Band 9: Theosophie und Christentum
H. T. Edge
Die Bibel – II
- Reinkarnation
- Die Lehre von der Dreieinigkeit
- Das Kreuz
- Die Mysterien
- Die Wiederkehr Christi
- Die Goldene Regel
- Der innewohnende Christus
Reinkarnation
Weil die Lehren von Reinkarnation und Karma einen so wichtigen Teil der alten Weisheit ausmachen, aus der alle Religionen hervorgegangen sind, ist es wichtig, der Frage nachzugehen, weshalb so wenig davon im Christentum zu finden ist – aus dem einfachen Grund, weil sie gestrichen wurden. Der verstorbene Professor F. S. Darrow schrieb:
Eine kritische Geschichte der Lehren über Präexistenz und Reinkarnation wurde noch nie geschrieben. Das verfügbare Material für solch eine Geschichtsschreibung ist jedoch sehr umfangreich. Ich habe in meiner Bibliothek – ohne die geringste Übertreibung – buchstäblich hunderte von Büchern, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Viele davon behandeln ausschließlich diese Themen.
… Die theosophischen Lehren in Bezug auf die Präexistenz und die Wiedergeburt der menschlichen Seele wurden deutlich und immer wieder in der Christlichen Welt verkündet – von den Anfängen des Christentums an bis heute. Aber die Anerkennung dieser Wahrheiten unter bekennenden Christen war von Zeit zu Zeit sehr unterschiedlich, dem Ausmaß an Veröffentlichungen entsprechend, die in wechselnden Perioden möglich erschienen.
Derselbe Autor teilt das Thema chronologisch in drei Teile ein. Erstens die Periode des frühen Christentums bis zur Synode von Konstantinopel im Jahr 553, als die Lehren des Kirchenvaters Origenes offiziell als ‘ketzerisch’ verurteilt wurden.1 Dann die Periode von 553 bis 1438, als Gregorius Gemistus Florenz besuchte und die Philosophie von Plato neu belebte. Und schließlich die Periode von 1438 bis zu unserer Zeit.
Die Ursache, weshalb von diesem Wissen über Präexistenz und Reinkarnation nichts mehr zu hören ist, liegt darin, dass auf dieses Thema nicht mehr eingegangen wurde. Es gibt einen Überfluss an Literatur, aber da sie als ketzerisch verbannt wurde, geriet sie in Vergessenheit. Der Grund für diese Verbannung ist leicht zu erkennen. Diese Lehren zuzulassen, würde die Türe zu vielen Dingen öffnen, die mit dem kirchlichen Christentum unvereinbar sind. Und so ist uns die absurde Lehre geblieben, dass eine Seele in einem bestimmten Augenblick geschaffen wird und danach für ewig weiterexistiert. Sie überdauert zwar den Körper, kennt aber keine Präexistenz. Und die Lehre räumt uns eine Lebensdauer von circa 70 Jahren ein, die im Vergleich zum Meer der Ewigkeit, in dem wir uns befinden, zu einem Nichts wird.
Die christliche Lehre, so wie sie im Allgemeinen verkündet wird, gibt keine andere Erklärung für die Ungleichheiten und Unvollkommenheiten des menschlichen Lebens, als sie dem unerforschlichen Willen eines persönlichen Gottes zuzuschreiben. Das steht im Widerspruch zu dem Forschungsdrang und Durst nach Erkenntnis, den jeder freie Mensch besitzt. Sein angeborenes Gefühl für Gerechtigkeit lehnt sich dagegen auf, was er zu glauben gezwungen wird; sein Studium von der Natur verschafft ihm Einsicht in die Existenz von Gesetz und Ordnung, aber sein Religionsunterricht läuft dieser Auffassung zuwider anstatt sie zu bestätigen – was dem Gedanken Nahrung gibt, dass ihm seine Religion in verstümmelter Form überliefert wurde. Anstatt aus diesem Grund die Religion abzulehnen wäre es jedoch besser zu versuchen, den Schaden wieder gut zu machen und das Wahre vom Falschen zu unterscheiden.
Oft wird die Frage gestellt, ob Jesus selbst jemals die Reinkarnation lehrte. In seinem Buch Studies in Occult Philosophy schreibt Dr. G. de Purucker Folgendes darüber:
Ich wüsste nicht, dass es außerhalb der Evangelien eine Aufzeichnung gibt. Dort sind nur unbestimmte Anspielungen von rein mystischem Charakter zu finden, so wie die Frage des Nikodemus oder wie die Erklärung: „Dies ist der wiedergekommene Elias.“ Wir müssen immer an die allgemeine Tatsache der Geschichte denken, dass die Lehre der Reinkarnation in der einen oder anderen Form als Lehre bekannt war und von den Pharisäern in Judäa in der Zeit, in der Jesus vermutlich erschienen war, akzeptiert wurde. Sie war allgemein bekannt und wurde allgemein akzeptiert, tatsächlich in einem viel größeren Maße als heute in der Welt. …
Es gibt vier oder fünf solcher Anspielungen, aber keine direkten und spezifischen Erklärungen. Doch lautet die Frage: Lehrte Jesus die Reinkarnation?, dann ist die richtige Antwort: Ich bin vollkommen überzeugt, dass er es tat, denn die Reinkarnation war eine so allgemeine Lehre, und sie wurde zu seiner Zeit von den größten Denkern so vollständig akzeptiert, dass ein Mensch, der sie nicht akzeptiert hätte, als ein Mensch mit wenig Einsicht und Erziehung betrachtet worden wäre. Doch es gibt absolut keine authentische Aufzeichnung darüber, dass Jesus sie lehrte. Die Evangelien selbst wurden von Männern geschrieben, die irgendwann zwischen fünfzig und zweihundertfünfzig Jahre nach Jesu Tod lebten.
Reinkarnation war also eine der allgemeinen Glaubensüberzeugungen im Römischen Reich, das praktisch die ganze damalige zivilisierte europäische Welt außerhalb des Parthischen Reiches und des Orients einschloss. Das Römische Reich umfasste praktisch ganz Kleinasien und Ägypten, Italien, Griechenland, Gallien, Spanien, Teile Germaniens, den größten Teil Britanniens und kleine Teile Irlands. Alle germanischen Völker glaubten an Reinkarnation, alle keltischen Völker nahmen sie als eine Selbstverständlichkeit an. Sie war eine der druidischen Lehren, sie war eine der intellektuellen Grundüberzeugungen jener Zeit.
– S. 547, 548
Heute wird die Lehre über Reinkarnation von sehr vielen – auch im Westen – akzeptiert und sogar in kirchlichen Kreisen ist sie ein Gesprächsthema. Viele von ihnen bekennen sich öffentlich zu Reinkarnation und sehen darin keinen Widerspruch zu den Lehren Jesu. Diese Entwicklung gibt Anlass zu der Hoffnung, dass sich die Idee verbreiten wird und dass Probleme unserer Zeit, mit denen die Menschen zu kämpfen haben und worüber die Meinungen auseinander gehen, in einem anderen Licht betrachtet werden können. Wenn man erkennt, dass der Mensch sowohl eine Prä- als auch ein Postexistenz hat und immer wieder inkarniert, wird man versuchen, Probleme wie Abtreibung, Euthanasie und ähnliche mehr von einem ganz anderen Standpunkt aus zu betrachten. Diese Möglichkeit besteht nicht, wenn der Mensch als ein bei der Geburt neu erschaffenes Wesen angesehen wird, das nur eine kurze Existenz auf Erden hat, um danach entweder gänzlich zu verschwinden oder für ewig in einem himmlichen Zustand zu verweilen.
Die Lehre von der Dreieinigkeit
Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist – drei Personen und doch nur ein Gott. Das ist die christliche Dreieinigkeit. Es hat einen erbitterten Kampf über das wahre Wesen dieses dreieinigen Gottes und das wahre Wesen der Beziehung der drei Personen zueinander gegeben. Während der römischen Zeit war die gesamte christliche Welt uneinig hinsichtlich der Frage, ob der Sohn im Wesen mit dem Vater eins oder ihm ähnlich ist. Ist der Sohn ebenso ewig wie der Vater, oder ging er aus ihm hervor? Die streitenden Parteien werden oft beschuldigt, um Nichtigkeiten ein großes Aufheben zu machen. Aber das ist nicht gerecht, weil sehr kleine Details in der Symbolik oft von großer Bedeutung sein können. Dieser Glaubensunterschied war das Unterscheidungsmerkmal zweier Gruppen von Christen, die sich im Allgemeinen feindselig gegenüber standen.
Warum wurde die Gottheit als dreieinig dargestellt? Die Lehre ist im Neuen Testament nicht in formeller Form niedergelegt. Sie wurde von kirchlichen Konzilien erstellt, die der Lehre eine Form gaben. Die gewählten Worte sind nicht biblisch. Sobald die Lehre formuliert war, konnte sie verteidigt werden, indem man auf das Neue Testament verwies.
Es ist eine Tatsache, dass eine dreieinige Gottheit an der Spitze aller Theogonien und Kosmogonien gefunden werden kann; und im Allgemeinen beginnen philosophische Systeme mit etwas Ähnlichem. Gleich zu Beginn der Bibel wird sie als der Geist Gottes dargestellt, der über den Wassern des Raumes oder Chaos schwebt und das Universum hervorbringt. Das ist die große schöpferische Dreieinigkeit an der Spitze der Kosmogonien: ein universaler Geist, der Vater von allem; dann kommt das Chaos oder die Große Tiefe oder die Wasser des Raumes, welche oft die Große Mutter genannt werden. Aus diesen beiden geht der Sohn hervor, der das Universum darstellt. Diese philosophische Dreieinigkeit, die tatsächlich eine logische Notwendigkeit ist, wurde natürlich von der Kirche übernommen; dies brachte sie in Harmonie mit allen anderen Religionen und Philosophien, ganz besonders mit dem griechischen Denken und den verschiedenen orientalischen Systemen, die es in Kleinasien gab. Die Personen dieser Dreieinigkeit konnten dann leicht im Neuen Testament gefunden werden, denn Jesus spricht oft über den Vater und den Sohn und über den Heiligen Geist, den er senden wird. Aber diese Dreieinigkeit ist unvollkommen, denn es gibt zwar einen Vater und einen Sohn, aber keine Mutter. In der Kirche wird dies durch die Jungfrau ergänzt, auch wenn sie kein Teil der Dreieinigkeit ist. Die Jungfrau ist der Magna Mater oder Großen Mutter entlehnt, die in vielen asiatischen Religionen, die in Teilen des römischen Reiches vorherrschten, so sehr verehrt wurde. Tatsächlich gibt es immer eine Große Mutter, die als die Gemahlin des Vaters gesehen wird, sei es Hera, die Gemahlin des Zeus, Juno, die Gemahlin des Jupiter, Isis, die Gemahlin des Osiris und Mutter des Horus oder wer auch immer.
Im gewöhnlichen christlichen Glauben sind der Vater und der Sohn personifiziert, und der Heilige Geist ist ein ziemlich vager Begriff. Was man Inspiration nennt, ist in vielen Fällen nur rein emotionale Verzückung, mit ziemlich katastrophalen Auswirkungen. Es hat jedoch immer christliche Mystiker gegeben, die eine höhere Form der Inspiration verwirklicht haben. Wir sind uns bewusst, dass manche Leser hier auf den edlen Charakter und erhabenen Lebensstil von vielen hingebungsvollen und ernsthaften Christen hinweisen wollen, aber wir würden das gerne dem inneren Adel der menschlichen Natur zuschreiben, der diese Menschen befähigt, den wahren Geist ihrer Religion trotz deren Mängel in sich aufzunehmen. Mit einem besseren Verständnis des Christentums gäbe es mehr solche Menschen.
Das Kreuz
Er trug sein Kreuz und ging hinaus zur sogenannten Schädelhöhe, die auf Hebräisch Golgota heißt. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere, auf jeder Seite einen, in der Mitte Jesus.
– Johannes 19, 17-18
Denn das Wort des Kreuzes ist denen, die verloren gehen, Torheit; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft.
– 1 Korinther 1, 18
Darauf sagte Jesus zu seinen Jüngern: Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.
– Matthäus 16, 24
Das sind typische Beispiele für die Anwendung des Wortes ‘Kreuz’ im Neuen Testament; es stellt den Balken dar, der bei der Kreuzigung verwendet wurde, oder die christliche Lehre oder eine Last oder ein Opfer. Dieses heilige Symbol des Christentums ist eine bleibende Erinnerung an die wichtigste Lehre, dass Christus für unsere Sünden starb, wodurch wir gerettet wurden. Wir verwenden es auch für die Mühen, die wir auf uns nehmen, wenn wir unseren persönlichen Willen unserem Glauben opfern.
Das Kreuz ist jedoch ein universales religiöses und philosophisches Symbol. Wir begegnen ihm zum Beispiel in Mexiko, Indien und Tibet. In der ägyptischen und hinduistischen Symbolik ist es ebenfalls allgemein bekannt. Das Kreuz ist ein Symbol, das in den heiligen Mysterien des alten Griechenland Verwendung fand. Dr. Lundy erklärt in seinem Buch Monumental Christianity, dass ‘selbst die Juden dieses Zeichen der Rettung anerkannten, bis sie Christus verwarfen’. Und er spricht von einer antiken hinduistischen Statue, einer menschlichen Figur an einem Kreuz, mit Nagelnarben an Händen und Füßen – tatsächlich ein prächristliches Kruzifix.
Die Theosophie zeigt, dass die Lehren der Alten Weisheit in einer universalen symbolischen Sprache bewahrt wurden, welche die wichtigsten Lehren überlieferte. Und das Kreuz ist eines dieser Symbole. Das ist der Grund, weshalb man ihm überall begegnet. Die Sonne, der Mond und das Kreuz bilden eine Dreieinigkeit von Symbolen, die jeweils den Vater, die Mutter und den Sohn andeuten; kosmischer Geist, kosmischer Stoff und das Universum, welches durch die Wechselwirkung von Vater-Mutter geboren wird. Im Falle des Menschen, der eine Kopie des Universums im Kleinen ist, deutet das Kreuz auf das hin, was Johannes das Fleisch gewordene Wort nennt – den Sohn, den Christus, der in jedem Menschen ist und den spirituellen Teil seiner Natur bildet.
Um die Idee, weshalb dieses Symbol gewählt wurde, vollständig zu erklären, müssten wir tiefer darauf eingehen, als es hier möglich ist. Wir können jedoch sehr wohl sagen, dass die zwei Linien des Kreuzes (ganz besonders denken wir hier an das griechische Kreuz, mit vier Armen gleicher Länge) Geist und Stoff darstellen und dass die Kreuzung dieser beiden Linien die Vereinigung oder Wechselwirkung beider Elemente bedeutet, um das geoffenbarte Universum zu bilden. Die spirituelle Monade des Menschen wurde gekreuzigt – hervorgerufen durch den Aufenthalt in einem animalischen Körper, mit dem er ein Kreuz formt – dieser Kreuzigung folgt mit Sicherheit eine Wiederauferstehung.
Dazu ist noch zu bemerken, dass eine wirkliche Kreuzigungszeremonie für Einweihungskandidaten in die heiligen Mysterien stattfand. In manchen Teilen des römischen Reiches bestanden diese noch in der christlichen Ära. Die Kandidaten wurden in einem bestimmten Stadium ihrer Einweihung an ein Kreuz oder an eine kreuzförmige Bank gebunden, wo sie zwei Tage in Trance liegen blieben, während ihre befreite Seele unerlässliche Erfahrungen durchlebte und am dritten Tag wieder zum Leben erwachte. Es ist möglich, dass die Überlieferung in den Evangelien darauf basiert. Wie dem auch sei, die Christen haben das Kreuz übernommen und es später als ihr Symbol gewählt. Die beiden anderen – Sonne und Mond – findet man in den Symbolen Japans und im Islam.
Aber diese Bedeutung des Kreuzes hat man mit jenem Kreuz verwechselt, das im alten Rom zur Vollstreckung der Todesstrafe verwendet wurde – einem Marterpfahl, meistens mit einem Querbalken an der Spitze, an dem der Verbrecher festgemacht wurde. Ob es tatsächlich einen Lehrer gegeben hat, der nach einem sehr kurzen Auftritt gefangen genommen, verurteilt und in dieser Weise hingerichtet wurde, ist zu bezweifeln. Es gibt kein einziges historisches Zeugnis, das dies bestätigen würde.
Die Kreuzigung Christi ist der symbolische Name für eine der wichtigsten Lehren der Alten Weisheit, wurde jedoch in eine Erzählung über die tatsächliche Kreuzigung Jesu durch Pontius Pilatus unter der Regierung von Tiberius materialisiert. Kritiker, die an der Authentizität dieser Überlieferung zweifeln oder – wenn die Geschichte authentisch ist – an deren Bedeutung, sind mit ihren Bedenken zu weit gegangen, indem sie das Christentum selbst oder manchmal sogar alle Religionen verwarfen. Das beweist, wie wichtig es ist, das Wahre vom Falschen zu trennen und Vorsorge zu treffen, dass spirituelle Wahrheiten, die in symbolische Sprache gekleidet sind, nicht buchstäblich und auf materialistische Weise interpretiert werden.
Das Zeichen des Kreuzes ist ein heiliges Symbol geworden, ein Zeichen, das seinen Wert in einer Kombination von Ideen findet. Fromme und mystische Menschen verwenden es als ein wirksames Mittel zur Anrufung geistiger Hilfe, obschon es manchmal auch als Kriegsbanner diente. All dem kann noch hinzugefügt werden, dass das Kreuz ein besseres Symbol ist, wenn es innerhalb eines Kreises gezeichnet wird oder an den oberen Balken ein Kreis angefügt wird. Der Kreis steht für den Geist, das Kreuz allein hingegen bedeutet das Materielle. Das kann als charakteristisch für die durch das Christentum dominierten Zeiten betrachtet werden. Diese sind – wie bereits weiter oben dargestellt – von einer buchstäblichen Interpretation mystischer Symbole gekennzeichnet.
Die Mysterien
Im alten Griechenland gab es die Mysterien von Eleusis und andere, weniger bekannte Mysterienschulen, in denen Kandidaten zur Initiation aufgenommen wurden. Solche Schulen gab es auch in Ägypten, Indien und verschiedenen anderen Ländern. Man hat festgestellt, dass zwischen den Schulen in verschiedenen Städten Beziehungen unterhalten wurden und dass sie eine einheitliche Lehre vermittelten. Das war die Geheimlehre oder die Weisheitsreligion, deren moderner Vertreter die Theosophie ist. Da der Mensch essenziell göttlich und durch die Evolution ein direkter Nachkomme göttlicher Wesen ist, hat er die Fähigkeit, die latenten spirituellen Kräfte in sich zu erwecken. Dies nennt man den Pfad der Weisheit und er ist eigentlich im wahren Sinne des Wortes die Erlösung. Die Evangelien enthalten ausreichende Hinweise, dass der Lehrer, dessen Worte dort zum Ausdruck gebracht werden, sich der Existenz dieses Pfades bewusst war. Er wollte, dass seine Jünger diesem folgen und nennt ihn das Königreich Gottes. Es wird auch berichtet, dass er neben dem, was er die Menge lehrte, im Verborgenen zu seinen Jüngern sprach.
In Ägypten und Teilen Asiens existierten in der christlichen Ära noch einzelne dieser Mysterienschulen, und ihr Einfluss zeigt sich deutlich in den Lehren der Gnostiker, der Neuplatoniker und anderer, mit denen zusammen sich das Christentum entwickelte. Der Prozess der Auswahl und des Sammelns, der in den kanonischen Evangelien resultierte, führte dazu, dass einige Auszüge aus diesen Lehren dem Lehrer – genannt Jesus – in den Mund gelegt wurden.
Paulus, der seine Briefe anscheinend vor der Geschichte der Evangelien abgefasst hatte, interpretiert die christlichen Lehren wesentlich esoterischer. Der Art seiner Sprache nach zu urteilen war er selbst initiiert, wenigstens in einem gewissen Grad; aber es ist deutlich, dass er seine Lehren dem beschränkten Fassungsvermögen seiner verschiedenen Zuhörer anpassen musste und sich oft der Bildersprache bediente, deren wahre Bedeutung nur von wenigen verstanden werden konnte.
Die Wiederkehr Christi
Aus den Erzählungen der Evangelien und aus dem, was die Geschichte uns berichtet, können wir schließen, dass sehr viele der ersten Christen sehr zuversichtlich glaubten, Christus würde wirklich physisch wiederkehren – und zwar recht bald, um das Böse zu vernichten und ein Reich der Gerechten auf Erden zu gründen. Dieser Gedanke war mit dem Verfall des römischen Reiches verbunden, welches als die böse Gesellschaft galt, die Christus umstürzen sollte, und es ist kein Wunder, dass diese Christen die Missgunst der römischen Herrscher erregten.
Auch die Juden, aus denen so viele Christen hervorgingen und deren Einfluss auf die christlichen Ideen groß war, hatten ihre eigenen Prophezeiungen über die Wiederkehr des einen oder anderen ihrer eigenen Propheten als der ‘Messias’; und dieser Gedanke hat offenbar viel zu dem Glauben an die Wiederkehr Christi beigetragen. Einige Bibelkritiker sind davon überzeugt, dass Jesus selbst, jedenfalls zu einer bestimmten Zeit, daran glaubte. Wir müssen aber im Auge behalten, dass die uns überlieferten Evangelien zum größten Teil angepasst sind.
Ein ziemlich unbestrittenes Beispiel dafür kann im Evangelium nach Matthäus 24, 3 gefunden werden, das in der Authorisierten Fassung ziemlich falsch aus dem Griechischen übersetzt wurde. In der von einer Gruppe von Theologen und Schülern im Jahre 1881 angefertigten Überarbeiteten Fassung wurde es jedoch richtig übersetzt. Ein Vergleich der beiden Auslegungen zeigt, dass die früheren Übersetzer das griechische Original in eine Bestätigung ihrer Ansichten über die Rückkehr verdrehten. Die Abschnitte lesen sich wie folgt:
Authorisierte Fassung: Als er auf dem Ölberg saß, wandten sich die Jünger, die mit ihm allein waren, an ihn und fragten: Sag uns, wann wird das geschehen, und was ist das Zeichen für deine Ankunft und das Ende der Welt?
Überarbeitete Fassung: … das Zeichen Deiner Gegenwart und für die Vollendung der Zeitalter?
Wir haben hier eine Anspielung auf die Lehre von den Zyklen, von der Aufeinanderfolge der großen Wurzelrassen. Die ‘Vollendung der Welt’ findet statt, wenn die heutige Wurzelrasse ihren Zyklus vollendet hat. Die Menschheit wird sich teilen: in diejenigen, die weit genug fortgeschritten sind, um den Kern der folgenden großen Rasse zu bilden, und diejenigen, die zurückbleiben. Symbolisch wird das in der Allegorie von der Sintflut und der Arche dargestellt. Die Zivilisation einer Rasse geht unter, die Samen bleiben erhalten. Jesus sagt in seiner Antwort, dass das Ende noch nicht da ist, dass Kriege kommen werden und dass es viele falsche Propheten geben werde. Die Wiederkunft Christi bedeutet, dass der Christosgeist aufs Neue in der Menschheit oder in all denjenigen, die ihn empfangen können, erweckt wird.
Unter den Christen von heute, die noch immer eine tatsächliche physische Wiederkunft Christi erwarten, sind die Adventisten; es gibt auch Christen, welche die Bücher von Daniel, Ezechiel und die Offenbarung in diesem Sinne erklären. Doch obwohl diese Prophezeiungen mit großen zyklischen Veränderungen verbunden sind und obwohl die Adventisten sich solcher bevorstehender Veränderungen intuitiv bewusst sind, sind ihre Interpretationen zu buchstäblich und zu materialistisch.
Die Goldene Regel
Diese Regel wird oft als typisch für das Christentum bezeichnet, aber es ist bekannt, dass sie in allen anderen Religionen vorkommt. Um hier einige Beispiel anzuführen, wo wir überall auf diese Regel stoßen, möchten wir einige Zitatstellen aus James Alan Longs Buch Bewusstsein ohne Grenzen anführen:
Indianer Amerikas – Großer Geist, gewähre, dass ich meinen Nächsten nicht kritisiere, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins zurückgelegt habe.
Buddhismus – Auf fünffache Weise sollte ein Sippenangehöriger seinen Freunden und Verwandten dienen – durch Großzügigkeit, Höflichkeit, Wohlwollen, indem er sie so behandelt, wie sich selbst und indem er treu zu seinem Wort steht.
Christentum – Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das sollt ihr ihnen tun, denn das ist das Gesetz und die Propheten.
Konfuzianismus – „Gibt es ein einzelnes Wort“, fragte Tsu kung, „das für das ganze Leben als eine gültige Regel angenommen werden kann?“ Der Meister antwortete: „Heißt dieses Wort nicht Sympathie? Füge anderen nicht zu, was du selbst nicht lieben würdest.“
Griechische Philosophie – Füge anderen nicht zu, was du selbst nicht erleiden möchtest.
– ISOCRATES
Behandle deine Freunde so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest.
– ARISTOTELES
Hinduismus – Benimm dich gegen andere nicht in der Weise, die dir selbst widerwärtig ist. Das ist die Essenz der Pflicht (Dharma). Alles andere entstammt egoistischem Verlangen.
Islam – Keiner von euch ist gläubig, ehe er nicht für seinen Bruder schätzt, was er für sich selbst schätzt.
Judentum – Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Zoroastrismus – Nur jenes Wesen ist gut, das einem anderen nichts zufügt, was ihm selbst schaden würde.
Für einen Theosophen ist die Goldene Regel mehr als ein rein moralisches Gebot. Sie ist ein notwendiges Gesetz der menschlichen Natur. Denn der Mensch, der essenziell göttlich ist, hat sich von seiner eigenen inneren Natur entfernt und muss sie wieder zurückgewinnen. Sein größtes Hindernis ist Selbstliebe; deshalb kann er sein verlorenes Königreich nur zurückgewinnen, indem er diese Eigenliebe überwindet. Er muss lernen, unpersönlich zu handeln. Damit wird deutlich, dass Gedanken an den eigenen Fortschritt, an das Erwerben okkulter Kräfte für sich selbst oder sogar der Wunsch nach Spiritualität niemals ausreichen. Denn wenn wir solchen Wünschen nachgeben, stärken wir nur den Feind, den wir besiegen wollen. Eine schwache Persönlichkeit durch eine stärkere zu ersetzen, kann nicht die Antwort sein. Ein großer Teil unseres täglichen Lebens wird von Handlungen in Anspruch genommen, bei denen von Eigenliebe nicht die Rede ist – selbstlose Verrichtungen, die von einem aufrichtigen Wunsch geleitet werden, jemand anderen zu dienen.
Vielleicht haben wir erlebt, wie wir einem anderen durch die eine oder andere egoistische Tat Leid zugefügt haben. Wir haben uns in einem Gefühl der Reue vorgenommen, so etwas in Zukunft nicht wieder zu tun. Diese Entscheidung entsprang keinem eigennützigen Gedanken, sondern ausschließlich dem Wunsch, anderen kein Unrecht mehr anzutun.
Das Motiv, das in diesen Fällen wirkt, ist Liebe – keine Liebe, die mit Leidenschaft verbunden ist, sondern reine, unpersönliche Liebe. Sie ist eine kosmische Kraft. Sie wirkt auch in der Tierwelt, denn das, was wir so herabsetzend ‘Instinkt’ nennen, ist tatsächlich die reine und einfache Manifestation einer großen kosmischen Kraft, die das Tier dazu bringt, sich für seine Jungen aufzuopfern und den Hund dazu, ohne Zögern für seinen Herrn zu sterben. Der Lehrer aus den Evangelien achtet das Einfache – die Vögel, die anderen Tiere, die Lilien auf dem Felde und die Kinder. Auch wir fühlen uns oft dazu geneigt, wenn wir Erfahrungen mit menschlichem Egoismus gemacht haben.
Wenn also der Lehrer die Goldene Regel verkündet, weist er für diejenigen, die danach streben, die wahre Bestimmung des Menschen zu erfüllen, auf das Gesetz des spirituellen Lebens hin, auf das himmlische Königreich, das Harmonie ist und nicht Streit. Es ist ein Pfad, den der Mensch immer betreten kann und dem die gesamte Menschheit einmal folgen muss, selbst wenn es immer Menschen geben wird, die dieses Ideal nicht erreichen, in einem Zyklus ihre Gelegenheit versäumen und auf die nächste Chance zu Fortschritt warten müssen. Es wird behauptet, die Bergpredigt wäre nicht anwendbar und hätte die Auflösung der Gesellschaft zur Folge. Sie hält uns jedoch ein Ideal vor Augen, und es ist gerade der Besitz eines solchen Ideals, der verhindert, dass der Mensch unter der Last seiner Probleme zusammenbricht. Wenn wir damit anfangen, unsere eigenen Angelegenheiten zu ordnen, erwerben wir vielleicht für uns die Vision und die Kraft, die für eine Umgestaltung der Gesellschaft nötig sind.
Die Goldene Regel zeigt uns den Weg zur Verwirklichung der Einheit aller Lebewesen. Und das wird hauptsächlich in dem Gebot zum Ausdruck gebracht, dass wir unseren Nächsten verzeihen müssen. Wenn dies allerdings nur bedeutet, dass wir unseren Ärger ihm gegenüber unterdrücken und uns auch weiterhin als sein Opfer betrachten, haben wir die wahre Gesinnung der Vergebung noch nicht erreicht. In einem größeren Lebensbild – das wir erstreben und auf dessen Weg uns der Lehrer hinweist – werden wir entdecken, dass unser Nächster tatsächlich ein Teil unseres eigenen Selbst ist. Dann werden alle Gefühle von Ablehnung oder Kampf absurd. In der Finsternis, in der wir uns jetzt befinden, haben wir zu Unrecht die Einheit in zwei Teile gespalten, wobei sich immer einer davon benachteiligt fühlt. Die eigentliche Gesinnung des Vergebens besteht in der Aufhebung dieser Illusion.
Diese Regel ist die wichtigste Vorschrift für den Schüler in jeder Religion oder Philosophie, welche die Selbstverwirklichung als Ziel hat und den Aspiranten auf den Pfad von Weisheit und Wachstum hinweist. Es kann auch nicht anders sein, denn es ist Selbstsucht, die den Menschen an die Illusionen und Frustrationen des irdischen Lebens bindet. Um dem zu entkommen, ist es nötig, zugunsten eines höheren Gesetzes von der Selbstsucht Abstand zu nehmen. Es ist vielleicht angebracht hinzuzufügen, dass die strikte Befolgung eines Gesetzes – wie zum Beispiel die Bergpredigt – von einem Durchschnittsmenschen zu viel fordert. Aber auch wenn wir vielleicht die hohen Gipfel den wenigen überlassen müssen, die stark genug sind, um sie zu erklimmen, steht jeder Mensch jeden Augenblick vor der Wahl zwischen selbstsüchtigem und selbstlosem Verhalten. Er muss sich entscheiden. Wenn er das Ideal vor Augen hat und den Sinn dahinter erkennt, wird er imstande sein, die richtige Wahl zu treffen. Damit bereitet er sich auf die Zukunft vor. Denn für jeden muss einmal der Tag kommen, an dem ein Ausweichen nicht länger möglich ist und er sich endgültig entschließen muss, welchen Weg er einschlagen wird. Niemals war die Ausübung von Selbstlosigkeit notwendiger als heute; und die Menschen würden Selbstlosigkeit leichter erreichen, wären sie nicht von materialistischen Formen von Religion und Wissenschaft behindert, die den niederen Aspekt der menschlichen Natur betonen. Religion und Wissenschaft sind sich noch kaum der Tatsache bewusst, dass jeder Mensch in seinem eigenen tiefsten Wesen alle Möglichkeiten besitzt, um über das kleine Menschliche zum wahrhaftig Menschlichen hinauszuwachsen und – wenn er den Weg beschreiten will – zum Göttlichen.
Der innewohnende Christus
Damit ist jener Christus gemeint, der in jedem menschlichen Herzen wohnt, nicht der Mann Christus, der angeblich gekreuzigt wurde. Die Lehre des immanenten Christus wird in den Evangelien und in den Briefen des Paulus gelehrt. Sie kann also von allen Suchenden in der Bibel gefunden werden. Diejenigen, welche die vermenschlichte kirchliche Lehre der Kreuzigung eines bestimmten Menschen vorziehen, können die biblischen Lehren nur in einem bildlichen Sinne auffassen. Trotzdem wäre es falsch, das Christentum nach seinen gröbsten Formen zu beurteilen. Viele aufgeklärte und freidenkende Geistliche akzeptieren diese Lehre des innewohnenden Christus. Viele hingebungsvolle Christen nähern sich diesem Gedankenbild mehr oder weniger. Für viele bedeutet das Leben Christi, wie es in den Evangelien beschrieben wird, ein Ideal und ein Muster, nach dem sie ihr Leben zu gestalten versuchen. Heilige und Mystiker haben sich diesem Gedankenbild durch Nachsinnen über dieses Ideal bis zu einem gewissen Grad angenähert. Aber das ist nicht genug. Noch zu oft herrscht der Gedanke vor, dass der Mensch schwach ist, in Sünde geboren, und dass er auf die Erlösung nach dem Tod wartet. Für sie wäre der Versuch, Christus nachzufolgen, eine Anmaßung ihm gegenüber. Ursprünglich jedoch ist Christus der Göttlichen Geist, der im Herzen unseres Wesens wohnt – der Christus, der geopfert und begraben ist und in uns wieder auferstehen soll. Bestimmte große Lehrer können in gewissem Sinne Christusse genannt werden, weil sie einen Zustand der Selbstverwirklichung erreicht haben, von dem bei der Mehrheit überhaupt noch keine Rede ist. Aber sie stellen sich nicht als der einzige Sohn Gottes dar, sondern führen uns durch ihr Leben ein Beispiel vor Augen, dem wir nachfolgen können. Wir alle sind Söhne Gottes, so wie Jesus das war; und wir können tatsächlich erreichen, was er erreichte, so wie er es verspricht:
Amen, amen, ich sage euch: Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich vollbringe, auch vollbringen, und er wird noch größere vollbringen, denn ich gehe zum Vater.
– Johannes 14, 12
Dieser immanente Christus wird der ‘Sohn’ genannt und der göttliche Geist oder ‘Vater’.
… niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will.
– Matthäus 11, 27
An dieser Stelle wollen wir ein Zitat aus The Esoteric Character of the Gospels [Collected Writings, Band viii, S. 172-217] von H. P. Blavatsky anführen:
Der erste Schlüssel, den man braucht, um die dunklen Geheimnisse zu entwirren, welche in dem mystischen Namen Christus stecken, ist der Schlüssel, der die Tür zu den alten Mysterien der frühen Āryaner, Sabäer und Ägypter erschloss. Die Gnosis, die durch das christliche Schema verdrängt wurde, war universal. Sie war das Echo der ursprünglichen Weisheitsreligion, die einst das Erbe der ganzen Menschheit gewesen war; und darum kann man mit Recht sagen, dass der Christus-Geist (der göttliche Logos) in seinem rein metaphysischen Aspekt von ihren Anfängen an in der Menschheit gegenwärtig war. Der Verfasser der Homilien des Clemens hat recht. Das Christus-Mysterium, von dem man jetzt annimmt, dass Jesus von Nazareth es gelehrt habe, „war identisch“ mit dem, was von Anfang an „denjenigen, die würdig waren, mitgeteilt wurde“, … .
… und die Worte wenden sich an diejenigen, welche, ohne Eingeweihte zu sein, danach streben und es durch persönliche Anstrengungen erreichen, das Leben zu leben und die sich daraus naturgemäß ergebende spirituelle Erleuchtung erhalten, indem sie ihre Persönlichkeit – den ‘Sohn’ – mit dem ‘Vater’ vereinigen, ihrem individuellen göttlichen Geist, dem Gott in ihnen.
Dazu ein Vergleich mit der Bibel selbst:
Wisst ihr denn nicht, dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben. Wenn wir nämlich ihm gleich geworden sind in seinem Tod, dann werden wir mit ihm auch in seiner Auferstehung vereinigt sein. Wir wissen doch: Unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt, damit der von der Sünde beherrschte Leib vernichtet werde und wir nicht Sklaven der Sünde bleiben. Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde. Sind wir nun mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden.
– Römer 6, 3-8
Der Erste Mensch stammt von der Erde und ist Erde; der Zweite Mensch stammt vom Himmel.
– Korinther 15, 47
Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden.
– Korinther 15, 22
Adam bedeutet im Hebräischen ‘irdisch’ und stellt die irdische Natur des Menschen dar; aber man hat die Allegorie buchstäblich aufgefasst und einen Menschen daraus gemacht. Paulus wendet das Wort aber hier in der richtigen symbolischen Bedeutung an. Demgegenüber steht der himmliche Mensch – Christus –, der spirituelle Teil der menschlichen Natur. Der eine ist sterblich, der andere unsterblich. Aber bezieht sich das auf einen Zustand der Vollendung nach dem Tod? Keineswegs, denn gemäß dieser Lehre können wir ihn erreichen, während wir auf Erden sind. Die Erde ist der Ort, wo der Mensch arbeitet; hier lernt er seine Lektionen und muss die irdischen Kräfte besiegen. Den Zustand, in welchem wir das erreicht haben und aufhören, in unserer irdischen Natur tot zu sein und mit Christus lebendig werden, nennt man die zweite Geburt.
Im Evangelium nach Matthäus (3, 11) sagt Johannes der Täufer:
Ich taufe euch nur mit Wasser (zum Zeichen) der Umkehr. Der aber, der nach mir kommt, ist stärker als ich, und ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe auszuziehen. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen.
Wenden wir uns jetzt zu Johannes, wo ein Rabbiner insgeheim zu Jesus kommt und fragt, was mit der Redensart gemeint ist, dass ein Mensch aufs Neue geboren werden muss, und folgende Antwort bekommt:
Jesus antwortet ihm: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.
– Johannes 3, 3
Kann jemand dann zum zweiten Male in den Mutterschoß eingehen, fragt Nicodemus; und er bekommt zur Antwort:
Jesus antwortet: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist.
– Johannes 3, 5-6
Es hat keinen Sinn, dieses kleine Buch mit Zitaten zu überfrachten, denn die vielen Hinweise auf das Königreich Gottes (oder des Himmels) sind genügend bekannt. Es ist klar, dass dieser Ausdruck auf einen Zustand zielt, der für den Menschen während seines Aufenthalts auf Erden erreichbar ist, und dass die Redensarten in den Evangelien, wo sie ursprünglich herkommen, Aussagen eines Lehrers der Alten Weisheit sind. Sie wurden so zurechtgebogen, als würden sie sich auf einen segensreichen Zustand nach dem Tod beziehen, was viele Menschen nicht sehr anspricht und nicht in das allgemeine Schema passt, welches wir aus unserer Kenntnis über die Natur und das Leben ableiten.
Fußnoten
1. Origenes lehrte unter anderem, dass das ganze Universum lebt, dass sogar die Sterne Lebewesen sind und eine Seele besitzen. Weiter sagte er, dass verkörperte Seelen sowohl eine Prä- als auch eine Postexistenz haben müssen. Die Seelen haben vor der Geburt gelebt, werden aufs Neue leben und sich in verschiedenen Völkern verkörpern. So wie er sich ausdrückte, werden sie das eine Mal ein Ägypter, ein anderes Mal ein Jude sein. Diese Auffassungen von Origenes, nebst einer Anzahl anderer, wurden bei der Synode von Konstantinopel für ketzerisch erklärt. [back]
Band 5: Evolution
H. T. Edge
Die Evolution des Menschen
- Die Bedeutung des Wortes ‘Mensch’
- Das Selbstbewusstsein
- Der Standpunkt der Wissenschaft
- Der Mensch ist der ursprünglichste Stamm
- Der Mensch stammt – vom Menschen ab
- Der Mensch und die Affen
- Die spirituelle Triebkraft hinter der Evolution
Die Bedeutung des Wortes ‘Mensch’
Zunächst einmal sollten wir definieren, was wir unter dem Wort ‘Mensch’ verstehen. Wenn auch die wissenschaftlichen Evolutionisten mit ihren Theorien bezüglich der Evolution des menschlichen Körpers Recht haben sollten, würden sie dennoch über den Ursprung der menschlichen Intelligenz und der menschlichen Seele – mit einem Wort: den Ursprung des Menschen selbst – vollkommen im Dunkeln tappen. Das ist der Gedanke, der bei den Anti-Evolutionisten so lebendig ist – wie unzureichend auch immer sie ihre Bedenken in Worte fassen können. Sie sind sich bewusst, dass sie sich durch die Annahme des wissenschaftlichen Standpunkts der animalistisch-materialistischen Betrachtungsweise der menschlichen Natur ausliefern würden. Die Wissenschaftler ihrerseits können dann wieder entgegenhalten, dass dieser Aspekt der Angelegenheit sie nichts angeht und dass sie lediglich die materiellen Fakten studieren. Es ist aber eine Tatsache, dass ein so materialistischer und mechanistischer Standpunkt das Denken beeinflusst und einen pessimistischen Blick auf die menschliche Natur unterstützt. Viele sehen in der Wissenschaft eine Art Religion – eine Religion, welche die Gottheit leugnet oder zumindest negiert; eine Religion, die den Menschen, was seine Abstammung betrifft, ins Tierreich verweist. Selbst das tierische Bewusstsein oder die Intelligenz, die eine Pflanze ihrer Art und Funktion entsprechend wachsen lässt, kann nicht als mechanistisches oder chemisches Produkt interpretiert werden. Noch viel weniger kann das in Bezug auf den Geist des Menschen der Fall sein. Wir wollen nach innen schauen und versuchen, die Tiefen unseres eigenen wunderbaren Bewusstseins zu ergründen. Wenn es aus der Materie hervorkommt, müsste die Materie Gott sein. Gleiches bringt Gleiches hervor; und Flüsse können nicht höher fließen als ihre Quelle. Unser Bewusstsein ist ein Teil eines Bewusstseins-Meeres, unser Denken ein kleines Lichtbündel; und unser physischer Organismus kann nicht mehr sein als die Leinwand, auf die das Licht projiziert wird.
Die Theosophie beschäftigt sich mit der Wirklichkeit. Und was ist wirklicher als unsere eigene bewusste Existenz? Wir können uns als Ausgangspunkt nichts Wesentlicheres vorstellen, als unser eigenes Bewusstsein. Die Evolution des Geistes verläuft in der der Materie entgegengesetzten Richtung. Beim Zusammentreffen dieser beiden wird das Denkvermögen gebildet. Genaugenommen ist der Mensch das Resultat zweier zusammenfließender evolutionärer Entwicklungen: der des Geistes und der der Materie. Das gesamte manifestierte Universum ist durch die Vereinigung von Geist und Materie gebildet, durch kosmisches Leben und Bewusstsein, die sich Vehikel aufbauen, um sich selbst zum Ausdruck zu bringen. Wie gesagt, es wäre besser von der Involution des Geistes in die Materie und der daraus entspringenden Evolution der Materie zu sprechen. Die Wissenschaft studiert die Evolution der Materie, nicht die Involution des Geistes. Außerdem versucht man beides als ein und denselben Prozess zu betrachten. Das Denkvermögen stellt man sich als ein Produkt der Evolution vom Tier- zum Menschenreich hin dar. Es ist der Geist, der die Entfaltung der Organismen verursacht; die Form verändert sich und passt sich den zunehmenden Fähigkeiten der innewohnenden Monade an. Wir können eine Analogie aus der Wissenschaft entlehnen: nämlich die Wirkung von Wärme, die verschiedene Veränderungen verursacht. Zum Beispiel wird Wasser zu Wasserdampf und weiter resultieren aus der Zufuhr von Wärme zahlreiche chemische Veränderungen. Wir erkennen hier, dass Wärme das unsichtbare Mittel ist, das sichtbare Veränderungen verursacht. Aber viele Biologen argumentieren, als wären die Veränderungen von selbst geschehen und Wärme ein Nebenprodukt dieses Prozesses. Da man von einem Wissenschaftler erwartet, dass er alle seine inneren Sinne verschließt und die Natur mit nüchternem Blick betrachtet, entgeht ihm möglicherweise der Bewusstseinsfunke im Auge des Tieres, den er als etwas, das mit ihm selbst verwandt ist, erkennen könnte.
Das Selbstbewusstsein
Der Mensch ist nicht das Endprodukt einer Reihe von Pflanzen- und Tierformen, denn es gibt eine ganz deutliche Kluft – die Kluft des Selbstbewusstseins, wie bereits vorher erwähnt. Der Mensch hat das Vermögen, sein eigenes Bewusstsein zu erforschen, und es liegt in seiner Macht, sich zu verändern, indem er seinen Willen und seine Vorstellungskraft einsetzt. Tiere besitzen diese Fähigkeiten nicht. Sie sind entweder da oder nicht, eine Zwischenform gibt es nicht. An dieser Stelle müssen wir jetzt eine unter Vorbehalt gemachte Aussage ergänzen, als wir nämlich sagten, der Mensch sei das Produkt einer dualen Evolution. Wir werden ihn jetzt als ein Produkt dreier verschiedener Evolutionslinien betrachten. Die dritte ist die Linie des selbstbewussten Denkens.
Gemäß den religiösen Kosmogonien, einschließlich der Bibel, wurde der Mensch ursprünglich aus dem Stoff der Erde geschaffen und zu einer lebenden Seele gemacht, das heißt einer animalischen Seele, in Übereinstimmung mit einer genauen Übersetzung aus dem Hebräischen. Später wurde diese Seele mit dem göttlichen Feuer begabt, so dass der Mensch nach Gottes Vorbild und Ebenbild geschaffen wurde. Das ist eine Universallehre, und es gibt nichts, worüber mehr Einstimmigkeit bestanden hätte, als über die duale Schöpfung des Menschen. Die Wissenschaft wird diese Wahrheit gewiss einmal bestätigen, auch wenn sie anstelle der biblischen eine eigene Terminologie benutzen wird.
Die Tatsachen lehren uns, dass Intelligenz in dem einen Menschen durch einen anderen Menschen geweckt wird. Ein Kind, das sich selbst überlassen bleibt, ist nicht imstande, seine Intelligenz zu entwickeln, sondern es würde zu einer Art instinktiv lebendem Wesen werden. Einige Beispiele dafür sind bekannt. Das Kind lernt von seinen Eltern und Erziehern durch Belehrung und Nachahmung, und später wird es in der Schule unterrichtet. Wichtige Veränderungen im Denken des Menschen wurden immer von großen Geistern in Gang gesetzt, von einzigartigen Denkern von Format, die Schüler anzogen, von denen sich die Woge auf das Denken der Massen übertrug. Das Licht wird immer weitergegeben werden. Tatsächlich ist in jedem Menschen Intelligenz latent vorhanden, aber sie bleibt latent, wenn sie nicht zum Leben erweckt wird. Die höchst entwickelten Tiere bleiben das, was sie sind, und sie zeigen nicht die Neigung, Intelligenz zu entwickeln. Welche Argumente könnten wir zur Unterstützung der Annahme vorbringen, dass das in der Vergangenheit anders gewesen sein sollte? Die Suche nach fossilen Überresten von Wesen, die in der Evolution zwischen dem Menschen und den Menschenaffen stehen, ist ohne Erfolg geblieben. Es ist wahrscheinlich, dass die Knochen von degenerierten menschlichen Wesen als Zwischenglied betrachtet werden können. Die Ähnlichkeit in der Struktur des Menschenaffen und des Menschen wirkt nach beiden Seiten und kann deshalb genausogut als Beweis für die Tatsache dienen, dass der Affe vom Menschen abstammt; es gibt Biologen, die der Meinung sind, dass das tatsächlich durch die Fakten bestätigt wird.
Der Mensch ist also das Produkt von drei Hauptlinien der Evolution. Die dritte Linie ist die der manasischen Evolution – das heißt die Evolution von Manas, dem selbstbewussten Denken. Es ist dieses selbstbewusste Denken, das den Menschen so deutlich von den höheren Tierarten unterscheidet und das kann nicht – wie bereits gesagt – die Folge von direkter Evolution des nicht selbstbewussten Tieres sein. Es ist eine Errungenschaft des Menschen in einem bestimmten Stadium seiner Evolution. Es gab eine Zeit, in der er das selbstbewusste Denken nicht besaß, und es kam eine Zeit, in der er es erwarb. Das erklärt den Unterschied zwischen den ehemaligen ‘gemütlosen’ Menschenrassen und den späteren ‘erwachten’ Rassen.
Dieses Ereignis wird in der Theosophie das Erscheinen der Mānasaputras genannt, was ‘Söhne des Denkens’ bedeutet. Sie waren göttliche Wesen, die selbst einst Menschen waren. Da sie jedoch der vorigen Runde des Evolutionszyklus angehören, haben sie das menschliche Stadium, wie wir es jetzt kennen, bereits durchlaufen. Von diesen Wesen empfing der Mensch seine spezielle Intelligenz. Man soll aber nicht denken, dass sie ihm das Denkvermögen schenkten, so wie man jemandem etwas gibt, was er noch nicht hat. Sie weckten in den gemütlosen Menschen sozusagen den latenten Samen des Selbstbewusstseins, der bereits in ihnen schlummerte. Wir müssen im Auge behalten, dass in jedem Wesen im Universum, wie niedrig es auch sein mag, die höchsten Möglichkeiten in latentem Zustand vorhanden sind, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft entfalten werden, wie weit entfernt der auch sein mag. Diese ‘Söhne des Denkens’ waren die Lehrmeister des Menschen – die Inspiratoren oder Heilande. Dieses Ereignis wird in vielen heiligen Schriften und Mythologien in allegorischer Sprache beschrieben, einschließlich der Genesis in unserer Bibel. Der interessierte Leser kann in der theosophischen Literatur über das Thema der Mānasaputras umfassendere Information erhalten.
Hier müssen wir uns auf das beschränken, was notwendig ist, um das gegebene Thema zu erklären. Es ist dieser manasische Teil des Menschen, der das unentbehrliche Glied zwischen Geist und Materie bildet. Wir müssen uns eine natürliche Evolution vorstellen, die unten anfängt und stets kompliziertere Formen hervorbringt, und eine spirituelle Evolution (oder besser gesagt Involution), die oben anfängt und eine abwärts strebende Richtung besitzt. Die spirituellen Wesen können nicht in tierischen Organismen inkarnieren, die von der niederen Evolution erzeugt werden, weil die Kluft zu groß ist. Es ist dieses dazwischen liegende Prinzip – Manas oder das selbstbewusste Denken, Intelligenz –, das die Kluft überbrückt und die Vereinigung des Spirituellen und Materiellen zustande bringt, wodurch der vollständige Mensch entsteht.
Jeder weiß aus eigener Erfahrung, dass mit dieser Methode tatsächlich Wissen von Mensch zu Mensch übertragen wird. Wir lernen alle durch den Kontakt mit anderen. Diese anderen geben uns nicht etwas, sondern sie wecken vielmehr unsere eigenen latenten Kräfte. Das ist Erziehung im wahrsten Sinne des Wortes, das heißt ‘Zum-Vorschein-Bringen’ – so wie Plato in seiner bekannten Geschichte zeigte, in der er einem ungebildeten Sklaven eine mathematische Wahrheit entlockte.
Auf die Frage, ob die heutigen Tiere jemals Menschen werden, muss die Antwort ja und nein lauten. Es ist nicht richtig zu behaupten, dass tierische Körper zu menschlichen Körpern evolvieren können oder dass Tiere auf dem Weg der allmählichen Transformation zu Menschen werden. Aber es ist wahr, dass die Monaden, die jetzt in tierischen Körpern wohnen, einmal ins Menschenreich übergehen und vom Feuer des Denkens erleuchtet sein werden. Das wird aber nicht im gegenwärtigen Evolutionszeitalter stattfinden; die Tür zum Menschenreich ist für diesen Zyklus geschlossen; und die jetzige Tierwelt wartet ihrerseits auf die zukünftige Evolutionsrunde.
Der Standpunkt der Wissenschaft
Der allgemeinen Auffassung gemäß entwickelte sich alles aus einem äußerst einfachen Beginn. Die Anzahl von Dingen, die wir als anwesend voraussetzen und als selbstverständlich annehmen müssen, ist ungeheuer groß. Aus dieser Auffassung folgt, dass das Atom mit seinen inhärenten Eigenschaften die Verantwortung für die Entstehung des Universums und die dazugehörenden Wesen trägt. Wir könnten es mit Fug und Recht das Allmächtige Atom nennen. Aber davon abgesehen ist die Bewegung, die beim Einfachen ihren Ursprung hat und zum Komplizierten führt, nur die eine Hälfte eines wahrnehmbaren Universalprozesses. Die zweite Hälfte ist die Bewegung, die vom Komplizierten zum Einfachen führt. Diese beiden Prozesse wirken gleichzeitig und kontinuierlich. Die Prozesse der kosmischen Evolution sind sehr zahlreich und mannigfaltig, und der ganze Plan ist unendlich umfangreich und kompliziert. Die Wissenschaft wurde unbewusst von der religiösen Ansicht hinsichtlich des beschränkten Zeitraums der Entwicklungsgeschichte des Menschen beeinflusst. Diese eingeengte Sichtweise der Geschichte des Menschen wird außerdem noch durch die Schlussfolgerung gefördert, dass der Mensch das Endprodukt einer durchgängigen Evolutionslinie ist.
Eine unvoreingenommene Untersuchung der Tatsachen hätte zu einer anderen Schlussfolgerung geführt. Bei genauer Betrachtung deutet nichts darauf hin, dass der Mensch sich in der jüngsten Vergangenheit aus der Barbarei entwickelte. Die Archäologie bringt laufend neues Material ans Licht, woraus hervorgeht, dass der Mensch – selbst der Mensch von hoher Zivilisation – aus der grauen Vorzeit stammt. Und auch in der Biologie musste man zugestehen, dass der Bau des menschlichen Körpers eine gewisse Primitivität zeigt, die nur schwer mit dem Standpunkt in Einklang zu bringen ist, dass er das jüngste Produkt der Evolution sei. Die Menschheit ist tatsächlich der ursprünglichste und daher der primitivste Stamm von allen. Der Mensch hat in seinem Körper eine einfache Rangordnung von Knochen und Muskeln.
Für denjenigen, der mehr darüber erfahren will, was die Wissenschaft über dieses Thema sagt, verweisen wir auf das Buch Man in Evolution von G. de Purucker. Darin ist eine ausführliche Aufzählung einer Anzahl anatomischer Besonderheiten enthalten, die dies bestätigen. Die Ausführungen beruhen hauptsächlich auf den Studien des Professors für Anatomie Dr. Wood Jones. Ein kurzer Überblick dazu findet sich im Anhang.
Der Mensch ist der ursprünglichste Stamm
Gemäß der theosophischen Evolutionslehre war der Mensch der ursprüngliche Stammvater der Säugetiere, und auch die anderen Tierarten sind aus diesem menschlichen Stamm hervorgegangen. Das erklärt den primitiven und einfachen Bau des menschlichen Körpers. Bei den verschiedenen Tierarten kommen Spezialisierungen bestimmter Organe und Funktionen vor, wie Flügel, Rüssel, Krallen, Hörner, Kiemen. Nach der Evolutionstheorie sind dies Attribute, die im Laufe der Entwicklung zum Menschlichen hin verschwanden. Die Alte Weisheit jedoch lehrt, dass die späteren Tierarten aus den Mikroorganismen des menschlichen Stamms hervorgingen. Diese Keimzellen entwickelten und spezialisierten sich entlang einer eigenen, bestimmten Evolutionslinie, so dass im Lauf der Zeitalter die menschliche und tierische Entwicklung stets weiter auseinanderliefen. Ein unvoreingenommenes Studium der Fakten zeigt, dass dies tatsächlich der Fall ist, denn man hat festgestellt, dass die einzelnen Arten die Neigung zeigen, sich gemäß ihrer eigenen Linie zu spezialisieren, anstatt allmählich in eine andere Spezies überzugehen.
Wenn wir sagen, dass die Mikroorganismen, die sich später zu Säugetieren entwickelten, vom menschlichen Stamm abgeworfen wurden, müssen wir hinzufügen und erklären, weshalb wir vom ‘menschlichen Stamm’ und nicht vom ‘Menschen’ reden. Die Geschehnisse, von denen hier die Rede ist, fanden in einer sehr fernen Vergangenheit statt, und seitdem hat sich die menschliche Rasse weiterentwickelt, so dass die Menschheit, von der die Säugetiere abstammen, sich von der heutigen Menschheit stark unterscheidet. Wir müssen auch bedenken, dass im Universum, in dem alles evolviert, auch die Materie selbst evolviert und dass ihr heutiger Zustand, den wir ‘physisch’ nennen, die jüngste Phase einer ununterbrochenen Kette von Phasen oder Zuständen ist, welche die Materie durchlief. Der Prozess, in dem die Mikroorganismen oder Samen, die sich später zu Säugetierstämmen entwickeln sollten, abgeworfen wurden, wird ‘Knospung’ genannt. Ein kleines Teilchen löste sich von dem Elternkörper – ungefähr so wie eine Spore die Pflanze verlässt oder eine Eichel die Eiche – und begann dann seine eigene Entwicklung. Der heutige menschliche Organismus ist nicht imstande, auf diese Weise Nachkommen hervorzubringen, obgleich diese Methode der Fortpflanzung noch immer bei einzelnen Arten von Lebewesen vorkommt.
Deshalb kann die Frage, ob die Tiere von den Menschen abstammen, sowohl mit ja als auch mit nein beantwortet werden. Sie stammten in der Weise vom Menschen ab, wie es hier beschrieben wurde, aber nicht im Sinne der Darwinisten. Die Tiere gingen nicht als Endprodukt einer einzelnen, durchgehenden und nach oben gerichteten Evolutionslinie aus dem Menschen hervor. Die Keimzellen der Tierarten entsprangen in einer fernen Vergangenheit dem menschlichen Stamm, der vom heutigen menschlichen Stamm jedoch sehr verschieden war. Das Evolutionsmodell der beseelten Reiche muss man sich deshalb als einen Baum vorstellen – mit einem Hauptstamm, mit dicken und dünnen Ästen, mit Zweigen und Blättern. Dieses Modell ist ganz anders als das lineare Evolutionsmodell. Die Wissenschaft nähert sich in dem Maß, in dem die Erkenntnisse sich häufen und die Untersuchungen weitergehen, zunehmend diesem Baum-Modell der Evolution.
Der Mensch stammt – vom Menschen ab
Der Vorfahre des Menschen war der Mensch selbst; möglicherweise vormenschlich, aber trotzdem menschlich. Was war der Mensch und woher kam er?
Das Dasein des Menschen nahm auf der göttlichen Ebene seinen Anfang und zwar als ein nicht-selbstbewusster, göttlicher Funke, dessen Bestimmung es ist, am Ende des Evolutionszyklus wieder mit der göttlichen Essenz vereint zu werden, aus der er hervorgeging. Er ist eine Monade, ein Keim des Universalen Lebens. Die Monaden, deren Bestimmung es war, Menschen zu werden, waren göttliche Wesen, die in den frühesten Tagen im Leben des Planeten auf die Erde kamen. Der erste physische Mensch existierte bereits vor 18 000 000 Jahren auf der Erde; und vor dieser Zeit war er schon in astraler oder ätherischer Form anwesend. Dass die Materie selbst evolviert und diese Erde nicht immer in dieser heutigen, materiellen Form lebte, wird von der Wissenschaft übersehen. Dies hatte weitreichende Folgen für das Gesamtbild der Paläontologie; und viele Schwierigkeiten entspringen der fälschlichen Annahme, dass die Zustände und Eigenschaften der Materie in der fernen Vergangenheit den heutigen entsprechen. In den letzten Jahren hat die Wissenschaft jedoch eine stürmische Entwicklung erlebt, unter anderem in Bezug auf ihre Ansichten über das materielle Universum. Astrophysiker zum Beispiel sind zu der Schlussfolgerung gelangt, dass sich in der Sonne und in den Sternen im Allgemeinen eine Evolution der Elemente vollzieht, die mit der Umwandlung von Wasserstoff in Helium ihren Anfang nimmt. In seinem Buch The Ascent of Man1 sagt Jacob Bronowski, dass die Materie selbst evolviert. Die Meinung des neunzehnten Jahrhunderts, das Universum sei nichts weiter als eine materielle Maschine, hat ausgedient; und wir können mit Recht die Schlussfolgerung ziehen, dass die neue Physik zur Metaphysik geworden ist.
In der gegenwärtigen Periode oder Runde der kosmischen Evolution gibt es sieben Wurzelrassen, und wir befinden uns gerade in der fünften. Die erste Wurzelrasse begann etwa vor 130 oder 150 Millionen Jahren. Jede dieser Rassen hatte ihre eigene Form und ihre eigene spezielle Art der Fortpflanzung. Die erste pflanzte sich durch Teilung fort. Die zweite durch Knospung und die dritte war androgyn und legte Eier. Bei manchen Tierarten kommen diese Fortpflanzungsarten noch immer vor. Die Phase der uns gegenwärtig bekannten geschlechtlichen Fortpflanzung ist nur von vorübergehender Dauer. Die ersten physischen Menschen und die ihnen vorausgehenden astral-ätherischen Menschen waren die Urahnen der Säugetiere. Zu jener Zeit war der Mensch ‘gemütlos’ – das heißt er handelte instinktiv, denn das Licht des Selbstbewusstseins war noch nicht in ihm entzündet. Damals konnte der Mensch die Evolution verschiedener Säugetierarten durch das Ausschwitzen von Zellen oder Samen aus seinem eigenen Körper verursachen. Später folgten diese ausgeschwitzten Zellen oder Samen ihrer eigenen speziellen Evolutionslinie und brachten in den folgenden Zeitperioden die verschiedenen Säugetiere hervor, die wir heute kennen.
Bis jetzt haben wir über die Säugetiere gesprochen, aber es gibt auch noch niedrigere Tierarten, wie die Reptilien, die Vögel, Fische und so weiter. Diese gingen nicht aus dem menschlichen Stamm in dieser Runde des großen Evolutionszyklus hervor, sondern in einer vorausgegangenen Lebensperiode auf dieser Erde. Hieraus ergibt sich, dass der Evolutionsplan komplizierter ist, als angenommen wird. Es ist nicht beabsichtigt, hier tiefer und detaillierter darauf einzugehen. Vielleicht wirkt unsere Darlegung dadurch etwas fragmentarisch, aber in weiterführender theosophischer Literatur wird dieses Thema vollständiger ausgearbeitet; dort können die Zusammenhänge klarer gesehen werden.
Der Mensch und die Affen
Einen Sonderfall müssen wir hier zur Sprache bringen; und dieser betrifft die beiden affenartigen Familien: die Antropoiden oder Menschenaffen und die gewöhnlichen Affen. Manche Wissenschaftler vermuten, dass diese vom Menschen abstammen und nicht auf dem Weg zum Menschen sind. So behauptet zum Beispiel der finnische Antropologe Björn Kurtén, dass von Primaten stammende Fossilien unverkennbar darauf hinweisen, dass der Mensch nicht vom Affen abstammt; es ist vielmehr richtiger zu sagen, dass die Affen und Menschenaffen von den frühen Ahnen der Menschen abstammen.2 Das ist die wahre Geschichte vom Ursprung der Menschenaffen und der übrigen Affen; und die Richtigkeit derselben kann durch ein Studium der anatomischen Kennzeichen von Mensch und Menschenaffe gezeigt werden. Die Meinung, dass sich der Mensch aus dem Menschenaffen oder beide aus einem gemeinsamen Stamm entwickelt haben sollten, wird dann als Widerspruch zu den Tatsachen erkannt werden. Für eine eingehendere Betrachtung dieser komplexen Lehren wird auf Die Geheimlehre von H. P. Blavatsky und die Werke Dr. de Puruckers hingewiesen.
Die spirituelle Triebkraft hinter der Evolution
Wir haben festgestellt, dass der Mensch in einer Hinsicht von den Tieren stammt. Das heißt, dass der menschliche Körper das Ergebnis einer sehr lange andauernden Evolution durch die niederen Reiche ist. Aber diese aufwärts gerichtete Evolution hätte ohne eine gleichzeitige Involution des Geistes in das Physische von oben her niemals stattfinden können. Das Universale Leben – Bewusstsein, Geist (eine genauere Bezeichnung ist schwer zu finden) – ist die wirkliche Ursache der Evolution. Dieses Universale Leben errichtet immer neue und geeignetere Formen auf der Erde. Aber Leben, Bewusstsein und Geist an sich sind lediglich Abstraktionen; sie sind Eigenschaften von Lebewesen, und diese Lebewesen sind die Monaden aller möglichen Klassen und Abstufungen.
Die Monaden sind Funken oder Atome des Universalen Lebens. Sie sind spirituelle Wesenheiten; und sie können als letztendlicher Same betrachtet werden – als fundamentale Keimzelle eines jeden lebenden Etwas, bis zum winzigsten Atom oder Teilchen. Jede dieser Keimzellen beginnt ihren individuellen Evolutionspfad. In ihnen sind die Möglichkeiten all dessen latent vorhanden, was sie später aus sich heraus entwickeln. Das Universum ist also die Bühne für eine sehr große Schar solcher lebender, evolvierender Wesenheiten. Sie existieren in verschiedenen Stadien der Evolution. Wenn das Spirituelle sich anfangs in die Materie einzuhüllen beginnt, schreitet die Evolution sehr langsam voran, so dass lange Zeitalter in den niederen Naturreichen verbracht werden – im Mineralreich, dem die drei Elementalreiche vorausgehen; und danach im Pflanzenreich und so weiter.
Der Individualisierungsprozess fängt bei den Pflanzen an, entwickelt sich weiter in den Tieren und wird im Menschen vollendet. Man muss hierbei bedenken, dass es nicht die organischen Formen sind, die ineinander übergehen, sondern dass es die ihnen innewohnenden Monaden sind, die eine Form nach der anderen als Wohnung benützen, dem Lauf ihrer Evolution entsprechend. Die Formen können also während langer Perioden gleich bleiben oder sich lediglich geringfügig verändern, während die Evolution die ganze Zeit über voranschreitet.
Es ist bemerkenswert, dass von Pflanzen oder Tieren manchmal plötzlich neue Spielarten auftreten, sogenannte Mutationen. Sie sind die sichtbare Wirkung eines bestimmten inneren Drangs der Monade, der nach einem solchen veränderten Körper verlangt, um sich dadurch zum Ausdruck zu bringen. Das hängt sehr eng mit der vorhergehenden Evolution zusammen, was die Paläontologie festgestellt hat, und das löst viele Fragen, auf welche dieser Wissenschaftszweig gestoßen ist. Obschon es im Allgemeinen richtig ist, dass die Arten niedriger werden, je weiter man in die Vergangenheit zurückgeht, verlief die Entwicklung doch in keinster Weise gleichförmig. So gab es eine explosionsartige Vermehrung der einen oder anderen Art, wie beispielsweise die der Reptilien im Mesozoikum, die eine gewaltige Entwicklung durchliefen und Riesenkörper hervorbrachten. Später nahmen immer kleiner werdende Eidechsenarten die Stelle der einst gigantischen Saurier ein. Während einer bestimmten Periode gab es eine enorme Entwicklung der Farne, die so hoch wuchsen, wie die Bäume; und ein anderes Mal waren es die Ammoniten und so weiter. Gleichzeitig mit diesen Entwicklungen der Pflanzen und Tiere traten Veränderungen in der Struktur der Erde auf, in der Verteilung von Land und Wasser, in der Zusammensetzung der Atmosphäre, in der Temperatur, im Luftdruck und in anderen geophysischen Bedingungen. Dies macht das Evolutionsschema wesentlich bunter als der Gedanke einer geradlinig verlaufenden Abstammung.
Die Theosophie stimmt mit dem Darwinismus bezüglich des Gesetzes einer äußerst langsamen, viele Millionen Jahre umfassenden Entwicklung überein. Aber es ist notwenig, einen Unterschied zwischen der Tatsache, dass es eine Evolution gibt, und deren Arbeitsweise zu machen. Diesbezüglich bestehen in der Theosophie andere Auffassungen. Dann gibt es noch die Frage nach der Ursache der Evolution, ein Streitpunkt mit unterschiedlichen Auffassungen.
Gemäß einer bestimmten Ansicht muss man die Ursache für die Evolution in den in der Materie vorhandenen, inneren Kräften suchen, ohne Vermittlung eines außerhalb der Materie stehenden Einflusses. In Wahrheit wird hiermit das schwierige Problem, wodurch die Evolution eigentlich verursacht wird, umgangen. Vermutlich wurden die Worte ‘innere Kräfte’ benutzt, um die Vermittlung eines göttlichen Schöpfers auszuschalten und auf diese Weise den Unterschied zwischen der Evolutionstheorie und der Idee der Schöpfung zu betonen. Eigentlich ersetzen wir damit eine Schwierigkeit durch eine andere, die genau so groß ist, wenn nicht sogar noch größer. Wir könnten uns erst einmal fragen, was der Unterschied zwischen ‘von innen her’und ‘von außen her’ ist, also zwischen dem was ‘in’ der Materie und was ‘außerhalb’ von ihr ist. Wenn die für die Evolution verantwortliche Ursache selbst auch materiell ist, haben wir das Problem nicht gelöst, sondern nur um einen kleinen Schritt verschoben. Wenn die gemeinte Energie ‘von innen her’ nicht materiell ist, was ist sie dann? Der Unterschied zwischen ‘von innen her’ und ‘von außen her’ würde verschwinden, wenn es sich um eine immaterielle Energie handelte, die von der Materie getrennt ist. Logisch argumentierend müssen wir sagen, dass die Materie von der einen oder anderen Kraft angeregt wird, die nicht materiell ist, oder wenigstens nicht dieselbe physische Art hat. Sonst wäre die Materie das primum mobile, das ursprüngliche Element, die selbstgeschaffene oder unerschaffene letztendliche Ursache aller Dinge – mit einem Wort Gott.
Bewusstsein ist der Materie übergeordnet, denn alles, was wir über die Materie wissen, ist das, was wir mit unserem eigenen Bewusstsein erkennen. Das heißt also, dass wir von der Existenz von Bewusstsein ausgehen müssen, bevor wir uns überhaupt mit dieser Sache auseinandersetzen können. Es wurde zwar behauptet, Bewusstsein würde aus der Materie hervorgehen, die selbst ohne Bewusstsein ist. Mit dieser haltlosen Behauptung entzog man sich der schwierigen und unlöslichen Frage nach dem Ursprung des menschlichen Geistes oder Selbstbewusstseins, das die Tiere nicht aufweisen. Von der alten Vorstellung der materiellen Evolution und der Theorie ausgehend, der Mensch sei das Endprodukt der Entwicklung bestimmter Tierarten, kam man zu dieser Beweisführung. Aus was auch immer sich das menschliche Bewusstsein entwickelt hat – es muss größer gewesen sein als dieses Bewusstsein, ob wir es Materie oder Atom nennen, oder eine Monade oder einen Gott. In diesem Sinne mag es richtig sein, dass die Evolution durch die der Materie innewohnenden Kräfte hervorgebracht wird; aber das wäre dann nur eine andere Art, die Tatsache zum Ausdruck zu bringen, dass selbst dem kleinsten Atom das Gesamte potentiell innewohnt, was sich später aus ihm heraus entwickeln kann. Das bedeutet, dass das Atom ein Funke des Universalen Geistes ist – und das ist eine rein theosophische Lehre.
Einen wichtigen physischen Aspekt der menschlichen Anatomie, der damit engstens verbunden ist und ihn in hohem Maße von den Tieren unterscheidet, weist der Schädel auf. Aus Fundstücken fossiler Hominiden ergibt sich, dass beim Menschen, im Vergleich zu allen anderen Säugetierformen, eine bemerkenswerte plötzliche Vergrößerung des Schädels stattgefunden haben muss. Für diese Vergrößerung kann man keine biologische Erklärung vorbringen. Dass das Gehirn mehr als doppelt so groß ist wie zum Beispiel beim Gorilla, stellt eine rein menschliche Spezialisierung dar. Der bekannte Anthropologe, Dr. Loren Eiseley, schreibt über diese Frage in seinem Buch The Immense Journey (Random House, New York, 1946, S. 91):
„Wir haben viele Gründe für die Überzeugung, dass – von welcher Art die Kräfte auch in Bezug auf das menschliche Gehirn sein mögen – ein langer, langsamer Wettlauf zwischen verschiedenen menschlichen Gruppen oder zwischen unterschiedlichen Rassen, eine unerwartet kleine Übereinstimmung in den mentalen Fähigkeiten der Völker, wo auch immer, zur Folge gehabt hätte. Da muss etwas sein – ein anderer Faktor – der unserer wissenschaftlichen Aufmerksamkeit entgangen ist.“
An einem bestimmten Punkt der Evolution wurde in der gesamten Menschheit gleichzeitig das Denkvermögen zur Tätigkeit erweckt und es entstand Selbstbewusstsein und die Fähigkeit der Selbstreflexion. Dieses Ereignis, das mit dem ‘Hinabsteigen der Mānasaputras’ bereits in diesem Buch angedeutet wurde, stellt mit Gewissheit diesen ‘anderen Faktor’ dar, über den Dr. Eiseley spricht.
Wir möchten noch jemanden aus wissenschaftlichen Kreisen zu Worte kommen lassen, wodurch die Überzeugung mehr und mehr an Boden gewinnt, dass der wahre Mensch nicht Körper, sondern Geist ist. In Wraparound, (Dezember 1975, S. 5) schreibt Dr. Oliver Sacks, Neuropsychologe am Albert Einstein College of Medicine (Bronx, New York) und Autor mehrerer Bücher über menschliches Bewusstsein:
„Der gesamte Organismus ist eine funktionelle Einheit: Der Sitz unseres Selbstbewusstseins ist nicht nur der Kortex; wir sind mit unserem gesamten Selbst bewusst. … Man kann davon ausgehen, dass der Ursprung des Bewusstseins allein in uns selbst liegt. Unser Bewusstsein ist wie eine Flamme oder eine Quelle, die aus unendlichen Tiefen aufsteigt. Wir überbringen und übertragen, aber wir sind nicht die erste Ursache. Wir sind Trichter oder Gefäße für das, was hinter uns liegt. Letztendlich spiegeln wir die Natur wider, die uns schuf. Die Natur erwirbt durch uns Selbstbewusstsein.“