmas, einst scheinbar unüberwindliche Schranken nieder, um Platz zu schaffen für längst notwendig gewordene Veränderungen in den Geschicken von Einzelnen und Nationen.6 Jede Nation, jede Rasse, jedes Volk, tatsächlich jeder Mensch überall auf dem Globus ist Gegenstand der bipolaren Kraft von Nāradas Śiva-Energie, die zerstört, damit sie wieder aufbauen kann. Umstürze größeren und kleineren Ausmaßes ereignen sich zyklisch, um die Lebensfähigkeit des Geistes durch das Zerstören und Erneuern von Formen sicherzustellen. Dieses Zusammenspiel von Licht und Schatten wird so lange andauern, als wir verkörperte Wesenheiten sind. Aber es gibt Zyklen innerhalb von Zyklen und die Wachstumsmuster der Menschheit enthüllen lange Perioden scheinbarer Ruhe, unterbrochen von offenbar plötzlichen Veränderungen. Wenn ein solcher ‘Augenblick’ des Schicksals reif ist, erleben wir vielleicht einen Zustrom eines neuen Menschentypus auf der Bühne, oft begleitet von globalen Störungen sowohl physischer als auch psychologischer Art.

In kleinerem Ausmaß ist das Verblassen des Fischezeitalters und das Aufdämmern des Wassermannzeitalters ein solcher Knotenpunkt, an dem es zum Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen kommt. Da wir an der Kreuzung zweier größerer astronomischer und möglicherweise auch noch länger andauernder Zyklen stehen, fragen wir uns, ob das Zusammentreffen dieser verschiedenen Zyklen ungewöhnlich starke ‘Gezeiten’-Effekte hervorbringt, die es einer riesigen Welle von Egos ermöglichen, in dieser Zeit nach einer Inkarnation zu streben. Ob die hereinbrechenden Gezeiten ein Wiederaufleben spiritueller Werte mit sich bringen oder eine noch dunklere Periode menschlichen Leids, wird hauptsächlich von der gegenwärtigen und den kommenden Generationen abhängen. Wir Menschen – individuell und kollektiv als Bewohner des Planeten – werden angetrieben, zu erwachen und unser Denken und Verhalten zu prüfen; viele Menschen wenden sich um Antworten nach innen, hinterfragen Motive und das Warum und Wie der Existenz.

Wo immer wir hinblicken – wir beobachten vorwärts- und rückwärtsgerichtete Kräfte, die um die Vorherrschaft über die Herzen und Seelen wetteifern. Wenn man es isoliert betrachtet, ist dies Grund zu wirklicher Sorge, aber wenn man es als symptomatisch für einen zwar quälenden, aber überaus notwendigen Vorgang ansieht, haben wir Grund zu der Hoffnung, dass die neue Saat in fruchtbarem Boden keimen wird. So wie sich die zyklische Erneuerung der Formen in jedem Naturreich vollzieht, damit das neue Erblühen stattfinden kann, so können neue und dynamische Einsichten in die Rolle und das Schicksal des Menschen und in unsere kosmische Abstammung unsere Gedankenstrukturen verjüngen.

Für diejenigen, die in früheren Leben mit dem theosophischen Strom in Berührung gekommen sind, sich aber bis jetzt der daraus resultierenden Verantwortung nicht bewusst geworden sind, könnte das der Augenblick des Erwachens sein, auf den das höhere Selbst wartet – wenn wir uns innerlich wieder einmal mit uns vereinen und die nie endende Suche erneut aufnehmen. Von da an tritt unser Leben in eine neue Dimension ein: Nicht länger damit zufrieden, sich treiben zu lassen, verschärft sich der innere Kampf zwischen unserem Ariadne-Selbst, das uns aus dem Labyrinth unserer materiellen Interessen herausführen möchte, und unserem persönlichen Selbst, das für einige Zeit diese Führung zu ignorieren versucht. Aber unsere Ariadne lässt uns niemals völlig vergessen – sie kann es nicht, denn wir sind unwiderruflich mit ihr verbunden. Es ist nichts anderes als unser Sūtrātman, der ‘strahlende Faden’, der uns mit unserem Gott-Selbst vereint. Und noch wunderbarer: Sie verbindet uns auch mit dem Gott-Selbst oder Ātman eines jeden Menschen, der jemals auf Erden gelebt hat – ein kosmisches Einssein, das über der Macht der Vernichtung von Mensch, Gott oder Dämon steht.

Allerdings ist nicht jeder in der Lage, auf die von der Veränderung hervorgebrachte Unruhe konstruktiv zu reagieren. Viele Menschen sind verwirrt und schwanken folglich zwischen den sicheren Dogmen der Vergangenheit und jeder grenzüberschreitenden Idee, die sich ihrer Fantasie bemächtigt. Wo ist der rettende mittlere Weg, der beständig den Verwandlungsvorgang vorantreibt, der Abhängigkeit von äußerer Führung durch Vertrauen auf den Erlöser im Innern ersetzt?

Es wäre ein mitleidsloses Universum, müsste die Menschheit viele Tausende von Jahren auf die Rückkehr des goldenen Zeitalters warten, bevor Hilfe kommt. Könnten wir unsere menschliche Evolution seit den Ursprüngen dieses Erdenzyklus in einem Panorama sehen, so wüssten wir, dass eine Hierarchie von mitleidsvollen Wesen alle Kinder dieser Erde schützend bewacht. In zyklischen Perioden bringen sie eine Saat der kosmischen Wahrheit in das Weltbewusstsein aus, dem Karma der Menschheit entsprechend, und in periodischen Abständen senden sie einen oder mehrere aus ihren Reihen, um in der Menschheit zu inkarnieren, und ermahnen Nationen und Rassen, in Harmonie, Ordnung und Frieden miteinander zu leben. Eine universale Bruderschaft auf Erden zu errichten, ist ihr beständiger Traum. Aufgrund unseres gemeinsamen Ursprungs im Göttlichen – auf dieser Grundlage sind wir Brüder – muss dies auch kein Traum bleiben.

Wenn der Ruf aus erwachenden Herzen und Seelen stark genug ist, bringt das Gesetz magnetischer Anziehung eine Reaktion zustande. „Bittet und es wird euch gegeben …“ Aber bevor wir ernsthaft „bitten“ – Wünsche haben eine unbequeme Art, wahr zu werden –, sollten wir uns vielleicht einige Fragen stellen: Verdienen wir die Hilfe, die wir suchen? Haben wir alles getan, was wir können und sollten, um die Fehler in unserer eigenen Natur und der Bühne der Weltbeziehungen zu korrigieren? Ist darüber hinaus unsere Intuition empfindsam genug, um einen wahren Boten oder Lehrer zu erkennen? Welche Sicherheit gibt es umgekehrt, dass ein Mensch das ist, was er zu sein behauptet, und dass seine Lehren mit der Natur und mit den ursprünglichen Wahrheiten – die unserer innersten Essenz, als die Menschheit jung war, eingeprägt wurden – übereinstimmen? Falsche Propheten sind immer gegenwärtig, während die echten oft schlecht gemacht werden; manchmal erkennen wir intuitiv, dass eine große Seele unter uns gelebt hat, erst dann, wenn sie die Weltenbühne verlassen hat. Sicherlich ist ein hohes Maß an Auffassungsgabe, an Reinheit der Aspiration und an gesundem Menschenverstand nötig.

Wirkliche Scharlatane stellen keine anhaltende Gefahr dar, denn sie werden recht schnell durchschaut. Es sind die charismatischen Menschentypen mit ihrem überzeugenden Gemisch aus Halbwahrheiten, die für ihre Anhänger die größte Versuchung darstellen – und für sich selbst. Viele von ihnen beginnen möglicherweise zunächst mit guten Absichten, um den Millionen, die nach etwas mehr als der engen Orthodoxie kirchlichen Glaubens hungern, eine Botschaft der Hoffnung zu bringen. Einige von ihnen sind vielleicht durch irgendeine besondere Erfahrung oder Vision davon überzeugt, dass sie einen ‘Ruf’ empfangen haben. Das kann der Fall sein – oder auch nicht. Wo die Aspiration stark und zielgerichtet ist, mag ein einzelner Mensch für einen Augenblick einen Kanal für das Licht im Innern öffnen und eine zeitweilige Verschmelzung der Seele mit seinem höheren Selbst erleben. Für ihn ist die Vision real. Die Frage ist: Hat eine entsprechende Reinigung des Charakters, eine parallel laufende Schulung und Kontrolle der leidenschaftlichen und mentalen Natur stattgefunden, um die Vision aufrechtzuerhalten? Wenn er nicht rücksichtslos bemüht war, sich von Stolz und Geiz zu befreien, macht ihn die momentane Öffnung zu inneren Welten verletzlich für fremde Kräfte aus den niederen Astralreichen, die – wenn nicht durch den höheren Willen kontrolliert – dämonisch werden können.

Wir rufen uns eine scharfsinnige Beobachtung von William Law (1686-1761), einem Theosophen, christlichen Geistlichen und tiefsinnigen Schüler der Schriften Jakob Böhmes, ins Gedächtnis:

Weißt du …, woher es kommt, dass so viele falsche Geister in der Welt erscheinen, die sich und andere mit falschem Feuer und falschem Licht täuschen, die Anspruch erheben auf Inspiration, Erleuchtungen und Eröffnungen des göttlichen Lebens, indem sie vorgeben, unter außergewöhnlichen Anrufungen Gottes Wunder zu bewirken? Es ist so: Sie haben sich Gott zugewendet, ohne sich von sich selbst abzuwenden; sie wollen in Gott leben, bevor sie für ihre eigene Natur tot sind …

In den Händen des Selbst oder einer korrupten Natur dient die Religion nur der Aufdeckung von schlimmeren Lastern, als sie in einer sich selbst überlassenen Natur existieren.7

Beachten Sie den Satz: „Sie haben sich Gott zugewendet, ohne sich von sich selbst abzuwenden.“ Die menschliche Natur hat sich im Laufe der Jahrhunderte nicht viel verändert! Wenige der Menschen, die sich nach verändernden Erfahrungen höherer Art sehnen, sind willens, den ersten Schritt der Selbstdisziplin zu tun, und noch weniger ertragen ein langes und anstrengendes Training und Erproben der Integrität und der Motive, viele Leben lang. „Übung geht den Mysterien voraus“ ist ein Grundsatz von erwiesener Gültigkeit.

In historischen Zeiten und auch heute geschieht es, dass der eine oder andere selbst ernannte Guru zu glauben beginnt, er sei unfehlbar: Ist er nicht von Gott gesandt, ein Apostel des Messias oder ein Überbringer einer Botschaft direkt vom Herrn Maitreya? Seine oder ihre Anhänger sind teilweise mitschuldig, denn permanente und unkritische Vergötterung kann wie Gift wirken. So heimtückisch ist das Gift der Schmeichelei, dass der Möchtegernlehrer nur zu bald sowohl sich selbst als auch seine Verehrer davon überzeugt, dass er von der strengen, für andere geltenden Moralität befreit ist: Welche Übertretung des ethischen Kodex er auch immer begehen mag – sie wird zu einem ‘heiligen Akt’ und so geheiligt. Es ist unmöglich, die tragischen Konsequenzen eines solchen Verrats – an sich und an denjenigen, die uneingeschränkt ihre Hingabe und ihr Vertrauen geben – abzuschätzen.

Offensichtlich ist Vollkommenheit weder möglich noch wird sie erwartet, und es ist so anmaßend wie unfair, diejenigen streng zu beurteilen, die ernsthaft danach streben, ihren Mitmenschen spirituell und moralisch zu helfen. Dennoch haben wir das Recht und die Pflicht zu erwarten, dass diejenigen, die für sich beanspruchen, Lehrer zu sein, Worte der Wahrheit und des Mitleids durch ehrbares und altruistisches Denken und Handeln bestätigen. Was wir alle brauchen, ist ein klareres Wissen über uns selbst und dazu eine gesunde Dosis Skeptizismus – nicht Zynismus, sondern intelligenten Skeptizismus. Das Wort ist treffend: von griechisch skeptikos, „gedankenvoll, reflektierend“. Wir müssen daran erinnert werden, dass die Essenz unseres Wesens unsterblich ist und dass jeder von uns nicht nur das angeborene Vermögen und den Willen, sondern auch die Verpflichtung hat, sich selbst zu ‘erlösen’ – das heißt, unsere Seelen von den Fesseln selbstsüchtigen Verlangens zu befreien.

Das zyklische Auftreten von Erlösergestalten soll uns an unsere göttlichen Möglichkeiten erinnern – nicht unseren Drang rauben, zu wachsen und ihnen gleich zu werden. Wir können jetzt damit beginnen, indem wir alles aus unserer Natur über Bord werfen, das äußerlich ist und geringfügiger, als wir es an menschlichem Verhalten schätzen. Das ist keine Aufforderung zu übertriebenen physischen oder mentalen Entsagungen: Die Ausübung der alten und universal verehrten Vorschriften – wir wollen sie Gebote, Seligpreisungen, Pāramitās oder Tugenden nennen – ist unser Sesam-öffne-Dich für die Zukunft. Trotz des Zugs zu materiellen Belangen während des absteigenden Zyklus im Kali Yuga müssen wir uns in unserem Denken und unserer Aspiration nicht abwärtsneigen. Die Geschichte des Menschen bestätigt seit Anbeginn, dass in jedem Zeitalter – ob es ein Zeitalter spiritueller Klarheit und aufwärtsgerichteten Strebens oder eines von spiritueller Finsternis und einer abwärtsgerichteten Tendenz war – Pioniere ruhig an der Arbeit sind, vorwärtsdenkende Männer und Frauen, welche die Feuer der Aspiration lebendig halten. Je stärker der Zug zum Materiellen ist, umso mächtiger schwimmen sie dagegen an, um die erforderliche Gegenströmung zu bewirken.

Offenkundig sind wir mitten in einer kritischen Phase, in der die Lichtenergien in direktem Kampf mit den dunklen Kräften stehen– nicht nur auf der nationalen und internationalen Bühne, sondern auch in unserer eigenen Natur. Wenn wir nicht jetzt, individuell und kollektiv, beginnen, uns auf unsere eigene innere Stärke zu verlassen, werden wir wenig haben, auf das wir in künftigen Krisen zurückgreifen können. Jetzt ist nicht die Zeit, um sich an große Führer zu lehnen; es ist nicht die Zeit, auf einen Boten zu warten. Wenn wir empfinden, dass die Umstände mehr als ungünstig für unsere unerschütterlichen Bemühungen sind, die Fackel der Hoffnung hochzuhalten, wollen wir uns an Mutter Theresa erinnern. Als sie gefragt wurde, wie sie angesichts des Ausmaßes an Leid – dessen Zeuge sie täglich wurde, ohne irgendeine Möglichkeit, sich spürbar gegen die Flut zu stemmen – ausharren könnte, antwortete sie: „Eins nach dem anderen: Ich schaue nur auf das Kind oder den alten Mann oder die Frau, die ich pflege; würde ich an die Abermillionen denken, die meiner Hilfe bedürfen, könnte ich nichts tun.“

Es scheint, dass jeder Mensch in sich die Kraft hat, das zu tun, was erforderlich ist: insgeheim und unbemerkt der Führung seines höheren Selbst zu folgen. Aber wir müssen in dieser Praxis durchhalten; vor allem müssen wir vorbehaltlos auf die Fähigkeit unseres inneren Lichts zur Erleuchtung unseres Lebens vertrauen. Wenn jeder von uns unerschütterlich seiner Führung Beachtung schenkt, werden wir mit der Zeit eine Verkörperung von Mitleid, Verständnis, Wissen und Hilfsbereitschaft werden – und doch werden wir paradoxerweise den größten Segen von allen empfangen haben, wir werden ‘in den Augen der Welt zu einem Nichts geworden sein’. Auf diese Art werden wir die Lichtimpulse stärken, die an Zahl und Schwungkraft gewinnen, und dementsprechend die mitleidsvollen Taten jener verstärken, die unentwegt für alle Nationen und für die Ungeborenen arbeiten und die auch gegenwärtig den Weg für die Morgendämmerung eines helleren Zeitalters vorbereiten.

Fußnoten

1. Siehe 2 Timotheus 3:1-5 und 2 Petrus 3:3-13. [back]

2. Siehe Die Masken Odins von Elsa-Brita Titchenell, „Völuspá“ (Die Prophezeiungen der Sibylle), S. 97-112. [back]

3. Hermetica, engl. Übers. Walter Scott, 1:344-7, „Asclepius - III“, § 26a. [back]

4. The Vishṇu Purāṇa, engl. Übers. H. H. Wilson, 4:224-9; Buch 4, Kap. 24. [back]

5. Die Mahatma-Briefe, Band 2, S. 123 (M. L. 14). [back]

6. Siehe G. de Purucker, Quelle des Okkultismus, 3:246-257. [back]

7. William Law, The Spirit of Prayer: or The Soul Rising out of the Vanity of Time, into the Riches of Eternity, Prayer 2.1-32; siehe Aldous Huxley, The Perennial Philosophy, S. 243. [back]