12 – Okkultismus versus psychische Kräfte

Wahrer Okkultismus oder Theosophie ist die „Große Entsagung des SELBST“, unbedingt und absolut in Gedanken und Handlungen. Es ist ALTRUISMUS.

– H. P. Blavatsky

Zwischen Okkultismus und der Kultivierung psychischer Kräfte besteht ein großer Unterschied. Es gibt viele unterschiedliche psychische Kräfte, Phänomene wie Hellsehen, Psychometrie, Telepathie, Kinästhesie, Channelling und Trance-Mediumschaft miteingeschlossen. Oft lassen sich auf natürliche Weise psychisch veranlagte Menschen auf die Entwicklung dieser Kräfte ein; oder sie handeln lediglich aus Neugier, ohne zu wissen, worauf sie sich einlassen, denn die psychische Welt ist wesentlich illusorischer als die physische Welt, mit der wir vertraut sind. Solche Kräfte gehören jedoch in den meisten Fällen nicht zu den spirituellen Kräften. Wie W. Q. Judge bemerkt:

Wenn ein Schüler den Pfad betritt und beginnt, Strahlen des Lichts zu erkennen, die hier und da aufblitzen, oder Kugeln aus goldenem Feuer, die an ihm vorbeirollen, bedeutet das nicht, dass er beginnt, das wahre Selbst zu sehen – reinen Geist. Ein dem Schüler gegebener Augenblick tiefsten Friedens oder wunderbarster Offenbarungen stellt nicht den erhebenden Augenblick dar, in welchem er seinen spirituellen Führer und noch viel weniger seine eigene Seele erkennt. Psychische Sensationen bestehen auch nicht aus blauen Flammen, und Visionen nicht aus Dingen, die später geschehen, noch sind es die Einblicke in kleine Ausschnitte des Astrallichts mit seinen wunderbaren Fotografien der Vergangenheit oder Zukunft, noch stellt das plötzliche Erklingen von fernen, zauberhaften Glöckchen irgendeinen Beweis dafür dar, dass man die Spiritualität fördert. Diese Dinge – und noch sonderbarere – werden auftreten, wenn Sie eine kleine Strecke auf dem Weg gegangen sind, aber sie sind lediglich die Vorposten eines neuen Landes, das selbst völlig materiell ist und nur einen Schritt weg von der Ebene des groben, physischen Bewusstseins.

Echoes of the Orient, 1:45

Nach dieser Art von Phänomenen zu trachten hat gewöhnlich einen lähmenden Einfluss auf unsere höheren Bestrebungen, die physische Nachgiebigkeit bewirkt dasselbe. Judge sprach in Verbindung mit diesen Dingen von der Gefahr „astraler Vergiftung“, da der Durst nach Phänomenen so unersättlich sein kann wie der nach Alkohol oder Drogen:

Die Kraft der Natur, uns zu täuschen, ist endlos; und wenn wir bei diesen Dingen anhalten, wird sie uns nicht fortschreiten lassen. Das bedeutet nicht, irgendjemand oder eine Naturkraft hätte befohlen, dass wir stehen bleiben müssten, täten wir dieses oder jenes. Wenn aber jemand von dem verzaubert wird, was Böhme „die Wunder Gottes“ nannte, ist das Resultat eine Vergiftung, die eine Verwirrung des Intellekts hervorruft. Würde zum Beispiel jemand jedes Bild, das er im Astrallicht sieht, als eine spirituelle Erfahrung betrachten, dann könnte er nach kurzer Zeit zu diesem Gegenstand bestimmt keinen Widerspruch mehr ertragen. Aber das wäre nur deshalb so, weil er von dieser Art von Wein betrunken ist.

– Ebenda 1:46

Wenn die menschliche Evolution fortschreitet, werden psychische Kräfte zunehmend als die natürliche Entwicklung innerer Qualitäten auftreten, sobald neue Sinne und Organe zu aktiver Funktion gelangen. Jeglicher Versuch jedoch, diesen Prozess vor der Reife zu forcieren, ist für die Gesundheit und sogar für den Geisteszustand gefährlich. In Zeiten wie diesen, wenn die Grenze zwischen den ätherischen, inneren Welten und unserer physischen Welt schmal wird, können wir eine Zunahme psychischer Sensitivität erwarten. In solchen Epochen ist es von lebensnotwendiger Wichtigkeit, der sich daraus ergebenden Flut von Phänomenen eine positive Richtung zu geben, indem man das menschliche Gedankenleben auf spirituelle Wirklichkeiten lenkt.

Okkultismus wird oft mit Psychismus verwechselt; und deshalb schrecken die Menschen vor ihm zurück. Das Bild von Okkultismus im öffentlichen Bewusstsein ist das von Séancen, Zukunftsdeutern, Scharlatanen, wandernden Gurus, die ihre Kräfte anpreisen, Schwarzmagie – alles Dinge, die heutzutage überhandnehmen. Aber wahrer Okkultismus ist das Studium der verborgenen Bereiche der Natur. In seiner weitesten Anwendung wird er manchmal esoterische Philosophie genannt, die sich mit der Struktur und den Wirkungsweisen des Kosmos und dem Ursprung und Schicksal der ihn zusammensetzenden Wesen befasst. Ein fundamentaler Grundsatz okkulter Philosophie ist, dass alle Dinge leben und Teile eines Ganzen sind; dass Universen, Galaxien, Sonnen und Planeten alle Lebewesen sind, die sowohl im Inneren als auch im Äußeren aus Scharen von größeren und kleineren Wesenheiten zusammengesetzt sind. In derselben Weise bilden die Atome, Moleküle, Zellen und Organe unserer eigenen Körper – zusammen mit den Gedanken, Gefühlen, Sehnsüchten und dem Verständnis, die aus den höheren Teilen unserer Natur emanieren – dieses lebende Universum, das wir Mensch nennen.

Angenommen wir betrachten einen unserer Freunde, den wir vermeintlich sehr gut kennen, und fragen uns, was genau ist dieser Freund? Ist er oder sie die physische Erscheinung oder ist der wahre Mensch das Bewusstsein, die Intelligenz, das Gute? Sicherlich letzteres. Dieser innere Mensch, das wahre Individuum, ist vom Standpunkt unserer physischen Sinne aus unberührbar und unsichtbar. Der Intellekt und die Seelenqualitäten werden von spirituellen und psychologischen Gesetzen geleitet; sogar die sogenannten physischen Naturgesetze sind nicht im mindesten physisch. Auch sie sind unsichtbar, werden nur aufgrund der Art, wie sie die materielle Welt kontrollieren und organisieren, berührbar und beobachtbar. Sie selbst können ansonsten durch unser gewöhnliches Sehvermögen nicht wahrgenommen werden.

Wenn wir diese Denkweise auf den Kosmos anwenden, können wir verstehen, dass das wirkliche kausale Universum ein unsichtbares Universum ist. Wenn menschliches Leben, Bewusstsein, Güte und Stärke unsere Realität sind, trifft das auch auf das Universum zu, das uns hervorbringt. Es wird ebenso von Intelligenz und Bewusstsein geleitet wie wir selbst. Was ist die Natur dieser Intelligenz und dieses Bewusstseins? Es ist die überschattende Aktivität von intelligenten, bewussten Wesen.

Jeder von uns ist wahrhaftig ein Universum im Kleinen, und in uns befinden sich Bereiche oder Ebenen des Seins und des Bewusstseins, die wir momentan nur vage wahrnehmen und nur teilweise verstehen. Und so wie es Scharen von Leben unterhalb der menschlichen Ebene gibt, muss es auch Scharen von höheren Wesen geben, eine Anschauung, die von allen großen Religionen vertreten wird. Die verschiedenen Lebensebenen, vom Atom bis zum Kosmos, repräsentieren die aufsteigenden Stufen der Leiter der kosmischen Evolution. Die sogenannten Naturgesetze sind der spirituelle Lebensstil höherer Wesen, deren Gegenwart die Harmonie der Sphären sichert. So ist das Universum spirituell so wirklich, wie es für uns physisch greifbar ist.

Die drei von H. P. Blavatsky im ersten Band ihres Werkes Die Geheimlehre gegebenen Grundsätze sind das wahre Herz des Okkultismus, denn sie erwecken das Göttliche in uns und zeigen das Universum als einen riesigen Organismus, von dem all die Reiche, vom Elektron bis hinauf zu den höchsten Göttern, integrale, evolvierende Teile sind. Der erste Grundsatz beschreibt das Endlose, die unerkennbare Quelle, aus der alle Dinge hervorströmen – ein ewiges, grenzenloses und unveränderliches Prinzip. Der zweite Grundsatz beschreibt das universale Gesetz der Periodizität, das Leben, den Tod und die Wiedergeburt aller Dinge – von Welten, Göttern und Menschen. Sie alle erscheinen periodisch: Es gibt Zeiten der Ruhe und Zeiten der Aktivität oder Manifestation. Augenblick für Augenblick, Jahr für Jahr, ein kosmischer Zyklus nach dem anderen – schreitet die Evolution aller lebenden Wesen voran. Der dritte Grundsatz betont die essenzielle Einheit jeder Seele mit der universalen Oberseele. Er beschreibt auch, wie jeder göttliche Funke durch jede Form der phänomenalen Welt evolviert und schließlich Individualität erlangt. Der göttliche Funke erreicht das durch eine fast unendliche Reihe von Wiederverkörperungen, wobei er über kosmische Zeiten durch alle Grade der Intelligenz steigt – vom niedrigsten zum höchsten.

Dieser großartige Prozess ist es, der in dem Wort Okkultismus enthalten ist: Wie das Sichtbare aus dem Unsichtbare hervortritt; wie der kleinste Funke göttlichen Lebens mit der Zeit zum Menschen wird; und wie wir Menschen Götter werden können. Wie weit ist diese majestätische Anschauung von den armseligen Kräften entfernt, die mit Psychismus und den sogenannten „okkulten“ Künsten verbunden werden! Wir wollen dagegen unsere Aufmerksamkeit auf das spirituelle Herz dieses riesigen, uns umgebenden Universums richten, das auch das spirituelle Herz im Kern unseres eigenen Wesens ist, da wir danach streben, den Göttern gleich zu werden.

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Der Begriff okkult hat einen edlen, aber großteils vergessenen Ursprung. Hergeleitet von dem lateinischen occultus, mit der Bedeutung „verborgen“, definiert er richtig all das, was nicht freigelegt, verborgen oder nicht leicht wahrzunehmen ist. Frühe Theologen sprachen zum Beispiel von „dem okkulten Urteil Gottes“, während „ein okkulter Philosoph“ eine Bezeichnung für einen Wissenschaftler vor der Renaissance war, der die unsichtbare Ursache suchte, welche die Phänomene der Natur bestimmen. In der Astronomie, wird der Begriff noch verwendet, wenn ein himmlischer Körper durch einen anderen „okkult wird“, wenn dieser vor ihm vorbeizieht und uns vorübergehend die Sicht auf ihn versperrt.

Vor einem Jahrhundert geschrieben, als das Wort noch nicht die heutigen vermischten Nebenbedeutungen angenommen hatte, definierte H. P. Blavatsky Okkultismus als „Altruismus“ – die göttliche Weisheit oder verborgene Theosophie in allen Religionen. Okkultismus gründet auf dem Prinzip, dass Göttlichkeit verborgen in allen Lebewesen ist – transzendent, jedoch immanent. Als spirituelle Disziplin ist Okkultismus die Entsagung von der Selbstsucht; es ist der „stille schmale Pfad“, der zu Weisheit führt, zu der richtigen Unterscheidung zwischen Gut und Böse und der Ausübung von Altruismus.