Das Meer der Theosophie
William Quan Judge
XVII – Psychische Phänomene und Spiritismus
In der Geschichte der psychischen Phänomene nehmen die Berichte des sogenannten ‘Spiritualismus’ in Europa, Amerika und anderswo einen wichtigen Platz ein. Ich sage bewusst, dass keine Bezeichnung in Europa und Amerika für den eben erwähnten Kult je verkehrter angewendet wurde, als das Wort ‘Spiritualismus’, weil überhaupt nichts Spirituelles daran ist. Die in den vorhergehenden Kapiteln beschriebenen Lehren sind echter Spiritualismus; bei den fehlbezeichneten Praktiken der modernen Medien und sogenannten Spiritisten handelt es sich um Totenverehrung und altmodische Nekromantie, die von den spirituellen Lehrern immer verboten wurden. Sie stellen eine grobe Materialisierung der spirituellen Ideen dar und haben mehr mit Materie als mit ihrem Gegenpol zu tun. Einige Leute nehmen an, dieser Kult habe vor etwa vierzig Jahren, 1840, in Rochester, N.Y., USA, mit der Mediumschaft der Schwestern Fox angefangen. Diese Praktiken waren jedoch schon während der Aufregung um die Hexen in Salem bekannt, und in Europa wurden vor hundert Jahren die gleichen Praktiken mit den gleichen Phänomenen ausgeübt; Medien entwickelten sich und Séancen wurden abgehalten. Seit Jahrhunderten ist die gleiche Praxis in Indien bekannt, wo sie richtigerweise den Namen ‘Bhūta-Verehrung’ erhielt, womit der Versuch bezeichnet wird, sich mit dem ‘Teufel’ oder den astralen Überbleibseln Verstorbener in Verbindung zu setzen. Das sollte auch im Westen der richtige Name sein, denn durch diese Praktiken werden die groben und teuflischen oder irdischen Wesensteile des Menschen angeregt und angerufen und eine Verbindung mit ihnen hergestellt. Die Fakten der vierzig Jahre umfassenden spiritistischen Aufzeichnungen in Amerika bedürfen jedoch einer kurzen Untersuchung. Diese Fakten müssen alle eifrigen Theosophen zugeben. Die theosophischen Erklärungen und Folgerungen unterscheiden sich jedoch völlig von jenen der Durchschnitts-Spiritisten. Eine Philosophie wurde in den Reihen oder in der Literatur der Spiritisten nicht entwickelt, und nur die Theosophie kann die wahre Erklärung geben, die Mängel aufzeigen, die Gefahren sichtbar machen und Wege zur Abhilfe vorschlagen.
Es ist klar, dass Hellsehen, Hellhören, Gedankenübertragung, Prophezeiungen, Träume und Visionen, Levitation und Erscheinungen alle Kräfte sind, die seit Jahrhunderten bekannt sind. Die zwingendsten Fragen des Spiritismus gelten dem Umgang mit den Seelen Verstorbener, die diese Erde verlassen haben und jetzt entkörpert sind und mit den nicht klassifizierten Geistern, die hier nicht verkörpert waren, sondern anderen Sphären angehören. Vielleicht verdient auch die Frage der Materialisation von Formen in spiritistischen Sitzungen einige Beachtung. Zur Kommunikation gehören Sprechen in Trance, Tafel- und anderes Schreiben, unabhängige Stimmen in der Luft, Sprechen mit Hilfe der Stimmorgane des Mediums und die Präzipitation schriftlicher Botschaften aus der Luft. Haben die Medien Verbindung mit den Geistern der Toten? Nehmen unsere abgeschiedenen Freunde die verlassenen Zustände wahr und kehren sie manchmal zurück, um mit uns zu sprechen?
Die Antworten darauf wurden schon in früheren Kapiteln angedeutet. Unsere Toten sehen uns hier nicht. Sie sind befreit von den schrecklichen Qualen, die ein solcher Anblick verursachen würde. Ab und zu mag ein unbezahltes Medium mit reinem Gemüt in Trance in den Zustand gelangen, in dem sich eine abgeschiedene Seele befindet, und vermag vielleicht auch etwas von dem Gehörten und Gesehenen im Gedächtnis zu behalten; es ist aber sehr selten. Hin und wieder, im Laufe von Jahrzehnten, mag ein hoher Menschengeist für einen Augenblick zurückkehren und sich mit unmissverständlichen Mitteln mit Sterblichen in Verbindung setzen. Im Augenblick des Todes mag die Seele mit einem Freund auf Erden sprechen, ehe das Tor endgültig geschlossen ist. Aber die Großzahl der angeblichen Mitteilungen, die Tag für Tag durch die Medien erfolgen, stammen von den unintelligenten astralen Überresten von Menschen oder sind in vielen Fällen Erfindungen, Produkte, Zusammenstellungen, Entdeckungen und Zusammenfassungen, die von dem lose mit dem lebenden Medium verbundenen Astralkörper stammen.
Gegen die Theorie, die Geister der Verstorbenen würden mit uns verkehren, gibt es bestimmte Einwände. Einige lauten:
I. Zu keiner Zeit haben diese Geister die Gesetze beschrieben, welche den Phänomenen zugrunde liegen, abgesehen von einigen wenigen Fälle, die aber von der spiritistischen Gemeinschaft nicht anerkannt wurden, weil darin der theosophische Standpunkt vorgebracht wurde. Weil sie mit Gedankensystemen – wie sie zum Beispiel A. J. Davis aufstellte – nicht übereinstimmten, fielen diese besonderen Geister in Ungnade.
II. Die Angaben der Geister über das Leben nach dem Tod widersprechen einander stark. Diese Unstimmigkeiten variieren mit den Medien und mit den angenommenen Theorien der Verstorbenen zu Lebzeiten. Manche Geister stimmen der Reinkarnation zu, während andere sie verwerfen.
III. Zur Geschichte, Anthropologie und anderen wichtigen Gebieten haben diese Geister nichts entdeckt. Sie scheinen also in dieser Beziehung weniger befähigt zu sein als lebende Menschen. Obgleich sie oft behaupten, Angehörige alter Kulturen zu sein, sind sie doch völlig unwissend diesbezüglich oder wiederholen nur kürzlich veröffentlichte Forschungsergebnisse.
IV. In diesen vierzig Jahren konnte von den Geistern keine vernünftige Erklärung für die Phänomene oder über die Entwicklung der Mediumschaft erlangt werden. Nach den Berichten sollen sich große Philosophen durch die Medien geäußert haben, aber ihre Mitteilungen waren ohne jeden Wert und bestanden nur aus Gemeinplätzen.
V. Die Medien erleiden physischen und moralischen Schaden; sie werden des Betrugs beschuldigt, und Schwindel wird nachgewiesen. Die Geistführer und -kontrollen greifen jedoch nicht verhütend oder rettend ein.
VI. Es wird zugegeben, dass die Führer und Kontrollen selbst betrügen und zu Täuschungsmanövern auffordern.
VII. Aus allem, was über die Geister berichtet wird, ist klar ersichtlich, dass ihre Behauptungen und Philosophie, wenn überhaupt, sich mit dem Medium und den höchsten Gedanken lebender Spiritisten ändern.
Aus alledem – und noch mehr könnte hinzugefügt werden – wird der materialistische Wissenschaftler in seinem Spott nur bestärkt. Der Theosoph muss jedoch daraus schließen, dass die Wesen, wenn überhaupt eine Kommunikation mit ihnen zustande kommt, keine menschlichen Geister sind und dass die Erklärungen dafür in anderen Theorien gefunden werden müssen.
Die Materialisation einer Gestalt aus der Luft, unabhängig von dem physischen Körper des Mediums, ist eine Tatsache. Aber es handelt sich dabei nicht um einen Geist. Das wurde von einem ‘Geist’ sehr gut erklärt, der sich nicht der Gunst der Spiritisten erfreute: Eine Art, um dieses Phänomen hervorzubringen, bestehe in der Anhäufung von elektrischen und magnetischen Teilchen zu einer Masse, worauf Materie angesammelt und ein Bild aus dem Astrallicht reflektiert wird. Das ist alles. Es ist ebenso eine Täuschung wie die Draperie mit Musselin und Masken. Wie es zustande kommt, ist eine andere Sache. Die Geister können es nicht sagen, in den vorhergehenden Kapiteln wurde jedoch versucht, die Methoden und Mittel anzudeuten. Bei der zweiten Methode wird der Astralkörper des lebenden Mediums verwendet. In diesem Fall tritt die Astralform aus der Seite des Mediums hervor und zieht für sich aus der Luft und aus den Körpern der anwesenden Teilnehmer allmählich Teilchen an, bis sie letztendlich sichtbar wird. Manchmal hat sie Ähnlichkeit mit dem Medium; sie kann aber auch ein ganz anderes Aussehen haben. Fast immer ist eine sehr schwache Beleuchtung erforderlich, weil helles Licht die Astralsubstanz auf eine heftige Art stören und die Projektion sehr erschweren würde. Einige sogenannte Materialisationen sind nur leere Täuschungen. Sie bestehen nur aus flachen Scheiben elektrischer und magnetischer Substanz, auf welche die Bilder aus dem Astrallicht reflektiert werden. Sie scheinen Gesichter von Verstorbenen darzustellen, es handelt sich aber einfach um bildhafte Illusionen.
Wenn jemand die psychischen Phänomene aus der Geschichte des ‘Spiritismus’ verstehen will, muss man Folgendes verstehen und anerkennen:
I. Das vollständige astrale, spirituelle und psychische Erbe des Menschen, eines Wesens, das durch Körper, Astralkörper und Seele weiß, denkt, fühlt und handelt.
II. Die Natur des Denkvermögens, seine Arbeitsweisen, seine Kräfte; die Natur und Kraft der Imagination; die Dauer und Wirkung von Eindrücken. Höchst wichtig ist hierbei die Fortdauer des leichtesten wie auch des tiefsten Eindrucks; dass jeder Eindruck in der individuellen Aura ein Bild erzeugt und dass dadurch eine Verbindung zwischen den Auren von alten, neuen, nahen, fernen, weitläufigen Freunden und Verwandten hergestellt wird: Das würde einem Hellseher ein weites Feld möglicher Sicht geben.
III. Die Natur, Ausdehnung, Funktion und Kraft der inneren Astralorgane und Fähigkeiten des Menschen, die in den Begriffen Astralkörper und Kāma eingeschlossen sind. Dass diese durch Trance oder Schlaf nicht an ihrer Tätigkeit gehindert, sondern verstärkt werden, wenn das Medium in Trance ist. Gleichzeitig ist aber ihre Tätigkeit nicht frei, sondern von der Grundströmung der Gedanken der Séance√-Teilnehmer oder von einem dominierenden Willen oder von einem hinter den Kulissen wohnenden ‘Teufel’ beherrscht. Wenn ein skeptischer wissenschaftlicher Forscher anwesend ist, kann seine mentale Einstellung die Kräfte des Mediums völlig lähmen, durch einen Vorgang, den wir in Ermangelung eines treffenden Ausdrucks in unserer Sprache einen Gefrierprozess nennen könnten.
IV. Das Schicksal des wirklichen Menschen nach dem Tod, seinen Zustand, seine Kraft und seine dortige Tätigkeit und seine Beziehung, wenn überhaupt, zu den Hinterbliebenen.
V. Dass das Zwischenglied zwischen Seele und Körper, der Astralkörper, beim Tod abgeworfen wird und zur Auflösung im Astrallicht bleibt und dass der wirkliche Mensch in Devachan eingeht.
VI. Die Existenz, Natur, Macht und Funktion des Astrallichts und seine Funktion als ein Archiv der Natur; dass es Bilder von allem und jedem, was sich mit irgendjemand abspielte, enthält, behält und widerspiegelt und ebenso jeden Gedanken; dass es den ganzen Globus und die umgebende Atmosphäre durchdringt; dass die Übertragung von Vibration durch das Astrallicht beinahe augenblicklich vor sich geht, da die Schwingungsfrequenz wesentlich höher ist als die jetzt in der Elektrizität bekannte.
VII. Die Existenz von Wesen im Astrallicht, die keine Körper wie wir verwenden und auch nicht menschlicher Natur sind, die aber Kräfte, Fähigkeiten und eine Art von eigenem Bewusstsein besitzen. Hierzu gehören die Elementale oder Naturgeister, die sich in viele Grade oder Klassen gliedern und mit jedem Naturvorgang und jeder Gemütsbewegung des Menschen verbunden sind. Dass diese Elementale in den Séancen entsprechend ihren verschiedenen Klassen automatisch operieren: Die eine Klasse macht Bilder, die andere erzeugt Töne, andere depolarisieren Objekte zur Apportation. Mit ihnen arbeiten die ebenfalls in der Astralregion existierenden seelenlosen Menschen: Letzteren sind neben anderem die ‘unabhängigen Stimmen’ zuzuschreiben, die stets wie Stimmen in einem Fass erklingen und zwar deshalb, weil sie in einem Vakuum gebildet werden, das für ein so unspirituelles Wesen absolut nötig ist. Die sonderbare Klangfarbe dieser Stimmenart ist von den Spiritisten als unwichtig betrachtet worden, sie ist aber nach Ansicht des Okkultismus außerordentlich bezeichnend.
VIII. Die Existenz und das Wirken okkulter Gesetze und Kräfte in der Natur, die zur Erzeugung von Phänomenen auf unserer Ebene benützt werden können. Dass diese Gesetze und Kräfte vom Unterbewusstsein des Menschen und von den Elementalen bewusst oder unbewusst in Tätigkeit gesetzt werden können und dass viele dieser okkulten Operationen auf dieselbe Weise automatisch ablaufen, wie das Gefrieren des Wassers bei Kälte oder wie das Tauen des Eises bei Wärme.
IX. Dass der Astralkörper des Mediums, der von gleicher Natur wie die Astralsubstanz ist, aus dem physischen Körper heraustreten und getrennt von ihm handeln kann; dass dieser Astralkörper manchmal auch Teile von sich austreiben kann, z. B. eine Hand, einen Arm oder ein Bein, und damit Objekte bewegen, Briefe schreiben und Berührungen des Körpers bewirken kann und so weiter ad infinitum. Dass der Astralkörper irgendeiner Person dazu benützt werden kann, Empfindungen zu fühlen, die auf das Gehirn übertragen, die Person annehmen lässt, sie sei von außen her berüht worden oder hätte einen Ton gehört.
Die Mediumschaft ist voller Gefahren, weil der Astralteil des Menschen gegenwärtig nur dann normal tätig ist, wenn er mit dem Körper verbunden ist. In fernen Jahren wird er ohne Körper normal tätig sein, wie es in ferner Vergangenheit der Fall war. Medium zu sein, bedeutet physiologische und nervliche Desorganisation, denn die Verbindung zwischen den zwei Welten wird vom Nervensystem hergestellt. In dem Augenblick, in dem das Tor geöffnet wird, stürmen sofort alle unbekannten Kräfte herein, und da uns der gröbere Teil der Natur am nächsten liegt, ist es dieser Teil, der uns am meisten beeinflusst. Die niedere Natur wird ebenfalls zuerst beeinflusst und entflammt, weil die verwendeten Kräfte aus diesem Teil unserer Konstitution sind. Wir sind dann den üblen Gedanken aller Menschen ausgesetzt und dem Einfluss der Hülle von Kāma-Loka unterworfen. Wenn die Ausübung der Mediumschaft zudem noch gegen Bezahlung erfolgt, dann entsteht eine weitere Gefahr; denn Dinge, die zur spirituellen und astralen Welt zählen, dürfen nicht verkauft werden. Das ist die große Krankheit des amerikanischen Spiritismus, die seine ganze Geschichte erniedrigt und entwürdigt hat. Solange sie nicht ausgerottet ist, wird aus der ganzen Praxis nichts Gutes kommen. Wer die Wahrheit aus der anderen Welt erfahren will, muss sich selbst der Wahrheit widmen und alle finanziellen Betrachtungen außer Acht lassen.
Der Versuch, die psychischen Kräfte aus Neugier oder zu egoistischen Zwecken zu entwickeln, ist aus denselben Gründen ebenso gefährlich wie im Fall der Mediumschaft. Da die heutige Gesellschaft in höchstem Grad selbstsüchtig und auf das persönliche Element aufgebaut ist, werden die Regeln für die richtige Entwicklung dieser Kräfte nicht veröffentlicht. Die Meister der Weisheit haben vielmehr erklärt, dass zuerst die Philosophie und die Ethik erlernt und praktisch angewendet werden müssen, ehe irgendeiner Entwicklung des anderen Ressorts nachgegeben werden darf. Ihre Verurteilung der massenweisen Entwicklung von Medien wird von der Geschichte des Spiritismus bestätigt, die in jeder Hinsicht eine einzige lange Geschichte vom Ruin der Medien darstellt.
Ebenso untauglich ist die Methode der wissenschaftlichen Schulen, die – ohne an die wahre Natur des Menschen zu denken – in hypnotische Experimente stürzen, durch welche die Betroffenen für ihr ganzes Leben verletzt und in unwürdige Situationen versetzt werden. Sie werden dazu gebracht, zur Befriedigung der Forscher Dinge auszuführen, wozu sich Männer und Frauen in normalem Zustand niemals hergeben würden. Die Loge der Meister kümmert sich nicht um die Wissenschaft, solange sie nicht auf die moralische und physische Verbesserung des menschlichen Zustands hinzielt. Sie wird der Wissenschaft erst Hilfe gewähren, wenn sie den Menschen und das Leben vom moralischen und spirituellen Standpunkt aus erfasst. Aus diesem Grund machen jene, die alles über die psychische Welt und deren Bewohner und Gesetze wissen, mit einer Reform der Moral und der Philosophie weiter, ehe sie den seltsamen und verführerischen Phänomenen, die für die inneren Kräfte des Menschen möglich sind, Aufmerksamkeit schenken.
Gegenwärtig ist der Zyklus für dieses Jahrhundert beinahe zu Ende. Wie vor einem Jahrhundert beginnen auch jetzt die Kräfte abzuebben. Aus diesem Grund gehen auch die Phänomene des Spiritismus an Zahl und Ausmaß zurück. Die Loge hofft, dass der Westen sich bis zum Eintreten der nächsten Flut ein richtiges Wissen über die wahre Philosophie des Menschen und der Natur angeeignet hat und dann bereit sein wird, eine weitere kleine Lüftung des Schleiers zu ertragen. Dieses Buch wurde geschrieben, um dem Fortschritt der Menschheit in dieser Richtung zu helfen. Mit diesem Wunsch wird es den Lesern in allen Teilen der Welt unte