Band 6: Der Tod: Was kommt danach?
Leonie L. Wriht
Der Wert dieser Lehren
Eines der schönsten Dinge im Zusammenhang mit der Theosophie ist die Tatsache, dass ihr Idealismus so konstruktiv und praktisch ist. Auf den ersten Blick könnte es dem Leser schwierig erscheinen, dieses erhabene philosophische System in Verbindung zu unserer gehetzten und kommerzialisierten Gesellschaft zu bringen. Und dennoch gibt es nicht eine einzige theosophische Lehre, nicht einmal die scheinbar am schwersten Verständlichste, die ohne eine innere und praktische Bedeutung für das Denken und Handeln im täglichen Leben der Menschen ist. Wir wollen hier ein Beispiel geben: Könnte es in seiner Auswirkung irgendetwas Praktischeres geben als die Gewissheit, dass wir nach dem Tod weiterleben? Der ethische Einfluss dieser Gewissheit ist offensichtlich enorm, besonders in Zusammenhang mit Reinkarnation und Karma.
Warum fürchten wir den Tod überhaupt? Ist es nicht so, dass wir uns fürchten ‘loszulassen’, unser vertrautes tägliches Bewusstsein aufzugeben? Den Schlaf fürchten wir nicht, denn wir erinnern uns an gestern und wissen, dass der Bewusstseinsverlust nur vorübergehend ist und es morgen wiederhergestellt ist. Aber angesichts des Todes sind wir wie kleine Kinder, die jeden Abend kämpfen, sich wach zu halten und den Augenblick fürchten, in dem sie in unbewussten Schlaf versinken. Erst wenn wir älter werden und mehr Erfahrung haben, wird uns klar, welch gesegneter Freund und Erquicker der tägliche Zyklus des Vergessens im Leben ist.
Derselbe Unterschied in der Entwicklung zwischen dem Kind und dem Erwachsenen in Bezug auf den Schlaf kennzeichnet den Unterschied im Wachstum zwischen unvollkommen entwickelten Menschen, wie wir es sind, und den spirituellen Adepten oder Mahatmas in Bezug auf den Tod. Denn den Tod zu überwinden – also das Bewusstsein ohne Unterbrechung von einem Leben ins andere fortzusetzen – ist einer der größten Erfolge einer wahren okkulten Ausbildung. Und mit einer wahren okkulten Ausbildung meinen wir die wissenschaftliche Anwendung der theosophischen Lehren zur Selbstentfaltung unter der Leitung eines spirituellen Lehrers.
Wir sterben – in dem Sinne, dass wir den Zugriff auf uns selbst verlieren –, denn wir leben jetzt beinahe vollständig in jenem Teil unserer Natur, der sterben muss, im persönlichen und physischen Bewusstsein. Sogar der höchste Gott der inneren spirituellen Welten muss – könnte er einen menschlichen Körper annehmen – früher oder später zum Zeugen von dessen Auflösung werden. Die physische Natur von Jesus, der ein hoher Avatāra war – oder die Manifestation eines Gottes –, musste die Tore physischer Auflösung durchschreiten. „Aber,“ werden Sie sagen, „er ist vom Tode auferstanden.“ Ja, tatsächlich – sowie jeder von uns lernen muss ‘aufzuerstehen’ – „größere Dinge als diese werdet ihr vollbringen“ hat er uns versprochen.
Die ‘Auferstehung’ ist eine Einweihungslehre der alten Mysterienschulen. Diese Schulen existierten im Altertum als ein vitaler Bestandteil aller alten Zivilisationen. Ihr Ziel war, den Menschen über seinen Ursprung, seine Konstitution, die Gesetze und die Bestimmung des Universums zu unterrichten und über seine Beziehungen und Erfahrungen in diesem Universum. In den Tagen von Jesus hatten diese Mysterienschulen schon an Wert verloren, so wie es mit allen Dingen im Laufe der Zeit geschieht. Aber die Wahrheiten, die diese Schulen jahrhundertelang gelehrt hatten, waren so in das mentale und moralische Gewebe der Zivilisationen um das Mittelmeer eingewoben, dass die christlische Kirche sich gezwungen sah, vieles aus der Mysteriensprache und den Zeremonien zu übernehmen, um die Menschen dafür zu interessieren und ihnen die neuen Dogmen begreiflich zu machen. Da man sie jedoch nur teilweise übernahm, wurden sie falsch verstanden, und die Lehren sanken auf ein materielles Niveau ab, wodurch die erhabene Idee der ‘Auferstehung’ des spirituellen Menschen, der seine eigene selbstsüchtige und animalische Natur besiegt, zu der gegenwärtigen, unlogischen Lehre erniedrigt wurde. Die wirkliche Auferstehung nimmt in der Lehre des Okkultismus einen wichtigen Platz ein. Sie bedeutet Einweihung, die letztendliche, glorreiche Vollendung des langen Weges selbstgeleiteter Evolution unter der Führung eines spirituellen Lehrers. Und diese Einweihung ist für jeden bestimmt, der ein solches Leben führen und die Lehre in die Praxis umsetzen möchte. Das Thema Einweihung wird in der theosophischen Literatur ausführlich behandelt. Wir möchten uns hier auf einen Abschnitt beschränken:
Einweihung ist der Weg, durch den der evolutionäre Prozess des Wachstums stark beschleunigt werden kann. Aber ein Mensch muss zunächst die Voraussetzungen dafür erworben haben, er muss gelernt haben und wissen, wie die ‘richtigen Antworten’ zu geben sind. Mit anderen Worten: Er muss für die Einweihung bereit sein, ehe er den Versuch wagen darf, ihre Riten zu durchschreiten. All das umfasst eine sehr ernsthafte Selbstschulung, ein Sehnen, einen ungeheuren Hunger nach Licht und den Besitz eines unbeugsamen Willens vorwärtszugehen, den nichts entmutigen kann. Noch anders ausgedrückt: Es bedeutet das Einswerden eines Menschen mit seiner inneren, höheren Konstitution, mit seinem höheren Teil. Es bedeutet, in diesem und für diesen zu leben und ihn vorherrschen zu lassen – ihn in seinem täglichen Leben aktiv werden zu lassen, statt so, wie es die Massen tun, bloß in Ruhe, in Schläfrigkeit und spirituellem Schlaf zu verharren und sich vom langsamen Strom der Zeit von Mutter Natur gleichgültig auf seiner ruhigen, sich jedoch immer bewegenden Welle dahintreiben zu lassen.
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 1036/37
Es gibt tatsächlich auch eine Art Auferstehung des Körpers:
Wenn die Zeit für die Reinkarnation des Menschen zu physischem Leben wieder anbricht, steigt das sich wiederverkörpernde Ego aus der monadischen Zurückgezogenheit hinab, in der es eine Zeit von unvorstellbarer Ruhe und unvorstellbarem Frieden erlebt hat. Es ‘steigt hinab’ durch dieselben Zwischenebenen oder Welten, durch die es früher, am Ende des vorhergehenden Erdenlebens, emporgestiegen ist; und es nimmt nun möglichst viele der Lebensatome wieder auf, die es während des früheren Aufstiegs zurückgelassen hat und die nun aufgrund von Anziehung … zu dem absteigenden, sich wiederverkörpernden Ego zurückgezogen werden. Diese gradweise Verdichtung oder Materialisierung der inneren Vehikel oder Elemente – von der monadischen oder spirituellen Welt abwärts bis zur physischen Welt – bildet die sieben Teile der Konstitution des Menschen, wie er auf der Erde sein wird. Darum ist also der neue physische Körper des Menschen hier auf dieser unserer physischen, irdischen Ebene aus denselben oder gleichen Lebensatomen zusammengesetzt, in denen das Ego während seiner letzten Inkarnation lebte und durch die es wirkte.
– Ebenda, S. 790
Diese beiden Lehren gehörten zu den Mysterienschulen und wurden in stark abgeänderter und unvollständiger Form von der neuen Religion, dem Christentum, übernommen.
Die Theosophie hat sich das Ziel gesetzt, die alten Mysterienlehren neu zu beleben, die von Kṛishṇa, Lao-tse, Gautama und Jesus auf verschiedene Art gelehrt wurden – verschieden, weil jeder von ihnen zu einem anderen Zeitpunkt und unter einem anderen Volk erschien. Die Theosophie versucht, den alten, mystischen Ruf aus dem Herzen des Universums in den Herzen der Menschen zum Erklingen zu bringen. Es ist der Ruf, der ihn bittet aufzustehen und zum Vater zu gehen, in dessen Tempel des Geistes er jene Kraft und Weisheit finden kann, die ihn über die Illusionen der selbstsüchtigen Persönlichkeit erheben und ihn zum Sieger über den Tod machen wird. Sagte nicht der große Avatāra: „In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“ und „Ich gehe, um einen Platz für dich zu bereiten.“
Diese erhabenen Ideen und Versprechen stehen mit unseren täglichen Erfahrungen in Zusammenhang, weil sie das Ziel der gesamten Menschheit zum Ausdruck bringen. Wir leiden und plagen uns und sterben, weil wir weder uns selbst noch die Elemente verstehen, aus denen wir aufgebaut sind. Wir wissen nicht, warum wir hier sind. Wir verstehen so wenig vom Leben, dass uns unsere eigenen egoistischen Interessen als das Wichtigste erscheinen. Von nahezu allem haben wir falsche Vorstellungen. Wir versuchen jenen Dingen möglichst aus dem Weg zu gehen, die der Ruf der spirituellen Natur im Inneren sind – wie Schmerz, Selbstaufopferung, Leid und Schulung. Wir geben uns stattdessen nur allzu oft der Befriedigung unserer eigenen Wünsche oder der Gleichgültigkeit hin. Und das führt zu mehr Schmerz, mehr Leid und Krankheit und zu all den tieferen Aspekten der persönlichen Sterblichkeit.
Das Ziel des Lebens – wie Katherine Tingley es ausdrückte – liegt darin, „das Sterbliche zum Unsterblichen emporzuheben“. Aber Unsterblichkeit wird uns nicht ohne weiteres zuteil, ebenso wenig wie der Charakter und unser Umfeld. Durch eigene Anstrengung muss man sie verdienen und aufbauen. Das menschliche Selbst muss Unsterblichkeit und sein Recht auf das göttliche Abenteuer erwerben, indem es seine niedere zusammengesetzte Natur in die Einheit und Homogenität des Geistes umwandelt. Dinge, die aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt sind – seien sie materieller oder psychologischer Natur – müssen zerfallen, wenn die Energie, die sie zusammenbrachte, erschöpft ist. Aber der Gott im Inneren ist ein reiner Strahl der universalen Einheit und kann sich nicht auflösen oder aufhören zu sein. Wenn der Mensch seine eigene menschliche Natur durch selbstloses Denken und Handeln in die Homogenität des Göttlichen umwandeln kann, wird er sich als unsterblich erkennen, denn so wurde er durch selbstgeleitete Anstrengungen. Er wird ein Meister des Lebens sein.