Band 6: Der Tod: Was kommt danach?
Leonie L. Wriht
Einige Fragen und Antworten
In Zusammenhang mit unserem Studium dieses tiefen und wunderbaren Themas werden wahrscheinlich viele Fragen auftauchen. Es wird zum Beispiel öfters gefragt, ob die Theosophie, die lehrt, dass es eine Himmelswelt gibt, nicht auch etwas über eine Hölle lehrt? Und wie steht es um das Fegefeuer, an das viele Menschen glauben?
Wenn man unter ‘Hölle’ einen Ort ewiger Strafe versteht, dann bestreitet die Theosophie diese beiden Vorstellungen nachdrücklich. In der Alten Weisheit gibt es keinen Platz für die unlogische und kindische Vorstellung der Strafe. Wir begegnen ausschließlich den Folgen unserer früheren Gedanken und Taten in diesem oder einem vorigen Leben – mit anderen Worten Karma. Niemand bürdet oder zwingt uns diese sich ergebenden Bedingungen auf. Sie folgen genauso natürlich aus unseren Taten, wie Wärme der Verbrennung oder die Furche dem Pflug folgt. Und um es noch einmal zu wiederholen: Kein einziger Existenzzustand oder Umstand kann ewig sein!
Unsere theologischen Vorstellungen über Himmel und Hölle sind jene mehr oder weniger entstellten Ideen, über die wir bereits gesprochen haben – jene verzerrten Überbleibsel alter Mysterienlehren, die am Beginn der christlichen Ära noch populär waren. Alle diese Missverständnisse setzten sich in jener Zeit im Denken der Menschheit fest, als sie in ein Zeitalter der spirituellen Trägheit eintrat, die ihren Höhepunkt im Mittelalter fand. Und die theologischen Lehren über die Hölle, wie sie in allen Religionen in der einen oder anderen Form zu finden sind, verkamen fast ausnahmslos zu völlig falschen Interpretationen der ursprünglichen Lehre, wie sie von den Gründern dieser Religionen vorgebracht worden waren. All diese Missverständnisse resultierten daraus, dass die Lehren nach dem Buchstaben aufgefasst wurden und nicht symbolisch und im übertragenen Sinne. Sie haben den menschlichen Herzen unsagbar viel Leid und Elend zugefügt. Die Worte ‘Himmel’ und ‘Hölle’ in ihrem wahren, mystischen Sinn haben als Teil der alten Mysterienlehren eine andere Bedeutung. Mit Himmel werden gemeint:
… jene spirituellen Erfahrungsreiche, durch die alle Monaden, welche auch immer, auf ihren zeitalterlangen Wanderungen zu einer beliebigen Zeit hindurchgehen sollen, ja hindurchgehen müssen, und in denen sie so lange verbleiben, wie es mit dem erreichten oder gewonnenen karmischen Verdienst in Einklang steht. Die sogenannten ‘Höllen’ sind jene Sphären oder Reiche der Reinigung, wohin alle Monaden, welche auch immer, während gewisser Perioden ihrer zeitalterlangen Wanderungen müssen, um dort die materiell beladenen und somit schwer belasteten Seelen zu reinigen, damit sie – sobald sie einmal gereinigt sind – sich wieder auf den aufsteigenden Bogen kosmischer Erfahrung erheben können.
– The Esoteric Tradition, S. 551
Diese Erde wird tatsächlich von den Wesen, die vor langer Zeit ihre Materie beladenen Vehikel und Versuchungen überwunden haben, als eine Hölle besonders schmerzlicher Art betrachtet. So befreit die Theosophie, wenn sie den Ursprung dieser theologischen Missverständnisse erklärt, das menschliche Denken ein für alle Mal von ihrem erniedrigenden und grausamen Einfluss.
Natürlich gibt es in den weiten Reichen der Natur eine Bedingung oder einen Zustand des Seins, der das Gegenteil oder der niedere Pol zu jenen Stufen spiritueller Verwirklichung und Ruhe ist, die sich von Devachan bis zu den verschiedenen nirvāṇischen Stufen am Ende der größeren Evolutionsperiode erstrecken. Dieser anderer Seinszustand wird ‘Avīchi’ genannt, er besteht ebenfalls aus verschiedenen Abstufungen, welche mit den materiellen Neigungen der Wesenheiten übereinstimmen, die durch ihre eigenen schlechten Taten dorthin gezogen wurden. Diejenigen, die sich den Gefühlen des Hasses, der Rache, der Begierden oder Laster anderer Art hingeben, rutschen unvermeidlich auf die eine oder andere Weise in Avīchi ab, wozu auch die niederen Stufen von Kāma-Loka gehören. Die ‘Höllen’ oder niederen Ebenen von Kāma-Loka sind die direkten karmischen Folgen eines Nachgebens gegenüber jenen Eigenschaften, die den Menschen nach unten ziehen. Doch selbst dort sind die Folgen mitleidsvoll, denn diese ‘Höllen’ konfrontieren die dorthin gezogenen Wesenheiten mit den entsetzlichen Konsequenzen einer hemmungslosen Hingabe an das Böse. Auf diese Weise wird ihnen klargemacht, dass der Weg, der zu Avīchi führt, später vielleicht vermieden werden kann. Der Zustand hält glücklicherweise nur vorübergehend an und die Anzahl solcher unglücklichen Männer und Frauen ist verhältnismäßig gering.
Theologische Lehren über das Fegefeuer sind ebenfalls ein Beispiel dafür, wie durch Unwissenheit die Mysterienlehren der Alten Weisheit entstellt wurden, um den Zielen exoterischer Religionen zu dienen. Aus dem Vorigen kann leicht ersehen werden, wie es dazu kommen konnte. Die Alte Weisheit, die heute von der Theosophie vertreten wird, lehrt, dass der tatsächliche Zustand von Kāma-Loka – ausgenommen die seltenen Fällen von Selbstmördern und wirklich sehr schlechten Menschen – eine Reinigung in dem Sinne darstellt, dass sich die materiellen und selbstsüchtigen Elemente des Verstorbenen auflösen. Diese Reinigung erfolgt unbewusst und bringt wenig oder kein Leiden irgendeiner Art für gewöhnliche Menschen mit sich. Die ganzen Schreckgespenster der Theologie und des Aberglaubens werden von der Theosophie erklärt und dadurch ausgeräumt.
Ein anderer, öfter angesprochener Punkt bezieht sich auf die Möglichkeit, den Zeitraum zwischen zwei irdischen Leben zu verkürzen. Es gibt eine vielleicht überraschend große Anzahl von Männern und Frauen, die den Gedanken nicht ertragen können, dass sie Tausende von Jahren der Seligkeit genießen, während die Welt sich mühsam plagt, ohne dass sie etwas zu ihrer Hilfe und Erleichterung beitragen können. So betrachtet scheint der devachanische Zustand eigentlich selbstsüchtig. Dr. de Purucker antwortete auf eine ihm diesbezüglich gestellte Frage:
Wenn wir den Zustand von Devachan genau analysieren, müssen wir zu der Erkenntniss gelangen, dass er – wie schön er auch sein mag und wieviel Ruhe und Erholung er auch schenken mag, was bestimmt der Fall ist – trotzdem ein selbstsüchtiger Zustand ist. Wir können sagen, was wir wollen, Devachan ist im gegenwärtigen Stadium notwendig, weil es Ruhe bedeutet, Erholung und Frieden, und weil es die Aufarbeitung und die Assimilation der Erfahrungen des gerade beendeten Lebens bedeutet. All das mag so sein, es bleibt dennoch eine selbstsüchtige Existenz, denn in den Jahrhunderten, die wir in Devachan verbringen, träumen wir schöne Träume, und auch wenn der Welt das Schlimmste geschieht, stört uns das nicht. Nun, das ist nicht im Geiste der Buddhas des Mitleids. Liebe, unpersönliche Liebe, die alles umfasst – groß und klein – wird uns sogar von Devachan befreien. Es ist gerade dieser Geist der unpersönlichen Liebe, Liebe für alle Dinge, eine Sehnsucht, allen zu helfen und zur Seite zu stehen, die den wahren Kern der Buddhas des Mitleids bildet. … Es ist dieser Geist, der unser Devachan verkürzen wird und uns schnell auf dem Chelapfad voranbringen wird. Es ist der Geist, der unsere Älteren Brüder erfüllt, die Meister der Weisheit, des Mitleids und des Friedens. Sie haben kein Devachan. Sie sind darüber hinausgewachsen – zumindest die höheren unter ihnen.
– The Theosophical Forum, Feb. 1933, S. 178
Ein ausgeprägtes, unpersönliches Verlangen, für die Menschheit zu leben, bildet eine Energie von außergewöhnlicher Kraft, wenn dies ein ganzes Leben lang durchgehalten wird – besonders wenn es nicht nur Sentimentalität ist, sondern die Form täglicher Selbstaufopferung im Denken und Handeln annimmt. Diese Energie ist stärker als alle anderen Energien, weil sie an der bewegenden Harmonie und Liebe teilhat, die aus dem Herzen des Universums hervorfließt, um alles, was ist, zu durchdringen. Sie wird ihren entsprechenden Ausdruck finden, indem sie die exkarnierte Wesenheit an jenen Ort zurückzieht, wo allein sich diese spirituelle Wunschenergie auswirken kann – Reinkarnation auf der Erde, in jeglicher Umgebung, in welcher eine solche humanitäre Aktivität möglich ist.
Das Vorhergehende führt zu einer oft gestellten Frage in Bezug auf die relative Wichtigkeit der beiden Zustände – das Leben auf der Erde und Devachan. Um es etwas zu vereinfachen, könnten wir fragen: Was ist wichtiger, essen oder verdauen? Das irdische Leben gewährt ein Ansammeln von Erfahrung und Devachan dessen Assimilation. Für die Durchschnittsmenschheit sind beide notwendig, das eine ergänzt das andere.
Aber der Mahatma, der Adept, der Meister des Lebens ist über Devachan hinausgewachsen. Er schreitet ohne Unterbrechung des Bewusstseins von Leben zu Leben und von Körper zu Körper. Wir dürfen jedoch die Tatsache nicht übersehen, dass er dabei für sich selbst die Notwendigkeit zu weiteren irdischen Erfahrungen überschritten hat. Er reinkarniert als Mensch, um sich dem spirituellen Wohlbefinden aller zu widmen. Um den Tod und die damit verbundenen Umstände zu überwinden, müssen wir erst den Durst nach Leben besiegen. Denn diese beiden – das Leben auf der Erde und das Leben in den inneren Welten jenseits des Todes – sind gegenwärtig die passende Art und Weise für die Evolution des Menschen. Erst wenn der Mensch das Bedürfnis für beide überwunden hat, kann er ein Mahatma werden – selbstbewusst unsterblich.
Aber der Tod wird sich sogar für den Durchschnittsmenschen verändern, denn der Mensch entwickelt sich natürlich unentwegt. Nicht nur unter dem Einfluss seines eigenen inneren Dranges, sondern auch mit der Hilfe einer Umgebung, die er zusammen mit seiner Familie, seiner Nation und seiner Rasse täglich erschafft, wird er aus dem Kern seines eigenen Wesens neue Kräfte und Fertigkeiten entwickeln, entfalten, entrollen. Und während er diese neuen Fertigkeiten entwickelt, wird er gleichzeitig solche Umstände hervorrufen, duch die er sie zum Ausdruck bringen kann. Das ist ein Teil der großartigen Aussicht, welche die Theosophie für die Zukunft der Menschheit bietet.
Gottfried de Purucker sagt uns:
In der Zukunft, wenn die Menschheit etwas weiter fortgeschritten sein wird als sie heute ist, wird man allgemein das Alter als den schönsten Zeitabschnitt des Erdenlebens ansehen, weil es der an intellektueller, psychischer und spiritueller Kraft reichste ist, und das wird so bleiben, bis auf die wenigen kurzen Stunden vor dem Eintreten des wirklichen physischen Todes.
– The Esoteric Tradition, Band II, S. 813, Fußnote
Eine andere Sache, die wir zum Schluss ansprechen sollten, ist das neue Licht, das die Theosophie auf die gängigen unwissenschaftlichen Vorstellungen über die Unsterblichkeit wirft. Gottfried de Purucker brachte folgende Auffassung vor:
… die Menschen wissen nicht wirklich, was wahre Unsterblichkeit bedeutet. Sie glauben, sie bedeute unveränderliche Fortdauer der menschlichen Seele, wie sie jetzt ist – was für eine Hölle wäre das! Stellen wir uns vor, für immer und ewig das zu sein, was wir jetzt sind!
Die Lehre des Okkultismus ist das genaue Gegenteil davon. Seine Lehre erzählt von endlosem Wachstum, endloser Vervollkommnung, endloser Entwicklung, endloser Evolution und deshalb von endloser Veränderung des Bewusstseins, das immer höher steigt, aus der menschlichen Sphäre in die halbgöttliche, von den halbgöttlichen Welten in die göttlichen und danach in die übergöttlichen und so fort ad infinitum. Es gibt nirgends so etwas wie Unsterblichkeit, wie sie allgemein verstanden wird. Das einzige Unsterbliche ist das Universum selbst. Doch selbst das Universum ist durchaus nicht unsterblich, so wie es jetzt ist, denn es verändert sich fortwährend. Seine Essenz ist sein Leben, dessen wirklicher Kern Veränderung ist, die Wachstum bedeuted, welches Evolution hervorbringt.
– Studies in Occult Philosophy, S. 382-3
Der springende Punkt im vorherigen Absatz liegt in den Worten „wie es jetzt ist“. Nichts existiert fortdauernd so, wie es jetzt ist. Es ist diese Tatsache, die oft so unlogisch und unwissenschaftlich von Theologen ignoriert wird und doch von der Natur selbst fortwährend unterstützt wird. Sie ist die Wurzel der modernen wissenschaftlichen Vorurteile gegenüber der Vorstellung von der Unsterblichkeit. Das Individuum bleibt bestehen, aber dieses Weiterbestehen ist nur durch Veränderung möglich. Wir sind unser Karma – wir sind zu dem geworden, wozu wir uns selbst gemacht haben. Was bleibt, ist das, was wir aus uns selbst machen, und in diesem Fortschritt oder Rückgang liegt unsere Zukunft. Kann man sich eine größere oder zwingendere Herausforderung für den gesunden Verstand und für das Beste und Stärkste und auch für das Reinste in der menschlichen Natur vorstellen? Selbst die schöne Ausdrucksweise ‘das Sterbliche zum Unsterblichen emporheben’ hat nur eine relative Gültigkeit. Denn die Monade selbst, zu der wir unser Bewusstsein zu verwandeln versuchen und die im Vergleich mit dem menschlichen Ego unsterblich ist, wächst und evolviert auf ihrer eigenen Ebene zu immer größeren und größeren Höhen.
Wir beenden diese Betrachtungen über den Tod mit folgenden Worten:
Wir werden den Tod und seine Mysterien so lange nicht vollständig verstehen, solange wir unsere Aufmerksamkeit auf den Körper konzentrieren, in den sich diese Flamme des Selbstbewusstseins hüllt. Folge dem Bewusstsein in dir, werde mit dir selbst vertraut, erkenne dich selbst besser, folge dieser Flamme des Bewusstseins im Inneren – immer weiter nach innen, was gleichzeitig aufwärts bedeutet; und dann wirst du den Tod nicht länger fürchten, sondern ihn als den süßesten, heiligsten Freund erkennen, den der Mensch hat; denn es bedeutet, Unvollkommenheit für Vollkommenheit aufzugeben, begrenztes Bewusstsein für eine erweiterte Bewusstseinssphäre. Folge jenem Bewusstseinsstrom unaufhörlich, und schließlich wirst du das Innere erreichen, das Zentrum des Seins, die Göttlichkeit im Herzen deines Selbst. Dort liegt das Geheimnis für das Verstehen des wahren Mysteriums vom Tod, wie es in den alten esoterischen Schulen aller Menschenrassen gelehrt wurde.
– G. DE PURUCKER: Lucifer, April 1934, S. 441-2
Vergesst nicht, dass ihr Kinder der Ewigkeit seid, jeder von euch, untrennbar mit dem grenzenlosen Universum verbunden, in dem wir alle leben, uns bewegen und unser Dasein haben. Vergesst nicht, dass von den allmächtigen Gesetzen der Natur wohl für euch gesorgt ist, die uns hierher brachten und die uns auf unseren Wegen unfehlbar leiten. Vertraut auf euch bis zum Tod; sterbt mit starkem und freudigem Willen. Sterbt glücklich, wenn eure Zeit kommt, habt keine Angst. Verhöhnt das Phantom des ‘Todes’ – verspottet das alte, verborgene Schreckgespenst angsterfüllter Vorstellungen der Unwissenheit, das in die Herzen und in das Denken der Menschen verwoben ist. Verhöhnt dieses Gespenst, dieses üble Produkt der Vorstellungskraft! Löscht es aus! Denkt daran, das wohl für euch gesorgt ist.
– Questions We All Ask, Serie II, Nummer 19