7 – Karma

Heute wird viel über unsere Bruderschaft mit der gesamten Natur nachgedacht, darüber, dass wir mit der Sonne, dem Mond und den Sternen genauso eng verbunden sind wie mit den Naturreichen unter uns. Es besteht ein Einssein in der Essenz jedes göttlichen Funkens im gesamten Raum aufgrund der Identität der Quelle im Unergründlichen; und doch ist jeder göttliche Funke – da er die Frucht Äonen dauernder Evolution in sich trägt – von seinem einzigartigen Siegel der Göttlichkeit geprägt. Einssein, aber mit Unterschieden – und darin liegt das Geheimnis des unendlichen Mysteriums des Lebens. Das lässt darauf schließen, dass ein riesiger Reichtum an individueller karmischer Erfahrung im Kern eines jeden von uns eingeschlossen ist. Kurz gesagt, wir sind mit allen eins in unserem innersten Selbst, und doch hat jeder Mensch seine essenzielle Qualität oder seinen essenziellen Charakter, seine individuelle Maserung sozusagen, die seine gesamte Natur durchzieht.

Die stoischen Philosophen des alten Griechenlands und Roms erkannten, dass innerhalb des Kosmos und ebenso innerhalb eines jeden seiner Myriaden Lebewesen eine kreative Kraft existiert, welche den Plan oder den Zweck in sich birgt, den ‘Grund’ für sein Wesen, was sie als den Logos bezeichneten. Für sie ist der Logos spermatikos, „Samen tragend“, und aus ihm kommt eine Schar individueller „Samen-Logoi“ in die manifestierte Existenz, um schließlich zu ihrer Quelle zurückzukehren: „Unzerstörbare Saat-Kräfte, zahllos … überall im Universum verstreut, überall formend, bevölkernd, gestaltend, vermehrend …“.1

Während seines gesamten Erdenzyklus evolviert jeder dieser Samenlogoi und schafft dadurch Karma. Dabei beeinflusst er andere Samenlogoi, die ihrerseits das Schicksal jedes Einzelnen beeinflussen. Es sind diese Zusammenhänge und Vermischungen Karmas, die unser Leben mitunter schwer verständlich machen. Probleme treten hie und da auf, weil wir Karma für etwas halten, das uns von einer äußeren Kraft auferlegt wird, von einer Art Nemesis oder fürchterlichem Schicksal, das uns befällt, wenn wir am wenigsten darauf vorbereitet sind, und das irgendwelche unbekannte Taten rächt, die in diesem Leben oder in längst vergangenen Leben ausgeführt oder unterlassen wurden. In Wirklichkeit ist Karma ein Hervorfließen unseres eigenen Selbst. Selten betrachten wir das universale Gesetz von Ursache und Wirkung aufgrund seiner stärkenden Kraft als heilend, mitleidsvoll.

Bei den frühesten Griechen war Nemesis eine Göttin, die unser Gewissen personifizierte, unsere innewohnende Angst, etwas Falsches gegen die Götter zu tun; außerdem unsere Ehrfurcht für das moralische und spirituelle Gesetz von Harmonie, von Ausgewogenheit. Wir haben vergessen, dass die Götter nicht von uns getrennt sind und dass wir eine Ausdehnung ihrer Lebensessenz darstellen. Ihre Sorge für uns ist ein innewohnender Teil unseres Wachstums-Vorgangs, vergleichbar mit unserem Schutz der atomaren Lebensformen, die in der menschlichen Hierarchie evolvieren.

Natürlich fragen wir uns, welchen Nutzen es hat, in diesem Leben für die Konsequenzen der Handlungen zu leiden, an deren Ausführung in früheren Leben wir uns nicht erinnern. Wir hielten es für fairer, wenn wir uns erinnern könnten, denn wenn wir wüssten, wo wir fehlgingen, hätten wir nichts dagegen, den Konsequenzen jetzt zu begegnen. So wäre es für uns auch leichter zu erkennen, wo wir uns bessern könnten. Wenn jedoch alles gesagt und getan ist, erinnern wir uns sehr wohl an unsere Vergangenheit, denn wir selbst sind die Vergangenheit: Wir sind das Karma, die Frucht von äonenlanger Erfahrung, die sich in der Gegenwart entfaltet. Es stimmt: Unser physisches Gehirn, das für dieses Leben neu geformt wurde, hat kaum die Fähigkeit, sich zu erinnern, aber das ist nicht alles, was wir sind. Die Persönlichkeiten, die wir Leben auf Leben annehmen, sind an einem „Fadenselbst“ (Sūtrātman) wie Perlen auf einer Schnur aufgefädelt. Während sich die Perlen oder Persönlichkeiten nur teilweise des strahlenden Selbst bewusst sind, das sie zusammenhält und aus dem sie ihre Lebenskraft ziehen, erinnert sich unser atmanisches Selbst oder Sūtrātman sehr wohl. Etwas von dem Aroma des Bewusstseins, das in jede neue Persönlichkeit hinübergetragen wird, kann in Augenblicken innerer Ruhe intuitiv verspürt werden.

Buddhistische Texte erinnern uns daran, dass die Zeit kommen wird, in der von uns verlangt wird, Wissen zu gewinnen – nicht nur über unser unmittelbar vergangenes Leben, sondern über „die Folge von Geburten und Toden“.2 Bis dahin werden wir spirituell ausreichend reif sein, um mit solchem Wissen ohne Schaden für andere oder uns selbst umzugehen, und wir werden den Segen augenblicklicher Erinnerung an die Weisheit, die uns angeboren ist, verdient haben.

All das führt zu weitreichendem Nachdenken und trägt uns über die Unmittelbarkeit gegenwärtiger Umstände hinaus zu früheren Inkarnationen, vielleicht sogar zu früheren Weltzyklen. Wir können uns keinen Beginn vorstellen, vor dem keine Ursachen in Bewegung gesetzt wurden, denn jeder göttliche Funke ist ein Bewusstsein, ein Lebewesen, das seinen individuellen Evolutionslauf seit Äonen verfolgt. Innerhalb der Gezeiten von Ebbe und Flut des Wachstums-Musters unseres Planeten haben wir Menschen eine ebenso lange Geschichte von Geburten und Toden, von Erfolg und Versagen; wichtiger noch – unser Eintritt in das Erdenleben, wo und unter welchen Bedingungen auch immer, ist ein Ausströmen unseres Karmas, die unvermeidbare Konsequenz von Ursachen, die in früheren Inkarnationen gesät wurden.

Durch das Gesetz der magnetischen Anziehung müssen wir alles, was zu uns kommt, zu irgendeiner Zeit selbst in Bewegung gesetzt haben, wissentlich oder unwissentlich. In jedem Augenblick unseres Lebens prägen wir unserem gesamten Wesen die Qualität unseres Denkens und Fühlens – edel oder niedrig – ein. Wir sind es selbst, die ihren Lebensatomen dies aufprägen, und wenn die Seele wieder und wieder zur Erde zurückkehrt, kehren auch eben diese Lebensatome zu uns zurück, um erneut unsere verschiedenen Hüllen – physisch, mental und spirituell – zu bilden. Niemand bringt eine Ernte ein, die er oder sie nicht selbst geschaffen hat – in Vorteilen und Charakterstärke für die gute Saat, in Entbehrung und Willensschwäche für Unkraut. Karma ist nicht nur für die Menschen der strenge und doch immer wohltuende Aufzeichner jeder Bewusstseinsregung, sondern ebenso für alle Wesenheiten – von atomischen bis zu makrokosmischen. Karma als einen rächenden Dämon oder einen belohnenden Engel aufzufassen, bedeutet nach Äußerlichkeiten zu urteilen. Was immer der evolutionäre Stand ist – jede Wesenheit ist ihr eigener Lipika oder „Schreiber“, ihr eigener Aufzeichner, Erwecker und Freund. So wie wir unsere charakteristische Marke auf jedem Teilchen unserer zusammengesetzten Konstitution hinterlassen, so macht es jede andere Wesenheit auch.

Jeder von uns macht Prüfungen durch, die aus den engen Grenzen eines einzigen Lebens schwer zu rechtfertigen sind. Wir sind von Gesetzen und Einflüssen abhängig, die scheinbar wenig Beziehung zu unserem persönlichen Leben haben: in ihrer Reichweite national, rassisch, global, sogar solar und kosmisch. Wenn freundliche und gedankenvolle Menschen ein grausames Schicksal erleiden, ist es schwer zu verstehen, dass sie möglicherweise in der Vergangenheit etwas schrecklich Falsches getan haben. Und wie steht es mit dem unaussprechlichen Leid von Millionen Menschen durch Hunger, Krieg oder Naturkatastrophen?

Wenn tatsächlich das eine unantastbare Gesetz im Universum Karma ist, dessen Gesicht Mitleid und dessen andere Seite Gerechtigkeit ist, dann ist es einem Individuum in der Stunde der Wahrheit unmöglich, eine Erfahrung zu durchlaufen, die nicht letztendlich aus irgendeinem Teil seiner Konstitution herrührt, die sich vom Göttlichen bis zum Physischen erstreckt. Da die Wege Karmas mysteriös sind, sind sie nicht leicht zu erkennen. Was jemandem geschieht, ist möglicherweise nicht das Ergebnis schlechter Handlungen in der Vergangenheit, sondern wird vielleicht durch das höhere Selbst für seine eigenen wohltuenden Zwecke in Gang gesetzt. Das Buch des österreichischen Psychiaters Viktor Frankl, Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, bietet ein bewegendes Zeugnis für die Tatsache, dass aus der Hölle und dem Schrecken der Konzentrationslager Helden geboren wurden. Die Tortur jedes einzelnen von ihnen muss eine besonders mächtige Initiation gewesen sein.

Die Saat der Möglichkeit, dass einige wenige tragisch fehlgeleitete Menschen eine ganze Nation edler Männer und Frauen in Zustände stürzen lassen können, die normalerweise keiner von ihnen tolerieren würde, muss vor langer Zeit gesät worden sein. Seit wir mit dem Feuer des Denkvermögens ausgestattet und uns als denkende Wesen unserer selbst bewusst wurden, haben wir die Macht, zwischen richtig und falsch zu wählen. Seit Millionen Jahren sind wir verantwortlich für unsere Gedanken, Emotionen und Taten, die aus ihnen hervorgehen. Aufgrund der Macht zu wählen und aufgrund unserer bis jetzt unvollkommenen Entwicklung werden wir zwangsläufig falsche Entscheidungen treffen, besonders wenn der Zug zum Materiellen stärker scheint als der Zug zum Spirituellen.

Die menschliche Natur evolviert langsam, und heute haben wir so wie in der Vergangenheit eine Wahl zwischen selbstsüchtigen und selbstlosen Instinkten; zwischen einer Handlung zu unserem eigenen Nutzen oder zum Nutzen unserer Familie und Gemeinschaft. Mit jeder Entscheidung setzen wir Ursachen zum Guten oder Schlechten in Bewegung, die schließlich ihre Wirkungen auf uns und unsere Umgebung haben werden. Die Fähigkeit, die Vernetzungen Karmas unter Nationen zu verfolgen, würde ein Wissen weit jenseits unserer gegenwärtigen menschlichen Möglichkeiten erfordern – ein Verständnis für das weite Panorama vergangener Saaten von Nationen und Individuen in längst vergangenen Zeiten. So wie wir alle unser individuelles Karma haben und in einem bestimmten Land zu einer bestimmten Zeit geboren sind, so nehmen wir in einem bestimmten Maß an seinem nationalen Karma teil.

Wenn wir erfassen, dass Gerechtigkeit und Harmonie der universalen Natur inhärent sind und dass die Natur immer tätig ist, um ein gestörtes Gleichgewicht wieder herzustellen, müssen wir schließen, dass ausnahmslos jeder genau die Erfahrung erntet, die zu ihm gehört. Wenn wir von Versuchungen heimgesucht werden, die sich unserer Kontrolle entziehen, erfreut sich möglicherweise unser höheres Selbst an der gebotenen Gelegenheit, kostbare Lektionen zu lernen, das Mitleid zu nähren und vielleicht unter diesen besonderen Umständen eine stille Hilfe für Mitmenschen in größerer Not zu sein. Haben wir nicht alle, gewöhnlich nach vielen Jahren, entdeckt, dass die schwierigsten Phasen in unserem Leben dauerhafte Geschenke mit sich brachten? „Segnungen in Verkleidung“ lautet die gängige Phrase, die auf das intuitive Erkennen hindeutet, dass Sorge und Leid verborgene Schönheiten beinhalten, vor allem in unserer vertieften Liebe und unserem vertieften Verständnis für die Notleidenden.

Nachdem ich Krankheit und Tod vieler nahestehender Freunde miterlebt habe, dachte ich oft: „Wenn ich nur die Macht hätte zu heilen; wenn ich nur eine Linderung der Schmerzen bringen könnte!“ Als ich älter wurde, habe ich erkannt, dass das vielleicht nicht der weiseste und mitleidsvollste Weg zu helfen ist. Ich habe allmählich verstanden, dass der liebevollste und wirksamste Weg der Unterstützung des anderen darin besteht, ihn dabei zu unterstützen, den Mut, die Liebe und das Vertrauen zu finden, seinem Karma schöpferisch zu begegnen. Natürlich sollten wir die medizinischen Hilfsmittel nutzen, die normal verfügbar sind, aber lassen wir unserem Freund die Ehre und Würde zu erkennen, dass er die Fähigkeit hat, seinem Karma mit Verständnis zu begegnen. Sein Körper mag früher als üblich sterben, aber in der Begegnung mit seinem zu ihm gehörenden Karma akzeptiert er bewusst das Privileg, durch eine schwierige karmische Erfahrung für ein wohltuendes Ziel zu arbeiten. Es liegt ein Trost und eine Stärke sowohl für die Sterbenden als auch für die Lebenden darin, diese Haltung einnehmen zu können.

Wie können wir am besten beistehen? Indem wir uns hinsetzen und mit unserem Freund weinen? Ja, es kann Tränen geben, Tränen des Verständnisses und der Liebe, nicht des Leids und der Verzagtheit; Tränen der Erkenntnis, dass die Seele den Mut hat, einen ernsthaften Leidensweg auf sich zu nehmen in dem Wissen, dass ein großer Reinigungsprozess stattfindet, eine Klärung von Karma für die Zukunft. Es bedarf nicht vieler Worte – Worte sind oft recht unnötig. Aber es muss eine Bereitschaft geben, stark zu sein, standhaft und loyal, so dass unser Freund auf eine pflegende Stärke zurückgreifen kann, wenn er dessen am meisten bedarf.

Woher wissen wir, was die Seele durchmachen muss, um wirklich frei zu sein? Woher wollen wir wissen, dass das schreckliche Leiden, das in einem gewissen Sinn für den Zuschauenden schlimmer sein mag als für denjenigen, der es durchmacht, nicht genau das Karma ist, nach dem sich die Seele gesehnt hat? Ob des Leidens eines anderen die Schultern zu zucken, ist diabolisch und führt zu einer Verhärtung des Herzens. Eine solche Haltung bedeutet, den gesamten Zweck des Lebens zu verfehlen. Wir müssen Leiden lindern, so weit wir es können; auf jede mögliche Art müssen wir unser Mitleid und Verständnis teilen – nicht indem wir die Last von den Schultern eines anderen nehmen, sondern indem wir ihm helfen, den Herausforderungen seines Lebens mit größerem Vertrauen in sich und die erweiterte Perspektive zu begegnen und sie zu anzunehmen.

Wenn wir über die Bedeutung von körperlich, psychisch oder mental einschränkenden Beschwerden nachdenken, die oft unerschöpfliche Quellen von Geduld und Liebe erfordern, sind wir verpflichtet zu fragen: warum? Warum werden manche Menschen in einem gemarterten Körper geboren oder andere als Folge eines Unfalls oder einer Krankheit zu Krüppeln? Was weist einem Menschen ein vorteilhaftes Leben zu, während sich jemand anderes, vielleicht mit reicherem Potenzial, jeden Zentimeter Weges erkämpfen muss, nur um mit einem Körper umzugehen, der auf keinen gewöhnlichen Befehl reagiert, und dann oft gezwungen ist, viel fleißiger zu arbeiten, um Seele und Geist zum Erblühen zu bringen? Millionen Menschen tragen heute eine Last privater Sorgen und fragen sich, wo die Gerechtigkeit und das Erbarmen in einem Universum bleiben, das angeblich von einem alles liebenden Gott geleitet wird. Es ist wirklich ein kaltherziger Trost für gequälte Eltern, wenn ihnen gesagt wird, es sei Gottes Wille, die Verfügung Allahs oder die Auswirkung alten Karmas.

Die Ursache und das Heilmittel von Leid reichen an den Kern des Mysteriums und werden jenseits unseres Fassungsvermögens bleiben, jenseits der Worte aller Lehren, welche die Menschheit empfangen hat, bis wir mit jedem Atom unseres Wesens das Mitleid des göttlichen Plans hinter allem Geschehen spüren können. Sicherlich kann niemand entschieden sagen, dass ein Kind, das mit einer erblichen Missbildung geboren wurde, für irgendeine Missetat aus einem früheren Leben oder aus früheren Leben bezahlt. Es mag wohl der Fall sein; aber genauso gut kann es auch ganz anders sein. Ist es nicht beispielsweise vorstellbar, dass ein zurückkehrendes Ego – denn wir sind vor allem Geist-Seelen, nicht Körper – innerlich weit genug fortgeschritten sein könnte, um das Karma einer ernsten Behinderung zu wählen, damit es tiefes Einfühlungsvermögen mit allen Leidenden gewinnt? Ist es nicht auch möglich, dass ein reinkarnierendes Ego mit dem Bedürfnis nach einer zeitweiligen Erholung von bestimmtem mentalem und emotionalem Druck für eine Inkarnation ein ‘zurückgebliebenes’ Vehikel wählt? Und ebenso könnte es sein, dass Grausamkeit und Selbstsucht im Charakter so verwurzelt waren, dass das sicherste Mittel zum Abschütteln des Fehlverhaltens darin besteht, in einem behinderten Körper geboren zu werden, damit Einfühlungsvermögen und Mitleid tief in die Seele eingebrannt werden und die Natur besänftigt wird.

„Urteile nicht, damit du nicht verurteilt wirst“ – nur wer in der Lage ist, die spirituelle Geschichte eines Individuums zu lesen, ist in der Lage zu erkennen, welche karmischen Fäden in längst vergangenen Leben aufgenommen wurden, die in eben jenen Bedingungen resultieren, die das reinkarnierende Ego selbst nun in diesem Leben zu bewältigen hat – oder nicht bewältigt. Jeder von uns hat in den Bildteppich seiner Seele Größe und Niedrigkeit eingewoben; aber wenn wir erahnen – was viele tun –, dass wir mit unserem göttlichen Ahnen verbunden sind und dass alles, was wir an Freude und Leid erfahren, ein innewohnender Teil unseres Schicksals ist, das wir über zahllose Zyklen aufgebaut haben, dann wissen wir, dass selbst in den herzzerreißendsten Umständen Angemessenheit und Schönheit existieren.

Ein mit einem Mundstück auf der Schreibmaschine geschriebener Brief einer Freundin, die seit der Geburt dem Trauma einer starken Behinderung trotzt, bestätigt das. Viola Henne verdient ihren Lebensunterhalt als Künstlerin und widmet all ihre Zeit und Energie der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die stärker behindert sind als sie. Viola kümmert sich nicht darum, was die Kinder nicht können; sie konzentriert sich auf das, was sie tun können. Auf diese Weise belebt sie ihren Willen und ihr kreatives Talent, um das hervorzubringen, was sie an Potenzial haben. Sie schreibt:

Bitte unterstützen Sie die Auslöschung der falschen Vorstellung, welche die Menschen über das Wort ‘Karma’ haben. Weder ich noch andere Behinderte werden dadurch ‘bestraft’, dass sie in kaputten Körpern (Gehirnen oder … ) leben. Nein! Sobald nämlich das eigene Bewusstsein die Illusionen fehlerhafter Erziehung übersprungen hat, ändert man vom einen Augenblick zum anderen seine Haltung zur Behinderung – ändert sie und nimmt ein für alle Mal wahr, dass die kaputte Form keine Bestrafung ist, sondern ein heiliges Privileg, wodurch einem schließlich erlaubt wird, auf einer bewussten (erwachten) Ebene zu arbeiten.

Es ist dem Tragen angemessener Kleidung vergleichbar, wenn man ‘zur Arbeit geht’ – das kaputte Vehikel ist notwendig und eine selbst auferlegte äußere Umhüllung. Unser eigener innerer Mechanismus lässt den gegenwärtigen ‘Körper’ und die momentanen Bedingungen zu, damit sie den Lehr-Lern-Bedingungen entsprechen. Jeder von uns hat in irgendeinem Augenblick für frühere Fehler im Denken oder Handeln zu ‘bezahlen’. Menschen mit fähigen Körpern sind nicht reiner als Krüppel; sie ‘bezahlen’ für ihre Fehler mittels einer anderen Ursache-und-Wirkung-Situation.

Karma – das Wort sollte erklärt werden mit der Bedeutung „Bedingungen, welche die Seele momentan als die beste Gelegenheit für das Seelenwachstum und für die Unterweisung anderer wählt“.

Eine überzeugende Antwort auf die Frage eines Menschen: „Ist das Leben gerecht?“, der sich weigerte, verbittert zu sein, und seine Begabung an Mut und Liebe allen, die der Hoffnung und des Selbstwertgefühls bedürfen, gewidmet hat. Selbst wenn das eigene Leben schwer geprüft wird, resultiert das Gefühl, diesmal ein sehr ‘schlechtes’ Karma zu haben, aus dem Festhalten an einer völlig missverstandenen Ansicht vom Standpunkt der menschlichen Seele oder des reinkarnierenden Egos aus. Purucker sagte es treffend: „Wir sind unser eigenes Karma.“ Das bedeutet, dass alles, was auf uns in Form von Charakter oder Umständen zukommt, ein Hervorfließen aus uns selbst ist – aus unserer Vergangenheit. Wenn wir oder unsere Lieben herausfordernde und schmerzliche Bedingungen durchleben müssen – schlechte Gesundheit, persönliche Rückschläge oder Ähnliches – ist das nicht ‘schlechtes’ Karma. Zugegeben, das Karma mag äußerst schwer anzunehmen sein, aber wenn es im Laufe der Zeit den Fortschritt der Seele fördert, muss es als wohltuend angesehen werden.

Das ist eine der hilfreichsten Ideen, weil sich heute viele Menschen von der Last des Lebens bedrückt fühlen. Wenn wir erkennen, dass wir unser Karma sind, dann wissen wir, dass das, was sich vor uns entrollt, wirklich wir selbst sind. Wir haben die Gelegenheit, zu lernen und zu wachsen und unsere Wahrnehmungen und unser Verständnis zu vertiefen. Während sich unsere Sympathien über die Grenzen unserer persönlichen Probleme hinaus ausweiten und wir den Humor und die Würde beobachten, mit denen andere, scheinbar weniger Begünstigte als wir ihrer Lebenssituation begegnen, entdecken wir möglicherweise, dass jene von uns, welche die größte Schwierigkeit bei der Handhabung ihrer charakterlichen Schwächen haben, die am meisten Benachteiligten sind. Ein wenig Selbstbetrachtung ist wie eine Therapie und ermahnt uns, dass wir alle gemeinsam aufsteigen und dass diejenigen, die wenig Fortschritt zu machen scheinen, vielleicht sehr wohl den Weg für sich selbst und für Nachfolgende von Hindernissen befreien, die sich sonst als unüberwindlich herausgestellt hätten.

Natürlich ist es einfach zu philosophieren, wenn man sich ziemlich guter Gesundheit erfreut und in bequemen Umständen lebt. Aber wie steht es mit den Menschen, die in Armut leben und dazu verurteilt sind, durch Krankheit oder Hunger zu sterben? Sollen wir sagen, es ist ihr Karma und sie müssen es durchleben – mit hoffentlich mehr Glück im nächsten Leben? Eine solche Haltung wäre tadelnswert. Offensichtlich ist es ihr Karma, sonst wären sie nicht mit solchen Bedingungen konfrontiert; aber wie können wir ihr Karma von unserem isolieren? Wir sind eine Familie, und jeder von uns hatte seinen Anteil bei der Gestaltung der momentanen schwierigen Umstände. Ist es nicht außerdem auch unser Karma, tief betroffen zu sein und – wenn überhaupt möglich – bei der Linderung des schrecklichen Elends zu helfen, das in so vielen Teilen unseres Globus existiert? Es liegt ein gewisser Trost in der Tatsache, dass das Weltgewissen erwacht und empfindsamer und feiner wird, so dass eine wachsende Zahl an selbstaufopfernden und gebildeten Männern und Frauen bereits ihr Leben dem praktischen humanitären Dienst widmet.

So sehr sich unsere Herzen auch danach sehnen zu helfen, so können doch viele von uns wenig im Sinne greifbarer Linderung bieten. Aber es gibt unter uns nicht einen Einzigen, der nicht daran arbeiten könnte, die tief sitzenden und seit langem wirkenden Ursachen zu beseitigen, die zur Plage der Menschheit führten. Das ist zugegebenermaßen ein sehr langfristiges Ziel, aber ist es deshalb irgendwie weniger wertvoll? In einem im Jahr 1899 geschriebenen Brief an die anlässlich des amerikanischen Konvents versammelten Theosophen zitierte HPB diese Zeilen von einem ihrer Lehrer:

„Lasst nicht die Frucht guten Karmas euer Motiv sein; denn da euer Karma, ob gut oder schlecht, mit dem der gesamten Menschheit zusammenfällt und ihr gemeinsamer Besitz ist, kann euch nichts Gutes oder Schlechtes widerfahren, das nicht von vielen anderen mitgetragen wird.“ … „Es gibt kein Glück für einen Menschen, der immer an sich selbst denkt und alle anderen Selbste vergisst.“

Und dann dieser bedeutsame Satz:

„Das Universum stöhnt unter der Last solcher Handlung (Karma) und nichts anderes als selbstaufopferndes Karma erleichtert sie.“3

Das ist provokativ. Gibt es einen einzigen Menschen, auf den das nicht zutrifft? Tatsächlich stöhnt das Universum unter der Last unserer selbstsüchtigen Handlungen und Gedanken, und wir sind es – individuell und kollektiv –, die insofern verantwortlich sind, als wir zu jener Last beitragen. Als Menschen haben wir alle bis zu einem gewissen Grad gemischte Motive; aber vor uns haben wir das große Ideal, unser Leben altruistisch zu gestalten. Das ist ein Ziel, dessen Erreichung vieler Leben bedarf, aber das Ziel ist es wert, stets in unseren Herzen lebendig zu bleiben. Wenn es in unserer alltäglichen Erfahrung zu einem dominierenden Einfluss wird, werden wir ein größeres Maß an Selbstlosigkeit als von ihrem Gegenpol zum Ausdruck bringen.

Selbstsucht behindert das natürliche Wachstum unserer Seele; sie ist dem Wachstum der Menschheit gegenüber feindselig, weil sie uns nur auf uns selbst lenkt. Demgegenüber steht ein Denken, das uns selbst nicht in den Mittelpunkt stellt. Es setzt Licht von innen frei, und das Licht, das in unsere Seele fließt, sprengt die Grenzen unserer Persönlichkeit und wirft einen Glanz auf das Leben anderer. Es ist eine Tatsache, dass jeder altruistische Impuls und Antrieb, der sich mit einem Elementalwesen verbindet, seinen Einfluss in die Gedankenatmosphäre unserer Welt aussendet und jedes Individuum, das sich in sympathischer Schwingung mit jener Qualität der Sehnsucht befindet, entsprechend antwortet. Sein Leben wird veredelt und seine Umgebung strahlt. Das gilt gleichermaßen auch für das Gegenteil, und auch dafür werden wir zur Rechenschaft gezogen.

Gleichgültig, in welche äußeren Lebensumstände uns Karma stellt – wir können uns immer daran erinnern, dass wir Seelen sind und jeder von uns sein individuelles Dharma zu erfüllen hat. Krishna erklärt Arjuna, dass das Dharma eines anderen voller Gefahren ist, und selbst wenn es nicht der edelste Weg ist, wird der Mensch ermahnt, das Dharma zu erfüllen, das zu dem Selbst (Sva-Dharma)4 gehört. Auf diese Weise wird er seinem eigenen Pfad folgen und das tun, wofür er in diese Welt geboren wurde.

Die Orientalisten haben Dharma unterschiedlich übersetzt – Pflicht, Wahrheit, Gesetz, Religion, Frömmigkeit –, aber alle diese Worte sind nur eine Annäherung, sie geben nicht den Gedankenreichtum wider, den der Sanskrit-Begriff verkörpert. Dharma – von dem Verbum dhṛi, „mit sich führen, tragen, bewahren“ – vermittelt, dass wir alle inkarnierten, ein eigenes Schicksal mit uns führten und die Wahrheit unseres eigenen inneren Wesens bewahren, während wir unsere äußeren Pflichten nach unseren besten Möglichkeiten erfüllen. Wir müssen als Erstes unser Schicksal erkennen, das im Innern liegt, nicht außerhalb von uns. Wir brauchen nicht nach Tibet, Amerika, Thailand oder Afrika zu gehen, um es zu finden. Wir sind unser Schicksal, unser Karma, unser individuelles Dharma.

Es gibt so viel Fehlgeschlagenes in unseren menschlichen Beziehungen überall auf der Welt, dass es wahrscheinlich viele Zeitalter brauchen wird, um die Dinge ins Lot zu bringen; zweifellos haben wir eine ziemlich hohe karmische Rechnung gegen uns angehäuft, die ausgeglichen werden muss. Aber wir sollten nicht die andere Seite des Schuldenbuches übersehen, die in diesem und in vergangenen Leben gemachten edleren Einträge. Wäre es nicht möglich, dass die Intensität des globalen und individuellen Leidens und der Verwirrung der Werte ebenso auf ein karmisches Erwachen zurückzuführen ist, eine Anregung unseres höheren Selbst, wie auf bisher unbeglichene karmische Schulden?

Sicherlich sollten wir unser Leben als eine Ganzheit leben und nicht ständig gespalten sein von Angst und Verzweiflung. Sorge betrifft uns alle, aber wie der Regen für Mutter Erde sollte sie uns nähren und neues Wachstum bewirken. So wollen wir in unserem Leben der Freude weiten Raum gewähren – der inneren Freude, die das Herz erwärmt und die karmische Waage ausgleicht. Eines Tages – in diesem Leben oder in einem kommenden – werden wir vielleicht in der Lage sein, alles, was wir durchgemacht haben, mit den Augen des Sehers zu betrachten, der wir wirklich sind – wie ein Adler hoch über unserem Erden-Karma – und unsere gesamte Erfahrung, vergangen und gegenwärtig, in einer panoramischen Vision zu erblicken, sowohl in Form von Motivation als auch von Taten. Wir werden wissen, dass alle Hindernisse, alles Leiden – physisch und mental – und auch der Tod ein Teil des natürlichen Wachstumsmusters sind und der Seele die weitere Wahrnehmung, die wahre Liebe, die tiefere Fürsorge für alles einprägen.

Fußnoten

1. Edward Vernon Arnold, Roman Stoicism, S. 161. [back]

2. Visuddhi Magga, Buddhaghosa (5. Jahrh. n. Chr.), World of the Buddha, herausgeg. von Lucien Stryk, S. 159 ff. [back]

3. H. P. Blavatsky an die Amerikanischen Konvente: 1888-1891, S. 70-1. [back]

4. Bhagavad-Gītā 3:35 (W. Q. Judge recension, S. 21). [back]

7 – Die Kleineren Mysterien

Die Kleineren Mysterien sind eine Vorbereitung des Neophyten auf die Initiation in die Größeren Mysterien durch verschiedene Grade der Reinigung und Schulung, verbunden mit der Übung der intellektuellen und spirituellen Wahrnehmung. Wie im vorigen Kapitel angedeutet, wurden gewöhnlich sieben Grade gezählt, von welchen die drei ersten die Kleineren Mysterien umfassen. Der vierte Grad ist der Wende- oder Entscheidungspunkt, an dem jene, die sich der Schulung und Übung der ersten Grade unterzogen haben, der Prüfung der tatsächlichen Erfahrung der Selbst-Erkenntnis ausgesetzt werden. Wenn der Kandidat diese vierte Prüfung erfolgreich beendet, beginnt er eine strengere Schulung und Reinigung und geht eine engere Beziehung zwischen Lehrer und Schüler ein. Von nun an ist er angenommener Schüler, sein Wille ist fest darauf ausgerichtet, den fünften, sechsten und siebten Grad zu bestehen, welche die Größeren Mysterien umfassen.

Die Prüfungen der Kleineren Mysterien sind verhältnismäßig einfach, aber sobald der Schüler seine Ernsthaftigkeit und Fähigkeit unter Beweis stellt, die ersten Tests zu bestehen, werden die Übungen härter, die Anforderungen an seine Natur werden strikter und die Hand Karmas ahndet Fehler strenger.

Zwei besondere Merkmale kennzeichnen die Kleineren Mysterien: (a) Unterweisung in die tiefere Wissenschaft des Kosmos; und (b) dramatische Riten, die das darstellen, was der Initiand ohne Hilfe von außen in den Größeren Mysterien durchmachen muss. In den eleusinischen Mysterien dienten zum Beispiel die heiligen Riten als eine spirituelle Unterstützung zur Anregung des Kandidaten, das höhere Leben zu leben und dazu, ihn mit den Wegen des Initiationsprozesses vertraut zu machen.

Zeuge oder Zuschauer bei einem Schauspiel zu sein, ist etwas ganz anderes als die tatsächliche Erfahrung zu erleiden; aber dennoch dient das als Stärkung für den Neophyten, wenn die Zeit für die größeren Initiationen kommt. Die Kleineren Mysterien waren bekannt und wurden von den klügsten Denkern aller Zeitalter als die Institutionen des höheren Lernens für jene erkannt, die sich als würdig und geeignet erwiesen hatten.

Von den Mysterienschulen ausgehend, durchdringt das Wissen um die Wahrheit die mentale Atmosphäre des umgebenden Landes, wenn Initiierte der ersten Grade in die Welt hinausgehen. In Griechenland und Rom waren fast alle großen Männer von historischer Bedeutung Initiierte in einem oder mehreren Graden der Kleineren Mysterien. Das betraf nicht Mörder und Erorberer mit dem Schwert, denn sie waren fast alle nicht in die Mysterien initiiert, obwohl sich in den Tagen des Untergangs des Römischen Reiches viele Bewerber unterschiedlichen Formats den Einführungsriten auf eine mehr oder weniger oberflächliche Art unterzogen.

Tatsächlich wurden in alten Zeiten die Mysterien als so hochstehend erachtet, dass die Vorbereitung für den Zutritt als das königlichste Geschenk erachtet wurde, das ein Vater seinem Sohn machen konnte. Knaben wurden mit sieben Jahren aufgenommen, und ihr Herz und Verstand wurde geschult, so dass sie mit Erreichen des Erwachsenenalters entweder ihren Platz in der Welt einnahmen und einen konstruktiven Einfluss unter den Menschen ausübten, oder dass sie – wenn sie auf Grund innerer Eignung besonders bevorzugt waren – im Heiligtum blieben und so weit in die Größeren Mysterien voranschritten, wie es ihnen möglich war. Bestimmte Schüler wurden ausschließlich dazu ausgebildet, die Gesetze des Lebens an den höheren Lehrstühlen zu unterrichten; andere empfingen die ersten Riten, um sich dafür vorzubereiten, gleichmütig und ehrenvoll für die Regierung im Staat zu arbeiten. Wieder andere unterzogen sich der Schulung und Reinigung der ersten Grade und widmeten dann ihr Leben der Aufgabe, der Menschheit Schönheit zu bringen – ob mit Skulpturen oder Farbe, mit Versen oder Harmonie. So reiften diese frühen Zivilisationen in spirituellen Dingen unter der Führung initiierter Philosophen und Staatsmänner, Künstler und Musiker.

Viele Zweige der Kunst und Wissenschaft wurden in den Kleineren Mysterien gelehrt, besonders Geographie, Astronomie, Chemie, Physiologie, Psychologie, Geologie, Meteorologie und auch Musik, die „göttlichste und spirituellste der Künste“ (ML, Brief xxivb, S. 188); ähnlich wurden die Künste und Architektur studiert, deren verlorener „Kanon der Proportion“ die griechischen Tempel unsterblich gemacht hat. Diese Wissenschaften wurden als geheime Studien der Mysterien betrachtet, nicht weil sie – wenn sie gelehrt würden, wie man sie heute an Schulen und Universitäten lehrt – nicht verstanden würden, sondern weil solche Wissenschaften und Künste von der Seite ihrer Ursachen, und nicht von der ihrer Wirkungen her, studiert wurden.

Über die Alten wurde viel gespottet, weil sie das Wissen zurückhielten, das in seinen einfachsten Formen sogar von einem Kind verstanden werden kann. Sicherlich wurden die einfacheren Formen öffentlich gelehrt, aber deren okkulter Hintergrund wurde streng geheim gehalten (wie es auch heute der Fall ist, obwohl die Welt als Ganzes wenig davon ahnt), da er nur für jene geeignet war, die das erhaltene Wissen nicht missbrauchen würden. Kann so viel Weisheit in diesen Tagen präsentiert werden, in welchen – sobald Wissenschaftler etwas Neues erfinden – sofort eine Möglichkeit gefunden wird, diese Erfindung zu zerstörerischen Zwecken einzusetzen? Man wird dazu gedrängt, die Stärke und Weisheit der Alten zu bewundern, die es besser wussten, als ihr Wissen unterschiedslos jenen anzubieten, denen es an moralischer Kontrolle fehlte. Mit all unserer prahlerischen Überlegenheit haben wir bis heute noch nicht auf allen Gebieten an das wissenschaftliche Wissen unserer alten Vorfahren Anschluss gefunden.

Wie H. P. Blavatsky 1877 schrieb:

Wenn moderne Meister den Alten wirklich so sehr voraus sind, warum bringen sie uns nicht wieder die verlorenen Künste unserer postdiluvianischen Vorväter zurück? Warum geben sie uns nicht die unverlöschlichen Farben von Luxor, den tyrianischen Purpur, das glänzende Zinnober und das blendende Blau, welche die Mauern dieses Ortes zieren und noch heute so glänzen wie am Tag ihrer Auftragung? Der unzerstörbare Zement der Pyramiden und alter Aquädukte, die Damaszenerklinge, die gleich einem Korkenzieher in ihrer Scheide – ohne zu brechen – verdreht werden kann, die prächtigen unvergleichlichen Tönungen des farbigen Glases, das mitten im Staub alter Ruinen und Balken in den Fenstern alter Kathedralen gefunden wird, und das Geheimnis des echten hämmerbaren Glases? Und wenn die Chemie so wenig imstande ist, selbst mit dem frühesten Mittelalter in einigen Künsten mitzuhalten, warum sich solcher Errungenschaften rühmen, die mit höchster Wahrscheinlichkeit schon vor Tausenden von Jahren vollkommen bekannt waren? Je mehr die Archäologie und Philologie fortschreiten, desto beschämender sind für unseren Stolz die Entdeckungen, die täglich gemacht werden, desto ruhmreichere Zeugenschaft tragen sie zu Gunsten derer, die vielleicht wegen der Entfernung zu ihrem weit zurückliegenden Altertum bis jetzt als im tiefsten Sumpf des Aberglaubens steckende Unwissende angesehen worden sind.

Isis, I: 239

In den Mysterien war die Geographie nicht nur ein Studium der Topographie; viel mehr war das periodische Heben und Senken von Kontinenten der Gegenstand der Untersuchung – in Übereinstimmung mit den zyklischen Ereignissen der Rassengeschichte; man lernte über geheime Zentren auf der Welt und unsere innige Beziehung zu den beiden Polen und den vier Himmelsrichtungen. HPB weist darauf hin:

Die beiden Pole heißen das rechte und linke Ende unseres Globus, wovon der Nordpol das rechte Ende ist, oder Kopf und Fuß der Erde. Jede wohltuende Handlung (astral und kosmisch) kommt vom Nordpol; jeder tödliche Einfluss vom Südpol. Sie sind eng mit der Magie der „rechten“ und „linken“ Hand verbunden und beeinflussen sie.

SD II: 400, Fußn.

Die Meteorologie war das Studium der Strömungen von Wind und Regen, nicht vom Standpunkt der Wirkung her, sondern als Träger von Strömen vitaler Energie aus allen Teilen des Sonnensystems und darüber hinaus. Blitz und Donner etc. waren nicht nur elektromagnetische Phänomene – Wörter, die ausreichend exakt sind und dennoch wenig mehr als eine Feststellung erzeugter Wirkungen vermitteln, wenn sie nicht okkult verstanden werden. Wenn sie vom ursächlichen Aspekt her betrachtet werden, werden sie als äußere Manifestationen innerer Kräfte angesehen, die aus dem kosmischen Raum in unsere Atmosphäre hervorbrechen und das Leben auf Erden beeinflussen.

In Chaldäa, Ägypten, Mexiko und Peru, Wales, Island und Indien wurde die Astrologie mit Ehrfurcht betrachtet. Ihre tieferen Lehren wurden von Mund zu Ohr übermittelt, für so heilig und tief spirituell wurden sie gehalten. Bloßes Wahrsagen und andere ähnliche Lappalien waren in den Augen des Hierophanten pöbelhaft. Die anerkannten Einflüsse der Sonne und Planeten auf die Menschen, welche den Einzelnen zu dem einen oder anderen Charakter- oder Verhaltensmuster bewegen, wurden nicht für rein mechanisch erachtet. Ein solcher Austausch von planetarischen und solaren Lebensenergien unter irdischen Wesen wurde so verstanden, dass er aus unserem gemeinsamen galaktischen Erbe hervorging. Die siebenfältige Natur der Planeten wurde bei der Betrachtung der siebenfältigen menschlichen Natur berücksichtigt. Daher stellt das Zusammenspiel der Lebensatome von verschiedenen Planetensystemen mit der Erde und vice versa eine der Hauptstudien der esoterischen Astrologie dar.

Darüber hinaus wurde die Wissenschaft der Vorhersage von gewaltigen zyklischen Geschehnissen nicht nur in Indien bis ins kleinste Detail beherrscht (siehe das Sūrya-Siddhānta von Asuramaya, die älteste vorhandene Abhandlung über Astronomie, SD II: 326), sondern auch im alten Chaldäa, dessen moderne Repräsentanten vor etwa vier- bis fünftausend Jahren immer noch die archaische Astrologie als ein Hauptmerkmal ihrer geheimen Mysterien betrachteten. Der berühmte Zikkurat oder hohe Turm von Borsippa in Babylonien ist ein eindeutiger Zeuge für das Wissen um die siebenfältigen planetarischen Einflüsse auf die Menschheit. Als die Stadien der sieben Sphären bezeichnet, trug jedes der Stockwerke eine andere Farbe und stellte einen der sieben heiligen Planeten dar. An der Spitze eines Zikkurat befand sich ein heiliger Schrein, oft mit einem Tisch oder einer Liege aus Gold.

Was also der Allgemeinheit als bloße astronomische Observatorien erschienen sein mag, waren geheime Schulungszentren, innerhalb von deren inneren Räumen die Astrologie eine der wichtigsten Studien der Kleineren Mysterien bildete. Medizin und Chirurgie, Physik und Alchemie, Poesie, Mathematik und ebenso Philosophie wurden von ihrem inneren Standpunkt aus studiert. Diese Unterweisungen bestehen nicht daraus, eine große Menge von Formeln auswendig zu lernen, sondern im inneren Erfassen der okkulten logischen Grundlage, so dass das Wissen – zum Wohl anderer angewendet – mit der Zeit zu Weisheit wird.

Wie fasziniernd diese Studien auch immer für die Imagination des Neophyten waren und in welchem Ausmaß sie ihn intellektuell und psychisch stimulierten – sie waren nicht das Hauptziel der Mysterien. Hinter all der Schulung des Denkvermögens lag der drängende Impuls zur Reinigung der Seele durch Schulung und Kontemplation. Als Anreiz und Leitlinie wurden schauspielerische Darstellungen des Abstiegs des Kandidaten in die Unterwelt gegeben, seine Prüfung in den niederen Regionen durch Selbstbegegnung und -besiegung, sein Aufstieg in den Strom von Leben und Licht, in der schließlichen Vereinigung und ‘Freundschaft’ mit den Gottheiten gipfelnd. Diese schauspielerisch dargestellten Riten waren so wirkungsvoll, dass die Teilnahme an ihnen einen wichtigen Teil der Initiations-Schulung als Vorbereitung für die Größeren Mysterien ausmachte.

Ein Vergleich mit den Ritualen der Kleineren Mysterien, wie sie in der alten Welt mit kleinen Veränderungen im Detail praktiziert wurden, offenbart die universale Erzählung vom Abstieg in die Unterwelt in dem Symbol der Weizen- oder Maisgottheit. Der Same oder das Korn stellt den Kandidaten dar. Wenn der Same in die dunklen Regionen der feuchten Erde eintritt, trifft er im Boden und in der Umgebung auf viele Schwierigkeiten, mit denen er zurechtkommen muss; er ‘stirbt’, indem er die Wurzel und den Stiel hervorbringt. Wenn schließlich die Periode des Keimens zu Ende geht, sprießen zarte Schösslinge an die Erdoberfläche, und mit der Zeit bricht aus dem ehemaligen Samen mit Hilfe von Sonne und Regen eine Blüte hervor. Auf die gleiche Weise ‘stirbt’ der Kandidat in den Regionen der Unterwelt, in den niederen Sphären, wo er den Schwierigkeiten dieser Ebene begegnet und sie überwindet; er legt sein vergängliches Selbst ab, er stirbt, indem er eine knospende Meisterschaft zur Geburt bringt. Zur gegebenen Stunde erhebt sich der ehemalige Schüler in die Sphären des Lichts und Lebens; er wird in die Gegenwart anderer göttlicher Pflanzen aufgenommen, er findet Freundschaft mit den Göttern und erreicht die volle Blüte der Adeptschaft.

So wird in esoterischen Bildern die spirituelle Arbeit jener dargestellt, die „sich selbst zur Geburt bringen“ (SD II: 559) – wie ein altes Manuskript die Geburt des Adepten im Neophyten beschreibt – die höchste Initiation.