Band 10: Yoga und die Yoga-Lehre
Charles J. Ryan
Vorwort
Dieses Buch stellt eine freie Überarbeitung des ursprünglichen Titels Yoga and Yoga Discipline von Charles J. Ryan dar und gibt einen allgemeinen Überblick über Yoga, so wie er in vielerlei Formen und in verschiedenen Ländern des Ostens seit Jahrhunderten praktiziert wird. Der Text macht deutlich, dass im Westen im Allgemeinen die niedrigeren Yoga-Formen bekannt sind. Er warnt vor den Gefahren jener Arten von Yoga, welche die Förderung psychischer Kräfte zum Ziel haben. Das Buch unterstützt die höheren Formen von Yoga, welche die spirituelle Entwicklung des Menschen zum Ziel haben.
Ein Kapitel beschäftigt sich insbesondere mit der sogenannten Yoga-Therapie. Es ist die Zusammenfassung eines Gespräches aus dem Jahre 1960, bei dem James A. Long den Vorsitz führte, um Antwort auf die Fragen einiger Suchender zu geben. Da das Thema jedoch stark an Popularität gewonnen hat, befassen sich auch heute wieder viele Menschen damit. Das Kapitel Yoga-Therapie legt die theosophischen Vorstellungen für die Bereiche der Yoga-Therapie dar, die unseres Erachtens eine ernsthafte Erörterung verdienen. Somit hat es besonders für jene Bedeutung, die sich in irgendeiner Weise in der Praxis mit Yoga beschäftigen.
Okkultismus ist nicht Magie,
obschon die Magie eines seiner Werkzeuge ist.
Okkultismus ist nicht das Erwerben
psychischer oder spiritueller Fähigkeiten,
obschon beide seine Diener sind.
Okkultismus bedeutet auch nicht,
dem Glück nachzujagen, so wie man dieses Wort
versteht, denn der erste Schritt ist Aufopferung,
der zweite Entsagung.
Okkultismus ist die Wissenschaft des Lebens,
der Lebenskunst.
– H. P. BLAVATSKY, Lucifer I, S. 7 (engl.)
Band 1: Was ist Theosophie?
Charles J. Ryan
Prüfe dich selbst; erkenne, daß Göttlichkeit in dir wohnt, nenne sie, wie es dir gefällt. … Prüfe deine eigenen inneren Bestrebungen, und du wirst erkennen, daß herrliche Dinge in dir sind. Sie sind das Wirken deines inneren Gottes, deiner spirituellen inneren Sonne.
Das ist die Botschaft der großen Weisen und Seher aller Zeiten. …
Die Theosophische Gesellschaft hat dieselbe alte Lehre abermals übermittelt … von diesem lebendigen Feuer in deiner Brust, sie spricht von der Einheit mit allem, was ist und von deiner Verwandtschaft mit allem, was besteht; denn wahrhaftig, du bist eng verwandt mit den Göttern, welche die Herrscher, Berater und Regenten des Universums sind.
– G. de Purucker: Questions We All Ask
Einleitung
Die Frage, was Theosophie ist, kann auf verschiedene Weise beantwortet werden. Allgemein gesprochen kann man sagen, daß sie die Kenntnis des Wissens darstellt, das die Evolution der gesamten Natur umfaßt, und daß sie in ferner Vergangenheit durch große Denker, Philosophen, Menschheitslehrer oder Religionsgründer verbreitet wurde, die sie auf systematische Weise formulierten. Sie wurde auch die alte Weisheits-Religion genannt, welche einst in jedem Land des Altertums bekannt war und die das geistige Erbe der Menschheit ist.
H. P. Blavatsky, die Gründerin der Theosophischen Gesellschaft, wählte im Jahr 1875 das Wort Theosophie für die moderne Wiedergabe der alten Weisheit. Dieses Wort ist griechischen Ursprungs und bedeutet ‘Gottes-Weisheit’ oder Weisheit hinsichtlich göttlicher Dinge. Es steht in Verbindung mit philosophischen Schulen wie jenen der Kabbalisten, der Gnostiker und der Neoplatoniker, welche die Gottheit als das Eine Leben ansehen, aus dem sich alles offenbart und womit sich schließlich alles wieder vereinigen soll. Im Alexandrien des dritten Jahrhunderts gründete der Inspirator des Neoplatonismus, Ammonius Saccas, eine eklektische theosophische Schule, welche die vielen Formen religiöser und philosophischer Wahrheiten des Westens und des Ostens in einem System zusammenbringen sollte.
In der gleichen Tradition strebte H. P. Blavatsky danach, ‘alle Religionen, Sekten und Völker in einem gemeinschaftlichen, auf den ewigen Wahrheiten basierenden ethischen System miteinander zu versöhnen’. In ihrem bedeutendsten Werk, Die Geheimlehre, beschreibt sie das Weltall als einen lebenden Organismus, der aus Bewußtsein auf vielen Ebenen besteht, die alle miteinander verbunden und voneinander abhängig sind, wobei jeder Lebensfunke seine göttlichen Möglichkeiten in aufeinanderfolgenden Leben zur Entfaltung bringt. Auf dieser gegenseitigen Verbundenheit von Mensch und Kosmos gründet sich der Begriff der Universalen Bruderschaft, welche den Menschen dazu anregt, mehr von sich für das Wohl aller zu geben.
Weiter erklärt sie, ‘daß die [in ihrem Werk] erwähnten Lehren … weder ausschließlich zu der hinduistischen, der zoroastrischen, der caldäischen oder der ägyptischen Religion gehören, noch zum Buddhismus, dem Islam oder der jüdischen Lehre des Christentums. Die Geheimlehre ist die Essenz von allen.’
Um zu begreifen, was die Herkunft dieser alten Weisheit ist, müssen wir uns ein umfassenderes Bild des Menschen und seines Platzes in der Natur formen. Eine der bedeutendsten Ideen der alten Weisheit ist der Gedanke der Evolution, einem auch in unserer Zeit vertrauten Begriff. Sie muß tatsächlich in einem umfassenderen Rahmen betrachtet werden, als bisher geschehen. In Kapitel VII wird dieses Thema behandelt. Wir wollen uns im Moment mit der Feststellung begnügen, daß der Kosmos mehr Leben und mehr lebende Wesen umfaßt, als unsere stofflichen Sinne wahrnehmen können. Die Kette der Wesenheiten von den Mineralien, Pflanzen, Tieren und Menschen muß sowohl nach unten, als auch nach oben erweitert werden, was bedeutet, daß die Menschheit nicht die Spitze der Evolution darstellt, sondern daß über ihr Reiche von Wesen in höheren Evolutionsstufen existieren, und daß sich unterhalb von ihr Reiche von Wesen befinden, die in ihrer Evolution unter den Mineralien stehen. Ob sie sichtbar oder unsichtbar sind, ist dabei ohne Belang. Es ist bekannt, daß unsere Sinne in ihrem Wahrnehmungsvermögen sehr begrenzt sind.
Das Wissen, welches die Menschheit besitzt, hat sie durch Erfahrung erworben. Im Vergleich mit uns, haben die Wesenheiten, welche auf einer geistigen Stufe über den Menschen stehen, eine viel tiefergehendere Weisheit erworben und verfügen über umfassendere Kenntnisse der Natur und des Menschen als wir. Sie sind die Bewahrer der Alten Weisheit, von der sie der Menschheit durch ihre uns unter verschiedenen Namen bekannten Vertreter oder Botschafter einen Teil bekannt machen, wenn die Zeit dafür reif ist. Erscheinungen wie Jesus, Buddha, Krishna, Śankarachāryā und viele andere gehören zu der Bruderschaft der Weisen, die sich für die Menschheit verantwortlich fühlt und sie unterstützt, wo immer dies möglich ist. Madame Blavatsky war die Botschafterin für unsere Zeit, die im Auftrag ihrer Lehrer, geleitet von dieser eben erwähnten Bruderschaft, einen Teil der Alten Weisheit in ihren Büchern zusammentrug.
Sie nennt in ihrer Geheimlehre drei fundamentale Grundsätze, welche die Grundlage der Alten Weisheit darstellen. Der erste ist das Bestehen eines überall anwesenden, ewigen, grenzenlosen und unveränderlichen Prinzips, welches die unerkennbare Ursache von allem ist und dem kein anderer Name gegeben werden kann als TAT.
Der zweite Grundsatz beinhaltet, daß das Weltall der Bereich ewiger, niemals endender zyklischer Bewegung ist, voller Offenbarungen des zyklischen Lebens, wodurch Sterne, Planeten und andere Himmelskörper erscheinen und wieder als ‘Funken der Ewigkeit’ verschwinden. Das heißt, daß Milchstraßensysteme, Sonnen, Planeten, Menschen, Tiere und Pflanzen fortwährend im Streben nach Vervollkommnung geboren werden und sterben.
Der dritte Grundsatz handelt von der fundamentalen Gleichheit aller Wesen und der notwendigen Pilgerschaft eines jeden Wesens durch den Zyklus der Wiedergeburten. Das gibt allen die Gelegenheit, durch einen langen Zyklus von Erfahrungen auf sämtlichen Ebenen Kenntnisse aus erster Hand zu erwerben, von den geistigsten bis hinunter zu den materiellsten.
Das Unsichtbare manifestiert sich in der Dualität von Geist und Materie in aufeinanderfolgenden Zyklen von Aktivität und Ruhe – über kosmische, solare oder der Erde entsprechende Zeiträume, bis hin zu den uns vertrauten Perioden von Schlafen und Wachen. Ein Beispiel des universalen zyklischen Wirkens ist die Evolution der menschlichen Seele durch wiederholte Inkarnationen in einem menschlichen Körper auf der Erde, die von Perioden der Ruhe in einem geistigen Zustand abgelöst werden.
Im Osten wird dieser Prozeß richtigerweise als der Große Atem bezeichnet. In den Zeiten des Ausatmens erwachen die Götter; Hierarchien ungezählter Abstufungen geistiger und anderer Wesen werden aktiv. Beim Einatmen vollzieht sich der Prozeß in entgegengesetzter Richtung: das geoffenbarte Weltall kehrt, bereichert an Erfahrung, zum ‘Vater’ zurück.
Der Mensch auf der Erde ist ein Lebensatom des Göttlichen, das in die stoffliche Welt hinabstieg, um Erfahrungen zu sammeln und als ein Pilger den Weg zur Quelle zurück zu suchen. In einem bestimmten Stadium seiner Entwicklung vollzieht sich ein innerliches Erwachen, und dann ist der Pilger in der Lage, bewußt den Pfad zu betreten, der zu dem Gott im Inneren führt. Der einzige Weg, diesen Pfad zu finden ist, das Persönliche zu überwinden und nach den Eingebungen des inneren Gottes zu handeln, das heißt, ein von Selbstsucht freies Leben des Mitleids und der Bruderschaft zu führen. Diese Botschaft der Liebe wurde in allen Jahrhunderten durch die der Menschheit Vorangegangenen verkündet. In Johannes 13,34 sagt Jesus: ‘Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander lieb habt.’
In seinem Buch Fragen, die wir alle stellen drückte G. de Purucker dies folgendermaßen aus:
Liebe ist das Bindemittel im Weltall; sie hält alle Dinge an ihrem Platz und unter ihrer ewigen Obhut; ihre wirkliche Natur ist himmlischer Friede, ihr Kennzeichen ist kosmische Harmonie, die alles durchdringt, die grenzenlos, unvergänglich, nicht endend, ewig ist … Liebe ist eine beschützende Kraft; Liebe ist mächtig, sie durchdringt alles; und je unpersönlicher sie ist, desto höher und mächtiger ist sie. Sie kennt keine Grenzen in Raum und Zeit, denn sie ist das fundamentale Wirken der Natur, das Grundgesetz der Natur, und sie ist das universale Band der Einheit zwischen allen Dingen.
– Levensfragen [Lebensfragen] (niederl. Ausgabe), S. 113/114
Diejenigen, welche den Pfad des Mitleids gegangen sind, die sich von jeder Spur persönlicher Selbstsucht gereinigt haben und lebende Verkörperungen der Liebe und Weisheit geworden sind, sind die Meister der Weisheit, des Mitleids und des Friedens, auch Mahatmas genannt. Sie haben die Wahrheit der fundamentalsten Lehre der Weisheits-Religion, die Einheit des Menschen mit dem Weltall, zur lebenden Wirklichkeit gemacht. Sie haben das Göttliche, den inneren Gott in sich selbst gefunden. Sie waren und sind die wirklichen Inspiratoren der Theosophischen Bewegung, ebenso wie von anderen wahren geistigen Bewegungen auf der Erde.