2 – Die Suche des Menschen nach Wahrheit

Die Wahrheit ist trügerisch. Gelehrte forschen in der Vergangenheit, Wissenschaftler versuchen das Universum, das Atom, den Schmetterling zu erklären; Nachbarn unterhalten sich über den Zaun und bemühen sich, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Diese Phrase, Dinge wie sie sind, ist mächtig. Wir könnten sie provisorisch als Definition der Wahrheit annehmen. Die Dinge, wie sie sind, sind verschieden von dem, was sie unseren Sinnen und unserem beschränkten Denken nach zu sein scheinen.

Unsere Suche nach Wahrheit geht Hand in Hand mit unserer Fähigkeit, sie zu verstehen. Ein Teil dieses Prozesses besteht darin, dass wir unser Wesen mehr öffnen, um besser zu verstehen und mitleidsvoller zu werden. Jene, deren Herz und Denkvermögen größer sind, können tiefer unter die Oberfläche sehen; sie werden durch unsere engen Horizonte nicht begrenzt.

Was hindert uns daran, die Dinge so zu sehen, wie sie in Wirklichkeit sind? Da spielt natürlich die Täuschung der Erscheinungen, im Osten Māyā genannt, eine Rolle. Unzählige Beispiele bestätigen, dass Erscheinungen täuschen; auch unsere vorgefassten Meinungen stehen uns im Wege. Wir sehen nur, was wir sehen wollen. Wir nähern uns der Realität mit einer Brille, die bereits gefärbt ist. Jede Ära und jede Kultur färbt ihre Brille anders. Wir wollen, dass die Realität sich uns so zeigt, wie wir sie uns vorstellen, anstatt so wie sie ist. Unsere menschliche Natur ist nicht genügend offen und flexibel. Unser Denken ist nicht vorurteilsfrei; und auch unsere Intuition ist nicht lebendig genug, um in das Herz der Dinge einzudringen. Bis jetzt sind wir nur teilweise evolviert oder erwacht.

Jeder hat irgendwie das Verlangen zu wissen, wie die Dinge wirklich sind. „Wie geht es dir?“ fragen wir einen Freund. Wir möchten es wissen. Wir sind mit diesem Menschen verbunden. Sein Wohlergehen und das unsere sind miteinander verknüpft. Wenn es ihm nicht gut geht, fühlen auch wir uns irgendwie schlechter. Was ist wirklich mit ihm los? Nehmen wir an, er sucht einen Arzt auf und wird auf vielfache Weise gründlich untersucht und für gesund erklärt. Was sagt uns das über ihn? Praktisch nichts. Das kommt daher, weil die wichtigsten Aspekte eines Menschen unsichtbar sind. Es ist unmöglich, den wirklichen Menschen nur nach den äußeren Gesichtspunkten zu erforschen, denn er ist viel mehr. Sollten wir nicht dieselbe Beweisführung auch auf andere Gebiete anwenden? Auf Vögel und Blumen, auf den Wind und den Regen, auf Kometen und Sonnen? Besitzen die Dinge hinter dem äußeren Schein nicht auch eine innere Wirklichkeit? Die Dichter verspüren das sehr stark, denn darum geht es in der Dichtkunst.

Was ich sagen möchte ist, dass wir für die innere Wahrheit ebenso offen und empfänglich bleiben sollten, wie wir wachsam sind, sichtbare Erscheinungen zu beobachten und zu klassifizieren. Oft ist es wichtiger, ein Gefühl für die Dinge zu erlangen, als sie zu analysieren, zu messen und zu wiegen. Die Suche nach der Wahrheit ist kein intellektuelles Spiel. Es ist ein Schauen nach innen und ein Schauen nach außen. Was wir außen sehen, würde nichts bedeuten, würde es nicht etwas in uns zünden. Wie können wir Schönheit, Größe, Mut erkennen, wenn diese Eigenschaften nicht in uns sind und wir darauf reagieren? In diesem Sinn wohnt die Wahrheit als ein göttliches Potenzial in uns oder wie Browning es ausdrückte: „In uns allen gibt es ein Zentrum, / wo Wahrheit in Fülle wohnt.“ Aus diesem stillen Zentrum entspringen Strahlen und Einsichten. Der Mystiker oder Weise, der Künstler oder Dichter bringt diese Strahlen zum Ausdruck; und diese haben die Kraft, uns zu erwecken.

Die Wahrheit wohnt im Herzen des Herzens aller Wesen, ob groß oder klein. Einige haben für diese Wahrheit mehr Verständnis entwickelt. Wir sind auf der menschlichen Stufe des Erkenntnisvermögens und des Selbstausdrucks. Vögel sind Vögel auf Grund desselben Prozesses. Götter sind Götter, weil sie das Göttliche entwickelt haben, deshalb war die Suche nach Wahrheit zu allen Zeiten mit der Vorstellung des Pfades verbunden – des Pfades, auf dem die latenten Fähigkeiten entfaltet werden. Wir befinden uns auf diesem Pfad, der uns zur vollen Blüte des Menschseins führt, ob wir das erkennen oder nicht. Wenn wir aber unser Gesichtsfeld erweitern, so dass es mehrere Leben oder die Reinkarnationen umfasst, dann erkennen wir, dass uns die Zeit zur Verfügung steht, die wir brauchen, um unsere höheren Fähigkeiten zu entwickeln. Jene, die darin erfolgreich waren, sind die großen Lehrer und Philosophen: Christus, Buddha, Zoroaster und viele andere, unter ihnen Plato und Pythagoras.

Wahrheit braucht keine äußere Macht, denn sie überzeugt durch ihre innere Wahrhaftigkeit. Nach welcher Art von Wahrheit suchen wir? Religiöse, philosophische oder wissenschaftliche Wahrheit? Mitunter wird angenommen, dass diese drei unvereinbar sind. Das ist jedoch nicht der Fall, denn sie sind Facetten der einen Wahrheit – im Menschen, in der Natur, im Kosmos. Der eine mag sich der Realität vom spirituellen Gesichtspunkt aus nähern, ein anderer vom intellektuellen, ein dritter betrachtet die materielle Welt mit all ihren Wundern und ihrer Schönheit. Sie könnten sich gegenseitig nicht mehr widersprechen als die Tatsache, dass ich eine Seele bin, der Tatsache widerspricht, dass ich auch einen Körper besitze. Richtig verstanden kann die Weisheit eines jeden Zweigs des Lernens die anderen nur vermehren und erweitern, denn jeder Zweig nähert sich derselben Realität von einem anderen Blickwinkel.

Das große Universum umgibt uns von allen Seiten. Es ist unser Elter; wir wurden von und durch das Universum geboren. Alles, was wir im Kleinen darstellen, muss das Universum in einem unermesslich größeren Maßstab sein. Wir brauchen nur nachts hinauszugehen, wenn die weisen, alten Sterne leuchten. Wenn wir in die unermesslichen Himmelsreiche hinausblicken, regt sich etwas in uns – ein Gefühl, das über den begrenzten Verstand hinausgeht. Die Seele sehnt sich nach der Unendlichkeit, die sie nicht erfassen kann: eine Tiefe, die nach Tiefe ruft.

Nach den alten Traditionen hat unser Universum eine bestimmte Struktur und funktioniert auf bestimmte Weise. Es wurde geboren, wie wir geboren wurden, es lebt sein Leben und wird eines Tages sterben, ruhen, wie wir selbst. Und irgendwann in der fernen, fernen Zukunft wird es wiedergeboren werden. Religion, Wissenschaft und Philosophie suchen dafür eine Erklärung und auch für unsere Beziehung zu ihm. Sie suchen nach der Wahrheit des Universums und nähern sich dem Problem von ihrem jeweiligen Gesichtspunkt aus, wobei sie ihre eigene Ausdrucksweise anwenden. Allerdings kann es keine endgültige Darlegung der Wahrheit geben. In dem Maß, in dem jemand in das Mysterium eindringt und ehrlich über seine Entdeckungen berichtet, in demselben Maß werden seine Schlussfolgerungen mit den ebenso ehrlichen Entdeckungen anderer übereinstimmen, ganz gleich ob diese metaphysisch oder physisch sind. Wenn aber der Geist des freien Forschens eine Organisation verlassen hat, die dazu bestimmt war, diesen Geist zu beherbergen, dann bleiben nur leere, zeremonielle, sterile, verstandesmäßige Allgemeinplätze zurück.

Wir sind alle Lernende und teilen miteinander; wir würden sehr wenig lernen, würden wir nur jene um Rat fragen, die unseren Standpunkt vertreten. Oft können wir von jenen mehr lernen, die scheinbar anders denken als wir. Manchmal kann jedoch das Hindernis der Bedeutungen die Menschen, deren Glaubensvorstellungen tatsächlich dicht beieinander liegen, trennen. Würden wir nach Gemeinsamkeiten suchen anstatt nach Unterschieden, fänden wir auf dem weiten Feld der allgemeinen Prinzipien Übereinstimmung. Was ist der Unterschied zwischen dem Karma des Ostens und dem Säen und Ernten im Neuen Testament? Es gibt nur eine Wahrheit, das kann nicht anders sein, aber die Pfade dahin sind so zahlreich wie die Suchenden.

Das bedeutet, dass alle Anstrengungen, die im Verlauf der Zeiten zur Erklärung des Universums gemacht wurden, auf bestimmten, allen gleichermaßen bekannten Prinzipien und Erfahrungen beruhen, ja beruhen müssen, das Mystische und Poetische eingeschlossen.

Eine Art, die Wahrheit in unserem Herzen lebendig und wachsend zu erhalten, besteht darin, sie ständig neu auszudrücken. Sonst werden wir zu Anbetern von Komma und Semikolon, und die Wahrheit wird in gedankenlosen Mantras begraben liegen, die endlos wiederholt werden. Im Verlauf der langen dahingleitenden Jahrhunderte wird der lebendige Geist der Wahrheit in seinen eigenen Institutionen eingekerkert. Dogmen wachsen im menschlichen Denken. Einstmals waren sie Symbole der lebendigen Botschaft, aber früher oder später wurden sie gleich Muscheln, die man an einsamen Stränden findet, oft wunderschön, aber ein Gehäuse, aus dem das Leben und die Bedeutung entflohen sind. Die Antwort auf unserer Suche nach Wahrheit liegt nicht in Institutionen, sie liegt in uns selbst.

Der Geist des Allerhöchsten befindet sich in allen Dingen. Im Wind, der über unser Gesicht weht, im Sperling, im Gänseblümchen und im Kieselstein, in den Leidenden und in denen, die sich freuen, im Schönen und im Hässlichen und in jenem Hässlichen, das durch den Geist im Innern verschönt wird. Die Weisesten der Menschheit haben den Menschen als Kind des Kosmos dargestellt. Sie sahen die Welten, die in den Weiten des Raumes verstreut sind, belebt durch kosmische Gottheiten, in denen wir leben und weben und unser Dasein haben; sie sahen, dass das Leben, das das Universum belebt, auch in uns atmet, und dass auch wir die Nutznießer seiner heiteren Gesetze sind.

Die Wahrheit ist dort außen und hier innen. Sie ist die Art und Weise, wie die Dinge in uns und in unserer Welt sind. Wir werden angetrieben durch die Kräfte in uns, durch die Seelen-Qualität, danach zu suchen. Wieviel erfahren wir durch Leiden? Wie viel durch freudige Erlebnisse? Wie viel dadurch, dass wir tagtäglich auf den Ruf der Pflicht hin unser Bestes geben? Wie viel durch unsere Liebe zu unseren Mitmenschen, bekannten und unbekannten, die mit uns auf dem Lebenspfad wandern?

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Elektrizität hat es von Anfang an auf der Welt gegeben. Wie viele Millionen von Menschen nahmen ihre Wirkungen wahr, bevor einer sie entdeckte? Gold hat es von Anfang an auf der Welt gegeben. Wie viele gehen an seinem Versteck vorbei, bevor einer gräbt und es findet! Weisheit hat es von Anfang an im Universum gegeben, aber nur jene Denker sind für sie offen, die die Wahrheit vom Gesehenen ableiten können.