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The Theosophical Society
8 – Das Universum: ein lebender Organismus
Ein Universum tritt ins Dasein, weil sich eine kosmische Wesenheit verkörpert; und ein Universum stirbt, so wie ein Mensch stirbt, weil es einen Zustand erreicht, in welchem der größte Teil seiner Energien bereits in die unsichtbaren Reiche übergegangen ist. Universen verkörpern sich genauso wie menschliche Egos. Die gleichen fundamentalen Gesetze herrschen im Großen wie im Kleinen. Es besteht kein wesentlicher Unterschied. Die Unterschiede sind in den Einzelheiten zu finden, nicht in den Prinzipien. Tod ist nur ein Wechsel, Leben ist nur eine Erfahrung. Das einzig Bleibende ist reines, ungetrübtes Bewusstsein, denn es schließt alles andere ein.
Für gewöhnlich denken die Menschen, dass sie bis zur vollen Entwicklung reifen und dann nicht mehr weiter wachsen, dass sie für eine Zeitlang in diesem Zustand verbleiben und anschließend langsam verfallen. Eine derartige Phase des Stillstands existiert nicht. Die Kräfte, welche den Menschen zusammensetzen und ihn zu einem Wesen machen, bewegen sich ständig auf dem gleichen Pfad, der das Baby zur Geburt führt, das Kind zum Erwachsenen macht und der den Erwachsenen zum Tod führt. Von dem Augenblick an, in welchem in einem beliebigen Leben der Höhepunkt der Fähigkeiten und Kräfte eines Menschen erreicht ist, beginnt der Zerfall, wobei dieser ‘Zerfall’ einfach bedeutet, dass der innere Mensch bereits beginnt, seinen Weg und seinen neuen Körper in den unsichtbaren Welten zu erschaffen.
Der Mensch ist auf vielen Ebenen zu Hause. Er ist tatsächlich überall zu Hause. Unser Erdenleben ist nur ein kurzer Bogen auf dem Kreis des Daseins. Wie absurd wäre es zu sagen, dass irgendein besonderer Ort wie unsere Erde das Richtmaß sei, nach dem die ganze Wanderung des Menschen beurteilt wird. Genauso ist es bei der Verkörperung und dem Wachstum eines Universums. Es hat ebenfalls seinen Höhepunkt und seinen Verfall, dem dann der Tod folgt. Verursacht wird die Verkörperung dadurch, dass die kosmische Wesenheit aus den unsichtbaren Sphären in die materiellen Bereiche heraustritt, sich in den Substanzen dieser Bereiche verkörpert, aus ihnen ein materielles Universum aufbaut und dann wieder verschwindet. Wenn dieses Dahinschwinden dem Ende entgegengeht, befindet sich das Universum in den Stadien seiner Auflösung.
So ist es auch bei einem Stern oder bei einer Sonne oder deren Heimat-Universum. So ist es bei jeder Wesenheit: Leben ist endlos, es hat weder Anfang noch Ende; und ein Universum unterscheidet sich im Wesentlichen keineswegs von einem Menschen. Wie könnte es auch, der Mensch stellt doch nur das dar, was das Universum als das Urgesetz verkörpert. Der Mensch ist der Teil, das Universum ist das Ganze.
Schaut hinauf in das violette Gewölbe der Nacht. Betrachtet die Sterne und die Planeten: Jeder von ihnen ist ein Lebensatom im kosmischen Körper, jeder von ihnen ist der organisierte Wohnort einer Vielzahl kleinerer Lebensatome, welche die leuchtenden Körper, die wir sehen, aufbauen. Überdies, jede funkelnde Sonne, die den Himmel schmückt, war zu irgendeiner Zeit ein Mensch oder ein dem Menschen gleichwertiges Wesen, das in gewissem Grad Selbstbewusstsein, intellektuelle Kraft, Bewusstsein, spirituelle Vision und einen Körper besaß. In längst vergangenen kosmischen Manvantaras1 waren die Planeten und die Myriaden von Wesenheiten auf diesem Planeten, die solch einen kosmischen Gott, einen Stern oder eine Sonne umkreisen, selbst die Lebensatome jener Wesenheiten. Während sie viele Zeitalter hindurch hinterherzogen, lernten sie alle und schritten voran. Doch ihr Führer, die Quelle ihres Daseins, war auf dem Pfad der Evolution immer voraus.
Durch unsere Handlungen beeinflussen wir ständig das Schicksal der zukünftigen Sonnen und Planeten, denn wenn wir die eingeborenen Kräfte des Gottes im Innern hervorgebracht haben und zu herrlichen, in den kosmischen Tiefen strahlenden Sonnen geworden sein werden, dann werden die Nebel und Sonnen um uns herum die entwickelten Wesenheiten sein, die jetzt unsere Mitmenschen sind. Infolgedessen werden die karmischen Beziehungen, die wir miteinander auf der Erde oder auf anderen Globen unserer Planetenkette oder sonstwo haben, mit Sicherheit ihr Schicksal ebenso beeinflussen wie unser eigenes.
Ja, jeder Einzelne von uns wird in weit entfernten Äonen der Zukunft eine Sonne sein, die in den Räumen des Raums leuchtet. Das wird dann geschehen, wenn wir die Gottheit im Innersten unseres Wesens entwickelt haben und wenn diese Gottheit ihrerseits zu noch größeren Höhen fortgeschritten sein wird. Jenseits der Sonne gibt es andere Sonnen, die so hoch stehen, dass sie für uns unsichtbar sind, deren göttlicher Begleiter unsere Sonne ist.
Die Milchstraße, ein vollständiges und in sich abgeschlossenes Universum, ist als Gesamtheit nur eine kosmische Zelle im Körper einer superkosmischen Wesenheit, die ihrerseits wiederum nur eine von weiteren unendlichen Größen ihrer Art ist. Das Große enthält das Kleine; das Größere enthält das Große. Alles lebt für und mit allem anderen. Das ist der Grund, warum Sondersein die „große Ketzerei“ genannt wurde. Es ist die große Täuschung, denn es gibt kein Sondersein. Nichts kann für sich allein leben. Jede Wesenheit lebt für alle, und das All ist ohne diese eine Wesenheit unvollständig und lebt daher für sie.
Der grenzenlose Raum ist unsere Heimat. Dorthin werden wir gehen und dort sind wir tatsächlich auch jetzt. Wir sind nicht nur durch unzertrennliche Glieder mit dem wahren Herzen der Unendlichkeit verbunden, sondern wir selbst sind dieses Herz. Das ist der stille, schmale Pfad, von dem die Philosophen des Altertums lehrten; der Pfad des spirituellen Selbst im Innern.
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Unser Schicksal liegt in unseren eigenen Händen, und wir können uns selbst fördern oder verderben. Kein Gott verbietet, kein Gott zwingt; wir sind Kinder des Göttlichen und daher Teilhaber an der göttlichen Willensfreiheit. Wir erarbeiten unser Schicksal auf unsere eigene, schwache Weise als nur teilweise entwickelte Seelen.
So wie wir unser Leben gestalten, so wird unser Leben werden: gut, schlecht, wohlgestaltet, entstellt, schön oder hässlich. Wir machen es so. Darin liegt kein Fatalismus. Die Natur, die uns umgibt, unterstützt uns nicht nur, sondern sie behindert uns seltsamerweise auch gleichzeitig in gewissem Maß, um uns die Gelegenheit zu geben, unsere Stärke an der Opposition zu üben; das ist der einzige Weg, gute Muskeln zu entwickeln!
Übung bildet Stärke heran. Gäbe uns die Natur keine Gelegenheit, den Gott in uns selbst zu erproben, würden wir niemals wachsen. Daher ist die Natur nicht nur eine sehr schöne, hilfreiche Mutter, sondern auch eine strenge Amme, die mit unendlich mitleidsvollem Auge über uns wacht. Und mit ihrem Wirken und mit ihren Reaktionen auf das, was wir tun oder mit unserem Willen verfolgen, drängt sie darauf, dass dieser Wille durch Übung an Stärke zunimmt und dass unser Verständnis durch Anwendung klarer und schärfer wird.
Fußnoten
1. Manvantara ist eine Zusammensetzung von zwei Worten, Manu-antara, mit der Bedeutung „zwischen zwei Manus“. Der Ausdruck wird daher technisch für die Periode manifestierter Tätigkeit zwischen dem eröffnenden oder Wurzel-Manu und dem abschließenden oder Samen-Manu eines jeden Globus angewendet. Durch die Erweiterung des Gedankens hat dieser Ausdruck die allgemeine Bedeutung für die Lebenszeit eines beliebigen Eies von Brahmā angenommen, ganz gleich, ob es sich um einen Planeten, um eine Sonne oder um eine Galaxis handelt. Daher steht Manu kollektiv für die Wesenheiten, die zu Beginn einer Manifestation erscheinen und von denen alles abgeleitet wird. [back]