Band 9: Theosophie und Christentum
H. T. Edge
Theosophie ist die essenzielle Wahrheit, die hinter allen Religionen steht, und sie erkennt keine der Religionen als über den anderen stehend oder als die letzte Wahrheit an. Theosophie steht dem Christentum nicht feindselig gegenüber; aber sie sieht ihre Aufgabe darin, solche Dinge anzufechten, von denen sie überzeugt ist, dass sie zu dem echten christlichen Evangelium nicht dazugehören, die sich jedoch seit seiner Entstehung allmählich darin eingeschlichen haben. Dazu gehört der Gedanke, dass das Christentum weit über allen anderen Religionen steht, oder dass es die alles andere übertreffende, endgültige Offenbarung der göttlichen Wahrheit sei. Heute wird es immer schwieriger, diese Auffassung aufrecht zu erhalten. Dafür gibt es zwei Gründe: erstens, weil alte Religionen heute intensiver und umfassender studiert werden, insbesondere die indischen, die durch die Kenntnis des Sanskrit zugänglich wurden; zweitens, weil die Beziehungen zwischen den Völkern einfacher geworden sind und Möglichkeiten entwickelt wurden, sich auf verschiedenen Gebieten besser kennen zu lernen.
Dadurch wird eine Geisteshaltung der Exklusivität verhindert, die in früheren Zeiten möglich war. Es ist jedoch nicht einfach, von lange gehegten Gewohnheiten Abstand zu gewinnen; außerdem sind viele Menschen der Ansicht, dass die Aufgabe der Vorherrschaft des Christentums gleichzeitig die Aufgabe dieser Religion bedeuten würde. Aus diesem Grund nehmen sie manchmal zu wundersamen Mitteln Zuflucht, um in den vielen älteren Religionen die Existenz von Lehren und Ritualen zu erklären, die – so wurde unterstellt – christliche Privilegien wären. Abbé Huc, der französische Missionar und Entdeckungsreisende, schreibt in seinem berühmten Buch Souvenirs d'un voyage dans la Tartarie, le Thibet et la Chine, dass er bei den tibetanischen Priestern sowohl viele charakteristische Lehren der katholischen Kirche als auch viele ihrer Rituale, ihrer Gewänder und ihrer heiligen Gegenstände fand. Seine Erklärung war, dass der Teufel dem Christentum vorangegangen sei, um die Menschheit in die Irre zu führen. Er fügte dieser Theorie hinzu, dass möglicherweise die ersten christlichen Missionare bis nach Tibet vorgedrungen seien.
Aber es kann natürlich nur eine Wahrheit geben. Religion an sich – abgesehen von Lehrsätzen und Kirchen – bedeutet die Anerkennung und Befolgung der grundlegenden Gesetze des Universums. Diese sind auch dem Menschen selbst inhärent, so dass die ewige und universale Religion sich auf Tatsachen in der menschlichen Natur gründet; daher muss sie dieselbe bleiben, solange der Mensch ein Mensch ist. Die essenzielle Wahrheit besagt, dass der Mensch ein göttliches Wesen ist, das in einem tierischen Körper lebt; dass seine Rettung darin besteht, seine niedere Natur mittels der höheren anzuheben; und dass die erhabenste Tugend des Menschen in der Befolgung der ‘Goldenen Regel’ liegt, die man in den vielen Religionen und Philosophien findet und die im Christentum folgendermaßen zum Ausdruck gebracht wird: „Alles, was du willst, dass dir die Menschen tun, sollst du ihnen auch tun, denn das ist das Gesetz und die Propheten.“
Theosophische Perspektiven
Band 9: Theosophie und Christentum
Frei überarbeitet nach H. T. Edge
und
Die Geschichte von Jesus
von G. de Purucker
© 2000 Theosophischer Verlag der Stiftung der Theosophischen Gesellschaft Pasadena, Eberdingen
Band 5: Evolution
H. T. Edge
Evolution ist ein universaler Prozess, demgemäß sich alles verändert, entwickelt und wächst. Einige einfache Beispiele können den Charakter dieses Prozesses verdeutlichen. Man pflanzt einen Samen, ein winziges Teilchen, das sich kaum von anderen Samen unterscheidet; er durchläuft verschiedene Stadien der Entwicklung, bis er ein ausgewachsener Baum geworden ist, der Blüten und Früchte trägt. Das ist Evolution – der Baum entwickelt sich aus dem Samen. Ein befruchtetes Ei im Mutterschoß entwickelt sich durch die verschiedenen Stadien hindurch zu einem vollständig geformten Kind, das sich weiter zu einem Erwachsenen entfaltet. Auch das ist Evolution – der Mensch evolviert aus einem Mikroorganismus. Ein Architekt hat eine Idee; die Idee nimmt auf dem Papier Form an und die Pläne werden gezeichnet; schließlich werden sie in Marmor und Granit verwirklicht, so dass – nachdem viele Stadien durchlaufen sind – sich durch die Arbeit vieler Hände eine prächtige, mächtige Kathedrale erhebt. Auch das ist ein Beispiel für Evolution – das Bauwerk entwickelt sich aus der Idee.
Das menschliche Dasein illustriert dasselbe Evolutionsgesetz; es beinhaltet allerlei Einrichtungen, gesellschaftliche Klassen, Bräuche usw., die sich allmählich aus einer Idee oder einem Plan entwickelten. Kurz gesagt, die Evolution stellt die Verwirklichung von Ideen dar.
Was das bedeutet, kann auch auf andere Weise formuliert werden. Wir können sagen, dass Evolution das Sichtbarmachen des Unsichtbaren ist; das In-Aktivität-Setzen des zuvor Latenten; die Offenbarung des nicht Geoffenbarten. Aber Evolution bedeutet nicht das Schaffen von etwas, was vorher nicht existierte. Die Kathedrale war schon da, nicht als steinernes Gebäude, sondern als Idee im Denken des Architekten. Der Baum existierte, bevor er sich in materieller Form manifestierte; er war latent, potenziell, als Samen anwesend. Der vollständige, zukünftige Mensch war in der Keimzelle verborgen anwesend. Wäre das nicht der Fall, wie könnte es dann geschehen, dass der eine Samen eine bestimmte Pflanze und der andere eine gänzlich andere hervorbringt?
Hinter allen Prozessen in der Natur stehen Geist, Intelligenz, Instinkt und Verlangen. Wenn wir dem nicht zustimmen können, werden wir uns wieder die Frage stellen müssen, wodurch all das in mysteriöser Weise zustande gebracht wird. Dazu kommt, dass Geist, Intelligenz usw. Attribute von lebendigen Wesen sind und nicht davon getrennt gesehen werden können; sie sind ein Teil von ihnen. Deshalb müssen wir die gesamte Natur als eine Ansammlung lebendiger Wesen betrachten. Wenn wir diesen Schritt einmal vollzogen haben, verschwinden die Probleme und es bietet sich uns eine verständliche Erklärung des Universums, des Lebens und der Evolution.
Der Evolutionsgedanke hat die Philosophen seit Urzeiten beschäftigt. Er ist eine Alternative zur Vorstellung von einer expliziten Schöpfung durch das Wort Gottes. Die Vorstellung, dass Gott das Universum in einem Zuge erschuf, an irgendeinem Zeitpunkt in der Vergangenheit, ist für den Intellekt wenig befriedigend. Wenn wir sehen, wie alles um uns herum wächst und sich verändert, ist es eine natürliche Vorstellung, dass das Universum, mit allem was darin enthalten ist, nach demselben Wachstumsprozess entstand.
Theosophische Perspektiven
Band 05: Evolution
Frei überarbeitet nach H. T. Edge
© 2000 Theosophischer Verlag der Stiftung der Theosophischen Gesellschaft Pasadena, Eberdingen