Das Meer der Theosophie
William Quan Judge
IV – Die siebenfältige Konstitution des Menschen
Über die Natur des Menschen haben sich in den christlich-religiösen Kreisen zwei Vorstellungen eingebürgert. Die eine ist die Lehre selbst, die andere deren volkstümliche Deutung. Nun, die Lehre selbst ist gewiss kein Geheimnis in der Kirche, sie wird aber in den Predigten so selten erwähnt, dass sie den Laien fast unbekannt ist. Es sagt zwar fast jeder, er besitze einen Körper und eine Seele, doch damit hört es auf. Was die Seele ist und ob sie die wirkliche Person ist oder ob sie irgendwelche eigenen Kräfte besitzt, wird nicht gefragt; die Geistlichen befassen sich gewöhnlich nur mit ihrer Rettung oder Verdammung. Und weil in einer Art über sie gesprochen wird, als sei sie etwas von uns Verschiedenes, hat sich bei den Anhängern die Vorstellung eingeschlichen, sie seien keine Seelen, da man diese ja verlieren könne. Hieraus entstand auch der Hang zum Materialismus, der die Menschen dem Körper größere Bedeutung zukommen ließ als der Seele, wobei letztere der zarten Fürsorge römisch-katholischer Priester überlassen wird, während die Andersgläubigen die Pflege der Seele meistens bis zum Todestag aufschieben. Wenn aber die wirkliche Lehre bekannt wird, dann wird man erkennen, dass die Betreuung der Seele – die das Selbst ist – eine lebenswichtige Angelegenheit ist, die jeden Tag und jede Stunde Aufmerksamkeit erfordert und nicht ohne schwere Schädigung für den ganzen Menschen – Seele und Körper – vernachlässigt werden darf.
Die christliche Lehre, gestützt auf Paulus, auf dem in Wirklichkeit das christliche Dogma ruht, sagt, der Mensch bestehe aus Körper, Seele und Geist. Das ist die dreiteilige Konstitution des Menschen, die von den Theologen geglaubt, jedoch im Hintergrund gehalten wird, weil eine nähere Prüfung zur Wiederaufnahme von Lehren führen könnte, die früher einmal orthodox waren, jetzt aber als ketzerisch gelten. Denn wenn die Seele so zwischen Körper und Geist gestellt wird, dann drängt sich stark die Notwendigkeit auf, nach der Verantwortlichkeit der Seele zu fragen, weil der Körper an sich keine Verantwortung tragen kann. Wenn aber die Seele für begangene Handlungen verantwortlich gemacht wird, müssen wir voraussetzen, dass sie Fähigkeiten und Funktionen besitzt. Von da aus gelangt man leicht zu dem Schluss, dass die Seele vernünftig oder unvernünftig sein kann, wie manche Griechen glaubten, und dann ist es nur ein Schritt zu weiteren theosophischen Feststellungen. In dieser schematischen Dreigliederung der menschlichen Natur steckt tatsächlich die theosophische Lehre über die siebenfältige Zusammensetzung des Menschen, weil die vier in der Aufzählung noch fehlenden Prinzipien Kräfte und Funktionen des Körpers und der Seele sind, wie ich später noch zeigen werde. Die Überzeugung, dass der Mensch eine Siebenheit und nicht nur eine Duade ist, herrschte schon vor langer Zeit und wurde jedermann durch begleitende Beispiele sehr klar gelehrt; wie so viele andere philosophische Lehrsätze geriet sie jedoch in Vergessenheit, weil sie in den Mittelmeerländern Europas allmählich zurückgezogen wurde, als die Moral entartete, noch ehe der Materialismus mit seinem Zwillungsbruder Skeptizismus die volle Herrschaft erlangt hatte. Nach der Zurücknahme verblieb dem Christentum das gegenwärtige Dogma von Geist, Seele und Körper. Der Grund für die Verhüllung und für die Wiedererneuerung dieser Lehre in diesem Jahrhundert [1888] wird von H. P. Blavatsky in ihrem Buch Die Geheimlehre erklärt. Auf die Frage: „Wir können nicht verstehen, wie aus der Enthüllung einer so rein philosophischen Lehre wie der Evolution der planetarischen Kette irgendeine Gefahr entstehen könnte?“ antwortete sie:
„Die Gefahr war diese: Lehren wie die von der planetarischen Kette oder von den sieben Rassen bieten sofort einen Schlüssel für die siebenfältige Natur des Menschen, da jedes Prinzip mit einer Ebene, einem Planeten und einer Rasse in Wechselbeziehung steht. Ferner stehen die menschlichen Prinzipien auf jeder Ebene in Wechselbeziehung zu den siebenfältigen okkulten Kräften des Kosmos, wovon die der höheren Ebenen eine ungeheure okkulte Kraft besitzen, deren Missbrauch der Menschheit unberechenbaren Schaden zufügen würde. Ein Schlüssel, der für die heutige Generation vielleicht kein Schlüssel ist – besonders für die westlichen Nationen – da sie gerade durch ihre Blindheit und durch den ignoranten, materialistischen Unglauben an das Okkulte geschützt sind; für die Menschen der ersten christlichen Jahrhunderte wäre dieser Schlüssel jedoch sehr wirksam gewesen, weil die Menschen damals von der Realität des Okkultismus völlig überzeugt waren und vor einem Zyklus der Entartung standen, der sie zum Missbrauch der okkulten Kräfte und zu schwarzer Magie der schlimmsten Art reif machte.“
A. P. Sinnett, ein ehemaliger Regierungsbeamter in Indien, skizzierte in seinem Buch Esoteric Buddhism in diesem Jahrhundert [1885] zum ersten Mal die wirkliche Natur des Menschen. Das Buch entstand aus Informationen, die ihm durch H. P. Blavatsky direkt von der Großen Loge der Initiierten, auf die bereits hingewiesen wurde, übermittelt worden waren. Mit der Weitergabe dieser alten Lehre an die westliche Öffentlichkeit erwies er seinen Zeitgenossen einen großen Dienst und unterstützte die theosophische Sache ganz beträchtlich. Seine Einteilung lautete:
1) Körper oder Rūpa
2) Vitalität oder Prāṇa-Jīva
3) Astralkörper oder Linga-Śarīra
4) Tierische Seele oder Kāma-Rūpa
5) Menschliche Seele oder Manas
6) Spirituelle Seele oder Buddhi
7) Geist oder Ātman
Die kursiv geschriebenen Worte sind äquivalente Ausdrücke aus der Sanskritsprache, die von ihm für die englischen Bezeichnungen übernommen wurden. Diese Einteilung gilt auch heute noch für den normalen Bedarf, sie kann aber noch modifiziert und erweitert werden. Ein späteres Schema zum Beispiel, das den Astralkörper an den zweiten statt an den dritten Platz der Einteilung setzt, bedeutet keine wesentliche Änderung. Diese Aufstellung vermittelt sofort eine Idee davon, wer der Mensch ist – sehr verschieden von der vagen Beschreibung durch die Worte „Körper und Seele“. Sie bietet auch einen starken Einwand gegen die materialistische Vorstellung, das Denken sei ein Produkt des Gehirns, ein Teil des Körpers. Es wird nicht der Anspruch erhoben, diese Prinzipien seien bisher unbekannt gewesen, denn sie sind alle nicht nur bei den Hindus, sondern auch bei vielen Europäern in verschiedenen Formen bekannt gewesen. Die gedrängte Darstellung der siebenfältigen Konstitution des Menschen in enger Verbindung mit der siebenfältigen Konstitution einer Kette von Globen, durch die das Wesen evolviert, war bisher nicht veröffentlich worden. Der französische Abbé Eliphas Levi schrieb zwar über die Astralregion und den Astralkörper, er hatte aber offenbar keine Kenntnis von der weiteren Lehre, und die Hindus, die in ihrer Sprache und Philosophie die anderen Begriffe besaßen, gebrauchten nicht die siebenfältige, sondern stützten sich hauptsächlich auf eine vierfältige Einteilung und hielten die Lehre von den sieben Globen der Erdkette, darunter unsere Erde, geheim (sofern sie ihnen bekannt war). Tatsächlich hat ein gelehrter Hindu, der jetzt verstorbene Subba Row versichert, dass eine siebenfältige Einteilung bekannt gewesen sei, dass diese aber nicht veröffentlicht wurde, noch veröffentlicht werde.
Wenn man diese Komponenten anders betrachtet, dann könnte man sagen, dass der niedere Mensch ein zusammengesetztes Wesen, dass sein wirkliches Wesen jedoch eine Einheit oder ein unsterbliches Wesen ist. Dieses ist gebildet aus einer Dreiheit aus Geist, Unterscheidungskraft und Denkvermögen, welches vier niedere, sterbliche Instrumente oder Träger benötigt, um in der Materie wirken und in der Natur Erfahrungen sammeln zu können. Diese Dreiheit wird im Sanskrit mit Ātman-Buddhi-Manas bezeichnet, was schwer zu übersetzen ist. Ātman ist Geist, Buddhi ist die höchste Kraft des Erkennens, das, was erkennt und urteilt. Manas ist das Denkprinzip. Diese Dreiheit ist der wirkliche Mensch. Diese Lehre ist zweifellos der Ursprung der theologischen Dreieinigkeitslehre von Vater, Sohn und Heiliger Geist, die vier niederen Instrumente oder Träger zeigt folgende Tabelle:
Ätman Buddhi Manas |
Leidenschaften und Wünsche Lebensprinzip Astralkörper Physischer Körper |
Diese vier niederen materiellen Komponenten sind vergänglich, sie unterliegen einzeln betrachtet der Auflösung und kollektiv gesehen der Trennung. Wenn die Stunde ihrer Trennung gekommen ist, kann ihr Zusammenhalt nicht länger aufrecht erhalten werden; der physische Körper stirbt, die Atome, aus welchen sich jedes der vier Prinzipien zusammensetzt, trennen sich voneinander. Die dadurch aus den Fugen geratene Zusammensetzung ist dann für den wirklichen Menschen als Instrument nicht mehr geeignet. Dieser Vorgang wird von uns Sterblichen als ‘Tod’ bezeichnet. Das ist jedoch kein Tod für den wahren Menschen, weil dieser todlos, beständig und unsterblich ist. Er wird deshalb als die Triade oder unzerstörbare Dreiheit bezeichnet, während die vier niederen Träger als die Vierheit oder als die sterblichen Vier bekannt sind.
Diese Vierheit – der niedere Mensch – ist ein Produkt kosmischer oder physischer Gesetze und Substanzen. Sie ist, wie alles Physische, im Laufe langer Zeitperioden aus kosmischer Substanz entwickelt worden und unterliegt daher den physischen, physiologischen und psychischen Gesetzen, die die ganze Menschheit beherrschen. Die mögliche Lebensdauer des niederen Menschen kann daher ebenso gut berechnet werden, wie von einem Ingenieur die mögliche Belastbarkeit von Metallen für den Brückenbau. Jede solche zusammengesetzte Lebensform des Menschen, die sich aus diesen Komponenten aufbaut, ist daher zeitlich durch die Gesetze der Evolutionsperiode begrenzt, in der sie existiert. Heute liegt diese Lebensdauer zwischen 70 und 100 Jahren; ihre potenzielle Lebensdauer ist jedoch größer. So gibt es historische Beispiele, dass normale Menschen 200 Jahre alt geworden sind; bei Kenntnis der okkulten Naturgesetze kann die Lebensdauer auf nahezu 400 Jahre ausgedehnt werden.
Der sichtbare physische Mensch besteht aus: |
Gehirn |
Der unsichtbare physische Mensch besteht aus: |
Astralkörper Emotionen und Wünschen Lebensprinzip (Prāṇa oder Jīva) |
Aus dieser Aufstellung ist ersichtlich, dass der physische Mensch sich noch in eine zweite Region erstreckt, die zwar für das physische Auge unsichtbar, aber dennoch materiell und der Auflösung unterworfen ist. Weil die Menschen im Allgemeinen nur gewohnt sind, das den Augen Wahrnehmbare als real anzusehen, gelangten sie schließlich zu der Überzeugung, dass alles Unsichtbare weder materiell noch real sein könne. Sie vergessen allerdings, dass es auf der irdischen Ebene ja auch schädliche Gase gibt, die ebenfalls unsichtbar, aber dennoch sehr real und materiell sehr wirksam sind. Auch Wasser kann unsichtbar in der Luft enthalten sein, bis veränderte Verhältnisse seinen Niederschlag verursachen.
Wir wollen nochmals rekapitulieren, bevor wir Einzelheiten behandeln. Der wirkliche Mensch ist die Dreiheit Ātman-Buddhi-Manas oder Geist und Denkvermögen; und diese Dreiheit benützt bestimmte Vermittler und Instrumente, um mit der Natur zum Zweck der Selbsterkenntnis in Berührung zu kommen. Diese Instrumente und Vermittler befinden sich in der niederen Vierheit oder Quaternität, in der jedes Prinzip in seiner Kategorie wiederum selbst ein Instrument für die speziellen Erfahrungen ist, die zu seinem eigenen Gebiet gehören. Der Körper ist das niederste, unbedeutendste und auch das vergänglichste Instrument der ganzen Reihe. Wenn man von dem höheren Denkvermögen herab zum Körper kommt, kann nämlich gezeigt werden, dass seine Organe für sich genommen sinn- und nutzlos sind, wenn sie des inneren Menschen beraubt werden. Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken und Riechen gehören nicht dem Körper an, sondern dem zweiten, unsichtbaren physischen Menschen. Die wirklichen Organe für die Betätigung dieser Kräfte liegen nämlich im Astralkörper, und jene des physischen Körpers sind nur die mechanischen äußeren Instrumente zur Koordination zwischen der Natur und den inneren Organen.