Theosophie entdecken
The Theosophical Society
11 – Spiritueller Fortschritt
Windet sich der Weg immer weiter nach oben?
Ja, bis zum letzten Ende.
Und dauert die heutige Reise den ganzen langen Tag?
Vom Morgen bis zum Abend, mein Freund.
Christina Rossettis Zeilen sind wie ein Abriss des Lebens derer, die den Pfad zu höheren Dingen tatsächlich beschreiten. Welche Unterschiede auch in den verschiedenen Darstellungen der Esoterischen Lehre bestehen, wie auch immer sie sich in jedem Zeitalter in neue Gewänder kleidete, findet man doch in jeder einzelnen dieser Lehren in einem Punkt vollste Übereinstimmung – über den Weg zur spirituellen Entwicklung. Eine unabdingbare Regel ist für den Neophyten immer bindend gewesen, und sie ist auch heute noch bindend – die völlige Unterwerfung der niederen Natur unter die höhere. Wie viel wir auch in den Bibeln jeder Rasse und jeder Kultur forschen mögen, wir finden nur einen einzigen Weg – einen harten, schmerzhaften, mühsamen –, auf dem der Mensch echte spirituelle Einsicht gewinnen kann. Und wie könnte es auch anders sein, da doch alle Religionen und alle Philosophien nur Varianten der ersten Lehren der Einen Weisheit sind, welche dem Menschen am Anfang des Zyklus vom Planetengeist gegeben wurden?
Der wahre Adept, der entwickelte Mensch, so wurde uns stets gesagt, muss werden – er kann nicht gemacht werden. Es ist ein Prozess des Wachsens durch Evolution und bringt unvermeidlich eine bestimmte Menge Schmerz mit sich.
Die Hauptsache des Schmerzes liegt darin, dass wir ständig das Dauerhafte im Unbeständigen suchen. Wir suchen es nicht nur, sondern handeln, als ob wir schon das Unveränderliche in einer Welt gefunden hätten, in der die eine sichere Qualität, über die wir eine Aussage treffen können, der ständige Wechsel ist; und immer, wenn wir gerade meinen, das Unveränderliche fest im Griff zu haben, verändert es sich unter unserem Zugriff und bringt Leid mit sich.
Ich wiederhole, die Idee des Wachsens beinhaltet auch die Idee des Zerbrechens, nämlich dass das innere Wesen ständig seine umschließende Hülle oder Behausung durchbrechen muss. Und ein solches Zerbrechen muss auch von Schmerz begleitet sein – nicht physisch, sondern mental und intellektuell.
Und so geschieht es im Verlauf unseres Lebens: Die Unannehmlichkeit, die uns trifft, ist unserem Gefühl nach immer das Ärgste, was uns treffen kann – es ist immer gerade das, was uns dann als völlig untragbar erscheint. Wenn wir es von einem höheren Standpunkt aus betrachten, werden wir erkennen, dass wir gerade dann versuchen, unsere Schale an ihrem verwundbarsten Punkt zu knacken; und dass unser Wachstum, wenn es wirkliches Wachstum sein soll und nicht das kollektive Ergebnis einer Reihe von Auswüchsen, ganz gleichmäßig vor sich gehen muss, wie der Körper eines Kindes wächst – nicht zuerst der Kopf und dann die Hand und dann vielleicht ein Bein, sondern in alle Richtungen zugleich, gleichmäßig und unmerklich. Der Mensch neigt dazu, sich um jeden Teil gesondert zu kümmern und die anderen Teile inzwischen zu vernachlässigen – jeder heftige Schmerz wird durch die Erweiterung eines vernachlässigten Teils verursacht. Diese Erweiterung wird durch die Wirkungen der Kultivierung, die anderswo gewährt wird, schwieriger.
Böses ist oft die Folge von Überängstlichkeit. Die Menschen versuchen immer zu viel zu tun, sie sind nicht damit zufrieden, etwas sich selbst zu überlassen. Sie sollten nur das tun, was der Augenblick gerade verlangt und nicht mehr. Sie übertreiben jede Handlung und schaffen so Karma, das sich in zukünftigen Geburten auswirken muss.
Eine der subtilsten Formen dieses Übels ist die Hoffnung auf und das Verlangen nach Belohnung. Es gibt viele, die – wenn auch oft unbewusst – alle ihre Bemühungen zunichte machen, indem sie diesen Gedanken an Belohnung hegen und es zulassen, dass er in ihrem Leben ein aktiver Faktor wird, und damit öffnen sie die Tür für Verzagtheit, Zweifel, Angst, Verzweiflung – Misserfolg.
Das Ziel eines Menschen, der nach spiritueller Weisheit strebt, ist es, in eine höhere Daseinsebene einzutreten. Er muss ein neuer Mensch werden, in jeder Beziehung vollkommener als er es jetzt ist. Wenn ihm das gelingt, werden seine Fähigkeiten und Anlagen entsprechend an Umfang und Kraft zunehmen, gerade so wie wir in der sichtbaren Welt sehen können, dass jede Stufe auf der evolutionären Leiter von einer Zunahme an Fähigkeiten gekennzeichnet ist. Auf diese Weise wird der Adept mit wunderbaren Kräften ausgestattet, aber das Wichtigste, woran man sich erinnern muss, ist, dass diese Kräfte die natürlichen Begleiterscheinungen der Existenz auf einer höheren Ebene der Evolution sind, so wie die gewöhnlichen menschlichen Fähigkeiten die natürlichen Begleiterscheinungen der Existenz auf der gewöhnlichen menschlichen Ebene sind.
Viele Menschen scheinen zu glauben, Adeptschaft sei nicht so sehr die Folge einer tiefgreifenden Entwicklung als die einer zusätzlichen Ausbildung. Sie scheinen zu denken, dass ein Adept ein Mensch ist, der ein festgelegtes Übungsprogramm absolviert, das aus gewissenhafter Befolgung einer Reihe willkürlicher Regeln besteht. Dadurch erlangt er erst die eine Fähigkeit und dann die andere, und wenn er eine bestimmte Anzahl solcher Kräfte erworben hat, wird er zum Adepten ernannt. Da sie diese falsche Vorstellung haben, glauben sie, der erste Schritt zur Erlangung der Adeptschaft sei, „Kräfte“ zu erwerben – Hellsehen und die Fähigkeit, den physischen Körper zu verlassen und in die Ferne zu reisen – das fasziniert die Menschen am meisten.
Jenen, die derartige Kräfte zu ihrem eigenen persönlichen Vorteil erwerben wollen, haben wir nichts zu sagen; sie trifft die Missbilligung, welcher alle unterliegen, die um rein selbstsüchtiger Ziele handeln. Es gibt aber auch andere, welche die Wirkung mit der Ursache verwechseln und ernsthaft glauben, der Erwerb von ungewöhnlichen Kräfte sei der einzige Weg zu spirituellem Fortschritt. Diese Menschen betrachten unsere Theosophische Gesellschaft nur als das geeignete Mittel, das sie am schnellsten in die Lage versetzt, in dieser Richtung Wissen zu erlangen, und sie betrachten sie als eine Art okkulte Akademie, als eine Institution, die zur Unterweisung sogenannter Wundervollbringer gegründet wurde. Trotz wiederholter Proteste und Warnungen gibt es einige Menschen, in denen diese Vorstellung anscheinend unausrottbar festsitzt. Diese geben ihre Enttäuschung lautstark bekannt, wenn sie entdecken, dass das, was man ihnen anfangs gesagt hat, durchaus stimmt, nämlich dass die Gesellschaft nicht dafür gegründet wurde, neue und leichte Wege zur Erlangung von „Kräften“ aufzuzeigen; dass es ihre einzige Aufgabe ist, die Fackel der Wahrheit abermals anzuzünden, die mit einigen wenigen Ausnahmen für alle so lange erloschen war, und die Wahrheit durch die Bildung einer Bruderschaft der Menschheit lebendig zu erhalten – denn das ist der einzige Boden, auf dem der gute Same wachsen kann. Die Theosophische Gesellschaft möchte wirklich das spirituelle Wachstum jedes Einzelnen, der in ihren Einflussbereich kommt, fördern, aber ihre Methoden sind die der alten Rishis (Seher); ihre Lehren sind die der ältesten Esoterik. Sie verteilt keine Patentrezepte für Wundermittel, die aus so schädigenden Arzneien zusammengesetzt sind, dass kein ernsthafter Heiler es wagen würde, sie anzuwenden.
Es hat den Anschein, dass seit der Gründung der Theosophischen Gesellschaft verschiedene Gesellschaften entstanden sind, welche alle aus dem von der TG in Bezug auf die psychische Forschung geweckten Interesse Nutzen ziehen und Mitglieder zu gewinnen versuchen, indem sie ihnen versprechen, leicht psychische Kräfte erwerben zu können. In Indien sind wir längst damit vertraut, dass es Scharen von falschen Asketen aller Art gibt, und wir befürchten, dass in dieser Richtung sowohl hier als auch in Europa und in Amerika erneut Gefahr besteht.
In diesem Zusammenhang möchten wir alle unsere Mitglieder warnen, und andere auch, die auf der Suche nach spirituellem Wissen sind, sich vor Leuten zu hüten, die einfache Lehrmethoden anbieten, um psychische Fähigkeiten zu erlangen. Derartige Fähigkeiten sind tatsächlich durch Kunstgriffe verhältnismäßig leicht zu erwerben, aber sobald der Nervenimpuls sich erschöpft, schwinden sie dahin. Die wahre Seherschaft und Adeptschaft, die von echter psychischer Entwicklung begleitet ist, geht nie verloren, wenn man sie einmal erlangt hat.
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Das Motiv und nur das Motiv allein entscheidet, ob die Anwendung okkulter Fähigkeiten zu schwarzer, unheilvoller oder weißer, heilbringender Magie wird. Ist auch nur der leiseste Schatten von Selbstsucht in dem Ausübenden verblieben, ist es für ihn unmöglich, spirituelle Kräfte zu verwenden. Denn wenn die Absicht nicht gänzlich rein ist, wird das Spirituelle sich ins Psychische verwandeln, auf der Astralebene wirken, wodurch furchtbare Folgen hervorgerufen werden können. Die Kräfte und Mächte der animalischen Natur können ebenso von Selbstsüchtigen und Rachsüchtigen wie von Selbstlosen und Versöhnlichen benutzt werden; die Mächte und Kräfte des Geistes werden nur dem verliehen, der vollkommen reinen Herzens ist – und das ist GÖTTLICHE MAGIE.
Es muss daran erinnert werden, dass die Gesellschaft nicht als eine Pflanzschule zur beschleunigten Aufzucht von Okkultisten gegründet wurde – als eine Fabrik zur Herstellung von Adepten. Die Absicht war, den Strom des Materialismus, der spiritistischen Phänomene und der Totenanbetung einzudämmen. Sie sollte das jetzt beginnende spirituelle Erwachen leiten und nicht psychischen Süchten Vorschub leisten, die nur eine andere Form des Materialismus sind. Denn mit „Materialismus“ ist nicht nur eine antiphilosphische Verneinung des reinen Geistes gemeint und, was schlimmer ist, Materialismus im Verhalten und Handeln – Brutalität, Heuchelei und vor allem Selbstsucht –, sondern auch die Früchte aus dem ausschließlichen Glauben an materielle Dinge, ein Unglaube, der während des letzten Jahrhunderts enorm zugenommen hat und der viele Menschen, nachdem er jede andere Existenz außer der materiellen leugnet, zu einem blinden Glauben an die Materialisierung des Geistes führt.