7 – Reinkarnation

Das, was wir heute sind, sind wir in einem langen evolutionären Prozess geworden – psychologisch, spirituell und auch physisch. Das begründet sich in dem Bedürfnis unseres Wesenskerns, sein Potenzial durch manifestierte Erfahrung auszudrücken. Wie können wir hoffen, auch nur einen Bruchteil unserer momentanen Fähigkeiten in einem einzigen Leben zum Ausdruck zu bringen? Die Begrenzungen von Zeit und Bedingungen zwingen uns unausweichlich dazu, unter vielen Möglichkeiten zu wählen. Deshalb versetzen uns nur wiederholte Verkörperungen schließlich in die Lage, unsere gesamten latenten Qualitäten hervorzubringen.

Wiederverkörperung oder zyklische Manifestation ist ein kosmischer Prozess. Das Universum ist keine statische Ansammlung von unveränderlichen Teilen, sondern ein großes Ein- und Ausströmen von Substanzen und Kräften aus Materie und Bewusstsein, die einer ständigen Veränderung unterliegen. In dieser konstanten Veränderung gibt es eine Kontinuität von göttlichen Bewusstseinszentren, die ihre Ausdrucksart modifizieren, um ihre stets wachsenden Wahrnehmungszustände anzugleichen. Wiederverkörperung ist das universale Mittel, um aus den individuellen Funken der Göttlichkeit ihre inneren Fähigkeiten herauszuziehen, damit sie jeden Aspekt des Bewusstseins erfahren und assimilieren können.

Reinkarnation und menschliche Evolution

Wir sind daran gewöhnt, die Evolution so zu betrachten wie die verschiedenen Spezies oder Naturreiche nach dem darwinistischen Schema beurteilt werden, das die Entwicklung von materiellen Körpern betont. In der Theosophie sind es jedoch die individuellen unvergänglichen Wesen, die durch die Naturreiche evolvieren, so wie Kinder die Schulklassen nacheinander durchlaufen. Die fünfte Schulklasse evolviert nicht in die sechste, sondern vielmehr wandert eine Schülergruppe durch das fünfte Schuljahr und geht dann, wenn der Einzelne darauf vorbereitet ist, in die sechste. Ebenso konzentriert sich der evolutionäre Vorgang in Individuen, die durch wiederholte Verkörperungen in einem Naturreich heranwachsen, bis das für jenes Naturreich typische Bewusstsein erreicht ist.

Da wir unsere Fähigkeiten über das tierische Bewusstseinsstadium hinaus entfaltet haben und daran arbeiten, unsere gegenwärtige menschliche Wahrnehmung zu vervollkommnen und darüber hinauszuwachsen, verkörpern wir uns immer wieder als Menschen auf der Erde. Wir wiederverkörpern uns nicht als Tiere oder Pflanzen, weil deren physischer und psychologischer Apparat nicht in der Lage wäre, die Eigenschaften zum Ausdruck zu bringen oder zu enthalten, die für unsere fortgeschrittenere Entwicklung zentral sind. Indem wir voranschreiten, werden jene Menschen, die ihr Bewusstsein auf eine universale Stufe heben können, zu spirituellen Wesen, Göttern. Wer diesen Punkt im gegenwärtigen Zyklus nicht erreichen kann, wird in einer weiteren evolutionären Epoche die Gelegenheit haben, weiter fortzuschreiten.

Warum werden wir erneut auf der Erde geboren?

Warum sollten wir auf die Erde zurückkehren, statt uns an einem anderen Ort wiederzuverkörpern? Oder vielmehr: Warum sollten wir erwarten, den Resultaten unserer Handlungen an einer anderen Stelle zu begegnen als dort, wo wir diese Energien erzeugten? Wenn wir Samen in einem Garten pflanzen, erwarten wir nicht, dass diese auf der anderen Straßenseite aufgehen. Wir werden immer wieder zur Erde zurückgezogen, weil wir ein Teil dieses Planeten sind – nicht nur zufällige Erscheinungen auf ihrer Oberfläche – durch starke Bande von Ursache und Wirkung mit all ihren Bewohnern verbunden. Wir sind auch mit unseren eigenen Zellen, Emotionen und Gedanken verbunden und werden zu ihnen hingezogen und umgekehrt. Dies geschieht durch verständnisvolle Beziehungen, die wir in jedem Augenblick neu schmieden. Alle Wesen sind durch eine Kette von Folgen verknüpft, die sich letztendlich zum Ausdruck bringen müssen.

Die Reinkarnation hat eine tiefe Wirkung auf unsere Selbstbetrachtung, da wir unsere Aufmerksamkeit auf die unsichtbaren, aber sehr realen Teile unseres Wesens ausrichten. Während viele Theorien versuchen, den Menschen lediglich in physischen Begriffen mittels der Umwelt und der biologischen Herkunft zu erklären, fügt die Reinkarnation einen anderen, fundamentaleren Faktor hinzu: unsere innere Selbst-Vererbung.

Wir neigen dazu, der physischen Welt derartig viel Aufmerksamkeit zu schenken, dass Bewusstsein und Geist oft als Abstraktionen oder Wirkungen erscheinen – und nicht als die hinter der gewöhnlichen Erfahrung stehenden Ursachen. Dennoch sind wir essenziell spirituelle Wesen, und obwohl wir durch materielle Welten reisen, werden wir letztendlich von ihnen nicht eingegrenzt. Wir werden von ihnen beeinflusst, denn das gesamte Leben ist durch unauflösliche Bande verknüpft, aber wir sind es, die für unsere gegenwärtigen und zukünftigen Umstände verantwortlich sind. Unseren Charakter, unsere Fähigkeiten und Umstände haben wir aus früheren Leben mitgebracht. Wir sind nicht Opfer von zufälligen Geschehnissen; es gibt kausale Gründe, warum wir in einer bestimmten Familie an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit geboren werden. Die sich wiederverkörpernde Wesenheit wird zu jenen Eltern hingezogen, die ihm die zu seinen innewohnenden Charaktereigenschaften bestmöglich passende Lebenssituation bieten können. Das Kind ist seinerseits am besten geeignet, die karmischen Bedürfnisse seiner Familie zu erfüllen. Solche Dinge sind nicht einfache materielle Prozesse oder eine zufällige Angelegenheit.

Reinkarnation und Geschichte

Die Zivilisation, die Gesellschaft und der tägliche Umgang bekommen durch die von der Idee der Wiederverkörperung gebotene längere Perspektive eine andere Note. Statt alle Ursachen auf Ereignisse in unserem gegenwärtigen Leben, der Umwelt oder auf einen überirdischen Erlass zurückführen zu müssen, eröffnet die Reinkarnation die Möglichkeit, dass viele Ursachen aus unserer eigenen fernen Vergangenheit herrühren.

Die Menschheit ist eine große, aber endliche Gruppe von Wesen, die sich wiederholt auf der Erde verkörpern und komplexe Beziehungen eingehen. Menschen, die sich zusammen verkörpern, bringen eine Disposition für gewisse Handlungen und Arten zu denken mit sich – aufgrund dessen, was sie in der Vergangenheit waren und wie sie handelten: karmische Ursachen, die sich zur Manifestation bringen müssen. Die Muster der Verursachung und des menschlichen Fortschritts setzen sich nicht in einer ununterbrochenen Linie von Generation auf Generation oder von Zivilisation auf Zivilisation fort. Ursachen können ausgedehnten Perioden zwischen den Inkarnationen von einzelnen Menschen überspringen – vielleicht Tausende von Jahren – und kommen dann zur Wirkung, wenn die Beteiligten in den folgenden Jahrhunderten wieder vereint sind. Somit gibt es ein zyklisches Auftauchen von Menschengruppen und sogar ganzen Kulturen.

Kann Reinkarnation bewiesen werden?

Reinkarnation lässt sich nicht physisch beweisen, wie wir es gewöhnlich von der Wissenschaft verlangen, denn es handelt sich um Bewusstseinszustände und nicht-physische Substanzen und Energien. Die meisten von uns können sich nicht an ihre vergangenen Leben erinnern, denn wir neigen dazu, uns mit unseren Aspekten zu identifizieren, die sich mit dem Tod verflüchtigen – mit unseren Emotionen, Gefühlen und dem Intellekt – statt mit unseren dauerhafteren Teilen.

Dennoch wird uns gesagt, dass die Menschen ihr Wachbewusstsein in den spirituellen Teilen ihres Wesen zentrieren können – durch viel Training und Disziplin. Das macht es ihnen möglich, bewusst durch den Schlaf und letztendlich durch den Tod zu gehen und, wenn erfolgreich, mit einer direkten Kenntnis über diese Zustände zurückzukehren. Jene, die diesen Zustand erreicht haben, können sich angeblich verkörpern, ohne ihr persönliches Bewusstsein zu verlieren, und ihre vergangenen Leben zurückrufen, weil sie in ihren unvergänglichen Teilen leben, wo unsere gesamte Erfahrung dauerhaft aufgezeichnet ist. Letztendlich werden wir alle diesen Entwicklungsstand erreichen und in der Lage sein zu wissen statt lediglich zu spekulieren oder zu glauben.

Wir schaffen uns und die Bedingungen selbst

Bei der Betrachtung der Wiederverkörperung sehen wir, dass alles eine Rolle spielt, sogar wenn wir die Ergebnisse in einem Leben nicht erkennen können. Keine Handlung oder Entscheidung ist bedeutungslos oder geht verloren. Ihre Essenz wird ein Teil von uns und hilft dabei, uns zu dem zu machen, was wir sind. Sie formt auch die Welt um uns herum, und jene Wirkungen werden in kommenden Zeiten erneut mit uns verbunden. Gewiss werden wir die Menschen, denen wir jetzt begegnen, wieder und wieder treffen, bis die karmischen Energien zwischen uns einen Zustand des Gleichgewichts erreichen. Uns selbst aus dieser größeren Perspektive zu betrachten legt nahe, dass alle Augenblicke in jedem Leben wichtig und kostbar sind. Jede Begegnung mit unseren Mitmenschen bietet uns die Gelegenheit, zu lieben und anderen zu helfen und somit jenes grenzenlose göttliche Potenzial, das wir essenziell sind, in zunehmender Fülle zu verkörpern.

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Nur in der Stille erstarkt die Seele, denn dann ist sie auf ihre eigenen Energien und Kräfte angewiesen und lernt, sich selbst zu erkennen. Einer der besten Wege, schnell und sicher mit einem Problem fertig zu werden und die Intuition zu entwickeln, ist der, die Mühe der Problemlösung nicht jemandem zuzuschieben, von dem man glaubt, er könne einem helfen. Lösungen zu erkennen und Schwierigkeiten zu entwirren, ist eine Angelegenheit der Schulung und des inneren Wachstums. Eine der ersten einem Neophyten gelehrten Regeln lautet, niemals eine Frage zu stellen, bevor er nicht selbst ernsthaft und wiederholt versucht hat, sie zu beantworten. Der Versuch, die Antwort zu finden, ist ein Appell an die Intuition. Es ist auch eine Übung. Es stärkt die eigenen inneren Kräfte. Fragen zu stellen, ohne vorher versucht zu haben, sie selbst zu beantworten, zeigt lediglich, dass wir uns anlehnen, und das ist nicht gut. Unsere Fähigkeiten anzuwenden bedeutet, Wachstum, Stärke und geistige Gaben zu erlangen.