Tausend Lichter entzünden
Grace F. Knoche
Vorwort
Legenden und schriftlich überlieferte Traditionen zeugen von einer durch alle Zeiten bestehenden Bruderschaft über den gesamten Globus verstreuter Männer und Frauen. Sie schwingen mit den spiritualisierenden Impulsen, welche die Erde aus höheren Regionen erreichen. Dass sie sich untereinander erkennen, hängt nicht von äußeren Zeichen ab, sondern von innerer Gemeinschaft. Das traf auch auf I-tsing zu, der hunderte buddhistische Sanskrit-Texte ins Chinesische übersetzte, und auf seinen Mitarbeiter Chēng-ku. Als sie sich begegneten, erschien es ihnen, als würden sie sich ‘aus früheren Tagen’ kennen, und nachdem sie mit der Größe ihrer Mission vertraut waren, sagte Chēng-ku zu I-tsing:
Wenn Tugend der Tugend begegnen möchte, vereinigen sie sich selbst ohne jeden Vermittler, und wenn die Zeit reif ist, kann niemand das verhindern, selbst wenn er es wollte.
Soll ich also ernsthaft vorschlagen, unsere Tripitaka1 gemeinsam mit dir zu verbreiten und dir dabei zu helfen, tausend Lichter zu entzünden?2
Wenn Tugend der Tugend begegnet – wie könnte man die Erfahrung intuitiven Erkennens besser beschreiben? Vielleicht kann das zumindest teilweise das globale Erwachen erklären, das jetzt dort geschieht, wo Tausende Männer und Frauen mit unterschiedlichen Interessen und aus unterschiedlichen Verhältnissen wissentlich oder unwissentlich auf der gleichen Wellenlänge sind: Sie sind von dem Drang entfacht, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Menschheit von sinnloser Selbstzerstörung zu wohlüberlegter Selbsterneuerung zu führen. Sie arbeiten für den Schutz der Menschenwürde und des Selbstwertes, für den Schutz unseres Planeten und für den Aufbau einer neuen Art von Zivilisation, die auf der Bruderschaft allen Lebens und der freudigen Zusammenarbeit alle Völker und Rassen zum Wohl der gesamten Menschheit beruht.
Gleichzeitig befinden wir uns in einer Periode großer Unsicherheit, in der alles, was die Menschen am meisten schätzen, auf die Waagschale gelegt wird. Werden wir individuell und kollektiv die Einsicht und den Mut aufbringen, die Umwandlung von Egozentrik zu einer Perspektive planetarischer und solarer Dimension zu bewerkstelligen? Tatsächlich geschieht dies bereits im Stillen – gleich dem unter der winterlichen Schneedecke keimenden Samen. So wollen wir – statt uns auf das Hässliche und Vergiftende in menschlichen Beziehungen zu konzentrieren – die Freude des Lebens feiern. Vom Wunder der Geburt zur stillen Schönheit des Todes – beides Phasen des Lebens – ist alles Veränderung, Wechsel, Fließen, Ebbe und Flut. Das Ausatmen des Göttlichen bringt Welten, Menschen, Atome und Sonnen aus dem Unbekannten ins Sichtbare, was jedem Einzelnen ermöglicht, ein wenig von seinem Potenzial zum Ausdruck zu bringen. Sobald der Zyklus vollendet ist, folgt das Einatmen, Einrollen oder Zurückziehen der Lebensenergie, und das Abwerfen der Formen entlässt das Bewusstsein wieder in die weiten etherischen Reiche.
Es gibt kein Gift, gegen das die Natur nicht ein Gegengift bereithält. So wie uns wissenschaftlicher Einfallsreichtum mit den Mitteln zur Auslöschung unserer eigenen Rasse ausgestattet hat, so bieten uns heutige Bemühungen, die wissenschaftliche Intuition des Westens mit dem mystischen Denken des Ostens zu vereinen, Werkzeuge für unsere Emanzipation – wenn wir das Herz und den Willen besitzen, sie für wohltätige Zwecke zu benutzen. Nehmen Sie zum Beispiel die Vorstellung, dass das physische Universum einem Hologramm gleicht, bei dem das dreidimensionale Bild aus jedem beliebigen Teil des Negativs projiziert werden kann: Das ist äußerst suggestiv, besonders wenn es auf den Menschen als eine spirituelle Intelligenz angewendet wird. Darüber hinaus stellt es eine auffallende Parallele zu der einst weltweiten Weisheitslehre dar, dass jeder Lebensfunke das Ganze umfasst.
Durch verschiedene Metaphern führt ein altes buddhistisches Sutra vor Augen, dass jedes Wesen und Ding an der Buddha-Essenz teilhat. In einem Beispiel stellt es ein Bild des Ur-Buddha (Ādi-Buddha) auf einem tausendblättrigen Thron dar – jedes Blütenblatt ein Universum, das einhundert Millionen Welten umfasst, von denen jede ihrerseits ihre eigenen Sonnen und Monde und kleineren Buddhas von der Entwicklungsstufe des Gautama hat, der selbst „ein winziger Teil“ der ursprünglichen Buddha-Essenz ist. Somit enthält jedes Sandkörnchen auf gleiche Weise „zahllose Buddhas“.3
Es verwundert nicht, dass die Menschen die Zeitalter hindurch Götter als Rassen von Wesen verehrt haben, deren Verpflichtungen gegenüber ihren Erdenkindern – den unreifen Göttern – sie dazu zwangen, so lange unter den jungen Menschheiten zu verweilen, bis diese auf eigenen Beinen stehen konnten. Ihr Schutz wird niemals enden: Karmische Verbindungen des Mitleids und der Verantwortung wurden in lange vergangenen Evolutionszyklen geschmiedet. Auch wir sind durch unzerreißbare Bande mit Naturreichen verbunden, welche jünger sind als unser eigenes, und werden ihnen auf ähnliche Weise durch karmische Notwendigkeit in zukünftigen Zyklen durch Ansporn und Liebe helfen.
Wenn wir den Gedanken weiterverfolgen, erahnen wir etwas davon, was das Opfer eines Gautama oder Jesus für uns heute bedeutet. Das christliche Dogma des stellvertretenden Sühneopfers verbirgt eine tiefe esoterische Tatsache: Die göttliche Sorge, die einen Bodhisattva oder Christos veranlasst, sich auf Erden zu verkörpern, ist wahrlich eine stetige Segnung. Das bedeutet, dass die Menschheit jetzt wie eh und je der Begünstigte der andauernden altruistischen Arbeit ist – nicht nur der Erleuchteten, die sich periodisch unter uns verkörpern, sondern auch der Liebestaten von unzähligen Menschen, die bewusst oder unbewusst andere dazu inspirieren, ihre eigene Flamme des Mitleids zu entzünden.
In jedem Zeitalter und unter jedem Volk werden jene geboren, für welche die Angelegenheiten des Denkens und des Geistes von höchster Wichtigkeit sind. Beinahe von Geburt an scheinen sie von einem inneren Kompass geführt zu werden, um die verborgenen ursächlichen Quellen der menschlichen Existenz aufzuspüren und zu lernen, wie sie wirksam helfen können, die Last der menschlichen Sorgen zu erleichtern. Vielleicht werden sie erneut von einer Suche belebt, die sie in alten Zeiten in früheren Leben begannen. Sicherlich gibt es ein mystisches Wissen, das zur Seele spricht – eine Wohltat, die jenen gewährt wird, die sich durch ein Leben der Hingabe an die Wahrheit und die Bedürfnisse der Menschheit qualifiziert haben. Unter vielen Namen in verschiedenen Zeiten bekannt, wurde diese göttliche Weisheit durch die Jahrtausende treuhänderisch von Generationen von Weisen weitergegeben, die durch Initiations-Erfahrung die Tatsachen des Daseins geprüft hatten. Eine Schlüsselfigur im gegenwärtigen Erwachen war Helena Petrovna Blavatsky, die all jene inspirierte, welche empfänglich dafür waren, ‘die schöne Saat’ der theosophischen Weisheit weithin für künftige Generationen auszubringen.
Am Beginn eines neuen Jahrhunderts und eines neuen Jahrtausends wird dieses Studium dargeboten – in tiefer Dankbarkeit für HPB und für das, was ihr Opfer und die wunderbare Philosophie für die Welt und die Autorin bedeuten.
– G. F. K.
The Theosophical Society
International Headquarters
Pasadena, Kalifornien, USA
11. Juli 2001
Danksagungen
Jedes Buch stellt die Bemühungen vieler Menschen dar, und ich möchte meine Dankbarkeit jedem einzelnen Mitglied des Stabs in der Redaktion und Druckerei zum Ausdruck bringen. Ganz besonders danke ich Eloise Hart für das erste Zusammentragen des Materials, von dem vieles ursprünglich in Sunrise erschienen ist, Sarah Belle Dougherty für ihre redaktionelle Unterstützung und für den Index, Jean B. Crabbendam für die Korrektur des Index, Elsa-Brita Titchenell für unschätzbare Hilfe beim Durchsehen, Jim und Ina Belderis für die Prüfung der Zitate, Randell Grubb für seine ständige Hilfe und für das Heraussuchen der Referenzen und Will Thackara für seine geschätzte Kritik und die Überwachung der Herstellung des Buches.
– G. F. K.
Fußnoten
1. Die „Drei Körbe“ oder Haupteinteilungen des Pāli Kanon. [back]
2. A Record of The Buddhist Religion as Practised in India and The Malay Archipelago (a.d. 671-695), I-tsing, S. xxxvi. [back]
3. Avataṃsaka-Sutra (Flower Garland Sutra, Kegon-Sūtra in Japan). Siehe Japanese Buddhism von Sir Charles Eliot, S. 108-10. [back]
Die Mysterienschulen
Grace F. Knoche
Vorwort
Eine Mysterienschule ist eine Universität der Seele, eine Schule zum Studium der Mysterien der inneren Natur des Menschen und der umgebenden Natur. Wenn der Schüler diese Mysterien versteht, erkennt er seine innige Beziehung mit dem Göttlichen und strebt danach, durch Selbstdisziplin und Hingabe mit seinem inneren Gott eins zu werden.
Dieses Buch versucht, bestimmte fundamentale Züge der Lehre vorzustellen, die hoffentlich ein mehr oder weniger klares Bild davon geben werden, was eine Mysterienschule wirklich ist. Ein vollständiges und spezifisches Wissen um die Mysterienschulen – wo sie sich befanden, wo sie heute tätig sind, was ihre Hauptmerkmale sind – wurde nicht veröffentlicht. Moderne Historiker der griechischen Mysterienzentren wundern sich beispielsweise darüber, wie gut die den Kandidaten auferlegte Regel der Geheimhaltung befolgt wurde. Das betrifft nicht die öffentlichen Aspekte, wie die 14 Meilen lange Prozession entlang der Heiligen Straße von Athen nach Eleusis, an der Männer, Frauen und Kinder teilnahmen. Aber „die Riten der Großen Mysterien … die wahren Geheimnisse der Teletai [der eigentlichen Einweihung] und die Epopteia [die erlangte Vision] wurden niemals preisgegeben.“ 1
Der Schüler kann dennoch eine reiche Fülle von Informationen finden – hier und dort in der Literatur der Vergangenheit verstreut – und sich ein umfassendes Bild von den Festspielen der Mysterienschulen machen, ein Bild, das nur dann zu einer Erfahrungs-Wirklichkeit wird, wenn er durch eine viele Leben anhaltende Hingabe, durch Studium und die Ausübung der alten Weisheit innerlich vorbereitet wird.
Was vom Schüler durch ernsthaftes Studium entdeckt werden kann, ist mit unserem Wissen über das Atom vergleichbar. Wer hat zum Beispiel jemals das wirkliche Atom gesehen? Welches Mikroskop ist in das Geheimnis seiner Existenz vorgedrungen? Und doch wissen wir heute mehr über das Atom mit seinen Elektronen, als über Jahrhunderte hinweg enthüllt worden war. Obwohl für die Linse wie auch für das Auge unsichtbar, haben Wissenschaftler seine Leuchtspur entdeckt, seinen ‘Lichtweg’; durch emsiges und gewissenhaftes Arbeiten haben sie diesen Lichtweg studiert, bis durch Schlussfolgerung und Beweis die Struktur des Atoms und seiner Komponenten, sein beinahe spiritueller Ursprung, enthüllt wurde.
So ist es mit den Mysterien: Wenn wir die Aufzeichnungen der Geschichte betrachten und weiter in den Nebel der nicht aufgezeichneten Zeit hineinschauen, so können wir die Schulen selbst nicht erkennen, aber durch Studium und Hingabe können wir ihre Leuchtspur, den Weg ihres Lichtes, erahnen. Auf Grund von Schlussfolgerung und spirituellem Zeugnis können wir das Leuchten der Lichtträger verfolgen, wie sie von Zeitalter zu Zeitalter weiterschritten und dabei die großen Religionen und Philosophien der Menschenrasse einleiteten. Manche dieser Lichter strahlen mit ungeheurem Glanz, andere mit geringerer Stärke, während wieder andere nur unbeständige Schimmer halbverstandener Wahrheit sind.
Der Physiker kann das physische Atom nicht zeigen, und doch weiß er, dass es als Basis, als Grundlage aller Materie existiert; der Schüler der Theosophie kann den Menschen keine Mysterienschule zeigen, und doch weiß er, dass sie als Herz oder atomares Zentrum des spirituellen und intellektuellen Lebens des Planeten existiert. Wer könnte also wagen zu behaupten, dass die Mysterien, diese mächtigen Atome der Esoterik, nicht existieren, wenn die Leuchtspuren der spirituellen Kraft überall auf der Welt verstreut erkannt werden? Wenn unsere physischen Körper in unsichtbarem, feurigem Leben wurzeln, warum sollten dann nicht auch unsere menschlichen spirituellen, intellektuellen und moralischen Körper ihren Ursprung in dem spirituellen und intellektuellen Feuernebel des Planeten haben?
Heute steht uns keine ununterbrochene Geschichte eines okkulten Netzwerks zur Verfügung, da solche Aufzeichnungen die Belohnung für angenommene Schüler sind. Mit der kraftvollen Linse der alten Weisheit können wir aber dennoch den Weg des Lichts studieren, das die Jahrhunderte hindurch jeder der Lichtträger erstrahlen ließ; wir können die Atmosphäre der alten Tempel wieder einfangen; wir können den Zweck der Schulen, ihre Lehrmethoden wahrnehmen; und nicht zuletzt können wir etwas über die strenge Schulung lernen, die den Kandidaten auferlegt war, welche die Initiation in das Wissen über ihren geheimen Ursprung und ihr noch geheimeres Schicksal suchten.
Die Schuld der Autorin gegenüber der Theosophie, wie sie von H. P. Blavatsky dargeboten wurde, ist unermesslich. Man kann nur hoffen, dass die vorliegende Studie jene, denen ihre Schriften neu sind, dazu ermutigen wird, tief aus den Quellen ihres Ursprungs zu trinken.
– G. F. K.
Pasadena, Kalifornien
2. Oktober 1999