Band 6: Der Tod: Was kommt danach?
Leonie L. Wriht
Der Tod ist der Eröffner, der Eine, der Vision schenkt; der Tod ist der größte und lieblichste Wechsel, den das Herz der Natur für uns bereithält.
– Gottfried von Purucker, Goldene Regeln der Esoterik, S. 63
Einleitung
„TOD, wo ist dein Stachel? Grab, wo ist dein Sieg?“ Wir alle sind mit diesen schönen Worten von Paulus vertraut, aber – ach – wie wenig wirklichen Trost haben sie betrübten Herzen gespendet! Denn es gibt keine Lehre oder Erfahrung, die dieses Versprechen mit göttlicher Gewissheit untermauert. Und doch ist die Wahrheit schon immer ganz nahe bei uns und flüstert unseren Herzen genau mit der Stimme unserer eigenen Liebe für die ‘Dahingegangenen’ zu: Der spirituelle Mensch ist ewig; es gibt keine Toten.
Die Liebe an sich ist der Beweis für das spirituelle Überleben des Menschen – wahre Liebe, die selbstlos ist, anspruchslos, rein, verzeihend und – unzerstörbar. Wenn wir auch irgendwann aufhören, ständig um jene zu trauern, die uns in das Land des Lichts vorausgegangen sind, können wir jemals aufhören zu lieben? Gerade weil unsere Liebe unzerstörbar ist, muss sie einem Element in uns entspringen, das gleichfalls unsterblich ist – denn wie kann eine Qualität größer sein als die Quelle, der sie entspringt?
Genau hier, in der Liebe, müssen wir nach Beweisen suchen, dass der Geist des Menschen für alle Zeit lebt. Aber wir dürfen dabei nicht vergessen, dass nur wahre Liebe, und nicht selbstsüchtiges emotionales Anhaften, uns die Tür zu wirklichem spirituellen Kontakt mit unseren Verstorbenen öffnen kann.
Die Theosophie sagt uns, dass die scheinbare Trennung von unseren Geliebten durch den Tod keine Realität ist und wir in Illusionen leben. Lehrt nicht auch die Naturwissenschaft, dass Materie ‘hauptsächlich aus Löchern’ besteht? Und doch scheinen Materie und das äußere Leben für uns alles geworden zu sein, was uns eigentlich interessiert. Wir leben fast ausschließlich für materielle Zwecke und die Interessen unserer Persönlichkeit – für den Gehirnverstand oder unser emotionales Denken. Und diese Persönlichkeit – die ganz und gar irdisch und mit physischen Dingen verwoben ist und die mit dem Körper zerfällt – stirbt und entschwindet aus dem menschlichen Gesichtskreis. Dass die Natur der Persönlichkeit flüchtig ist, das ist die große Lektion, die wir lernen müssen – wenn wir nicht nur in spiritueller Verbindung mit den Toten bleiben möchten, sondern mit all jenen, die körperlich von uns getrennt sind. Wir müssen unser persönliches Selbst als das vergängliche Ding verstehen lernen, das es ist. Wenn wir dann die hinter ihm und im Inneren stehende spirituelle Realität entdecken und danach leben, werden wir unser inneres Unsterbliches Selbst finden und beginnen, in und für diese bleibende Wurzel unseres Wesens zu leben. Wenn uns das gelingt, werden wir sehen: Wir werden dann uns selbst als bereits unsterblich erkennen – jetzt, in diesem Augenblick! Wir werden dann auch das wahre Selbst jener wahrnehmen, die wir lieben und in jedem Augenblick unseres Lebens die Wirklichkeit empfinden, dass wir immer zusammen sind; immer wirklich miteinander in Verbindung stehen, wenn auch die physischen Augen das geliebte Gesicht nicht sehen und die physischen Ohren die Stimme des Abwesenden nicht hören. Lediglich die Kenntnis unseres spirituellen Selbst und des inneren spirituellen Selbst unserer Lieben wird uns den Sieg über den Tod bringen.
Wir können tatsächlich Wahrheit erlangen. Jeder von uns hat die Fähigkeit, alle seine Probleme zu lösen und für jeden Schmerz Heilung zu finden. Der Tod ist kein Mysterium in dem Sinne, dass er nicht verstanden werden kann. Die Wahrheiten über den Tod liegen innerhalb unseres Verständnisses.
Die einzige Ursache, die den Tod mit so viel Leid, Angst und Furcht umgibt, ist unsere Unwissenheit über die hinter dem materiellen Leben stehenden spirituellen Tatsachen. Mit Mut und Entschlossenheit ist es uns möglich, den Schleier zu lüften und mittels unserer erwachten spirituellen Fähigkeiten zu entdecken, dass der Tod nur der Eingang zu einer höheren Daseinsform auf einer Ebene ist, auf der wir und unsere Lieben untrennbar sind; und dass wir, immer gemeinsam, „von Zeitalter zu Zeitalter und von Höhen zu noch größeren Höhen immer weiter fortschreiten“.
Unwissenheit ist der größte Feind des Menschen, vor allem Unwissenheit über seine eigene Natur. Mensch, erkenne dich selbst! Denn in dir liegen alle Möglichkeiten und Wirklichkeiten des Universums. Weil die meisten von uns praktisch nichts über sich selbst wissen – und nur die eingefahrenen Geleise unseres Lebens kennen, in denen sich unsere Gedanken und Gefühle täglich wiederholen –, haben wir keine Antworten auf die Fragen, warum wir hier sind und wohin wir gehen.
Der illusorische und trügerische Charakter materieller Dinge wurde den Nachdenklichen durch die Arbeit der modernen Wissenschaft allmählich verständlich gemacht. Die Naturwissenschaft erklärt uns zum Beispiel, dass unser Körper aus kleinen Teilchen aufgebaut ist, bekannt als Elektronen, Protonen, Neutronen usw., welche die Theosophie hingegen ‘Leben’ oder Lebensatome nennt. Wenn man die gesamte Materie des menschlichen Körpers zusammenpressen könnte, würde nicht mehr zurückbleiben als ein kleines Staubkörnchen, so sagen die Wissenschaftler. Und trotzdem formt dieses Körnchen – sozusagen von der Magie der Lebenskräfte ausgebreitet – unseren verhältnismäßig großen und scheinbar festen physischen Körper. So ist auch ein Tisch, ein Marmorblock oder jeder andere feste Gegenstand in Wirklichkeit aus einer unvorstellbaren Anzahl kleiner Teilchen zusammengesetzt, die mit unvorstellbarer Schnelligkeit schwingen und uns die Illusion von Festigkeit vorspiegeln, obwohl große Abstände zwischen ihnen existieren. Das, was wir immer als ‘feste Wirklichkeit’ ansehen, ist tatsächlich eine Illusion, obwohl es vom Standpunkt der Erfahrung aus real erscheint.
Man hat auch Formen der Materie entdeckt, die wir nicht sehen können, weil ihre Schwingungsraten für unsere Sinne nicht wahrnehmbar sind – wie die infraroten und die ultravioletten Lichtstrahlen, die einen mit einer zu langsamen und die anderen mit einer zu schnellen Schwingungsfrequenz, um für uns sichtbar zu sein.
Wenn wir also die Mysterien von Leben und Tod verstehen und die außerhalb des normalen Wahrnehmungsvermögens stehenden Dinge der spirituellen Reiche sehen und erkennen wollen, müssen wir die täuschende Natur der rein materiellen Dinge erkennen. Und wir müssen für uns die Bedeutung von Materieformen erkennen, die unsere gegenwärtige Wahrnehmungsfähigkeit übertreffen. Wir müssen verstehen, was die Wissenschaft gerade aufzuzeigen beginnt, jedoch die Theosophie – die alte Weisheits-Wissenschaft – seit Äonen gelehrt hat, nämlich dass das wirkliche Universum nicht aus Materie, sondern aus Bewusstsein errichtet ist. Der Mensch ist kein Körper, denn der ist illusorisch. Er ist ein Zentrum, eine Einheit von Bewusstsein, eingebettet in ein Gewand aus vergänglichem Fleisch.
Natürlich sollen wir den Körper und die Persönlichkeit oder den Verstand – unser gewöhnliches Selbst – nicht unterbewerten, denn sie bilden das Instrumentarium oder die Werkzeuge für Erfahrung in unserer Welt, in der unsere Evolution gegenwärtig stattfindet. Ein richtiges Verständnis unserer Persönlichkeit würde uns tatsächlich dazu befähigen, sie zu einem Instrument ungeahnter Schönheit und noch unvorstellbaren Nutzens zu entwickeln. Aber das gelingt uns nicht, noch können wir sie dazu bringen, uns richtig zu dienen, solange wir nicht gedanklich beiseite treten und sie in ihrer Beziehung zu dem tieferen, unsterblichen Selbst betrachten, in dem der Schlüssel zu all unseren ‘Mysterien’ liegt.
Oft staunen wir über unsere eigenen Launen und unsere mentale Verfassung. Wir verstehen nicht, weshalb wir von einem Tag auf den anderen so wechselhaft sind. Aber dennoch wissen wir, dass es in uns etwas Dauerhaftes gibt, das diese Veränderungen erkennt und beobachtet – etwas, das unser Identitätsgefühl von Jugend an bis ins Alter weiterträgt, durch alle Erfahrungen, die den Charakter so bedeutungsvoll umformen. Dieses dauerhafte Element in uns ist das wahre Selbst, das beständig ist – ungeachtet unserer Launen, gerade wie das Meer, das auch unter dem Einfluss von Gezeiten und Stürmen, welche die Oberfläche aufwühlen, unverändert bleibt. Diese im Inneren wohnende Wirklichkeit ist das spirituelle Selbst im Menschen.
Wenn wir darüber nachdenken, bemerken wir, dass der wahre Mensch am besten verstanden werden kann, wenn wir ihn nicht so sehr als einen Körper oder Denker betrachten, sondern als ein Bewusstseinszentrum. Mit dem Wort ‘Bewusstsein’ sollten wir uns vertraut machen, denn Bewusstsein ist der Stoff, mit dem die Evolution arbeitet. Es ist die Grundlage allen Lebens, allen Wachstums und allen Seins. Der Mensch ist in Wirklichkeit aus verschiedenen Bewusstseinsarten zusammengesetzt, in denen das spirituelle Selbst das bindende Element darstellt – den unsichtbaren Kern sozusagen. Auch einige prominente Wissenschaftler betrachten Bewusstsein nicht länger als ein Nebenprodukt des Gehirns, sondern als den fundamentalen Stoff der Existenz.1
Was verstehen wir nun unter Bewusstsein? Dem Wesen nach ist es die Empfindung des ICH BIN: Ich existiere, ich lebe, fühle und erfahre. Aber dieses ICH BIN ist nur unsere Wurzel, die unpersönliche, universale Grundlage. Während des Lebens entwickelt sich dieses Gefühl des Wurzel-Bewusstseins zu vielerlei Formen: körperliches Bewusstsein, emotionales und mentales Bewusstsein und – das wichtigste von allem – Selbstbewusstsein: das Gefühl des ICH BIN ICH – ich bin ich und kein anderer. Jede dieser verschiedenen Bewusstseinsarten wächst zu einem Komplex oder einem Bündel von Energien, die als Aktivitäts-Zentren in uns existieren.
Dass das wahr ist, erkennen wir in der Tatsache, dass jeder einzelne davon überzeugt ist, in einer bestimmten, charakteristischen Weise zu denken und zu empfinden. Bei einem Geizhals gehen wir nicht davon aus, dass er in einem plötzlichen Impuls von Großzügigkeit handelt. Er hat durch seine Gedanken und Gewohnheiten gewisse starke Gefühlszentren aufgebaut, die ihn beherrschen, sogar wenn Großzügigkeit seinem eigenen Vorteil dienen könnte. Die meisten von uns haben sich jedoch noch nicht in einer bestimmten Art entwickelt und sind sich deshalb des Wachstums des inneren, psychologischen Organismus – der aus einzelnen, lose verknüpften Gefühlszentren besteht – ebenso wenig bewusst, wie des Wachstums des Körpers.
Dennoch gibt es diese Zentren. Täglich identifizieren wir uns einmal mit diesem und einmal mit jenem Zentrum, je nach unseren Launen. Wir haben diese Zentren im Laufe der Zeit aufgebaut. Sie bilden die Basis unseres Charakters und Handelns. Die Tyrannei unseres Temperaments, die Schwierigkeit, mit Gewohnheiten zu brechen oder sich von Vorurteilen zu befreien, sind auf diese Energiezentren zurückzuführen, die wir in uns im Laufe all unserer Leben völlig unbewusst aufgebaut haben. Und so führt uns die Theosophie zunächst zu einem Studium des Bewusstseins. Das Mysterium des Todes ist eines der Mysterien des Bewusstseins.