Band 6: Der Tod: Was kommt danach?
Leonie L. Wriht
Der Tod und die Monade
Der Gedanke an den Tod der von uns geliebten Menschen und die Aussicht auf unseren eigenen ist jedem von uns so vertraut, dass wir leicht die weitreichenderen und wirklich tiefen Erfahrungen übersehen, die der Tod für einen spirituellen Menschen birgt. Aber die Theosophie, die eine Erklärung der Tatsachen der Existenz darstellt, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf diese erweiterte Sichtweise; denn das, was wir den Tod nennen, und die Lebenszustände, die ihm folgen, sind für die Evolution des Individuums und der Rasse von äußerster Wichtigkeit.
Die Theosophie behauptet, dass die Probleme des Lebens erst gelöst werden können, wenn unsere Forscher erkennen, dass das Geheimnis allen Lebens vielmehr in der unsichtbaren als in der physischen Welt liegt. Die Wissenschaftler selbst beginnen das zu vermuten. Einer von ihnen, Professor J. Y. Simpson, ehemaliger Professor für Physik in Edinburgh, machte diese bedeutsame Bemerkung:
Mit physikalisch-chemischen Instrumenten und Methoden ist es schwer vorstellbar, irgendetwas anderes als physikalisch-chemische Ergebnisse zu messen; und wenn sie für die Untersuchung des Lebens angewendet werden, stellt eine solche Praxis naturgemäß keinen Beweis dafür dar, dass es in den Charakteristika des Lebens nichts gibt, was über ein physikalisch-chemisches Ereignis hinausgeht. Dass das Denken – welches jegliches Experimentieren ersinnt – selbst das Nebenprodukt analoger physikalisch-chemischer Ereignisse sein kann, scheint darüberhinaus eine Annahme zu sein, welche für die Voraussetzungen schwer haltbar ist.
– The Listener, 8. März 1933
Wir wollen diesen wichtigen negativen Standpunkt durch die positive Sichtweise in Dr. de Puruckers Worten ergänzend zum Ausdruck bringen.
Um das äußere Universum zu kennen, muss man den Erkenner im eigenen Inneren in rege Tätigkeit versetzt haben. … Um das Universum zu verstehen, muss man das Verständnis des Herzens haben, die Fähigkeit des Verstehens. Können Sie die Idee erfassen? Während also beispielsweise die Wissenschaftler großartige Arbeit leisten, … versagen sie doch in dem Punkt, dass sie selbst nicht Erkennende sind, dass sie nicht ursprünglich verstehen, was sie entdecken. Wir müssen unser eigenes Inneres kultivieren.
– The Theosophical Forum, April 1933, S. 230
Das Geheimnis der Evolution ist daher in der inneren Natur des Menschen zu suchen und in den unsichtbaren Welten, von denen unser sichtbares Universum nur der physische Beweis ist, so wie der Körper des Menschen der sichtbare Ausdruck seines unsichtbaren, jedoch ursächlichen Selbst ist – seiner Monade.
Wir wollen uns hier ins Gedächtnis rufen, was wir unter der Monade verstehen, worüber wir bereits in Kapitel III gesprochen haben. Eine Monade ist eine Einheit von Bewusstsein, eine unzerstörbare Einheit von Individualität. Im Herzen eines jeden Wesens existiert eine Monade – vom Atom bis zur Sonne. In einem Atom ist die Monade weit weniger evolviert als im Menschen, der begonnen hat, vollkommen selbstbewusst zu werden. Die Monade im Herzen einer Sonne ist bis zum Zustand des Göttlichen evolviert. Im Menschen können wir sein spirituelles Selbst als die Monade betrachten.
Evolution wird grundsätzlich durch Monaden zustande gebracht. Die Monaden, die heute das Menschenreich bilden, begannen ihre Evolution in längst vergangenen Zeitaltern, indem jede für sich ein Vehikel in jeder der niederen Ebenen und Reiche aufbaute – zunächst im Mineral- und Pflanzenreich, später evolvierte die Monade eine animalische Natur mit einem physischen Körper. Schließlich entfaltete sie aus ihrem Inneren eine Kraft, die wir das egoische Bewusstsein oder das selbstbewusste Ego nennen. Die unterhalb des Menschen stehenden Naturreiche bestehen aus Monaden, die noch kein Selbstbewusstsein entwickelt haben. Im Großen und Ganzen können wir sagen, dass der Mensch nun eine Monade oder ein spirituelles Selbst (Ātman-Buddhi) ist, das sich mittels eines selbstbewussten, reinkarnierenden Egos (Manas, dual, höheres und niederes) zum Ausdruck bringt; diese Egos ihrerseits wirken durch eine niedere Triade: Kāma, einen Modellkörper und einen physischen Körper, wobei Prāṇa für beide als Lebensatem dient (siehe das Diagramm auf Seite 25).
Der gesamte Zweck dieser evolutionären Reise durch alle Reiche ist zweifach: Erstens wird die Monade befähigt, die Früchte des Selbstbewusstseins auf den Ebenen zu ernten, die unterhalb ihrer eigenen spirituellen Ebene stehen; zweitens wird die Evolution der Lebensatome – jedes Atom mit seiner eigenen, beseelenden Monade – unterstützt, und sie formen die verschiedenen Vehikel auf den unterschiedlichen Ebenen der Evolution – materiell, emotional, intellektuell und spirituell. Um den Tod, das erhabenste aller Mysterien, begreifen zu können, müssen wir etwas über diesen Evolutionsprozess und seinen Zweck wissen.
Der Mensch hat im Kern seines Wesens einen Gott im Inneren, der er nicht selbst ist, sondern seine Wurzel und sein spiritueller Ursprung – die Monade, aus der er unbewusst seine spirituelle Vitalität schöpft. Dieses göttliche Wesen in uns ist unser Anreger, Beschützer und Leitstern, die Stimme des Mitleids und des Gewissens in unserem menschlichen Herzen. Sein heiliges Licht erweckt in uns alle Ideale und wahren Bestrebungen. Ohne diese uns umgebende und alles durchdringende Anwesenheit würden wir schnell wie hilflose menschliche Nachtfalter in der heißen Flamme materieller Trugbilder verbrennen.
Die Monade ist also ein Teil von uns oder, besser gesagt, wir sind ein Teil von ihr; und dennoch sind wir nicht die Monade. Wir können nicht getrennt von ihr existieren, weil sie unser Bindeglied oder unser Verbindungskanal mit dem universalen kosmischen Leben ist.
Nun ist die Monade selbst ein Individuum auf ihrer eigenen (für uns) unsichtbaren Daseinsebene. Manchmal, wenn wir vielleicht kurz über die Beschränkungen unseres täglichen Selbst durch eine Tat der selbstlosen Liebe, das Bemühen um besondere Selbstdisziplin oder durch starke Sehnsucht nach dem Göttlichen in uns hinauswachsen – in solch einem Augenblick ergreift manchmal eine Schwingung der Freiheit, der Einsicht, des reinen Glücks oder Friedens von uns Besitz. Eine Zeitlang atmen wir den Äther einer reineren Welt, und alle Dinge erscheinen uns auf einmal möglich. Das ist das Licht des Gottes, der Monade in uns. Dieser Gedanke oder diese Tat wirkt wie ein Klopfen an die verschlossene Tür ihres Reiches der spirituellen Erleuchtung, die Tür öffnet sich kurz, um einen Strahl des Lichts in das nach oben strebende Herz zu werfen.
So hat der Gott in uns seine eigene spirituelle Welt. Er lebt auch dort und macht seine Erfahrungen, wächst und erhellt gleichzeitig das reinkarnierende Ego auf seiner Reise durch die Schatten des Erdenlebens. Sein eigenes Reich liegt in der ursächlichen göttlichen Welt, von der diese physische Sphäre das äußere Kleid oder Vehikel ist.
Es hat wenig Zweck zu fragen: „Wo befindet sich diese innere, unsichtbare Welt?“ Man könnte genauso gut das unsichtbare Selbst eines Freundes fragen: „Wo bist du?“, den mental-spirituellen Menschen damit meinend, welcher der wahre Herzensfreund ist. Denn die spirituelle, innere Welt existiert auf einer anderen Ebene, in einem anderen Zustand der Materie, sie hat eine andere Schwingung als die Welt, die wir um uns wahrnehmen.
Wir müssen daran denken, dass der Mensch ein zusammengesetztes Wesen ist: Körper, Ego, spirituelles Selbst. Jedes dieser drei muss – wie wir gesehen haben – für ein genaueres Studium wiederum unterteilt werden, wodurch wir zu sieben Prinzipien oder Elementen gelangen. Dasselbe trifft auch auf die Planetenwelt zu, in der wir evolvieren. Eine Planetenkette besteht aus sieben Globen, und unsere Erde ist der physische und niederste Globus, der einzige, den wir sehen können, und das trifft analog auf den physischen Körper des Menschen zu.1
Jeder Planet im Raum ist ebenso siebenfältig – er wird von sechs anderen, für uns jedoch unsichtbaren Globen begleitet. Hätten wir also ein für die innere Wahrnehmung geeignetes Organ, könnten wir in der Nacht bis tief hinein in den Sternenhimmel blicken, um im kosmischen Raum eine unzählige Schar ätherischerer Welten zu sehen. Diese inneren, ätherischeren Welten sind die ursächlichen Wurzeln des physischen Universums, so wie beim Menschen das spirituelle Selbst die Wurzel seiner sichtbaren Erscheinung ist.
H. P. Blavatsky sagt uns Folgendes über diese Welten:
… Der Okkultist definiert diese Sphären weder außerhalb noch innerhalb der Erde, wie es die Theologen und die Dicher tun; denn ihre Lage ist nirgends in dem den Profanen bekannten und von ihnen verstandenen Raum. Sie sind gewissermaßen mit unserer Welt vermischt – sie durchdringen dieselbe und sind von ihr durchdrungen. Es gibt Millionen und Abermillionen für uns sichtbare Welten; eine noch größere Anzahl existiert außerhalb der für das Fernrohr sichtbaren; und viele von der letzteren Art gehören nicht unserer objektiven Daseinssphäre an. Obwohl so unsichtbar, als ob sie Millionen von Kilometern jenseits unseres Sonnensystems wären, sind sie doch bei uns, uns nahe, innerhalb unserer Welt, ebenso objektiv und materiell für ihre betreffenden Bewohner, wie die unserige für uns. … Sie unterstehen gänzlich ihren eigenen Gesetzen und Bedingungen und keine hat eine unmittelbare Beziehung zu unserer Sphäre. …
Nichtsdestoweniger existieren solche unsichtbaren Welten. Ebenso dicht bewohnt wie unsere eigene, sind sie im scheinbar leeren Raum in unermesslicher Anzahl verstreut; einige sind viel materieller als unsere eigene Welt, andere stufenweise etherischer, bis sie formlos werden und wie ‘Atem’ sind. Die Tatsache, dass unser Auge sie nicht sieht, ist kein Grund dafür, nicht an sie zu glauben. …
Wenn wir uns aber eine Welt vorstellen, aus einem Stoff bestehend, der für unsere Sinne feiner als der Schweif eines Kometen ist und dessen Einwohner im Verhältnis zu ihrer Kugel ebenso etherisch sind, wie wir im Verhältnis zu unserer felsigen, hartkrustigen Erde – dann ist es nicht verwunderlich, dass wir sie nicht wahrnehmen und dass wir ihre Gegenwart oder auch nur Existenz nicht fühlen. …
– Secret Doctrine, I:605-607
In den höheren und innersten Regionen dieser unsichtbaren Welten weilt die Monade, das spirituelle Selbst des Menschen. Und dennoch bedeutet das nicht, dass die Monade nicht bei uns ist. Auch von den wahren Egos unserer Freunde können wir nicht sagen, sie seien nicht bei uns, obwohl wir nur ihren physischen Körper sehen. Wie bereits vorher gesagt, müssen wir lernen, Lebewesen mehr im Sinn von Bewusstsein zu betrachten. Das spirituelle Selbst des Menschen ist ein Wesen reinen Bewusstseins, verkörpert in seinem buddhischen Vehikel; das Ego ist ein intellektuelles Bewusstseinszentrum, verkörpert in einem persönlich-animalischen Vehikel; entsprechend ist die niedere Triade aus Elementarbewusstsein zusammengesetzt, verkörpert in einer astral-physischen Form. Und alle diese verschmelzen zu einer Einheit durch ihren gemeinsamen Ursprung in der Monade im Herzen von allen.
Wir sehen also, dass diese verschiedenen Zentren während des irdischen Lebens ein Wesen formen. Wenn es ein sonderbarer Gedanke zu sein scheint, dass der Gott in uns unentwegt auf seiner eigenen Ebene evolviert, können wir es besser verstehen, wenn wir bedenken, dass der Verstand und der Körper sich ebenfalls zur gleichen Zeit auf zwei verschiedenen Ebenen entwickeln, von denen eine für unsere äußeren Sinne unsichtbar ist. Jedes Prinzip oder Element in uns erleuchtet und unterstützt das Prinzip, das unmittelbar unter ihm steht. Wenn das Niedere in seiner Evolution voranschreitet, bietet es den Bewusstseinszentren über ihm größeren Handlungsspielraum – vergleichbar einem Menschen, der seine körperlichen Verlangen besiegt hat und damit von ihnen befreit ist; jemand, der noch nicht so weit ist, ist in einem gewissen Grad deren Sklave. Und das gilt in weit größerem Maße für die Laster des Verstandes und der Emotionen. Wenn wir uns von ihnen befreien, schreitet die gesamte Natur zu einer weiteren und tieferen Art des Handelns fort. Andersherum betrachtet kann niemand einen Gedanken hegen oder etwas tun, das ohne Einfluss bleibt – weder zum Guten noch zum Bösen – auf die unzähligen niederen Lebensformen seines eigenen Organismus, welcher ganz und gar von seinem Bewusstsein durchdrungen ist. Der Einfluss menschlicher Laster auf die Gesundheit ist ein Beispiel dafür. Und um den Gedanken zu vervollständigen: Unsere täglichen Gedanken und Handlungen unterstützen oder behindern die spirituelle Evolution unserer höheren Prinzipien, die mit ihrer größeren Reichweite des Bewusstseins unser gewöhnliches menschliches Selbst ganz durchdringen und inspirieren. So gibt es eine evolutionäre Wechselbeziehung zwischen allen Existenzebenen.
Der Tod ist der große Freund, der das spirituelle Selbst des Menschen von seinem materiellen Gewand erlöst und für die ermüdete menschliche Seele das herrliche Tor zu spiritueller Selbsterfüllung und zu Frieden öffnet.
Fußnoten
1. Eine vollständigere Erklärung befindet sich in Band 8 Runden und Rassen dieser Reihe. [back]