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The Theosophical Society
5 – Spirituelles Wachstum oder spiritueller Behaviorismus?
Viele Möglichkeiten, sich mit dem Thema persönlichen Wachstums auseinanderzusetzen, wetteifern heutzutage um Anhänger, und es ist schwer zu unterscheiden, was nützlich oder schädlich und was nur belanglos ist. Die moderne Haltung trübt die Angelegenheit, indem sie die Betonung auf Bequemlichkeit, schnelle Ergebnisse und technische Lösungen und darauf, dass alles von unserer Seite aus mit möglichst minimalem Einsatz geschehen kann, legt. Unser Interesse gilt den Symptomen und dem Verhalten, weniger ihren Ursachen. Wir hätten gerne eine Pille, eine Technik, ein Gerät – fertig verpackt, automatisch, schnell wirkend, narrensicher –, um die gewünschte Wirkung zu erreichen. Wir erkennen diese Haltung des spirituellen Behaviorismus in Selbsthilfe-Tonbändern, die versprechen, dass der Hörer sich verändern und Fortschritte machen wird, wenn er sie immer wieder anhört, wobei unterschwellige Tonbänder keinerlei bewusste Anstrengung erfordern. Es klingt sehr angenehm: Eine schmerzlose, wirksame Lösung für so viele Probleme und ein leichter Weg zu persönlichem und spirituellem Wachstum – es fällt schwer, einem Versuch zu widerstehen. Wenn es bei dieser Art des Vorgehens auch „Ergebnisse“ geben mag, bleibt es dennoch unklar, ob sie imstande ist, eine sinnvolle, persönliche Entwicklung zu fördern.
Religiösen Überlieferungen haben die Jahrhunderte hindurch versichert, dass die Menschen sowohl göttliche wie psychische und physische Wesen sind. Menschliches Wachstum ist eine Langzeit-Angelegenheit; aus der Perspektive der Reinkarnation ist es tatsächlich ein langfristiges Projekt. Gegenüber diesem Panorama der menschlichen Existenz wird eine sofortige Befriedigung irrelevant. Wir evolvieren langsam, um mitleidsvolle, selbstbeherrschte Meister jener Charakteristika zu werden, die uns von den Tieren unterscheiden. Auf dieser evolutionären Reise zählt das Unterwegssein viel mehr – die Bemühungen, die Motive, das Verhalten – als das Erreichen eines bestimmten Ziels oder der Besitz besonderer Eigenschaften und Fähigkeiten. Wirkliches Wachstum liegt in unserer Verwandlung, so dass Vervollkommnung als natürliches Ergebnis folgt und nicht als etwas, das uns aufgepfropft wurde. Indem wir äußere Erfolge zu einem Nebenprodukt der inneren Entwicklung und nicht zu einem Ziel an sich machen, sind wir immer mehr imstande, alles, was auf uns zukommt, in einer positiven, selbstbewussten Art anzunehmen. Wenn wir uns andererseits verändern lassen, ohne die Anstrengung selbst zu unternehmen, geschieht es leicht, dass wir immer passiver werden und immer offener sowohl für die Einflüsse anderer als auch für die unserer unentwickelten Aspekte. Passive Methoden, die mehr mit den Symptomen unseres inneren Zustands als mit diesem Zustand selbst zu tun haben, untergraben gerade die Qualitäten, die wir am nötigsten brauchen, um vollkommene Menschen zu werden: Selbstdisziplin und Selbstkontrolle, ein aktiver Wille und das Vertrauen in unsere eigene Stärke und Weisheit.
Diese Situation legt eine Analogie nahe: Um den Ertrag zu steigern, sind die Landwirte zur Benutzung von Kunstdünger, Pestiziden, Herbiziden, zu unüberlegter Bewässerung und Monokultur übergegangen. Während diese Praktiken Gewinn abwerfen, ruinieren sie mit der Zeit den Boden und verursachen die Verschmutzung und Senkung des Grundwasserspiegels. Organische Prozesse gestatten es den Pflanzen, ohne Schaden für die Umgebung zu gedeihen und den Boden zu verbessern, so dass der Ertrag weiterhin steigen kann. Wie bei der organischen Landwirtschaft hängen nutzbringende Entwicklungsmaßnahmen von einer sorgfältigen Vorbereitung und der Einbindung in die Naturprozesse ab. Sie sind keine schnellen Hilfsmittel, die massenweise hergestellt werden können. Wenn wir unser Denkvermögen und unsere Energien kultivieren und kontrollieren, so dass unser Dasein auf die Weiterentwicklung gerichtet ist, wird Wachstum beginnen und anhalten. Ein derartiges Programm hängt nicht von dramatischen Resultaten ab, die auf Kosten der Zukunft produziert werden. Techniken wie Hypnose, Selbsthypnose und eine unterschwellige Programmierung bringen oberflächliche Ergebnisse, während sie die grundlegenden Faktoren, die wir zum ständigen spirituellen Wachstum brauchen, untergraben. Wenn wir schnelle Resultate aus solchen Praktiken erzielen, werden wir wahrscheinlich erschöpft und an einem Punkt zurückgelassen, der unter unserem gegenwärtigen Wachstumsniveau liegt.
Die großen Antreiber für die Verwendung der Chemie in der Landwirtschaft sind wiederum die Hersteller, deren Gewinne vom Verkauf und der steigenden Anwendung abhängen. Die Konzernvertreter waren für die Landwirte die primäre Quelle bezüglich dieser Methoden. Auch im Bereich der menschlichen Entwicklung sind oft diejenigen die wichtigsten Befürworter einer besonderen Technik oder Ansicht, die finanziell von ihrer Annahme profitieren. Ein weiterer Grund, dass jeder selbst denkt und nachforscht und vorsichtig ist, Praktiken anzunehmen, die ein anderer zu verkaufen versucht.
Aus einer anderen Sicht kann die Anwendung von mechanischen oder passiven Methoden eine Entwicklung forcieren, für die wir noch nicht vorbereitet sind, so dass wir leichter innerlich aus dem Gleichgewicht geraten. Es ist viel leichter, uns für bestimmte Erfahrungen und Energien zu öffnen, als sie, wenn wir einmal damit angefangen haben, zu beherrschen oder uns davor zu schützen. Große Unterscheidungsfähigkeit ist erforderlich, um die Ergebnisse zu bewerten. Hatha Yoga wird zum Beispiel gewöhnlich als ein auf den Körper bezogenes Übungssystem für Fitness und Gesundheit angeboten. Es kann jedoch die psychischen Zentren des Körpers aktivieren, was die Hindu Yogis sehr gut verstehen. Gleich jenen Techniken, die entwickelt wurden, um Kundalini und ähnliche Energien zu erwecken, können sie dramatische Resultate erzeugen und zu beunruhigenden Erfahrungen führen, mit denen schwierig umzugehen ist, selbst wenn ein kompetenter Lehrer dabei ist. Die meisten von uns sind noch nicht imstande, diese Phänomene zu kontrollieren, weil wir in uns noch nicht das Fundament gelegt haben, das die Anwendung dieser Methoden für uns natürlich macht.
Außerdem kann die Anwendung von Methoden zur persönlichen Veränderung, die an unserem Selbstbewusstsein vorbeigehen, dazu führen, dass wir die Verbindung mit jenen Bereichen in uns verlieren, die laut nach unserer Aufmerksamkeit rufen. Deutet eine Veränderung im Verhalten oder im mentalen Muster an sich auf inneres Wachstum hin oder lediglich auf das Unterdrücken von unerwünschten Symptomen? Wir alle möchten hin und wieder unseren Unvollkommenheiten und Schwierigkeiten entkommen, aber sind diese nicht lediglich Hinweise auf Bereiche in uns, die verändert werden müssen? Genauso gut könnten wir meinen, es wäre wunderbar, physischen Schmerz zu eliminieren; aber ohne die negative Rückwirkung unseres Körpers würden wir sehr bald krank. Wir wüssten nicht, ob wir verletzt sind oder wann wir reagieren oder unser Verhalten ändern müssen. Lepra ist ein Beispiel für die traumatischen Wirkungen, wenn man die Wahrnehmung der physischen Verletzung verliert, wenn der Körper verwundet, infiziert und schließlich deformiert wird, weil dem Leidenden die normale physische Empfindung fehlt. Ähnlich können wir ohne den heilsamen psychischen Schmerz – wenngleich unwillkommen – zu spirituell Aussätzige werden, zunehmend entstellt in unserem spirituellen Körper, weil die dementsprechende Rückmeldung über unser inneres Umfeld fehlt.
Vielleicht lautet die grundlegendste Frage: Warum möchten wir uns überhaupt „verbessern“? Der primäre Gewinn, der zu Gunsten vieler verfügbarer Techniken aufgelistet wird, besteht darin, erfolgreich zu sein – persönlich, finanziell, mental, sozial, spirituell und physisch. Während wir das allgemein als ein normales, sogar empfehlenswertes Motiv akzeptieren, spiegelt es eine egozentrische und keine universale Einstellung. Anstatt uns zum spirituellen Zentrum unseres Wesens zu führen, neigt das eher dazu, uns auf unsere Persönlichkeit zu konzentrieren, und damit wird der Haltegriff des Egos auf uns verstärkt. Der Mahāyāna-Buddhismus weist klar auf die Gefahr spiritueller Selbstsucht hin. Wer um seines persönlichen Erfolgs wegen nach der Verbesserung seiner Selbst strebt oder dem Schmerz des menschlichen Daseins entkommen möchte, kann große spirituelle Fortschritte machen sowie psychische und spirituelle Fähigkeiten daraus entwickeln, aber dennoch ist das grundsätzlich ein „selbstzentrierter“ Weg und daher begrenzt. Bei dieser Betrachtungsweise besteht immer die Gefahr, destruktiv selbstsüchtig und in der Entwicklung rückläufig zu werden, sowohl zum Schaden anderer als auch zum eigenen. Der Mensch, dessen Wachstum aus einer allumfassenden Liebe und aus dem Wunsch resultiert, für alle um ihn herum hilfsbereiter zu sein, selbst wenn das eine Verzögerung oder gar Ausbleiben seines eigenen persönlichen Fortschritts bedeutet, hat sein Ziel auf einen Zustand jenseits persönlicher Begrenzung gerichtet. Wenn wir uns auf Resultate, Erscheinungsbilder und das Konkrete konzentrieren, sind wir geneigt, das Motiv als metaphysischen Faktor und deshalb folgewidrig aufzugeben. Das Motiv ist jedoch der Hauptfaktor in der menschlichen Entwicklung; es zeigt die Richtung an, in die wir gehen und welche Art von Mensch wir letztlich werden möchten – und was wir uns wünschen, werden wir mit der Zeit.
Wie können wir nun den Wert der verschiedenen Entwicklungsprogramme ermitteln? Es ist äußerst wichtig, dass jeder Mensch seine eigene Unterscheidungskraft anwendet. Allerdings sind die beiden Schlüsselelemente des Nachdenkens die Selbstlosigkeit und die Universalität. In dem Maß, in dem eine Technik an unser Verlangen appelliert, etwas für uns selbst oder umsonst zu erreichen, in dem Maß konsolidiert es unser Ego, statt seine Beherrschung unseres Bewusstseins aufzulösen. Das schließt nicht aus, dass sich mit zunehmendem Verständnis verbesserte Lernmethoden auftun – obwohl nur jene Erfahrungen, die in unserem tieferen Selbst erarbeitet sind, unserem Charakter dauerhaft hinzugefügt werden, während die oberflächlichen Gewohnheiten sich nach dem Tod mit unseren physischen und psychischen Körpern auflösen. Wir müssen jedoch über die Resultate hinausgehen und zu einer Bewertung gelangen, die auf Motiven, Einstellungen und der natürlichen Funktion spiritueller Kräfte in uns beruht. Was ist im menschlichen Leben wirklich wichtig? Die Bhagavad Gītā gibt uns den Rat nach Weisheit zu suchen, „indem wir dienen, eingehend forschen, Fragen stellen und Demut zeigen“ – die Tätigkeiten betonend, ohne persönliches Anhaften an den Resultaten. Zum inneren Wachstum gibt es keine Abkürzungen, denn es ist ein aktiver Prozess, der nicht nur bedeutet, aufnahmebereit zu sein. Die Konzentration unseres Bewusstseins auf das Göttliche und das Herangehen an unsere Handlungen vom Standpunkt des Höchsten statt von unserer Persönlichkeit aus – das ist der zeitlose Pfad zu spirituellem Wachstum. Wenn wir eine weniger selbstbezogene Haltung einnehmen und uns auf das Dienen konzentrieren, werden wir erkennen, dass wir die nötigen Qualitäten besitzen und effektiv mit unseren Problemen und Unvollkommenheiten umgehen können.