Band 10: Yoga und die Yoga-Lehre
Charles J. Ryan
Die Buddhas des Mitleids
Das große, klassische Werk der hinduistischen Yoga-Schulen ist die Bhagavad-Gītā, und sie wird von den Mahatmas und H. P. Blavatsky oft mit großer Achtung erwähnt und zitiert. Die Schrift ist unentbehrlich für all jene, die ernsthaft nach Selbsterkenntnis suchen, aber sie bringt das göttliche Mitleid, das Buddha in seinem Yoga der großen Entsagung unterrichtete, nicht deutlich zum Ausdruck, so dass wir uns damit nun etwas näher beschäftigen wollen. Auch H. P. Blavatsky scheint dies so empfunden zu haben, und so schenkte sie uns gegen Ende ihres Lebens einen wundervollen Auszug aus der östlichen heiligen Literatur, und zwar das Büchlein Die Stimme der Stille,1 übertragen aus dem „Buch der Goldenen Vorschriften“; es beginnt: „Gewidmet den Wenigen“ – nämlich jenen, die sich danach sehnen, das theosophische Ideal zu leben und der Menschheit ‘bis an das endlose Ende’ zu dienen. Aus diesem kleinen Buch können wir die Grundsätze ersehen, auf welchen die Schulung der Chelas durch die Meister beruht. Würden diese Grundsätze in einem weiteren Kreise akzeptiert werden, käme das nicht nur unserer Erkenntnisfähigkeit der ewigen Dinge zugute, sondern würde auch die Welt zu einem unendlich besseren Ort machen, um darin zu leben.
In Bezug auf das Mitleid finden wir in dem Büchlein Die Stimme der Stille:
Könntest du göttliches MITLEID austilgen? Mitleid ist kein Attribut. Es ist das GESETZ der Gesetze – ist ewige Harmonie, Alayas SELBST; eine uferlose, universale Essenz, das Licht immerwährenden Rechts, die Folgerichtigkeit aller Dinge, das Gesetz ewiger Liebe.
– S. 93
Alaya ist das, was Emerson die ‘Überseele’ nannte. Sie „spiegelt sich in jedem Gegenstand des Universums wider“ (The Secret Doctrine, I:48). Dieselbe Lehre des Mitleids ist ein wesentlicher Bestandteil des wahren Christentums. „Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist Liebe“ und „Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben“ (1 Joh 4,8; 4,20).
Viele Aphorismen aus der Mahāyāna-Lehre, die von Evans-Wentz in Tibetan Yoga and Secret Doctrines angeführt werden, geben die Grundlehren der Stimme der Stille wieder, deren Leitprinzip Selbstaufopferung und Liebe für die Menschheit ist. Zum Beispiel:
Solange das Denkvermögen nicht geschult ist, uneigennützig und unendlich von Mitleid erfüllt zu sein, verfällt man leicht in den Irrtum, nur für sich selbst Befreiung zu suchen.
– S. 75
Das Geringste, das wir für andere tun, ist kostbarer als alles, was wir für unser eigenes Wohl tun.
– S. 90
Wenn man bei allem, was man tut, nur das Wohl der anderen beabsichtigt, ist es nicht nötig, nach eigenem Vorteil zu streben.
– S. 90
Wie unwichtig der wahre Yogi okkulte Phänomene findet, wird deutlich beschrieben:
Für denjenigen, der die erhabene Weisheit erworben hat, ist es gleich, ob er wunderliche Kräfte anwenden kann oder nicht.
– S. 92
Das letzte Zitat aus den Yoga-Abhandlungen bezieht sich auf eine Lehre, die das Herz und die Seele der Stimme der Stille bilden. Es ist die erhabenste Möglichkeit der spirituellen Bestrebung:
Die Tatsache, dass es Menschen gibt, die die bodhische Erleuchtung erreicht haben und die imstande sind, als göttliche Inkarnationen zur Erde zurückzukehren und bis zu der Zeit der Auflösung des physischen Universums für die Befreiung der Menschheit und aller Lebewesen zu arbeiten, zeigt die Tugend des Heiligen Dharma. …
– S. 95
Dies ist ein Hinweis auf „die Große Entsagung“, ein Ideal, das alle anderen Ideale überragt und das der heutigen Welt angeboten wird; es spricht für die Tibeter, dass sie solche heiligen Männer (Bodhisattvas oder Nirmāṇakāyas) mehr verehren als einen fortgeschrittenen Yogi oder ‘Heiligen’, wie erhaben er auch sein möge. Damit verbunden ist das Thema der Pratyeka-Buddhas, über das es immer wieder Missverständnisse gibt, obschon H. P. Blavatsky dies in der Stimme der Stille und The Theosophical Glossary ausführlich erläutert hat.
Dr. Evans-Wentz behauptet mit Recht, dass die Befreiung des Menschen von der Unwissenheit das letztendliche Ziel des Buddhismus in seiner tiefsten Bedeutung ist, die Überwindung von Māyā, was wir nur unzureichend mit dem Wort Illusion übersetzen. Er weist darauf hin, dass Buddha lehrte, dass das erstrebenswerte Ziel, nämlich in Nirvāṇa einzugehen, aufgeschoben werden kann. Das gilt für jene erhabenen Seelen, die bereit sind, dem höchsten Weg der Selbstverleugnung zu folgen und die Große Entsagung zu vollziehen. Das bedeutet, dass der nach spiritueller Meisterschaft Strebende beschließt, niemals aus dem Saṁsāra oder dem Weltbewusstsein der Phänomene zu treten und in den unsagbar gesegneten Zustand von Nirvāṇa einzugehen, bevor nicht die müden Pilger in allen Welten das Beste ihrer Möglichkeiten in diesem Manvantara erreicht haben. Dies ist zweifellos die höchste mögliche Form Universaler Bruderschaft! Die heiligen Männer, die zurückkehrten, um der Erde unter Verzicht auf ihren eigenen Fortschritt zu helfen, werden die Buddhas des Mitleids genannt, womit man sie von den Pratyeka-Buddhas unterscheidet, deren Ideal nicht so erhaben ist.
Gemäß den führenden tibetischen Anhängern des Mahāyāna und durch den Lama Samdup bestätigt, werden die Pratyeka-Buddhas allgemein so betrachtet, wie es hier von Dr. Evans-Wentz formuliert wird:
Selbsterleuchtete (Sanskrit: Pratyeka) Buddhas unterrichten die Lehre nicht in der Öffentlichkeit, sondern tun nur denjenigen Gutes, die in persönlichen Kontakt mit ihnen treten, während allwissende Buddhas, zu denen Gautama der Buddha gehörte, die Lehre im großen Kreis predigen. …
Die Gurus der Schule des Großen Symbols lehren, dass Nirvāṇa nicht für ein Endstadium gehalten werden soll, in welchem derjenige, der diesen Zustand erreicht hat, sich in vollkommenem Frieden und Glückseligkeit selbstsüchtig aufhält. Das heißt, dass Nirvāṇa nicht ein Zustand ist, der nur zum eigenen Wohlergehen erreicht werden muss, sondern um des größeren Wohles willen, das jedem bewussten Wesen zuteil wird, ausschließlich aus diesem Grund. Deshalb ist es so, dass in Tibet alle, die nach göttlicher Weisheit streben, nach vollkommener Erleuchtung, bekannt als Nirvāṇa, das Gelübde ablegen, den Zustand des Bodhisattva oder Großen Lehrers anzustreben. Dieses Gelübde enthält, dass der Gelobende erst dann in Nirvāṇa eintreten wird, wenn sämtliche Lebewesen, angefangen von den niedrigsten Bewohnern der unterhalb des Menschen stehenden Reiche, … sicher über den Ozean von Saṁsāra zum anderen Ufer geführt worden sind.
Die südlichen Buddhisten neigen dazu, Nirvāṇa, wenn es von Pratyeka (oder nicht lehrenden) Buddhas erreicht wurde, als einen Endzustand zu betrachten. Diejenigen, die zur Mahāyāna-Schule gehören sagen jedoch, dass Nirvāṇa ein Zustand des Geistes ist, der infolge einer evolutionären spirituellen Entwicklung erreicht wird, und deshalb nicht als ein Endzustand betrachtet werden kann, da Evolution kein vorstellbares Ende hat, sondern ewig fortdauert.
– Tibetan Yoga and Secret Doctrines, S. 94, 144
Hieraus können wir ersehen, dass die Pratyeka-Buddhas in ihrer spirituellen Entwicklung weit fortgeschritten sind, und trotzdem spricht H. P. Blavatsky von ihrer ‘spirituellen Selbstsucht’! Zu Beginn stiftete diese Aussage einige Verwirrung, aber sie wiederholte sie in ihrem später veröffentlichten Theosophical Glossary und G. de Purucker erläuterte diese scheinbare Schwierigkeit in seinen Goldenen Regeln der Esoterik. Da das Thema für den Studierenden des „Pfades der Rechten Hand“ von großer Bedeutung ist, zitieren wir einige Passagen aus diesem Buch:
(Die Pratyeka-Buddhas) sind sehr erhabene Menschen, sehr heilige Menschen, in jeder Hinsicht sehr reine Menschen, deren Erkenntnis weit, umfassend und tief, deren geistiger Zustand erhaben ist, die aber nach Erreichung der Buddhaschaft, anstatt den Ruf allmächtiger Liebe zu fühlen, anstatt umzukehren und jenen zu helfen, die weniger weit voran sind, weiterschreiten und hinübergehen in das höchste Licht und in die unaussprechliche Glückseligkeit Nirvāṇas eintreten und die Menschheit zurücklassen. Das sind die Pratyeka-Buddhas. Obwohl erhaben, stehen sie doch nicht auf gleicher Stufe wie die Buddhas des Mitleids in ihrer unsagbaren Erhabenheit.
Der Pratyeka-Buddha, der die Buddhaschaft für sich selbst verwirklicht, tut dies nicht selbstsüchtig, er macht es nicht um seiner selbst willen, und er fügt anderen damit keinen Schaden zu. Wenn das so wäre, könnte er ja nie seine Einzel-Buddhaschaft erlangen. Er erreicht sie aber, und er erreicht Nirvāṇa sozusagen automatisch, … .
Es besteht ein eigenartiger Widerspruch im Begriff Pratyeka-Buddha. Der Name ‘Pratyeka’ bedeutet ‘jeder für sich selbst’; und dieser ‘jeder-für-sich-selbst’-Geist ist gerade das Gegenteil von dem Geist, der in dem Orden der Buddhas des Mitleids herrscht, denn in dem Orden des Mitleids herrscht der Geist: Gib auf dein Leben für alles, was da lebt. …
Die Zeit kommt, wo der Pratyeka-Buddha, so heilig er ist, so erhaben er in Ideal und Streben auch ist, einen Entwicklungszustand erreicht, von dem aus er auf jenem Pfad nicht weiter vorwärts gehen kann. Hingegen hat der andere, der sich gleich von Anfang an mit der ganzen Natur und mit ihrem Herzen verbindet, ein ständig wachsendes Arbeitsgebiet, so wie sich sein Bewusstsein weitet und dieses Gebiet erfüllt. Und dieses wachsende Gebiet ist einfach unbegrenzt, weil es die grenzenlose Natur selbst ist. Er wird völlig eins mit dem spirituellen Universum, während der Pratyeka-Buddha nur eins wird mit einem besonderen Strang oder Strom der Entwicklung im Universum. …
So kommt auch die Zeit, wo der Buddha des Mitleids, obgleich er allem entsagt hat, weit über den Zustand hinausgelangt ist, den der Pratyeka-Buddha erreicht hat. Und wenn der Pratyeka-Buddha nach einer bestimmten Zeit aus dem nirvanischen Zustand heraustritt, um seine evolutionäre Reise erneut anzutreten, dann wird er sich weit hinter dem Buddha des Mitleids finden.
– Goldene Regeln der Esoterik, S. 172-177
Der Pratyeka-Pfad ist kein Pfad, der nach unten führt, es sei denn, man vergleicht ihn mit dem Pfad der Buddhas des Mitleids, mit dem ‘Geheimen PFAD’, wie ihn H. P. Blavatsky in der Stimme der Stille bezeichnet. Zu Beginn gibt es nur einen Pfad, aber schließlich muss die große Entscheidung getroffen werden; und der Pratyeka-Buddha wählt die Richtung, die von der Welt der Menschen wegführt, während der andere den Weg wählt, auf dem „er in dem glorreichen Körper, den er für sich selbst webte, verbleibt, unsichtbar für die nicht eingeweihte Menschheit, um über sie zu wachen und sie zu schützen“, wie ein Stein in dem mystischen ‘Schutzwall’.
Gautama der Buddha ermutigte auch die einfachen Menschen, indem er ihnen zeigte, wie er die furchterregenden und scheinbar endlosen Zyklen von Tod und Wiedergeburt durchbrechen konnte, um das ewige Drehen des karmischen Rades zu überwinden, während er gleichzeitig die Fesseln schmiedete, die ihn am Ende zurückhielten. Indem er das Gute Gesetz treu befolgte, konnte er einst die unsagbare Glückseligkeit der Befreiung erreichen. Aber für diejenigen, die durch ihre übergroße Liebe für die Menschheit dieses Recht erworben haben, erklärte der Buddha den erhabenen Pfad der Selbstaufopferung, den Pfad der Großen Entsagung.
Gautama der Buddha gehörte zu der Hierarchie des Mitleids, aus der von Zeit zu Zeit große Lehrer und Boten ausgesandt werden, um die Menschheit bei ihrer Evolution zu unterstützen. Die Spitze dieser Hierarchie ist der Stille Wächter, „der Namenlose Eine“, wie H. P. Blavatsky ihn nennt. Und sie sagt:
Er ist der „Initiator“, genannt das „GROSSE OPFER“. Denn an der Schwelle des LICHTES sitzend, blickt er in das LICHT aus dem Kreise der Dunkelheit, den er nicht überschreiten will; noch wird er seinen Posten verlassen vor dem letzten Tage dieses Lebenszyklus. Warum bleibt der einsame Wächter auf seinem selbsterwählten Posten? Warum sitzt er an der Quelle der ursprünglichen Weisheit, von der er nicht länger mehr trinkt, weil er nichts zu lernen hat, das er nicht wüsste – führwahr, weder auf dieser Erde noch in ihrem Himmel? Weil die einsamen Pilger mit wunden Füßen, auf ihrer Rückreise in ihre Heimat, bis zum letzten Augenblick niemals sicher sind, ihren Weg in dieser grenzenlosen Wüste von Illusion und Materie, Erdenleben genannt, nicht zu verlieren. Weil er gern einem jeden Gefangenen, dem es gelungen ist, sich von den Banden des Fleisches und der Illusion zu befreien, den Weg zeigen möchte zu jener Region der Freiheit und des Lichtes, aus der er sich selbst freiwillig verbannt hat.
– The Secret Doctrine, I:208
Wir mögen uns fragen, warum die Kenntnis der Lehren von den Pratyeka-Buddhas und den Buddhas des Mitleids für unsere eigene Existenz von Bedeutung ist. Das Erreichen dieses hohen Evolutionsstadiums liegt in so ferner Zukunft, dass uns die Bedeutung für unser heutiges, praktisches Leben nicht klar ist.
Es ist aber keine Angelegenheit der fernen Zukunft, die uns nur in dem Maße interessieren sollte, wie eine schöne, idealistische Theorie. Wir müssen in unserem Leben stets erneut wählen, und wenn wir die ‘Große Entsagung’ auch noch nicht erreicht haben, so spielt sie im Prinzip dennoch bei jeder von uns getroffenen Entscheidung eine Rolle. Oft ist unser Motiv Eigeninteresse, aber andererseits gibt es in jedem Menschenleben zahllose Beispiele manchmal ganz unscheinbarer Taten, die von dem Verlangen getragen werden, anderen zu helfen oder zu dienen.
Der Entschluss, dem einen oder dem anderen Pfad zu folgen, wird jeden Tag von uns gefasst, und wir werden ständig zwischen dem einen und dem anderen Pfad hin und her pendeln, bis wir stark genug sind, um den entscheidenden Schritt zu tun.
Fußnoten
1. H. P. BLAVATSKY, Die Stimme der Stille, Theosophischer Verlag GmbH, Paperback | Geschenkausgabe, Leinen mit Goldschnitt. [back]
Band 1: Was ist Theosophie?
Charles J. Ryan
Nach dem Tod
Der Tod ist nicht der ‘König der Schrecken’, sondern ein freundlicher Befreier, eine segensreiche Befreiung für den Geist. Er ist an sich schmerzlos und das Tor zur Ruhe und zu unaussprechlicher Seligkeit. ‘Tod ist Geburt’ in einem sehr realen Sinne. Er ist ein völlig natürlicher Vorgang, notwendig für die Evolution des Menschen über die Zyklen des Erden-Lebens hinweg; er ist so notwendig wie der Schlaf, dem er auf mehr als eine Weise gleicht.
Der Tod ist jedoch keine endgültige Befreiung; er ist nicht das, was die östliche Philosophie als ein Überqueren oder Erreichen des ‘Anderen Ufers’ bezeichnet. Das ist ein dichterischer Ausdruck für die Tatsache, daß die Erkenntnis des inneren Gottes erreicht ist, das Resultat, das man sich durch viele Tode und Geburten erkämpft hat. Es ist der Zustand hoher Adeptschaft.
Die Menschen, welchen die inneren Bereiche der Natur wie ein Buch offenliegen, die durch spirituelle Entwicklung und Initiation den Schleier in vollem Bewußtsein durchdrungen haben, gaben uns einen allgemeinen Überblick über die Stufen des Fortschritts und des Freiwerdens nach dem Tod, einen Überblick, der logisch, wissenschaftlich und in Übereinstimmung mit unseren Idealen ist.
Kurz gesagt, sind die wichtigsten Einzelheiten diese: nachdem der verbrauchte physische Körper abgelegt wurde, zerfällt der halb-physische Astralkörper, Linga-śarīra, und es folgt ein Prozeß der Vorbereitung, in dem das menschliche Ego allmählich von den niedrigeren, weltlichen und alltäglichen Wünschen befreit wird. Das Niedere Manas durchschreitet sozusagen einen Prozeß, in dem es gereinigt wird, so ähnlich wie Metall durch Hitze von der Schlacke befreit wird. Das Kāma-Prinzip schwindet als aktive Kraft mit den niedrigen Erinnerungen der vergangenen Persönlichkeit dahin. Manchmal ist dieses Prinzip so stark und die Verbindung so eng, daß es lange Zeit als trügerische oder Pseudo-Persönlichkeit, Kāma-Rūpa genannt, zurückbleiben kann. Aber das wahre menschliche Ego schreitet vorwärts und läßt das Abbild oder den Rückstand der früheren Persönlichkeit, ihrer spirituellen Qualitäten beraubt, zurück, auch wenn diese zeitweise ein gewisses Maß an Bewußtsein und sogar Gedächtnis beibehalten mag.
Das wirkliche Menschliche Ego oder die Monade ist von den niedrigen leidenschaftlichen Elementen befreit oder technisch ausgedrückt, es ist durch den ‘Zweiten Tod’ gegangen und geht in den devachanischen Zustand ein, wo es uneingeschränkte Glückseligkeit in einer ‘Himmels-Welt’ genießt, der subjektiven Schöpfung der höchsten spirituellen Gedanken und Bestrebungen ‘im Busen der Göttlichen Monade’.
‘Denn welche Träume auch immer im Todesschlaf kommen mögen …’
– SHAKESPEARE, Hamlet, III. Akt, 1. Szene
Das geläuterte menschliche reinkarnierende Ego erfährt in seinem eigenen devachanischen Zyklus ein völliges Erwachen zu spirituellem Bewußtsein, einen Höhepunkt und einen Abstieg in einen Zustand der Lethargie, welcher der nächsten Verkörperung auf Erden vorausgeht. Die karmischen Samen beginnen zu keimen, während der Zyklus seine Runde vollendet; dann erblickt ein neugeborenes Kind das Licht des vertrauten irdischen Tages.
Im Augenblick des Todes, vor der Bewußtlosigkeit, die der Vorbereitung für das Devachan vorausgeht, entrollt sich vor dem inneren Auge des Ego ein vollständiges Panorama des vergangenen Lebens. Jedes Ereignis wird in seinem richtigen Zusammenhang gesehen. Alle Handlungen und Gedanken werden von uns selbst beurteilt, und es wird deutlich, daß selbst die geringsten davon unter das unpersönliche Walten der ausgleichenden Gerechtigkeit von Karma fallen. Auch vor der Wiedergeburt entrollt sich ein ähnliches Bild von den Bedingungen, die das menschliche Ego in der kommenden Inkarnation antrifft – was es sich selbst durch seine eigenen Handlungen und Gedanken bereitet hat. Alles wird deutlich gezeigt. Wenn daher die äußere Persönlichkeit, die nichts von den vergangenen karmischen Ursachen weiß, in der bevorstehenden Inkarnation das Unglück verflucht, das ihr beharrlich auf den Fersen blieb, und sich bitter über das Mißgeschick beschwert – so beklagt sich der innere Mensch nicht, denn er weiß, es ist die Ernte früherer Saaten. Wenn wir den Schlüssel zum Wissen finden und lernen, nach innen zu schauen, werden wir dies alles erkennen und ungeachtet äußerer Mißgeschicke Frieden haben. Die Menschen, die über die Tiefschläge des Lebens nicht klagen, haben schon ein intuitives Wissen davon, wenn sie auch vielleicht ihre Gefühle nicht analysieren können.
Außergewöhnliche Fälle und abweichende Umstände im nachtodlichen Zustand können an dieser Stelle nicht besprochen werden. Einen sehr wichtigen Vorgang, der nach dem Tod des Körpers und im devachanischen Zustand des menschlichen Egos stattfindet, können wir in diesem Zusammenhang aber nicht übergehen. Das menschliche Ego selbst wird dadurch nicht bewußt beeinflußt, denn der Prozeß betrifft ausschließlich die höhere Monade, das essentielle Selbst, aus dem das menschliche Ego oder die Monade hervorging, als sie ihre letzte Inkarnation begann und zu der sie zu ihrer Ruhe und spirituellen Erholung zurückkehrt.
Dieser besondere Prozeß besteht in der Wanderung der spirituellen Monade von einem Planeten der sogenannten ‘Sieben Heiligen Planeten’ zum anderen, wenn sie dem Pfade folgt, der als die Äußere Runde bekannt ist. In dieser Äußeren Runde sammelt die höhere Monade Erfahrungen hinsichtlich der Formen von Leben und Materie, die sich von jenen unterscheiden, welche sie auf der Erde kannte, die aber für ihren eigenen Fortschritt notwendig sind. Obwohl die menschliche Monade oder das Ego im Busen der höheren Monade ruht, hat es keinen Anteil an diesen Erfahrungen, die ihm nicht zugänglich sind, bis es eine weit höhere Stufe erreicht hat. Die menschliche Monade bleibt in ihrer devachanischen Seligkeit, während das spirituelle Elter eine Zeitlang auf jedem der ‘Heiligen Planeten’ verweilt.
Übereinstimmend warnen die großen Seher und Weisen aller Zeitalter nachdrücklich vor der Praktik, die Schatten der Verstorbenen zurückzurufen. G. de Purucker sagt in The Esoteric Tradition, S. 761:
‘Nachdem der physische Körper abgeworfen wurde und das Reinkarnierende Ego von der Anziehung der stofflichen Sphäre befreit ist, bleibt es für eine bestimmte Zeit in den niederen Ebenen oder Reichen des Astrallichts, und schließlich findet der ‘Zweite Tod’ statt, d. h., das Reinkarnierende Ego wirft seinen Kāma-Rūpa ab, die mehr oder minder exakte Kopie in Gestalt und Erscheinung des Menschen wie er war, als er noch auf der Erde lebte. Daher spricht man davon, daß die niederen Reiche des Astrallichts buchstäblich überhäuft sind mit einer großen Anzahl solcher Kāma-Rūpas oder Formen und Gestalten, und jede von ihnen ist eine mehr oder weniger perfekte Kopie des früher auf der Erde lebenden Wesens. Diese Kāma-Rūpas oder astralen Überbleibsel, die Schatten oder astralen Bildnisse der Wesen, die auf der Erde gelebt haben, sind die ‘Spukgeister’ oder Trugbilder, von welchen in der Esoterischen Philosophie gesprochen wird. Sie sind alle seelenlos, sind lediglich ‘Hüllen’, weil das Reinkarnierende Ego, das seinen Kāma-Rūpa früher als ein Bindeglied zwischen sich selbst und dem physischen Körper benutzte, nun von seinem Kāma-Rūpa befreit und auf seinem Weg ins Devachan ist.’
Die Theosophie leugnet nicht, daß viele Phänomene der spiritistischen Sitzungen echt sind. Tatsächlich begann H. P. Blavatsky ihre Arbeit in der Öffentlichkeit bei den Spiritisten, weil sie wußte, daß diese für psychische Phänomene aufgeschlossener waren als die damaligen Wissenschaftler oder Theologen; sie hoffte, daß sie das Licht begrüßen würden, das die Östliche Philosophie auf dieses gesamte Gebiet wirft.
Gemäß der Alten Weisheit ist es völlig ausgeschlossen, daß die spirituellen Egos sich jemals ‘materialisieren’; abgesehen von Ausnahmefällen stammen die Mitteilungen, die der Mensch empfängt, von dem Kāma-Rūpa oder der Pseudo-Persönlichkeit, die sich noch nach dem Kontakt mit der irdischen Ebene sehnt, wenn sie auch nur eine ‘Hülle’ ist, aus der sich die höhere Triade wie ein Schmetterling aus seinem Kokon zurückgezogen hat.
Eine weitere Verwirrung, die sehr häufig vorkommt, entsteht durch die Possen von Naturgeistern oder Elementalen, welche die verblassenden gespenstischen Schatten beleben und die abgeschiedene Persönlichkeit vortäuschen können, wie sie sich oft höhnisch rühmen. Jene Wesen werden als Elementale bezeichnet,
‘die einen Zyklus evolutionären Wachstums beginnen und sich im elementalen Zustand ihres Wachstums befinden. Es ist ein vereinfachender, verallgemeinernder Ausdruck für alle Wesen, die in ihrer Entwicklung unter den Mineralien stehen.’ …
‘Ein Elemental ist ein Wesen, das in unserem Universum die niederste Ebene oder die niederste Welt, den untersten Grad oder die unterste Stufe der aufsteigenden Lebensleiter dieses Universums betreten hat. Diese Lebenstreppe beginnt in jedem Universum auf seiner untersten Stufe und endet für jedes Universum auf seiner höchsten Stufe – auf der des universalen, kosmischen Geistes. Daher wandert das Elemental bei seinem Aufstieg auf der Lebensleiter vom elementalen Zustand durch alle Reiche des Seins, geht durch den menschlichen Zustand, wird übermenschlich, halbgöttlich – ein Halbgott – und wird dann ein Gott. Auf diese Weise betraten auch wir Menschen zuerst dieses gegenwärtige Universum.
Jede Menschenrasse auf der Erde hat an diese Scharen elementaler Wesen geglaubt, von denen einige sichtbar sind wie die Menschen, die Tiere und die lebenden Pflanzen, während andere unsichtbar sind. Die unsichtbaren Wesen erhielten verschiedene Namen: Feen, Naturgeister, Poltergeister, Alben, Heinzelmännchen, Wichtelmänner, Nixen, Trolle, Kobolde, weiße Frauen, Faune, Satyre, Devas, Dschinns usw.’
– Okkultes Wörterbuch, G. de Purucker, S. 48
Man muß sich ganz klar darüber werden, daß die astrale Welt, besonders in ihren zugänglicheren Bereichen, von feinen Täuschungen erfüllt ist, in denen sich der nicht geschulte Forscher, wie intelligent er auch sein mag, wie in einem Irrgarten schnell verliert. Die Türe, einmal geöffnet, ist schwer zu schließen; das haben viele zu ihrem Schaden erfahren, wenn sie unwissend in den sogenannten ‘okkulten Künsten’ herumgepfuscht haben oder versuchten, die niederen physischen Kräfte zu entwickeln, die fälschlicherweise spirituell genannt werden.
In der westlichen Welt vermutet man kaum, daß das menschliche Wesen von einem so vielfältigen ‘Bewußtseinsstrom’ gebildet wird; und noch weniger kennt man die ‘Geographie’ der unsichtbaren Ebenen.
Wir tun gut daran, die astrale Ebene jenen zu überlassen, welche die Aufgabe haben, die dortigen Täuschungen zu untersuchen; jenen, die die notwendige Schulung der Selbstkontrolle und der Selbsterkenntnis durchgemacht haben, die nicht lediglich danach streben, die intellektuelle Neugier zu befriedigen, und die durch den starken Schutz der unpersönlichen Liebe behütet werden. Für uns befindet sich unsere Schule der Erfahrung hier und jetzt, in den Ereignissen des täglichen Lebens.
Das bedeutet natürlich nicht, daß man das gesammelte Wissen und die Lehren über das Thema des Psychismus und die Gesetze, die diesen Erscheinungen zugrunde liegen, nicht studieren sollte. W. Q. Judge sagt:
‘Unsere Philosophie erklärt die bereits verfügbaren Tatsachen und zeigt deutlich, daß zuerst die Tugenden und edlen Charakterstärken entwickelt werden müssen, bevor wir auch nur einigermaßen imstande sind, uns praktisch mit psychischen Kräften zu beschäftigen. Gleichzeitig kann sie dazu beitragen, dem gesamten Aberglauben bezüglich der vielen sich täglich ereignenden paranormalen Erscheinungen zuvorzukommen und damit abzurechnen, indem sie die zusammengesetzte Natur des Menschen hinreichend erklärt.’
– The Theosophical Forum, Aug. 1894
Der zeitweilige Trost, der den Trauernden durch die angeblichen Verbindungen gespendet wird und auf Kosten des Mediums geht, wird reichlich durch die von der Theosophie erklärten Übel aufgewogen. Wenn wir unsere verstorbenen Freunde wirklich lieben, dürfen wir nicht versuchen, sie auf diese irdische Ebene zurückzuholen, von der sie zu dem unaussprechlichen Frieden Devachans aufgestiegen sind. Selbst der Kāma-Rūpa, die Hülle, sollte nicht wiederbelebt und mit ‘scheinbarem’ Leben und Intelligenz ausgestattet werden. Es ist ein Verbrechen gegen den wohltätigen Prozeß des Loslösens von der Natur.
Es ist besser, daß wir unsere Freunde ihren natürlichen Weg empor und nach innen beschreiten lassen, darauf vertrauend, daß wir sie sicherlich erneut treffen werden, wenn wir sie wirklich lieben, denn Liebe zieht Liebe an. In den östlichen Ländern wird das Zurückrufen der Schatten als ungehörig und schlimm betrachtet, und die mit der Mediumschaft verbundenen Gefahren sind nur zu gut bekannt.
Wir sind jedoch von den Freunden, die wir im Leben liebten, nicht gänzlich getrennt, selbst jetzt nicht. Es besteht die Möglichkeit einer sehr realen Verbindung zwischen unserem und ihrem spirituellen Ego. Das geschieht im Schlaf, wenn wir von den Begrenzungen der niederen Persönlichkeit befreit sind und unser besseres Selbst, das Höhere Manas, sich in hochspirituelle Bereiche zurückzieht. Es ist auch sehr selten, daß man sich beim Aufwachen an eine Spur von einer derartigen Verbindung erinnern kann, wenn auch ein Gefühl zurückbleiben kann, daß man ein wunderbares Erlebnis gehabt hat. Solche Erfahrungen haben jedoch nichts mit den Banalitäten der gewöhnlichen spiritistischen Sitzung oder mit den astralen Untersuchungen der parapsychologischen Forschung zu tun.
Die Großen Lehrer sagen uns, daß wir – um das Leben zu kennen – den Tod kennen müssen, und daß das ‘Abenteuer des Lebens’ in seiner Gesamtheit die Intervalle zwischen den Inkarnationen einschließt, denn der Tod des zeitweiligen Vehikels ist für das wahre Ego nur eine Tür zu neuen Erfahrungen. Die Abenteuer des Spirituellen Egos können aber von jenen verstanden werden, die zu hohem spirituellem Bewußtsein emporgestiegen sind und durch Einweihung den Schleier durchschritten haben. Die anderen können nur den äußeren Rand des Wissens berühren.
Der Adept und das Medium befinden sich an entgegengesetzten Polen; der erstgenannte kann nicht durch unbekannte Kräfte oder Wesen beherrscht werden; seine Schulung entwickelt die positiven, gottähnlichen Eigenschaften. Er ist ein Meister des Lebens, kein passiver Vermittler, der selbst die Gesetze der halbmateriellen, astralen Bereiche nicht kennt.