Yoga und Theosophie

YOGA bedeutet wörtlich ‘Vereinigung’, ‘Verbindung’ und so weiter. In Indien ist es der technische Ausdruck für eine der sechs Darśanas oder philosophischen Schulen. Ihre Gründung wird dem Weisen Patañjali zugeschrieben. Der Name ‘Yoga’ selbst erklärt das Ziel dieser Schule, nämlich Vereinigung oder Einswerden mit der göttlich-spirituellen Essenz im Menschen.

– G. DE PURUCKER, Okkultes Wörterbuch

Echter Yoga leitet und erhebt das Bewusstsein. Er bewirkt dadurch die Verbindung des menschlichen mit dem spirituellen Bewusstsein, das in Beziehung zum universalen Bewusstsein steht. Das Zustandekommen dieser Verschmelzung oder das Einssein mit der eigenen göttlich-spirituellen Essenz bewirkt Erleuchtung.

– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, I:50

In den letzten Jahrzehnten ist Yoga in unserer westlichen Gesellschaft ein recht vertrautes Wort geworden. Es ist ein dankbares Gesprächsthema und fast jeder kennt in seiner näheren Umgebung jemanden, der Yoga ‘betreibt’. In vielen Fällen wissen wir nicht viel mehr darüber, als dass es eine aus dem Osten importierte Übungsform ist, die durch bestimmte Körperhaltungen und Atemübungen einen positiven Einfluss auf die menschliche Konstitution ausüben kann. Abgesehen vom Einfluss auf die körperliche und psychische Verfassung des Menschen, kann man sich fragen, inwiefern die im Westen üblichen Yoga-Methoden für diejenigen von Nutzen sein können, die sich nach einem besseren Verständnis des Wesens des Menschen und seiner Bestimmung sehnen und die nach geistiger Weisheit suchen. Diese Frage wird Theosophen öfters gestellt, denn es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass die Theosophische Bewegung von östlichen Lehrern gegründet wurde. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem Menschen Einsicht in sein Leben zu verschaffen und ihm den Weg zur spirituellen Weisheit zu zeigen.

Wenn wir unter ‘Yoga’ die korrekte Bedeutung von ‘Vereinigung’ oder ‘Verbindung’ mit dem Höheren Selbst verstehen, können wir das Prinzip spiritueller Entwicklung oder Übung so bezeichnen. Dieses wird von der Theosophie befürwortet und ist für alle Menschen gleichermaßen gedacht, welcher Rasse oder welchem Glauben auch immer sie angehören mögen.

Wir müssen aber auch hinzufügen, dass dies kaum mit den niedrigeren psycho-physiologischen Yoga-Methoden übereinstimmt, die im Westen so sehr im Mittelpunkt des Interesses stehen. Die niedrigere Form von Yoga besteht prinzipiell hauptsächlich aus psycho-physischen Übungen, die im Osten entwickelt wurden. Aber der wahre Yoga, wie er von allen großen spirituellen Weisen und Sehern gelehrt wird, und den die Theosophie hervorhebt, ist eine wohl-geordnete spirituelle Ausbildung. Ihn auszuüben führt zur Entdeckung des Inneren Gottes. Das Wissen um diese Art von Yoga ist im materialistischen Westen nahezu verloren gegangen. Andeutungsweise fand es sich lediglich bei einzelnen erleuchteten christlichen Mystikern, und die äußeren Umstände verhinderten, dass es so öffentlich und ‘wissenschaftlich’ gelehrt werden konnte, wie es die Lehrer im Osten taten. Aber auch in den westlichen Ländern wurden Methoden entwickelt, die den intellektuellen und emotionalen Bedürfnissen entgegenkamen. Der Zustand der Glückseligkeit sollte durch Liebe, Zuwendung und gute Taten erreicht werden. Die Selbstdisziplin und die körperlichen Geißelungen der Mönche hingegen glichen den Methoden mancher sogenannter Hindu-Yogis, die versuchen, den Willen zu stärken und vielleicht ein paar übersinnliche Kräfte niedrigerer Ordnung zu erlangen, indem sie ihren Körper mit Feuer und Messern usw. in mancherlei Weise quälen. Ihre anstößigen Praktiken werden manchmal – ganz zu Unrecht – mit dem verwechselt, was man ‘Hatha-Yoga’ nennt.

Vor etwa hundert Jahren betrachtete man selbst den echten östlichen Yoga hier im Westen als ein Produkt der Fantasie, auf Aberglauben beruhend, als etwas, mit dem man sich nur lächerlich machen konnte. 1893 predigte ein aufrichtiger hinduistischer Sannyāsin1 in überzeugenden Worten eine hohe Form des Yoga im Westen; aber es war unvermeidlich, dass er von den meisten seiner Zuhörer falsch verstanden wurde. Die meisten waren oberflächlich oder lediglich neugierig und wurden hauptsächlich vom östlichen Glanz angezogen, welcher für sie die neueste Mode war, der aber gleichzeitig Einsichten in geheimnisvolle Enthüllungen bieten konnte. Als die Menschen entdeckten, dass der wahre Yoga nichts mit dem Praktizieren von ‘magischen Künsten’ zu tun hat, sondern dass er ein anstrengendes Bemühen um Selbstkontrolle und Selbstläuterung ist, blieb sein Publikum aus.

Wenn die gröberen Formen der Begierde überwunden sind, kommen andere, heimtückischere Formen der Selbstsucht zum Vorschein, auch wenn sie hinter wohlklingenden Namen verborgen sind. Dazu gehört beispielsweise das eigennützige Verlangen nach okkulten Fähigkeiten. Unsere Beweggründe sind nicht immer so rein, wie wir es uns selbst vormachen; und die selbstsüchtige Persönlichkeit ist besonders darauf aus, ihren Willen schlau durchzusetzen, indem sie den niedrigeren Verstand gebraucht. Der Yoga, den die Welt braucht, gründet auf der Liebe zur Wahrheit, Güte und Weisheit, ohne Nebenabsichten: Er macht das selbstlose Arbeiten für andere zu einer Gewohnheit und einer Freude. Dem Anfänger des theosophischen Yoga wird gesagt, dass „der erste Schritt darin besteht zu leben, um der Menschheit zum Segen zu sein“ und ihm wird die Frage gestellt: „Kann Seligkeit bestehen, wenn alles, was da lebt, leiden muss? Sollst du errettet sein und den Schmerzensschrei der ganzen Welt hören?“ (Die Stimme der Stille, S. 94).

Wir müssen verstehen, dass die theosophische Sichtweise der spirituellen Selbstkontrolle – des Yoga – oder welchen Namen man ihr auch immer geben mag, auf diesem Prinzip beruht, und dass sie der einzige Weg ist, der uns aus dem Gefängnis des Niederen Selbstes in das Licht des ewigen Tages führt. Es ist erschütternd zu beobachten, wie intelligente Menschen, die von den konventionellen Antworten auf tiefere Lebensfragen und Fragen über den Menschen selbst enttäuscht werden, aufgrund ihrer Unwissenheit in verschiedenen Richtungen nach Antworten suchen und dabei auf irreführende, fruchtlose und mitunter sogar gefährliche Abwege geraten, während der wahre Weg offen vor ihnen liegt, die Wegweiser da sind und die Führer bereitstehen, um die richtige Richtung anzudeuten.

Die niedrigeren Yoga-Praktiken, welchen der Westen in letzter Zeit viel Interesse entgegenbringt, haben durch unfachmännische Experimente im Bereich der Atemkontrolle oder Prāṇāyāma (wörtlich „Beherrschung des Atems“), mit besonderen Körperhaltungen und anderen psycho-physiologischen Methoden vielen Menschen ernsthaften Schaden zugefügt. Nicht nur der Körper kann dabei geschädigt werden. Vielmehr kann es auch passieren, dass uns unbekannte, elementale Kräfte erweckt werden, die dem Menschen gefährlich werden können und die eine Bedrohung für den Verstand, die moralische Integrität und sogar für das Leben selbst darstellen.

Wer der Versuchung erliegt, das Tor zu psychischen Erfahrungen zu öffnen, tut gut daran, das Sprichwort von den schlafenden Hunden, die man nicht wecken sollte, im Sinn zu behalten. Ebenso wie Bulwer-Lytton in Zanoni, zeigt H. P. Blavatsky in ihrem Buch A Bewitched Life [Ein verhextes Leben] in Erzählungen das Leiden und das Elend auf, das durch das Betreten von ‘verbotener Erde’ verursacht wird. Die Menschen in den Erzählungen hatten gute Absichten, klopften aber nicht in der richtigen Art und Weise an. Die beiden okkulten Schriftsteller hatten genaue und persönliche Kenntnisse über diese Thematik. Keine intellektuelle Schulung, auch nicht westliche wissenschaftliche Untersuchungsmethoden, können die Sicherheit eines solchen Unterfangens garantieren, und das gilt gleichermaßen sowohl für östliche als auch für westliche Menschen.

Bedauerlicherweise ist bereits vielen Menschen durch die Anwendung der Atemkontrolle erheblicher Schaden entstanden, bei der das empfindliche Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Prāṇas gestört wurde, von denen Leben und Gesundheit abhängig sind, oft von der leider zu späten und bitteren Einsicht gefolgt, dass man besser den gutgemeinten Warnungen Gehör geschenkt hätte. Solche Tragödien sind üblicherweise eine Folge der Unwissenheit über diese Gefahren. Einige Menschen mit einem übersteigerten Selbstvertrauen sind bereit, jedes Risiko einzugehen, um sich der verbotenen Kräfte zu bemächtigen. ‘Verboten’ sind diese Kräfte in dem Sinne, dass wir in dieser Evolutionsperiode – ausgenommen einige wenige weiter Fortgeschrittene unter uns – das Recht noch nicht erworben haben, sie zu besitzen und die Qualität noch nicht entwickelt haben, diese Kräfte beherrschen zu können. Diese Kräfte sind durch die weise Vorsehung der Natur nicht ohne weiteres zugänglich, und jene, die ungeschickt sind, werden zu Opfern und nicht zu Meistern. H. P. Blavatsky sagt über diese Menschen, dass sie leicht „der Zauberei und der schwarzen Magie verfallen und dadurch ein furchtbares Karma für sich selbst anhäufen können, das sich über viele Inkarnationen hin auswirken wird“. Es „bestehe sogar die Gefahr, dass die gegenwärtige Persönlichkeit vernichtet werde“.

Jenen, die die Alte Weisheit studierten, wurde von Versuchen abgeraten, aus dem materiellen Körper auszutreten und im Astralen zu reisen. Leider werden im Namen der Theosophie manchmal Methoden propagiert, die das Ziel haben, den etherischen Körper von seiner materiellen Hülle zu lösen und im Astralen umherzustreifen, mit seinen fremden und bestürzenden Täuschungen, mit seinen uns unbekannten Gefahren und uns teilweise feindlich gesinnten Bewohnern. Derartige Methoden widersprechen aber ganz und gar den Lehren H. P. Blavatskys und den gesunden Idealen vom Dienst an der Menschheit. Zahlreiche Fälle zeugen von den unheilvollen Folgen für Verstand und Körper von solchen Menschen, die es zwar gut meinten, aber dennoch zu wenig wussten und sich widernatürlich vom Schutz des physischen Körpers lösten.

Die Warnungen vor unverantwortlichen Versuchen, durch Atemkontrolle und andere Hatha-Yoga-Übungen gewisse Bewusstseinszustände zu erlangen, beziehen sich selbstverständlich nicht auf vollkommen gesunde Atem- und Körperübungen, die im Sporttraining üblich sind. Es ist bedauerlich, dass es noch immer irreführende Auffassungen über Yoga gibt und dass so viele arglistige Sirenen ihre verführerischen Melodien singen, um unvorsichtige Menschen anzulocken. Auch gibt es mancherlei Hellseher, echte oder weniger echte, die ihre Praktiken unter der Bezeichnung ‘Yogi’ ausüben; man sollte sie aber eher als Wahrsager bezeichnen. Anstelle eines seriösen und wertvollen Buches über die Philosophie des höheren Yoga aus dem Osten, werden dem Publikum Dutzende von Titeln angeboten, die eine ungesunde Neugierde nach Phänomenen schüren und die Schriftsteller kümmern sich nicht darum, ob die von ihnen empfohlenen Übungen gefährlich sind oder nicht. Vielleicht sind sie in manchen Fällen selbst unwissend, aber ihre Intention ist es, ein kommerzielles Produkt zu verkaufen. Andere, die es noch weniger genau nehmen, bieten für Geld Fernunterricht an und behaupten, dass auf diese Weise die psychischen Zentren und damit auch die pranischen Kräfte im Körper erweckt werden können. Es ist aber sehr gefährlich für die Gesundheit des Körpers und der Seele, wenn das natürliche Gleichgewicht gestört wird. Wieder andere versprechen Entspannung und ‘Einweihung’ gegen Bezahlung. Müssen wir uns da noch wundern, dass die echten Mysterienschulen vor Entweihungen solcher Art sicher abgeschirmt wurden (und werden) ?

Es gibt auch andere Formen des psychischen Yoga, die in keiner Weise von geistiger Natur sind, wenn sie auch nicht so allgemein zum Handelsobjekt gemacht werden. Sie gründen sozusagen auf einer Art wissenschaftlicher Technik, um teilweise hinter den Schleier der materiellen Natur vorzudringen. Aber diese Technik ist nicht geistiger oder ethischer als z. B. die Chemie und kann ebenso wie die Chemie für verwerfliche Zwecke verwendet werden. In den Händen von Menschen, deren Herz und Seele nicht vollkommen rein und selbstlos sind – und wie wenige sind das –, kann diese Technik genauso zerstörerisch wirken wie eine Mischung von Chemikalien in den Händen eines unwissenden und neugierigen Kindes. Alexandra David-Neel, eine buddhistische Gelehrte und maßgebliche Kapazität auf dem Gebiet des tibetischen Okkultismus, sowie Lama Yongden und andere kompetente Personen beschrieben viele Fälle, in denen Gefühle der Rache, des Ehrgeizes oder der Eitelkeit boshafte Menschen in Tibet dazu brachten, sich dieser Technik zu bemächtigen, ohne sich um die Folgen für andere und meist auch für sich selbst zu kümmern.

Aber abgesehen von jenen, die solche minderwertigen Ambitionen haben, gibt es viele intelligente Menschen, die nicht nur die ‘Eitelkeiten’ dieser Welt aufgeben, sondern gleichzeitig auch noch die gesunden Aktivitäten und Pflichten vernachlässigen, um durch niedrigere Yoga-Techniken persönlichen Fortschritt zu erlangen. Sie denken zu Unrecht, dass dies der einzige Weg zur Erkenntnis sei und konzentrieren sich auf ihre eigene Errettung und Seligkeit, ohne dabei das Wohlergehen der gesamten Menschheit vor Augen zu haben, die sich dann selbst darum kümmern muss, wie sie ihr Ziel erreichen kann. Dasselbe Prinzip der Erlösung für sich selbst ist in einer etwas anderen Form auch in den christlichen Ländern nicht unbekannt. Man muss allerdings hinzufügen, dass hier mittlerweile das Verantwortungsbewusstsein den ärmeren Ländern gegenüber zunimmt.

Eine Haltung des ganz und gar auf sich selbst gerichteten Seins ist das letzte, was ein wahrer Yogi gutheißen würde, denn hierdurch werden die Grundregeln der Bruderschaft verleugnet. Echter Yoga kann ohne Einsicht in die menschliche Natur nicht existieren, verbunden mit Mitleid und dem Verlangen zu helfen sowie dem wahrhaftigen Streben, den am wenigsten Fortgeschrittenen die schwere Last spiritueller und intellektueller Unwissenheit zu erleichtern, „selbst den Geringsten von ihnen“. Wahrer Yoga kennt keine ‘Unberührbaren’. H. P. Blavatsky schreibt in ihrem Buch Studies in Occultism:

…Wahrer Okkultismus oder Theosophie ist die ‘Große Entsagung des SELBST“, bedingungslos und absolut, in Gedanken wie in Taten’.

– S. 28 (engl.)

… Es ist nicht möglich, spirituelle Kräfte anzuwenden, solange auch nur der geringste Rest von Selbstsucht in dem Ausübenden vorhanden ist. Denn wenn das Motiv nicht absolut rein ist, wird das Spirituelle sich in das Psychische umwandeln, auf der Astralebene wirken und schreckliche Folgen können dadurch hervorgebracht werden. Die Mächte und Kräfte der tierischen Natur können gleichermaßen von selbst- oder rachsüchtigen wie auch von unselbstsüchtigen und alles verzeihenden Menschen benutzt werden; die Mächte und Kräfte des Geistes eignen sich nur für diejenigen, die ganz und gar reinen Herzens sind – und das ist GÖTTLICHE MAGIE.

– S. 3 (engl.)

Diese Erde ist unser Zuhause und wird es noch lange sein. Die Welt hat alle Hilfe nötig, die starke Seelen ihr geben können. In dem Maße, in dem wir auf diesem Weg vorwärts kommen, werden alle unsere Fähigkeiten – spirituelle, intellektuelle und sogar psychische – uns in einem natürlichen Prozess der Evolution unterstützen, weil sie durch die richtige Bestrebung hervorgerufen wurden. Die spirituelle Intuition in dieser entmutigten und materialistischen Welt für selbstloses Streben zu erwecken, ist der einzige Yoga, der der Mühe wert ist. Es ist der Yoga der Theosophie. Er stellt uns vor eine drängende Frage: „Werde ich mein Leben so gestalten, dass es nützlicher wird, dass ich mehr Bereitschaft zeige und imstande sein werde, der Menschheit so zu dienen, wie mein Gewissen es mir vorschreibt?“

Die Meister, welche die Theosophische Bewegung gründeten, sind mit dem psycho-physischen System des Yoga vollkommen vertraut, das bestimmte Körperübungen und Atemprozesse (das niedrigere Hatha-Yoga) zur Einführung oder als Grundlage für höhere Übungen zum Gegenstand hat. Aber aus der eigenen Erfahrung kennen sie die ernsthaften Schwierigkeiten und sie haben nie zugelassen, dass Yoga in der Theosophischen Bewegung praktiziert wurde, wie interessant es auch für die Wissenschaftler dieser Art von Psychologie sein mag. Von jeder Neigung, ‘Yoga zu praktizieren’, wird dringend abgeraten und zwar aus sehr guten Gründen. In diesem Zusammenhang ist es gut, wenn wir uns an die Erzählung von Buddha erinnern, der seine Suche nach der Wahrheit mit dem Ausüben des niedrigeren Yoga, der strengen Askese, begann. Schon bald merkte er, dass sie seinem Fortschritt im Wege stand, sogar in seinem besonderen Fall.

Für die ernsthaft nach Seelenweisheit Strebenden kommt die Zeit, dass ungewöhnliche psycho-spirituelle Kräfte und Fähigkeiten sich auf ganz natürliche Weise zu entwickeln beginnen. Und unter diesen günstigen Umständen wird es für sie nicht schwierig sein, einem wahren Lehrer zu begegnen, der ihre weitere Entwicklung führen kann. Eine okkulte Redensart lautet: „Wenn der Schüler bereit ist, erscheint der Lehrer“. Die Weisen suchen fortwährend nach Anwärtern für die Armee des Lichtes und der Befreiung. Zu allen Zeiten gab es Menschen, die als würdig erachtet wurden, in dieser Weise begleitet zu werden, ungeachtet ihrer Religion oder ihrer philosophischen Überzeugung.

Auch die Geschichte der Theosophischen Bewegung kennt solche Fälle. Ein markantes Beispiel ist das eines intellektuellen und spirituell entwickelten jungen Hindus, der H. P. Blavatsky nach ihrer Ankunft in Indien unterstützte, wo sie unter großen Schwierigkeiten ihre erste theosophische Zeitschrift veröffentlichte. Dieser junge Mann, Dāmodar K. Māvalankar, gab seinen stolzen brahmanischen Kastenstand und eine glänzende, vor ihm liegende weltliche Karriere auf, um sich mittels der Theosophie der selbstlosen Arbeit für die Menschheit zu widmen. Sein Ernst und seine Zuwendung erregten die Aufmerksamkeit der Meister der Weisheit und des Mitleids, die hinter der Arbeit der Theosophischen Bewegung stehen. Er entdeckte, dass in ihm allmählich und ohne besondere Anstrengung neue Kräfte, körperliche wie auch mentale und sogar psycho-spirituelle Kräfte erwachten und für die große Aufgabe des Dienens, die ihm bevorstand, zur Verfügung standen.

Dāmodar ist das leuchtende Vorbild eines wahren Schülers. Die von ihm entwickelten Fähigkeiten waren für die Bedingungen, die er ins Leben gerufen hatte, vollkommen normal. Er strebte sie nicht um persönlicher Befriedigung willen an, noch stellte er sie jemals zur Schau, um jene nicht anzuspornen, die egoistisch nach psychischen Kräften strebten. Ein weiteres, für sich selbst sprechendes Beispiel für das gleiche Verhalten verkörperte innerhalb der Theosophischen Bewegung William Quan Judge. Und die Geschichte kennt noch andere.

Diese ergebenen Menschen hatten das erhabene Ziel der menschlichen Evolution vor Augen: das Einswerden mit dem Inneren Gott, dem ‘Vater im Himmel’. Das Beschreiten dieses Pfades sowie das Entwickeln des geistigen Hellsehens, erfordern keine physischen Übungen oder körperlichen Quälereien – und sicher nicht das Aufgeben jeglichen Kontaktes zu den Mitpilgern auf dem emporführenden Lebensweg. Die für uns notwendigen Erfahrungen liegen im Straucheln und Wiederaufstehen in unserem Leben verborgen, darin, dass wir das Unvermeidliche frohen Mutes annehmen und dass wir die karmischen Schwierigkeiten anderer verständnisvoll miterleben, die oftmals der Hilfe bedürfen, um sich selbst helfen zu können. Der theosophische ‘Brahma Yogi’ ist der Mann oder die Frau, an den oder an die sich die anderen, die sich gerade in Schwierigkeiten befinden, instinktiv wenden, um Rat zu erhalten. Der Brahma Yogi ist der Friedenstifter, zu Hause und überall.

William Quan Judge fasst den theosophischen Yoga in überzeugenden Worten wie folgt zusammen:

Was also ist das wahre Heilmittel, der königliche Talisman? Es ist PFLICHT, Selbstlosigkeit. Beständige Pflichterfüllung ist der höchste Yoga. … Auch wenn Sie nichts anderes tun können als Ihre Pflicht, sie wird Sie zum Ziel führen.

Letters That Have Helped Me, Teil II, S. 3

Es ist die grenzenlose barmherzige Liebe, die Buddha veranlasste zu sagen: „Lasst die Sünden dieses dunklen Zeitalters auf mich fallen, auf dass die Welt errettet werde“, und nicht der Wunsch zu entfliehen oder das Verlangen nach Wissen. Dies kommt in den Worten zum Ausdruck: „DER ERSTE SCHRITT IN WAHRER MAGIE IST HINGABE FÜR DAS WOHL ANDERER.“

– Ebenda, S. 19

Fußnoten

1. Sannyāsin (Sanskrit): Jemand, der die Bande und die Anziehung der Welt aufgibt, um der spirituellen Natur zu dienen. [back]

Wer ist der Mensch?

 

 

Die Frage, wer und was wir sind, ist die bedeutendste Frage, mit der sich der Mensch beschäftigen kann und worauf er eine Antwort sucht.

Viele betrachten sich als ein Wesen, dessen Existenz mit der Geburt begann und die mit dem Tod ein definitives Ende findet. In diesem Bild formt der menschliche Körper in all seinen Aspekten und mit all den Funktionen, die mit ihm in Zusammenhang stehen, den vollständigen Menschen. Andere wiederum glauben an die Anwesenheit eines bleibenden Prinzips, einer Seele oder eines Geistes, welches dem Menschen bei der Geburt teilhaftig wird und das den Tod überdauert. Wieder andere, darunter die Theosophen, betrachten das bleibende Prinzip im Menschen als ewig beständig –nicht allein in der Zukunft, sondern auch in der Vergangenheit –, das heißt, daß es in jedem Menschen, wie auch in jedem anderen Wesen, einen beständigen Kern gibt, die Quelle seiner Existenz, welcher sich periodisch verkörpert. Alle sichtbaren Formen auf der Erde, Menschen, Tiere, Pflanzen bis hin zum Mineral, sind Äußerungen oder Verkörperungen einer inneren Kraft, eines inneren Kerns, der beständig ist und sich zeitlich der Formen bedient, um darin Erfahrungen zu sammeln. Darauf beruht der heute allgemein bekannte Gedanke der Reinkarnation, worauf wir später zurückkommen.

In seinem Buch Bewußtsein ohne Grenzen sagt James A. Long auf Seite 209 folgendes: ‘Wer ist der Mensch? Wenn wir uns, angefangen von unserem göttlichen Wesenskern bis zur äußersten Hülle, dem physischen Körper, selbst kennen würden, hätten wir das Geheimnis des Lebens in all seinen Phasen gelöst. Was glauben Sie wohl, warum das Orakel von Delphi seine Antwort in diese schon unvergänglichen Worte gefaßt hat – Erkenne dich selbst! Warum wurden sie über dem Portal des Apollotempels eingemeißelt, wenn nicht als eine tägliche Mahnung, daß sich zuerst selbst bemeistern muß, wer die Geheimnisse der Natur meistern will?

Wenn wir behaupten, der Mensch sei zum Teil Atom, zum Teil Milchstraße, kommen wir der Wahrheit so nahe wie Paulus, als er den Korinthern sagte, es gäbe im Menschen einen ,,natürlichen Leib“ (Psyche) und einen ,,geistigen Leib“ (Pneuma), und daß der erste Adam ,,zu einer lebendigen Seele wurde, und der letzte Adam zum Geist, der da lebendig macht“ (1. Kor. 44,45). Ziemlich oberflächlich bezeichnen wir uns als aus Körper, Seele und Geist zusammengesetzt, wissen aber damit in Wirklichkeit nichts anzufangen. Tatsächlich sind wir weit mehr als das; Verstand, Intuition, Verlangen und alle möglichen Eigenschaften bilden den Menschen.’

Die dreiteilige Einteilung des Menschen, wie sie oben beschrieben wird, finden wir u. a. im Neuen Testament (s. 1. Thess. 5,23). Sie kann als verkürzte Ausgabe der Alten Lehre über die siebenfältige Natur des Menschen angesehen werden, worauf in der Theosophie erneut die Aufmerksamkeit gelenkt wird.

Obwohl es möglich ist, die Aspekte des menschlichen Bewußtseins auf verschiedene Arten zu unterteilen und diese siebenfältige Klassifikation keine Regel darstellt, die nicht angetastet werden darf, ist sie für den Neuling leicht verständlich und bietet ihm den Vorteil, daß sie mit dem siebenfältigen Muster, das wir in der Natur vielfältig wahrnehmen, übereinstimmt. Wir finden die Zahl Sieben in den Hauptfarben des sichtbaren Spektrums, das wir alle vom Regenbogen her kennen; im periodischen System der Elemente, bekannt als das Gesetz Mendelejews; in den Schwangerschaftsperioden und bei Krankheiten; in den siebenfältigen Oktaven des Klanges, und in vielen anderen Erscheinungsformen. Es ist wie Plato sagt: ‘Gott geht mathematisch ans Werk’ (Siehe Plutarch, ‘Symposiacs’ VIII, 2). Die allgemeine Übereinstimmung der Zahl mit der religiösen Symbolik ist von großer Bedeutung, und dem tieferen Sinn des siebenfältigen Wirkens der Natur wird in der Theosophischen Literatur viel Aufmerksamkeit geschenkt.

Auch im alten Ägypten und Indien wird die siebenfältige Konstitution des Menschen als eine wohlbekannte Tatsache angesehen. Die sieben Bestandteile der menschlichen Konstitution können vielleicht am besten als die verschiedenen Kontaktpunkte beschrieben werden, die zwischen dem bleibenden Mittelpunkt im Menschen und den ‘Gebieten’ oder Graden der Substanz und des Bewußtseins im Universum bestehen, welche sich vom Etherischsten oder Geistigsten bis zum Grobstofflichsten hin erstrecken. Der bleibende Mittelpunkt, oder die Monade (vom griechischen Wort für ‘Einheit’) bekleidet sich sozusagen mit Gewändern oder Gefährten, die von der gleichen Natur sind wie die Ebenen, in welche sie eintritt, bis sie den stofflichen Körper auf der Erde erreicht und dort als eine neue Persönlichkeit geboren wird. Diese Persönlichkeit wird so mit dem beschränkten Gehirn-Bewußtsein verknüpft, daß die grenzenlosen Bereiche der höheren Wahrnehmung verschlossen werden, so daß nur die Allerwenigsten in den Momenten geistiger Inspiration ein seltsames Glühen empfinden.

Es ist nicht richtig, die sieben Prinzipien als gesonderte Wesenheiten im gewöhnlichen Sinne des Wortes oder als ‘sieben Seelen’ zu sehen. Sie haben sich rund um den bleibenden Kern oder die monadische Individualität verwoben und formen zusammen den gesamten Menschen, wenn auch nur in seltenen Fällen von einem vollkommenen Gleichgewicht die Rede ist.

Es gibt kein besseres Bild des vollkommenen Menschen als die sieben Strahlen des Spektrums, die zu reinem weißen Licht verschmelzen, wenn sie sich auf harmonische Weise zu einem Ganzen vereinigen.

Die folgende Übersicht stellt die sieben Prinzipien dar. Die oberen drei stellen die mehr geistigen und bleibenden Prinzipien dar, während die unteren vier die eher vergänglichen sind:

  Sanskritbezeichnung
1. Geist Ātman
2. Spirituelle Seele Buddhi
3. Menschliche Seele Manas
4. Tierische Seele Kāma
5. Lebenskraft Prāna
6. Astral- oder Modellkörper Linga-Śarīra
7. Physischer Körper Sthūla-Śarīra

Die Sanskritausdrücke sind deshalb aufgeführt, weil sie in der theosophischen Literatur häufig vorkommen und ihnen meistens der Vorzug gegeben wird.

Der physische Körper

Über den physischen Körper braucht nur wenig gesagt zu werden, außer, daß er nicht aus toter Materie besteht – es gibt keine tote Materie.

Die Vorstellung von „toter Materie“ – tot im Sinne von unbeweglich, wenn nicht durch fremde Kraft bewegt – wird von der Wissenschaft nicht mehr gelehrt: Jedes Atom ist ein Brennpunkt intensiver Aktivität, und einige bedeutende Wissenschaftler behaupten sogar, daß jeder Punkt im „Raum“ voller Leben pulsiert – eine wahrhaftig theosophische Lehre.

‘Materie’ kann als die universale Lebensessenz in ihrem passiven oder empfangenden Aspekt betrachtet werden, welche sich in voller Tätigkeit als ‘Energie’ äußert. Der menschliche Körper ist aus einer harmonischen Verbindung von Teilen zusammengesetzt, alle aus unzähligen winzigen Zellen aufgebaut, von welchen jede mit Leben und eigenem Bewußtsein ausgestattet ist. Jede Zelle besteht aus kleineren Lebenselementen, die gemäß der Theosophie zu klein sind, als daß wir sie mit unseren physischen Sinnen wahrnehmen könnten, selbst nicht mit Hilfe von Instrumenten, die wirksamer sind als jedes Mikroskop. Der anscheinend untätige physische Körper ist also eine enorme Anhäufung von lebenden Wesen vieler Grade und Gruppierungen und ist nach dem Prinzip der aufsteigenden Hierarchien aufgebaut; dieses Prinzip beherrscht das gesamte Universum. Ein alter philosophischer Aphorismus sagt: „Wie oben, so unten“, und selbst unser niederstes Prinzip, der physische Körper, spiegelt das Universum wider.

Der Astral- oder Modellkörper

Der Astral- oder Modellkörper ist für das gewöhnliche physische Auge nicht sichtbar; aber er kann unter bestimmten Bedingungen oder von gewissen sensitiv veranlagten Menschen gesehen werden. Allgemein gesprochen ist er ein schattenhaftes Doppel des physischen Körpers, das aus einer etwas feineren Substanz besteht. Genauer gesagt, ist der physische Körper das Duplikat des astralen, denn dieser ist das Modell oder das Muster, in welches die ständig wechselnden physischen Atome eine Zeitlang eintreten und es dann wieder verlassen.

Wenn der Astralkörper auch ätherisch erscheint, so ist er doch während der gesamten Inkarnation außerordentlich stark und fest. Ohne die Unterstützung dieses halbfesten Modells könnte der Körper weder seine äußere Form, noch die persönlichen Besonderheiten wie Mutter- und Geburtsmale beibehalten. Der Grund für die unüberwindlichen Probleme der Psychologen bei ihren Untersuchungen ist der, daß sie die Existenz des Astralkörpers ignorieren.

Die Kenntnis vom astralen Doppel räumt das Problem der Beziehung zwischen Geist und Körper aus; der Astralkörper stellt die Verbindung dar; er ist ein Transformator, um einen sinngemäßen Begriff aus der Elektrizität zu benützen, der die höheren Schwingungen auf die niederen ‘heruntertransformieren’ kann. Er ist außerordentlich plastisch und sensitiv und reagiert sofort auf Gedanken und Gefühle. Er leitet sie zum physischen Körper weiter und erzeugt in ihm sogar sichtbare Wirkungen. Jeder weiß, daß überschwengliche Freude oder heftiger Zorn sogar töten kann, und die Stigmata oder Zeichen von den Wunden Christi, die sich an den Körpern bestimmter religiöser Fanatiker entwickeln, sind das Ergebnis von Eindrücken im Astralen, hervorgerufen durch starke mentale Konzentration. Hypnotische Experimente liefern andere Beispiele. Es werden auch Fälle berichtet, bei welchen Verletzungen des Astralkörpers, wenn dieser von seiner schützenden physischen Hülle gelöst wurde, sichtbare Anzeichen auf dem physischen Körper hinterlassen haben. Umgekehrt kann der Körper durch die astrale Verbindung auch auf die geistigen Prinzipien einwirken.

Der Astralkörper wird vor der Geburt geformt; seine Eigenarten werden genau nach den Ursachen festgelegt, die das Ego in vergangenen Inkarnationen geschaffen hat. Seine plastische und sensitive Konstitution befähigt ihn, auf die mentalen und emotionalen Samen zu reagieren, die in der neuen Inkarnation ins Leben treten. Auf diese Weise werden wir mit einem Körper in Übereinstimmung mit unseren Verdiensten ausgestattet.

Der Ausdruck ‘Astralkörper’ wird oft ungenau benützt, um verschiedene Untergliederungen des halb-materiellen inneren Körpers zu bezeichnen, die psycho-magnetischen Zentren miteingeschlossen, durch welche die vitalen Kräfte strömen.

H. P. Blavatsky sagte sehr wenig über diese Einzelheiten, wies aber klar darauf hin, daß es für Menschen wie uns, die sich im Anfangsstadium der spirituellen Entwicklung befinden, nicht ratsam ist, diesen Dingen Beachtung zu schenken. Es ist viel bedeutender, unser Denken und unser Bestreben zu reinigen und gemäß spiritueller Regeln zu handeln. Wenn wir uns selbst und andere nur mit psychischen Wundern blenden, wird der Mensch nur in Verwirrung gebracht, und die Gefühle egoistischer Natur nehmen zu. Das Studium der psychischen Kräfte ist dann angebracht, wenn es sich um vollkommene, wirklich unpersönliche Menschen handelt, die nicht darauf aus sind, ihre Begierde nach dem Okkulten zu befriedigen, und die für den Unterricht und die Unterweisung durch einen wirklichen Lehrer als Schüler würdig sind.

Der wahre Schüler der Theosophie wird vor allem aufgefordert, sein Denken und seine Wünsche zu reinigen und nach spirituellen Richtlinien zu arbeiten, indem er versucht, jenen, die sich noch in dunkler Unwissenheit befinden, den Weg zu einem höheren Leben aufzuzeigen. Es kann sie nur verwirren, wenn man sie mit psychischen Wundern blendet, und es steigert das Gefühl der Selbstsucht.

Nach dem Tode des physischen Körpers lösen sich die astralen Bestandteile langsam in ihre Elemente auf, während die emotional-mentalen Prinzipien mehr oder weniger bewußt bleiben, bis zur endgültigen Trennung, welche ‘der zweite Tod’ genannt wird.

Prāna oder das Lebensprinzip

Prāna ist ein Sanskrit-Wort und bedeutet ‘Atem’, das erste, was für das physische Leben notwendig ist; aber es hat auch andere verwandte Bedeutungen. In der theosophischen Einteilung der Prinzipien bedeutet es die Lebenskraft, welche durch den Astralkörper tätig ist und entspricht in diesem Sinne Jīva, der göttlichen Monade oder Jīvātman, dem Meer des universalen Lebens, das alles durchdringt. Das Wort ‘Element’ ist passender, wenn man von Prāna spricht, da es nicht exakt ein spezielles Vehikel der Monade ist wie der Astralkörper. Der physische und der astrale Körper bestehen natürlich nicht aus untätiger oder toter Materie. Jedes Lebensatom ist von seiner eigenen Energie durchdrungen, aber wenn es durch die formativen Prinzipien wirkt, dann ist Jīva oder die universale Lebenskraft während der physischen Lebenszeit sozusagen abgesondert und kehrt nach dem Tode in das große Sammelbecken zurück, von dem sie einst ausging.

Der physische Körper kann mit einem Gewebe verglichen werden, bei dessen Herstellung der Astralkörper die Kette ist und Prāna das Weberschiffchen, das den Faden führt. Die Zusammenarbeit der beiden stellt das Gewebe her.

Prāna kann von einem gewissen Standpunkt aus als aufbauende Vitalität angesehen werden, die antreibende Kraft. Dr. de Purucker nennt sie den ‘elektrischen Schleier’ oder das ‘elektrische Feld’, das sich im einzelnen als Vitalität manifestiert (vgl. The Esoteric Tradition, S. 950).

Kāma und der Kāma-Rūpa

Kāma bedeutet ‘Verlangen’ und Kāma-Rūpa ist der ‘Wunschkörper’. Kāma ist das Gleichgewichtsprinzip im Menschen, das vierte Element, wenn man von oben oder von unten zählt (vgl. Tabelle). Wir sind ebenso damit ausgestattet wie die Tiere, aber im Menschen sind die leidenschaftlichen Instinkte durch die Vorstellungskraft gesteigert und intensiviert. Wenn die niedere Natur des Menschen nicht von der höheren kontrolliert wird, ist sie instinktiv, selbstsüchtig und unausrottbar mit dem materiellen, sinnlichen Leben verwurzelt. Dieser Durst nach Leben, Trishnā genannt, kommt aus Kāma. Er führt uns immer wieder und wieder zur Geburt zurück; er ist nicht ein Antrieb des ‘fleischlichen Körpers’, der nur ein passives Instrument ist. Wenn das Verlangen jedoch von der höheren Natur kontrolliert und edlen Zwecken unterworfen wird, ist es ein bedeutendes Werkzeug zum Guten. Ohne jede Art von Verlangen würden wir kümmerlich dahinvegetieren.

Die tierische Seele des Menschen wird oft mit den höheren Prinzipien verwechselt. Das kommt hauptsächlich daher, daß der intelligente Teil des Menschen mit dem vergänglichen materiellen Gehirn und den Nervenströmen gleichgesetzt wird, und daß der wahre, unsterbliche Mensch hinter den täuschenden Erscheinungen unbekannt ist.

Das Wunsch-Element ist universal und auf allen Ebenen aktiv. Die sichtbaren und unsichtbaren Welten wurden „durch das aufsteigende Verlangen in der Unbekannten Ersten Ursache“ erzeugt, natürlich ein Verlangen der subtilsten, spirituellen Art. Im höchsten menschlichen Aspekt stehen Aspiration und selbstlose Hingabe für das Verlangen; wenn es auf das Selbst gerichtet ist, herrscht es in den niedrigsten Aspekten vor und degradiert den Menschen bis unter das Tier, weil er dann seinen Verstand zu unedlen Zwecken mißbraucht. Das ist die Bedeutung der Kreuzigung von Christus am Kreuze der Materie. Das, was beim Tier nur einfach und natürlich ist, weil das entwickelte, selbstbewußte Denken fehlt, bedeutet beim Menschen eine Erniedrigung.

Manas

Manas, oder das Denkvermögen, ist das wesentliche menschliche Element, gewöhnlich das Fünfte Prinzip genannt; es bildet die Verbindung zwischen der mittleren Dreiheit und dem überschattenden spirituellen Strahl und der Elternmonade. Diese Dreiereinteilung ist praktisch und anregend, wenn auch nicht fest und unumstößlich; sie bestätigt die bekannteste Tatsache unserer inneren Erfahrung. Jeder Mensch weiß, daß wir mitten in uns eine selbstbewußte Persönlichkeit besitzen, welche durch höhere oder niedere Kräfte in uns selbst beständig in entgegengesetzte Richtungen gezogen wird. Dieser Konflikt ist eine auffallende Tatsache im Leben und er hat einen Sinn, wenn er auch schmerzlich sein kann, denn er stellt die einzige Methode dar, wie wir unseren Weg zu Weisheit und Befreiung finden können.

Die künftige Evolution des Menschen hängt von seiner Fähigkeit ab, das in seiner Mitte stehende selbstbewußte Ego von den Begrenzungen der Persönlichkeit zu befreien und es durch Selbstbeherrschung und die unwiderstehliche Kraft der unpersönlichen Liebe zur Vereinigung mit der inneren Göttlichkeit zu erheben. Daher ist Manas die Verbindung zwischen dem Gott und dem Tier im Menschen. Was Gut und Böse betrifft, ist es selbst eigentlich farblos, hat aber durch die Ausübung des Willens die Macht der Wahl. Durch die höheren und niederen Wünsche – unpersönliche und persönliche – wird es in entgegengesetzte Richtungen gezogen und dabei dual. Der in der Theosophie verwendete Ausdruck ‘Höheres Ego’ steht allgemein für Manas, wenn es durch Buddhi, die spirituelle Seele, erleuchtet wird. Das niedere Selbst ist der Teil von Manas, der unter der Herrschaft der mehr tierischen Impulse steht. Das Höhere Selbst entspricht Weisheit, Liebe, Harmonie und Intuition – kurz der Unpersönlichkeit. Die Persönlichkeit entspricht berechnender Selbstsucht, dem kalten, urteilenden Gehirn-Verstand und der Hingabe an die Sinneslust.

Für Menschen, die mit der Theosophie noch nicht vertraut sind ist es vielleicht am schwierigsten, die Darlegungen über das höhere und das niedere Manas zu verstehen, dennoch sind sie außerordentlich wichtig, denn sie zwingen uns, uns selbst auf sehr reale Weise ins Gesicht zu sehen. In gewisser Weise ist Manas das Schlachtfeld, auf dem unsere Zukunft entschieden wird. Das wird viele Inkarnationen dauern, aber für diejenigen, die unbeirrbar nach Vervollkommnung streben, wird die Zeit sehr verkürzt.

In seinem Buch Das Meer der Theosophie (Kapitel 7, S. 75-76) schreibt William Quan Judge folgendes:

Manas oder der Denker ist das reinkarnierende Wesen, das Unsterbliche, das alle Ergebnisse und Werte der verschiedenen auf der Erde und anderswo gelebten Leben in sich speichert. Manas wird in seiner Natur dual, sobald es sich mit einem Körper verbindet. Weil das menschliche Gehirn ein höheres Organ ist, wird es von Manas benützt, um aus Voraussetzungen Schlußfolgerungen zu bilden. Das unterscheidet auch den Menschen vom Tier, denn das Tier handelt automatisch nach sogenannten instinktiven Impulsen, während der Mensch den Verstand gebrauchen kann. Dieser Verstand ist der niedrigere Aspekt des Denkers oder des Manas und nicht, wie manche angenommen haben, die höchste und beste Begabung des Menschen. Der andere, in der Theosophie viel höher bewertete Aspekt des Manas ist der intuitive Aspekt, der unabhängig vom Verstand erkennt. Das niedere und rein Intellektuelle steht dem Prinzip des Verlangens am nächsten und unterscheidet sich dadurch von seinem anderen Aspekt, der eine Anziehung zu den oberen, geistigen Prinzipien hat. Wenn also ‘der Denker’ völlig im Intellekt aufgeht, ergibt sich für den ganzen Menschen eine abwärts gerichtete Tendenz: denn der isolierte Intellekt ist kalt, herzlos, selbstsüchtig, weil er nicht durch die beiden anderen Prinzipien, Buddhi und Ātman, erleuchtet wird.

Im Tierreich kommt Manas nur schwach zum Ausdruck; dort gibt es weder Selbstbewußtsein noch Voraussicht, noch bewußte berechnende Entscheidung, wenn auch einige der höheren Tiere Anzeichen des Fortschritts zeigen, besonders jene, die in enger Beziehung zum Menschen stehen. Es ist jedoch nicht ratsam, ihre Intelligenz vorzeitig zu entwickeln, weil damit der natürliche Ablauf ihrer Evolution gefährdet wird. Zwischen dem Tier- und dem Menschenreich besteht ein großer Unterschied. Der Mensch ist mehr als ein höher entwickeltes Tier im Sinne Darwins. Das tierische Denken hat sich noch nicht zum selbstbewußten menschlichen Verstand herangebildet. Der Mensch besitzt ein eigenes Licht, welches ihn seit einem bestimmten Zeitpunkt in der Entwicklung seiner niedrigeren Körper erleuchtet. Das selbstbewußte Manas ist das kennzeichnende Merkmal des Menschen. Es hat sich nicht durch natürliche Selektion oder auf eine andere Art aus dem Tier entwickelt. Der wirkliche Mensch, das höhere Manas, überschattet seine niederen Prinzipien oder steht sozusagen neben ihnen. Während Manas spiritueller wird und sich mit dem sechsten Prinzip, Buddhi, vereinigt, wird der Mensch zu mehr als einem Menschen – er wird ein selbstbewußter Gott. Manas kann als schöpferisches Prinzip betrachtet werden, als der Widerschein des Kosmischen Schöpfergeistes.

Ātman und Buddhi

Göttliches Ātman oder die Monade, und Buddhi oder die spirituelle Seele, sind die einzigen beständigen Prinzipien im Menschen; genau genommen manifestieren sie sich nicht als Teile der gewöhnlichen Persönlichkeit, sondern sie überschatten sie. Das Buddhi-Prinzip ist nur im vollkommenen Adepten voll manifestiert. Wir lesen in dem Buch The Mahatma Letters to A. P. Sinnet:

Die höchste Kraft wohnt in Buddhi; latent – wenn sie nur mit Ātman verbunden ist – aktiv und unauflösbar, wenn sie durch die Essenz von „Manas“ galvanisiert ist, und wenn sich nichts von der Schlacke des letzteren mit dieser reinen Essenz vermengt und sie durch seine begrenzte Natur niedergezogen wird.

– Brief 59, S. 341

Der große Lehrer, Buddha, bezeichnete das Sechste Prinzip, Buddhi, als das Feuer, welches im Ewigen Licht brennt. Es ist der ungeoffenbarte Geist, der die Dinge der göttlichen Welt ohne Schleier sieht.

H. P. Blavatsky schreibt, wenn sie von Ātman, der „Einen Realität“ spricht:

Wir sagen, daß der Geist (der „Vater im Verborgenen“ von Jesus) oder Ātman nicht das persönliche Eigentum von jemandem ist, sondern die göttliche Essenz, die keinen Körper und keine Form besitzt, die unsichtbar und unteilbar ist, das was nicht besteht und doch ist, wie die Buddhisten von Nirvana sagen. Die Sterblichen werden von dieser Essenz lediglich überschattet; das, was in sie eingeht und den ganzen Körper durchdringt, sind nur ihre allgegenwärtigen Strahlen, oder das Licht, das durch Buddhi, ihr Vehikel und die direkte Emanation, ausgestrahlt wird.

The Key to Theosophy, S. 101

Um es nun aber dem menschlichen Intellekt deutlicher begreiflich zu machen: wenn jemand anfängt, den Okkultismus zu studieren und das ABC des menschlichen Mysteriums zu ergründen, nennt der Okkultismus dieses siebente Prinzip (Ātman) die Synthese des sechsten und gibt ihm die spirituelle Seele, Buddhi, zum Vehikel. Nun aber birgt letzteres ein Mysterium, in welches niemand eingeweiht werden darf, mit Ausnahme unwiderruflich vereidigter Chelas, oder jenen, denen ein unumwundenes Vertrauen geschenkt werden darf.

The Key to Theosophy, S. 119-120

Ātman zu begreifen übersteigt unser Vorstellungsvermögen; das Buddhi-Prinzip kann man sich nur sehr vage vorstellen. Wir können versuchen, uns letzteres als wunderbaren, strahlenden Glanz des spirituellen Lichtes auszumalen, welcher nach und nach das gereinigte Manas durchdringt. Buddhi ohne Manas ist für uns nicht selbstbewußt und kann nicht auf den mentalen Ebenen tätig sein, aber wenn die beiden vereinigt sind, ist der Mensch mehr als ein Mensch. Der so erreichte spirituelle Zustand übersteigt die Begrenzungen der Persönlichkeit, wie wir sie verstehen, in unendlichem Ausmaß und es ist klar, daß das Gemüt von jeder Spur von Egoismus unbedingt gereinigt werden muß, um ihn zu erlangen. Das geschieht durch langes, fortgesetztes Bemühen während vieler Inkarnationen.

Wir müssen unsere Brüder lieben und den Gott in uns entdecken. Dies ist der einzige Weg zum Herzen des Universums. Deshalb beruht die Mitgliedschaft in der Theosophischen Gesellschaft auf der Überzeugung von der universalen Bruderschaft und nicht auf einem Glaubensbekenntnis oder Dogma. Die Prinzipien oder Elemente in der zusammengesetzten Natur des Menschen werden manchmal als drei ineinandergreifende Unterteilungen dargestellt: Die obere, die mittlere und die niedere oder sterbliche Dreiheit, wie in folgender Tabelle dargestellt:

  {   Ātman Geist, der Innere Gott, die Göttliche Monade.
Obere Dreiheit   Buddhi Strahl, der von Ātman ausgeht.
  { Manas Menschliche Seele mit ihren höheren und niederen Aspekten.
Mittlere Dreiheit   Kāma Das Wunschprinzip.
  { Linga-Śarīra Astral- oder Modellkörper.
Untere Dreiheit   Prāna Lebenskraft.
    Sthūla-Śarīra Physischer Körper.

Der Linga-Śarīra (Astralkörper), das Bindeglied zwischen der unteren und der mittleren Triade, kann als die Seele der unteren Dreiheit oder als der Körper der mittleren Dreiheit betrachtet werden.