Quelle des Okkultismus
Dr. Gottfried von Purucker
II – Schulung geht den Mysterien voraus
Esoterische Schulung
Wir kommen nun direkt zur eigentlichen Ausbildung in der esoterischen Schulung. Hier wird zu Beginn jedem Neophyten vermittelt, dass der erste Schritt darin besteht, „zum Wohle der Menschheit zu leben“, und der zweite, im täglichen Leben die „sechs glorreichen Tugenden“ oder Pāramitās anzuwenden. Solange er nicht alle Wünsche nach persönlichem Profit oder Gewinn vollständig aufgegeben hat, ist er ungeeignet, auch nur zu versuchen, den Pfad zu betreten. Er muss damit beginnen, für die Welt zu leben. Sobald seine Seele von diesem unpersönlichen Verlangen entflammt ist, ist er bereit, wenigstens einen Versuch zu wagen.
Vielleicht das Wichtigste, was der neue Aspirant begreifen muss, ist die Tatsache, dass es lediglich eine Art ist, die Wahrheit auszudrücken, wenn der Chela-Pfad als ein düsterer, sorgen- und endlos opfervoller Weg vorgestellt wird. In Wirklichkeit ist er der erfreulichste Lebensweg und Leitfaden für das Verhalten, den sich die Menschen vorstellen können. Trotzdem habe ich oft gedacht, dass die Schwierigkeiten nicht ohne Grund etwas überbetont worden sind: um zu verhindern, dass der vom persönlichen Ehrgeiz Getriebene dorthin eilt, wo sich Engel zu wandeln fürchten. Auch das hat seinen guten Grund, denn die vielen Gefahren, die auf den ungeschulten und halbherzigen Bewerber um okkulten Fortschritt lauern, sind äußerst real. Die Wahrscheinlichkeit, einen Fehltritt zu tun oder seine Füße im Morast der eigenen niederen Natur zu beschmutzen, ist so gewiss, dass die Warnungen nicht nur menschenfreundlich sind und höchstem Mitleid entspringen, sondern auch sorgfältig erwogen wurden, um auf die notwendige Schulung, die jeder Einführung in die Mysterien vorausgehen muss, besonders hinzuweisen.
Um das eben Gesagte nochmals prägnanter auszudrücken: Der Pfad der Chelaschaft macht jene unbeschreiblich glücklich, die geeignet sind, ihn zu betreten. Er bedeutet, beständig im höheren Teil seiner Natur zu leben, wo nicht nur Weisheit und Wissen wohnen, sondern auch das sich in Mitleid und Liebe stetig erweiternde Herz, um das gesamte Universum in sein umfassendes Verstehen einzuschließen. Diese Schönheit des Chela-Pfades ist in der Tat so erhaben, dass sie nahezu immer von Schleiern verhüllt ist, um den Unvorsichtigen nicht in Versuchung zu führen, in jene Regionen vorzudringen, deren feinen und Leben spendenden Äther seine Lungen noch nicht atmen können. Wir im Westen haben trotz der edlen ethischen Lehren unserer allgemein anerkannten Religion schon viel zu lange vergessen, dass das geistige Leben während der Verkörperung das einzig würdige Leben ist. Es ist in Wirklichkeit die Vorbereitung für ein selbstbewusstes Leben jenseits der Portale des Todes, ohne dabei die Kraft und die Fähigkeiten zu verringern.
Deshalb bedeutet Chelaschaft zu lernen, in anderen Ebenen als den physischen „zu Hause“ zu sein. Es leuchtet gewiss ein, dass der Ungeübte hilflos wie ein Neugeborenes wäre, stünde er den stark veränderten Umständen gegenüber, denen er auf Schritt und Tritt begegnet, wenn er plötzlich in diese andersartigen Welten geworfen würde.
Esoterische Schulung ist das Ergebnis jahrtausendelanger gründlichster Studien, die die größten Weisen und die hervorragendsten Denker, die die menschliche Rasse je hervorgebracht hat, absolviert haben. Es ist kein beliebiges Studium von Regeln, die der Schüler zu befolgen hat, obwohl selbstverständlich angenommen und erwartet wird, dass er gewisse Regeln befolgt. Diese Ausbildung ist auch ein Umarbeiten – oder eine Konversion im ursprünglichen Sinne dieses lateinischen Wortes – des Persönlichen in das Geistige und ein Ablegen aller Begrenzungen, die zum gewöhnlichen Leben gehören. Damit werden die Fähigkeiten, die Kräfte und der Handlungsspielraum erlangt, die dem Wachstumsgrad des Initiierten oder Adepten entsprechen.
Nichts ist so täuschend wie die Irrlichter der Māyā. Oft enthalten schön aussehende Blumen, entweder in der Knospe oder im Dorn, tödliches Gift; ihr Honig bringt der Seele den Tod. Kein Chela darf jemals irgendwelche psychischen Kräfte entwickeln, solange nicht das feste Fundament gelegt ist, um die spirituellen und intellektuellen Energien und Fähigkeiten hervorzurufen: Vision, Willenskraft, äußerste Selbstkontrolle und ein Herz, das mit Liebe für alles erfüllt ist. So lautet das Gesetz. Deshalb ist es nicht nur dem Anfänger verboten, latente Kräfte zu aktivieren und anzuwenden oder noch schlafende Fähigkeiten zu erwecken, sondern auch jene, die aufgrund ihres vergangenen Karmas mit solchen erwachenden inneren Fähigkeiten geboren wurden, dürfen diese Kräfte mit Beginn ihrer esoterischen Schulung nicht mehr gebrauchen, weil diese Ausbildung alles mit einschließt, d. h. jeder Teil der Natur muss in harmonische und symmetrische Beziehung mit jedem anderen Teil gebracht werden, bevor der Pfad gefahrlos betreten werden kann.
Es kommt jedoch der Zeitpunkt, an dem der Schüler individuell betreut und darin unterrichtet wird, wie die Seele befreit werden kann, damit sie durch den Körper weniger behindert wird, und wie er durch ganz bestimmte Übungs- und Verhaltensregeln sowie durch die Art des Denkens in jeder Hinsicht edler wird. Dazu gehören erstens: die Philosophie, ein gewisses Maß an Wissen über das Leben im Universum; zweitens: die Schulung; und drittens: die Mysterien. So ist die Reihenfolge. Bis zu einem gewissen Grade überschneiden sich die Abläufe, obgleich auf jeden der drei Punkte besonders eingegangen wird, wenn seine Zeit gekommen ist.
Um alles noch einmal deutlicher hervorzuheben: Der erste Punkt, die Philosophie, enthält Lehren, die bereits die Art der Mysterien andeuten und ein gewisses Maß an Schulung und Intuition erfordern. Darauf folgt die Schulung, bei der zwar gleichfalls Lehren gegeben werden, durch die aber der Neophyt vor allem unterrichtet wird, wie er sich selbst kontrolliert, wie er sein muss und was er tun sollte, wobei die folgenden Mysterien stärker angedeutet werden. Danach kommen als Drittes schließlich die Mysterien, die man praktischen Okkultismus nennt. Dabei wird mit dem einzelnen Schüler gearbeitet und er wird unterwiesen, wie er den Geist in sich befreit und die eigenen Fähigkeiten freisetzt. Hierbei erfährt er eine noch größere Schulung, eine noch erhabenere Philosophie.
Die Initiation umfasst sieben Stufen. Die ersten drei Stufen sind die Schulen der Disziplin und des Lernens. Die vierte ist ähnlich, jedoch viel weitreichender, denn hier beginnt der edlere Zyklus der Einweihungsschulung. Es hängt allein von dem einzelnen Schüler ab, welchen Fortschritt er erzielt. Er ist ein freier Mensch mit freiem Willen. Seine Bestimmung ist es, ein Gott zu werden und eine selbstbewusste Aufgabe in der Führung des Universums zu übernehmen. Deshalb muss er seinen eigenen Weg wählen, wobei er sich aber davor hüten muss, dass sein Egoismus und seine selbstsüchtigen Neigungen, wenn diese noch vorhanden sind, ihn bei der Ausübung der göttlichen Fähigkeit des freien Willens auf den linken Pfad mitreißen. Gefahren lauern auf Schritt und Tritt, sie kommen nicht von außen, sondern von innen.1
Deshalb ist Disziplin auf der ganzen Linie unentbehrlich. Der Unterschied zu dem, was sonst in allen Bereichen der menschlichen Schulung vorherrscht, liegt nur darin, dass diese Lehren den Ursprung all jener spirituellen und ethischen Grundwahrheiten bilden, von denen sich sowohl die Kulturen der Vergangenheit als auch die Menschen, die diese Kulturen schufen, leiten ließen. Die Grundlage der Schulung ist Selbstvergessenheit, die mit Unpersönlichkeit gleichzusetzen ist. Um diese zu erlangen, haben die Weisen und Seher, die die Gründer der Mysterienschulen vergangener Epochen waren, weitere Regeln als Hilfe eingeführt.
Die Regeln selbst sind einfach, so einfach, dass der mit dem okkulten Gesetz nicht vertraute Neuling oft enttäuscht ist, nicht etwas Schwierigeres zu finden, und dabei vergisst, dass die tiefsten Wahrheiten immer die einfachsten sind. Eine dieser Regeln lautet, niemals zurückzuschlagen, nie zu vergelten, sondern lieber Unrecht schweigend zu ertragen. Eine weitere Regel besagt, sich niemals zu rechtfertigen, Geduld zu haben und den karmischen Ausgleich dem höheren Gesetz zu überlassen. Und noch eine Regel, vielleicht die wichtigste in dieser Schulung, lautet, vergeben und lieben zu lernen. Dann wird alles andere in natürlicher Weise kommen und sich unmerklich ins Bewusstsein einschleichen. Man wird die Regeln intuitiv verstehen und geduldig, mitfühlend und großherzig ausharren.
Sehen wir denn nicht, wie schön es ist, nicht zu vergelten, sich nicht zu rechtfertigen, Unrecht zu verzeihen und zu schweigen? Diese Regeln kann man sich nicht genug zu Herzen nehmen. Man sollte sie aber auch völlig unpersönlich befolgen, damit man nicht anfängt, über echte oder eingebildete Beleidigungen zu brüten. Jedes nagende Gefühl der Ungerechtigkeit wäre fatal und würde bedeuten, in passiver Weise gerade das zu tun, was – sowohl aktiv als auch passiv – vermieden werden sollte.
Der Grund, warum man im Falle eines Angriffs oder einer Anklage jeden Versuch einer Selbstverteidigung unterlassen sollte, ist Schulung: Schulung in Selbstkontrolle und Schulung in Liebe, denn keine Schulung ist wirkungsvoller als das eigene Bemühen. Dazu kommt, dass die Bereitschaft zur Verteidigung nicht nur den äußeren Rand des Aurischen Eies verhärtet, sondern das Aurische Ei selbst durch und durch vergröbert. Eine derartige Haltung betont jedesmal das niedere persönliche Selbst und entspricht der Schulung in entgegengesetzter Richtung, was zu Zerstörung, Unruhe und Hass führt. Lasst das karmische Gesetz seinen Lauf nehmen. Ist man sich der Wirksamkeit dieser Übung bewusst, dann wendet man ein sehr hohes Maß an Urteilskraft und Einsicht an. Je deutlicher ein Mensch fühlt, dass er seinem Gewissen nach richtig gehandelt hat, desto mehr schwindet das Gefühl der Ungerechtigkeit, verschwinden das Verlangen nach Vergeltung und der fieberhafte Drang zur Selbstrechtfertigung, denn diese Dinge werden überflüssig. Das Bewusstsein, richtig gehandelt zu haben, bringt Versöhnlichkeit und den Wunsch, voller Mitleid und Verständnis für andere zu leben.
Man darf jedoch die Regel über die Selbstrechtfertigung nicht mit der Verantwortung und mit den Verpflichtungen verwechseln, die jeder ehrbare Mensch erfüllen muss. Es kann sehr wohl unsere Pflicht sein, für ein Prinzip, das angegriffen wird, einzustehen oder jemandem zu helfen, der ungerecht angegriffen wird. Standhaftigkeit und die Weigerung, an üblen Taten teilzunehmen, sind ein Zeichen von Güte. Das feige Verbrechen, Böses vor unseren Augen geschehen zu lassen und somit daran teilzunehmen, aus Furcht, man könnte die Gefühle eines anderen verletzen, ist eine moralische Schwäche, die spirituelle Erniedrigung zur Folge hat. Werden wir jedoch selbst angegriffen, dann sollten wir es vorziehen, den Angriff schweigsam zu erdulden. Es ist nur selten notwendig, dass wir unsere eigenen Handlungen wirklich rechtfertigen müssen.
Es mag erfolglos scheinen, dem heftigen Verlangen unseres niederen Teils zu widerstehen, welcher beweisen will, dass „wir im Recht sind“. Doch bald werden wir entdecken, dass hierzu eine sehr positive innere Haltung erforderlich ist. Es ist eine bestimmte spirituelle und intellektuelle Übung, die uns Selbstkontrolle lehrt und Gleichmut bringt. Wendet man sie an, dann wird uns der Standpunkt des anderen Schritt für Schritt instinktiv klarer. Doch auch hier lauert eine subtile Gefahr, denn gerade dieses Handeln kann, wenn man es gewissenhaft durchführt, so reizvoll werden, dass man nach einer gewissen Zeit versucht sein könnte, einen spirituellen Stolz auf das bisher Erreichte zu entwickeln. Das ist etwas, auf das man achtgeben und das aus unserer Seele entfernt werden muss.
Ich kenne Menschen, die so schwer darum rangen und kämpften, gut zu sein, dass sie eine Menge zerbrochener Herzen hinter sich ließen, die Hoffnungen ihrer Mitmenschen zerstörten und durch ihren übertriebenen Wunsch, gut zu sein, anderen Leid zufügten. Sie wollten dermaßen schnell vorwärtskommen, dass sie darüber vergaßen, menschlich zu sein. Ist es falsch, ein gutes Buch zu lesen, gesund zu leben oder uns die Nahrung schmecken zu lassen? Ganz gewiss nicht. Wenn man jedoch sehr an den Dingen hängt, die einem besondere Freude bereiten, und darüber seine Pflichten vernachlässigt, so sollte man Herr über diese Neigungen werden, denn sie schaden uns. Sie sind nicht länger ein unschuldiges Vergnügen, sondern sie wurden eine Untugend. Die einfache Reaktion darauf heißt: sich selbst vergessen und nach besten Kräften anderen helfen. Auf diese Weise werden wir glücklich, spirituell und intellektuell natürlich und stark werden und geachtet sein; vor allem aber achten wir uns dann selbst.
Das führt uns zu einer weiteren Überlegung. Selten begehen wir unsere schlimmsten Fehler aufgrund unserer Laster. Haben wir nämlich unsere Laster erst einmal als solche erkannt, werden sie uns kaum noch beherrschen; sie werden verabscheut und abgelegt. Tatsache ist, dass unsere gravierendsten Fehler, was die Empfindsamkeit und das Beurteilen angeht, für gewöhnlich unseren Tugenden entspringen – ein Paradoxon, dessen psychologische Wirkung wir spüren, wenn wir darüber nachdenken.
In der Geschichte des mittelalterlichen Europa kann man dafür anschauliche Beispiele finden. Ich halte es für einen Irrtum, wenn man glaubt, dass die fanatischen Mönche oder kirchlichen Herrscher, die zu jenen schrecklichen religiösen Verfolgungen anstachelten, Teufel in Menschengestalt waren, die bewusst Foltermethoden ersonnen hatten, um die Seelen und die Körper ihrer unglücklichen Mitmenschen, derer sie habhaft werden konnten, zu quälen. Was sie taten, war diabolisch, es waren richtige unbewusste Teufeleien, die jedoch aus ihren Tugenden entstanden waren und durch den starken Missbrauch zu verabscheuungswürdigen Lastern wurden. Die grausamsten Menschen sind gewöhnlich nicht jene, die gleichgültig sind, sondern diejenigen, die von einem falsch verstandenen Ideal getrieben werden, hinter dem eine falsch angewendete moralische Kraft steht. Aus ihren Tugenden sind nicht erkannte Untugenden geworden, die diese Menschen zeitweise gänzlich kaltherzig erscheinen lassen.
Große Denker wie Laotse haben, zur Bestürzung so mancher Menschen, die nicht weiter nachgedacht haben, darauf hingewiesen, dass der aggressiv tugendhafte Mensch ein lasterhafter Mensch ist – ein übertriebenes Paradoxon, und doch beschreibt es eine tiefe psychologische Tatsache. Der wirklich gefährliche Mensch ist nicht der böse Mensch, denn er verletzt nur durch seine eigene intellektuelle und moralische Verderbtheit. Missverstandene und missbrauchte Schönheit ist es, die verleitet – nicht allein physische Schönheit, sondern auch der Glanz einer Tugend, die entstellt und missbraucht worden ist. Tugend an sich hebt uns zu den Göttern empor; und trotzdem lassen uns gerade unsere Tugenden, wenn sie selbstsüchtig angewendet werden, häufig unsere übelsten Handlungen begehen.
Dem alten Gebot „Liebet alle Dinge, die kleinen wie die großen“ liegt ein tiefer esoterischer Sinn zugrunde. Hass wirkt verengend und verhüllt den Hassenden mit dichten Schleiern. Liebe hingegen zerreißt die Schleier, löst sie auf und schenkt uns Freiheit, Einsicht und Mitleid. Liebe ist wie die kosmische Harmonie, die sich im Gesang der dahinziehenden Sterne und Planeten als Sphärenmusik manifestiert. Liebe, unpersönliche Liebe, bringt uns mit dem Universum in Harmonie, und dieses Einswerden mit dem Universum ist das letzte und höchste Ziel aller Stufen des Einweihungszyklus.
Persönliche Liebe dagegen ist unbarmherzig und oft lieblos, denn sie konzentriert sich nur auf ein Objekt. Sie denkt mehr an das eigene Ich als an den anderen. Im Gegensatz dazu gibt sich die unpersönliche Liebe ganz hin; sie ist die wahre Seele der Selbstaufopferung. Persönliche Liebe ist Denken an sich selbst, unpersönliche Liebe ist Selbstvergessen – das ist der Prüfstein. Sentimentalität hat damit nichts zu tun; tatsächlich ist die persönliche Liebe schädlich, denn sie betont die Persönlichkeit. Das Gefühl der Liebe ist nicht Liebe, sondern gehört zur psycho-mentalen und animalischen Seite unseres Wesens. Wenn wir dem aus unserem Herzen fließenden Strom keine Grenzen und Beschränkungen setzen, wenn wir es nicht von Bedingungen abhängig machen, ob wir unsere schützende und hilfreiche Hand ausstrecken, gleichen wir der Sonne, die allen Licht und Wärme spendet. Wenn die Liebe ganz selbstlos ist, dann ist sie auch spirituell hellsehend, weil ihre visionäre Kraft bis zur wahren Essenz des Universums vordringt.
Eine Regel in einer Reihe guter und einfacher Regeln besagt, wir sollten immer unpersönlich denken und versuchen, in unserem täglichen Leben unser Interesse von möglichen Vorteilen für unsere eigene Person abzuwenden. Wenn wir unsere Arbeit, was sie auch sei, als ein Werk der Liebe verrichten, werden wir ganz natürlich unpersönlich sein, denn durch den Dienst am Nächsten haben wir uns aus unserer Selbstversunkenheit befreit. Das ist der königliche Weg zur Selbsterkenntnis, denn solange wir unsere Aufmerksamkeit und unsere Gedanken auf die begrenzte Sicht des Eigennutzes konzentrieren, können wir nicht zum universalen Selbst werden.
Eine weitere ausgezeichnete Regel ist jene, die Buddha, der Herr, als seine besonders bevorzugte Lehre allen seinen Schülern gab:
Wenn böse und unwürdige Gedanken und Bilder der Lust, des Hasses und der Verblendung die Seele befallen, muss der Schüler diesen Gedanken andere, würdigere Bilder entgegenstellen. Wenn er in seinem Geist andere und würdigere Bilder hervorruft, dann entfliehen jene unwürdigen Gedanken, jene Bilder der Lust, des Hasses und der Verblendung. Und weil er sie besiegt hat, wird sein inneres Herz fest und ruhig, geeint und stark.2
Das alles heißt, dass, wenn wir von selbstsüchtigen und persönlichen Impulsen und Gedanken bedrängt oder gar gequält werden, wir unverzüglich an das Entgegengesetzte denken und es beständig vor unserem geistigen Auge festhalten sollten. Wenn wir einen Gedanken des Hasses hegen, sollten wir ein Bild der Liebe und Güte hervorrufen. Wenn wir an eine böse Handlung denken, sollten wir uns eine edelmütige, herrliche Tat vorstellen. Überkommen uns selbstsüchtige Gedanken, dann sollten wir uns vorstellen, dass wir etwas Mildtätiges tun, und das stets unpersönlich. Ich halte diese Regel für die beste aller Regeln. Es ist eine faszinierende Art des Lernens, abgesehen von dem Gewinn, den es bringt: Der Wille wird gestärkt, das geistige Schauen wird klarer, die Gefühle werden verfeinert, die Kräfte des Herzens werden angeregt und Charakterstärke sowie edle Gesinnung nehmen zu.
Ist ein Gedanke jedoch erst einmal gedacht, so ist es unmöglich, die Energie, mit der er geladen wurde, zurückzunehmen, denn er ist dann bereits ein Elementalwesen, das seine Reise nach oben antritt.3 Wenn jedoch „neutralisierende“ Gedanken gegensätzlicher Art unmittelbar nachgesandt werden, Gedanken der Schönheit, des Mitleids, der Versöhnlichkeit, des Wunsches und des Bestrebens zu helfen, so verschmelzen beide, wobei die Wirkungen der bösen Gedanken im Sinne von HPB in Die Stimme der Stille (S. 76) „unschädlich“ gemacht werden.
Ich wiederhole jedoch: Ein Gedanke kann niemals zurückgerufen werden. Er ist wie eine Tat, die, einmal begangen, für immer begangen ist, aber nicht für immer mit uns verbunden sein muss. Indem wir nach einem bösen Impuls an edle Dinge denken oder eine gute Tat vollbringen, können wir zwar den bösen Gedanken selbst nicht zurückrufen oder die Tat ungeschehen machen, aber wir können das durch unsere falschen Gedanken oder Handlungen bewirkte Übel in gewissem Maße mildern.
Wir Menschen sind in genau dem Maße persönlich, in dem sich die spirituelle Individualität in den Strahlen des niederen Teiles unserer Konstitution verteilt. Wenn wir das Persönliche aufgeben, lösen wir den Griff, mit dem diese unentwickelten Elemente unser wahres Wesen festhalten. Die Folge davon ist eine Konzentration der Strahlen, die bislang in den verschiedenen atomaren Wesenheiten unserer niedrigeren Prinzipien verstreut waren. Das bedeutet, sie in einem Bündel der Selbstheit zu sammeln und auf diese Weise wieder unser wahres Selbst zu werden. „Wer das Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen.“ Einheitsübersetzung, Matthäus 10,39
Wenn wir versuchen, in jedem Augenblick selbstlos zu sein, werden wir unsere persönlichen Wünsche vergessen. Es ist unsere Pflicht, unseren Bedürfnissen Rechnung zu tragen, aber im Allgemeinen lähmen sie den Geist nicht. Wenn wir uns bemühen, unpersönlich zu sein, werden wir mit der Zeit in das universale Bewusstsein eingehen. In diesen wenigen Sätzen liegen das Geheimnis und die Essenz der esoterischen Schulung. Wir wollen jedoch unsere Persönlichkeit nicht abtöten, sondern wir wollen sie gebrauchen und dabei die Richtung ihrer evolutionären Neigungen verändern, sodass die Ströme ihrer Vitalität in das höhere Bewusstsein unserer Individualität einfließen können. Es ist ein wunderbarer Gedanke, dass wir genau in dem Maße, in dem unsere Individualität stärker und unsere Persönlichkeit schwächer wird, auf der Lebensleiter zu einer individuellen Vereinigung mit der kosmischen Göttlichkeit im Herzen unseres Sonnensystems emporsteigen. Das trifft nicht nur auf die große Masse der Menschheit zu, sondern auch auf jede andere Wesenheit vergleichbaren evolutionären Fortschritts, die Selbstbewusstsein und all die anderen Eigenschaften besitzt, die den Menschen erst zum Menschen machen.
Unpersönlichkeit, Altruismus und Selbstlosigkeit – diese Eigenschaften haben auf unsere Mitmenschen eine magische Wirkung. Wenn wir lernen können, aufrichtig zu vergeben und zu lieben, dann wird sich unsere Seele nach selbstlosem Dienst an der Menschheit sehnen. Niemand ist zu gering, das zu tun, und niemand steht so hoch, dass er es ignorieren könnte. Je höher die Stellung, desto zwingender wird der Ruf der Pflicht. Vielleicht müssen wir ganz allein gegen die Welt kämpfen. Aber auch wenn wir immer und immer wieder unterliegen, können wir dennoch aufstehen und daran denken, dass die Kräfte des Universums hinter uns und an unserer Seite stehen. Das wahre Herz des Seins ist mit uns. Wir werden schließlich siegen, denn nichts vermag dem feinen, alles durchdringenden Feuer der unpersönlichen Liebe zu widerstehen.
Der Weg zur Weisheit liegt im Menschen selbst. Wer sich selbst kennt, wessen spirituelle Natur klarer hervorscheint, der vermag die Bewegungen der Planeten zu begreifen. Ein Mensch, dessen inneres Selbst noch weiter entwickelt ist, kann sich mit den Wesen, die unser Sonnensystem regieren und leiten, vertraut unterhalten. Ein Mensch, dessen gesamtes Wesen sich in noch höherem Maße entfaltet hat, vermag zum Mindesten in einige Geheimnisse des Makrokosmos einzudringen; und so geht es weiter bis in alle Unendlichkeit. Je höher die Entwicklung, desto weiter die Sicht und desto tiefer das Verstehen. Der Weg zum universalen Selbst ist der Pfad, den jeder Mensch selbst gehen muss, wenn er wachsen und sich entwickeln will. Kein anderer vermag für uns zu wachsen; wir können nur entsprechend den Vorgaben wachsen, die die Natur festgelegt hat – im Rahmen der Struktur unseres eigenen Wesens.
Der Mensch ist tatsächlich ein Geheimnis: Unter der Oberfläche und hinter dem Schleier liegt das Mysterium des Ich, der Individualität, ein Werdegang, der sich in ferne Ewigkeiten erstreckt. Im Wesentlichen ist der Mensch von Schleiern umhüllte göttliche Energie.
Meditation und Yoga
Nur in der Stille erstarkt die Seele, denn dann ist sie auf ihre eigenen Energien und Kräfte angewiesen und lernt, sich selbst zu erkennen. Einer der besten Wege, schnell und sicher mit einem Problem fertig zu werden und die Intuition zu entwickeln, ist der, die Mühe der Problemlösung nicht jemandem zuzuschieben, von dem man glaubt, er könne einem helfen. Lösungen zu erkennen und Schwierigkeiten zu entwirren ist eine Angelegenheit der Schulung und des inneren Wachstums. Eine der ersten Regeln, die einem Neophyten vermittelt wird, lautet, niemals eine Frage zu stellen, bevor er nicht selbst ernsthaft und wiederholt versucht hat, sie zu beantworten. Der Versuch, die Antwort zu finden, ist ein Appell an die Intuition. Es ist auch eine Übung. Es stärkt die eigenen inneren Kräfte. Fragen zu stellen, ohne vorher versucht zu haben, sie selbst zu beantworten, zeigt lediglich, dass wir uns anlehnen, und das ist nicht gut. Unsere Fähigkeiten anzuwenden bedeutet, dass unsere Stärke und unsere Fähigkeiten zunehmen.
Gewisse Fragen drängen sich jedoch mit einer Heftigkeit auf, die eine Antwort erzwingen. Sie gleichen dem mystischen Anklopfen an das Portal des Tempels. Sie verlangen nach mehr Licht, denn sie entspringen nicht dem Gehirn-Verstand, sondern der Seele, die sich bemüht, das Licht zu verstehen, das sich aus den ewigen Quellen der Göttlichkeit in sie ergießt. Bittet, und euch wird gegeben; klopfet an – und klopft richtig an –, und es wird euch aufgetan. Wenn der Ruf stark und unpersönlich genug ist, werden die wahren Götter im Himmel antworten. Wenn es einem Menschen sehr ernst damit ist, wird er die Antwort aus seinem Inneren, von dem einzigen Initiator erhalten, den der Neophyt überhaupt hat.
Meditation ist eine positive Geisteshaltung, es ist mehr ein Zustand des Bewusstseins als ein System oder eine Zeitspanne intensiven Nachdenkens. Man sollte positiv eingestellt sein, aber in der Weise von Gelassenheit, so fest gegründet, gelassen und friedvoll wie ein Granitfels, und dabei die beunruhigenden Einflüsse der unaufhörlich tätigen und fiebrigen Mentalität vermeiden. Aber vor allem sollte man unpersönlich sein. In einem höheren Sinne ist Meditation die Konzentration des Bewusstseins und das Emporheben des Verstandes auf die Ebene, auf welcher die Intuition führt und wo edle Ideen oder Bestrebungen heimisch sind und wo das Bewusstsein auf die Gedankenwelt gerichtet wird. Man kann jedoch auch über üble Dinge meditieren, und leider tun viele gerade das.
Vor dem Einschlafen kann man in der Weise meditieren, dass die Seele sich zu den Göttern aufschwingt und im Zwiegespräch mit diesen göttlichen Wesen erquickt und gestärkt wird. Man kann aber ebenso vor dem Einschlafen sich über irgendetwas den Kopf zerbrechen, sodass, wenn die Fesseln des Wachzustandes gelöst sind und der Gehirn-Verstand schweigt, die Seele abwärts gezogen und dadurch erniedrigt und geschwächt wird. Man sollte niemals einschlafen, wenn man nicht aufrichtig alle erlittenen Ungerechtigkeiten verziehen hat. Das ist sehr wichtig, nicht nur als veredelnde Gewohnheit, sondern auch als ein äußerst notwendiger Schutz. Erfülle das Herz mit Gedanken der Liebe und des Mitleids für alles und die Seele mit einer erhabenen Vorstellung, und verweile in Ruhe bei dieser Vorstellung mit dem höheren unpersönlichen Nachdenken, ungezwungen und entspannt, und es wird ein Ausruhen aller Sinne und Stille in die Seele einkehren.
Wenn der Körper vom Schlaf übermannt wird und die Aufmerksamkeit des Tagesbewusstseins sich zurückzieht, folgt die nun befreite Seele automatisch der ihr zuletzt gegebenen Richtung. Das ist ein Grund, warum strikte Unpersönlichkeit ohne den leisesten Gedanken an irgendein zersetzendes oder moralisch beleidigendes Element, das sich in das Herz einschleicht (wie z. B. Hass, Zorn, Furcht oder Rachgier oder irgendwelche anderen schrecklichen Produkte des niederen Selbst), unerlässlich ist. Wenn man sich daher angewöhnt, vor dem Einschlafen das Gemüt zu beruhigen, dann ist die Seele fähig, sich zu erheben.
Man meditiere andauernd – nichts ist so leicht und hilfreich. Anstatt eine festgelegte Zeit einzuhalten, ist für die meisten Schüler Folgendes weit sinnvoller: stilles, unablässiges Überdenken der eigenen Fragen, auch dann, wenn man mit den täglichen Aufgaben alle Hände voll zu tun hat und andere Pflichten die ganze Aufmerksamkeit erfordern. Im Hintergrund des Bewusstseins kann dennoch diese stete gedankliche Unterströmung fließen. Sie ist auch ein Schutzschild in allen unseren Angelegenheiten, denn diese Gedankenhaltung umgibt den Körper mit einer Aura, die aus den tieferen, verborgenen Winkeln des Aurischen Eies hervorgebracht wird. Sie ist von ākāśischer Beschaffenheit und kann von keiner anderen Substanz durchdrungen werden, wenn sie durch den Willen eines Menschen verdichtet wird, der weiß, wie das gemacht wird.
Sogar in der tiefsten Meditation, wenn er jegliche Wahrnehmung der Umgebung verloren hat, befindet sich der geübte Chela niemals in einem Zustand, in dem er sich spirituell und intellektuell nicht unter Kontrolle hätte. Er ist immer wachsam, er ist sich stets bewusst, dass er die Situation beherrscht, selbst während das Bewusstsein in einer Rückschau die zahllosen Verwandlungen des Meditationsobjektes an sich vorbeiziehen lässt. In der Regel ist es höchst unratsam, sich in seiner Versenkung so weit auf eine andere Ebene zu begeben, dass man zum psychischen oder physischen Automaten wird.
Es gibt zwei Arten der Meditation: erstens, einen schönen Gedanken als Bild klar im Kopf festzuhalten und sein Bewusstsein in dieses Bild einfließen zu lassen; und zweitens, das Bewusstsein in höhere Sphären oder Ebenen zu senden und die dabei in das Bewusstsein einfließenden Erfahrungen aufzunehmen und sich zu eigen zu machen. Wenn wir uns jedoch uneinsichtig mit aller Gewalt auf die Lösung eines bestimmten Gedankens fixieren, meditieren wir ganz und gar nicht. Damit erreichen wir nichts, denn dieses Verhalten ist nur die Betätigung des Gehirn-Verstandes und ermüdet oft, inspiriert nicht und regt nicht an. Es besteht ein Unterschied zwischen bloßem konzentriertem Nachdenken über einen Gegenstand – vor allem, wenn der Gehirn-Verstand dazu benützt wird – und der Konzentration oder dem Versunkensein des Bewusstseins, indem es der veredelnden Belehrung folgt, die der spirituelle Wille lenkt.
Meditation ist demnach das stete Festhalten eines Gedankens, wobei man dem Bewusstsein gestattet, mühelos und freudig diesen Gedanken innerlich zu verarbeiten. Lasst das Bewusstsein dabei verweilen, lasst den Geist sich darin versenken. Es ist nicht nötig, den physischen oder psychischen Willen einzusetzen. Das ist echte Meditation und das ist in Wahrheit das wesentliche Geheimnis des Yoga, was so viel wie „Vereinigung“ des Geistes mit dem unbeschreiblichen Frieden, der Weisheit und der Liebe des Gottes im Inneren bedeutet. Wenn man dieser einfachen Regel des Jñāna-Yoga folgt, wird er nach einer Weile zum natürlichen Bestandteil des Tagesbewusstseins. Konzentration oder den Gedanken auf einen Punkt richten, bedeutet nichts weiter, als diesen Gedanken klarer in unser Bewusstsein aufzunehmen und unsere ganze Aufmerksamkeit darauf zu richten – nicht mit dem Willen, sondern zwanglos.
Alle anderen Formen von Yoga, die mehr oder weniger von äußeren Hilfsmitteln abhängen, wie z. B. Körperhaltungen, Atemtechniken, Finger-, Hand- oder Fußstellungen etc., gehören den niedrigeren Formen des Hatha-Yoga an und sind kaum mehr als Krücken, da sie die Gedanken zu diesen äußeren Methoden ablenken, weg vom Hauptziel des echten Yoga, der eine Umkehr des Denkens von äußerlichen zu innerlichen spirituellen Dingen bewirkt. Deshalb sind alle diese Formen des niedrigeren Yoga, die durch die „Lehren“ von Wander-„Yogis“ im Westen so populär geworden sind, eher schädlich als konstruktiv.
Das Hatha-Yoga-System umfasst eine fünffache Methode zur Beherrschung der niederen psychischen Fähigkeiten durch verschiedene Formen asketischer Übungen. Es verlangt, dass die physischen und psychischen Teile durch gewaltsame Methoden systematisch paralysiert werden. Diese vollständige Selbstversenkung bringt der Yogi dadurch zustande, indem er seine vitalen Abläufe aufhebt und einen Kurzschluss bestimmter prāṇischer Energien seines astro-physischen Körpers verursacht. Es sollte klar sein, dass diese Übungen sowohl mental und physisch gefährlich als auch spirituell einengend sind. Sie werden daher von allen echten okkulten Schulen eindeutig abgelehnt. Man kann dadurch allerdings gewisse Kräfte erlangen, aber ich wiederhole: Es sind Kräfte niedrigster Art und sie bringen keinen dauerhaften Nutzen, sondern behindern sogar den eigenen spirituellen Fortschritt beträchtlich.
W. Q. Judge schrieb in diesem Zusammenhang4:
… Fortschritt wird erzielt werden. Nicht indem man versucht, psychische Kräfte zu entwickeln, was man bestenfalls nur in geringem Maße erreichen kann, noch indem man sich irgendeiner Kontrolle durch andere unterwirft, sondern indem man seine Seele erzieht und stark macht. Wenn nicht alle Tugenden erprobt werden, wenn das nötige philosophische Wissen nicht vorhanden ist und wenn die spirituellen Notwendigkeiten nicht völlig unabhängig vom Gebiet des Psychismus gesehen werden, dann wird es nur einen zeitweiligen Abstecher in die Astralebenen geben, der schließlich enttäuschend endet. Das ist so sicher, wie die Sonne scheint.
Andererseits berühren die Systeme von Rāja-Yoga und Jñāna-Yoga, die die spirituelle und intellektuelle Schulung in Verbindung mit Liebe für alle Wesen einschließen, die höheren Teile der inneren Konstitution. Die Beherrschung des Physischen und Psychischen folgt als natürliche Konsequenz des Verständnisses für den ganzen siebenfältigen Menschen. Echter Yoga leitet und erhebt das Bewusstsein. Er bewirkt dadurch die Verbindung des menschlichen mit dem spirituellen Bewusstsein, das in Beziehung zum universalen Bewusstsein steht. Das Zustandekommen dieser Verschmelzung oder das Einssein mit der eigenen göttlich-spirituellen Essenz bewirkt Erleuchtung.
In bestimmten, sehr seltenen Ausnahmefällen, wenn ein Chela mental und spirituell relativ weit fortgeschritten ist, aber immer noch ein sehr unglückliches und schweres physisches Karma abzutragen hat, ist es angebracht, die Hatha-Yoga-Methoden in begrenztem Maße anzuwenden, jedoch nur unter der direkten Anleitung des Meisters. Ich möchte hier anfügen, dass die Yoga-Aphorismen (oder Sūtras) des Patañjali eine Hatha-Yoga-Schrift sind, jedoch eine der erhabensten Art. Die knappen Instruktionen dieses kleinen Buches sind den westlichen Schülern hauptsächlich durch die Interpretation von W. Q. Judge und späterer Autoren bekannt.
Echter Yoga ist, wie bereits erwähnt, Meditation, und diese schließt eindeutig ein, dass man sein Bewusstsein fest auf einen edlen Gedanken konzentriert, diesen Gedanken nicht loslässt und über ihn nachsinnt und grübelt. In seinen Sūtras (I, 2) schrieb Patañjali: Yogaś chitta-vritti-nirodhah – „Yoga verhindert das Umherschweifen der Gedanken.“ Das ist auch völlig klar: Wenn das ständig aktive niedere Bewusstsein mit seinem schmetterlingsartigen Flattern von Gedanke zu Gedanke und mit seinen fiebrigen Emotionen in eine eindeutige Bestrebung und intellektuelle Vision nach oben gelenkt werden kann, verschwinden diese „Gedankenwirbel“. Das strebende Denkorgan wird höchst aktiv, offenbart Intuitionen, schaut Wahrheiten und macht den Menschen, dessen Organ des selbstbewussten Denkens auf diese Weise beschäftigt ist, tatsächlich zu einer Verkörperung von Weisheit und Liebe – und das ist echter Yoga. Es ist Manas, das Denkprinzip, das hier aktiv ist. Es hat sich sozusagen selbst nach oben hingewendet anstatt nach unten und ist zum Buddhi-Manas anstatt zum Kāma-Manas geworden. Das Chitta des oben zitierten Sanskrit-Satzes, d. h. das „Denken“, wird mit Weisheit und Intuition angefüllt und der Mensch wird, sofern er Meister in dieser erhabenen spirituellen Übung ist, mit seiner inneren Göttlichkeit wahrhaftig eins.
Im nächsten Śloka fährt Patañjali fort und sagt: „Dann verharrt der Seher in sich selbst“, was bedeutet, dass der Mensch dann ein Seher wird und in seinem spirituellen Selbst, seinem inneren Gott, wohnt.
Wird andererseits das Denken nicht nach oben ausgerichtet und konzentriert, dann werden „die Wirbel (die Tätigkeit) gegenseitig angeglichen“, wie der vierte Śloka es schildert – eine sehr knapp gehaltene Aussage, die Folgendes ausdrückt: Ist das Denken in den niederen Dingen verankert, so fesseln seine fiebrigen Aktivitäten das höhere Manas, das auf diese Weise zeitweilig mit seinen niedrigsten Elementen „verhaftet“ bleibt; und der Mensch ist infolgedessen nicht mehr als ein gewöhnliches menschliches Wesen.
Ein okkultes Geheimnis in Verbindung mit der Seele besteht darin, dass diese die Form des betrachteten oder wahrgenommenen Objektes annimmt und sich daher in die Gedankenformen ergießt, wie diese auch immer sein mögen. Wenn das mentale Bild göttlich ist, wird die Seele ihm ähnlich, denn sie fließt in das Göttliche ein und formt sich entsprechend. Wenn dagegen die Seele an niederen Dingen hängt, so passt sie sich diesen ebenso an, weil sie in ihre Form und in ihre Erscheinung einfließt.5
Gerade dieser Wunsch zu wissen, nicht für sich selbst, nicht einmal des bloßen Wissens im abstrakten Sinne wegen, sondern um das Wissen auf den Altar des Dienstes zu legen, führt zu esoterischem Fortschritt. Dieser Wunsch, dieser Wille zum unpersönlichen Dienen reinigt das Herz, klärt den Verstand und macht die Bindungen des niederen Selbst unpersönlich, sodass die Bindungen gelöst werden und das Selbst fähig wird, Weisheit zu empfangen. Dieser Wunsch ist die treibende Kraft, der Antriebsmotor, die den Aspiranten vorwärts, immer höher und höher tragen.
Die Pāramitās und der erhabene achtfache Pfad
Sowohl in buddhistischer als auch in neuzeitlicher theosophischer Literatur ist viel über die „glorreichen Tugenden“ oder Pāramitās geschrieben worden. Unglücklicherweise werden diese Tugenden jedoch allzuoft nur als hochedle, aber nahezu unerfüllbare Verhaltensregeln betrachtet, was sie in der Tat auch sind; und dennoch sind sie mehr als das. In Wirklichkeit sind sie die Regeln für das Denken und Handeln, die der angehende Chela befolgen muss, anfangs so gut er dazu imstande ist, später aber vollständig, sodass schließlich sein ganzes Leben von diesen Regeln bestimmt und erleuchtet wird. Nur dadurch kann der Schüler an den Ort gelangen, den Buddha, der Herr, das „andere Ufer“6nannte. Diese spirituellen Gefilde können nur erreicht werden, wenn der stürmische Ozean der menschlichen Existenz überquert wird, und zwar mit den eigenen spirituellen und intellektuellen und psychischen Kräften, und nur mit der Hilfe, die dem Chela in Anbetracht des eigenen vergangenen Karmas gewährt werden kann.
An das andere Ufer gelangen, dies wird allgemein für eine typisch orientalische Vorstellung gehalten. Doch das scheint unberechtigt zu sein, denn auch zahlreiche christliche Hymnen erzählen vom mystischen Jordan und vom Erreichen des „jenseitigen Ufers“, eine Vorstellung, die mehr oder weniger mit der Anschauung des Buddhismus identisch zu sein scheint. „Diese Seite“ meint das Leben in dieser Welt, die alltäglichen üblichen Beschäftigungen der Menschen. „Das andere Ufer“ ist lediglich das spirituelle Leben, wobei die Erweiterung der gesamten menschlichen Natur mit relativ großer Kraft und mit starker Wirkung eingeschlossen ist. Anders ausgedrückt bedeutet das Erreichen des „anderen Ufers“, vereint mit der inneren Gottheit zu leben und somit am universalen Leben mit relativ vollem Selbstbewusstsein teilzunehmen. Die Lehren aller großen Religionen und Philosophiesysteme bestanden darin, ihren Anhängern die Tatsache vor Augen zu führen, dass es unser wahres Ziel ist, die Lektionen des manifestierten Lebens zu lernen, um aus dieser Erfahrung nach und nach in das kosmische Leben zu gelangen.
Das Dhammapada (Vers 85) drückt dies so aus:
Unter den Menschen wenige
Zum andern Ufer streben hin;
Hingegen all das andere Volk
Läuft nur das Ufer auf und ab.
Eine kleine buddhistische Schrift, genannt Prajñā-Pāramitā-Hṛidaya Sūtra oder „Das Herz oder die Essenz der Weisheit des Hinübergehens“ schließt mit einem wunderbaren Mantra, das im Sanskrit-Originaltext wie folgt lautet:
Gate, gate, pāragate, pārasamgate, bodhi, svāhā!
Oh Weisheit! Gegangen, gegangen, gegangen zum
anderen Ufer, angekommen am anderen Ufer, Heil!
In diesem Zusammenhang kann angenommen werden, dass sich Weisheit auf die kosmische Buddhi, auch Ādi-Buddhi oder „Ur-Weisheit“ genannt, bezieht, und in einem individualisierten Sinne auch auf den höchsten Stillen Wächter unserer Planetenkette, Ādi-Buddha. Der Angesprochene ist der am anderen Ufer Angekommene, der triumphierende Pilger, der sich – selbstbewusst geworden – mit seinem inneren Gott vereint und folglich die Māyā oder die Illusionen der Erscheinungswelten erfolgreich durchschaut hat. Die höchsten Wesen, denen dies gelungen ist, sind die Jīvanmuktas, „befreite Monaden“; die weniger hohen Wesen gehören den verschiedenen Stufen in mehreren Rangordnungen der Hierarchie des Mitleids an.
Die Lehren der Pāramitās, wie sie von H. P. Blavatsky in Die Stimme der Stille (S. 67–8) dargestellt sind, lauten folgendermaßen:
Dāna, der Schlüssel der Barmherzigkeit und unsterblichen Liebe.
Śīla, der Schlüssel der Harmonie in Wort und Tat; der Schlüssel des Gleichgewichts zwischen Ursache und Wirkung, der für karmische Aktion keinen Spielraum mehr lässt.
Kshānti, die süße Geduld, die durch nichts erschüttert werden kann.
Virāga, Gleichgültigkeit gegenüber Freude und Schmerz, besiegte Illusion, nur noch Wahrheit wird wahrgenommen.
Vīrya, die unerschrockene Energie, die sich ihren Weg aus dem Schlamm der irdischen Lügen zur überirdischen Wahrheit erkämpft.
Dhyāna, dessen goldenes Tor, sobald es geöffnet ist, den Narjol [Naljor] zum Reich des ewigen Sat und dessen unaufhörlicher Betrachtung führt.
Prajñā, der Schlüssel, der aus einem Menschen einen Gott macht, ihn in einen Bodhisattva, einen Sohn der Dhyānis verwandelt.
Wie diese Pāramitās befolgt werden sollten, wird im folgenden Auszug aus dem Mahāyāna Śrāddhotpāda Śāstra{fiitnote} Pāramita und Pāragata (oder ihr Äquivalent – Pāragāmin) sind Sanskrit-Begriffe mit der Bedeutung „einer, der das andere Ufer erreicht hat“. Pāramitā (die weibliche Form) bezeichnet die transzendentalen Tugenden oder Eigenschaften, die man ausbilden muss, um an jenes Ufer zu gelangen. Ein kleiner Unterschied in der Bedeutung soll hier vermerkt werden: Pāramita heißt so viel wie „überquert haben“ und somit „Ankunft“, während Pāragata (oder Pāragāmin) die „Abfahrt“ von dieser Seite bedeutet und somit „gegangen“, um sicher an das andere Ufer zu gelangen.
Ein anderes in buddhistischen Schriften häufig vorkommendes Wort, das ebenfalls beide feinen Unterschiede der obigen Begriffe einschließt, lautet Tathāgata, ein Titel, der Gautama Buddha verliehen wurde. Dieser Begriff aus dem Sanskrit kann zweifach verwendet werden: Tathāgata, „somit gegangen“, d. h. abgereist und das andere Ufer erreicht; und Tathā-Āgata, „somit angekommen oder gekommen“, d. h. die Bedeutung des Begriffes Tathāgata umfasst eine Person, die sowohl zum anderen Ufer „abgereist“ als auch dort „angekommen“ ist, wie es die ihm vorangegangenen Buddhas getan haben.{/footnote} eingehend beschrieben, allerdings werden hier nur sechs erwähnt. In anderen Schriften werden sieben, und in einer vollständigeren Aufzählung sogar zehn angegeben:
Wie sollte man Barmherzigkeit praktizieren (Dāna)?
Wenn jemand kommt und um etwas bittet, dann sollten die Schüler soweit es ihnen möglich ist, bereitwillig dem Wunsch nachkommen, und zwar in einer sinnvollen Weise. Wenn die Schüler irgendjemanden in Gefahr sehen, sollten sie versuchen, alles zur Rettung zu unternehmen, und dem Gefährten ein Gefühl der Sicherheit geben. Kommt jemand zu den Schülern und möchte Unterweisung im Dharma erhalten, so sollten sie, so gut sie können und nach ihrem besten Verständnis, versuchen, ihn zu unterweisen. Dabei sollten die Schüler keinerlei Wunsch nach einer Belohnung, nach Dankbarkeit, nach Verdienst oder Vorteilen noch nach irgendeiner weltlichen Belohnung hegen. Sie sollten versuchen, ihr Denken auf jene universalen Wohltaten und Segnungen zu konzentrieren, die für alle gleich sind, wodurch sie die höchste vollendete Weisheit in sich selbst erkennen.
Wie sollte man die Verhaltensregeln einhalten (Śīla)?
Laienschüler mit Familien sollten sich des Tötens, des Stehlens, des Ehebruchs, des Lügens, der Doppelzüngigkeit, der Verleumdung, des frivolen Redens, der Begierde, der Bosheit, des Einschmeichelns und der falschen Lehren enthalten. Unverheiratete Schüler sollten, um Behinderung zu vermeiden, sich vom Trubel des weltlichen Lebens zurückziehen und einsam lebend jene Wege praktizieren, die zur inneren Ruhe, Mäßigung und Zufriedenheit führen. … Sie sollten sich durch ihr Verhalten bemühen, Missfallen und Tadel zu vermeiden, und durch ihr Beispiel andere bewegen, das Böse aufzugeben und das Gute in die Tat umzusetzen.
Wie sollte man geduldige Nachsicht üben (Kshānti)?
Wenn jemand den Übeln des Lebens begegnet, sollte er ihnen nicht ausweichen oder darüber betrübt sein. Er sollte in Geduld die Übel ertragen, die andere ihm zufügen, und sollte nicht nachtragend sein. Er sollte weder stolz sein, weil er wohlhabend ist, Lob erhält, oder in angenehmen Verhältnissen lebt; noch sollte er wegen Armut, Krankheit oder Not niedergeschlagen sein. Indem er sein Denken auf die tiefe Bedeutung des Dharma konzentriert, sollte er in allen Situationen eine ruhige und unparteiische Haltung bewahren.
Wie sollte man unerschrockene Tatkraft üben (Vīrya)?
Man sollte nie saumselig sein, gute Taten zu vollbringen. Alle mentalen oder physischen Leiden sollte der Schüler als das natürliche Resultat unwürdiger Handlungen in vorausgegangenen Inkarnationen betrachten, und von nun an sollte er fest entschlossen sein, nur noch jene Dinge zu tun, die mit dem spirituellen Leben übereinstimmen. Mit allen Lebewesen Mitleid empfindend, sollte er niemals Gedanken der Gleichgültigkeit aufkommen lassen, sondern er sollte unermüdlich darauf bedacht sein, allen Lebewesen hilfreich zu sein.
Wie sollte man sich in Meditation üben (Dhyāna)?
Intellektuelle Einsicht erhält man durch echtes Verstehen, dass alle Dinge dem Gesetz von Ursache und Wirkung unterliegen, in sich selbst jedoch vergänglich sind und keine eigene Substanz besitzen. Es gibt zwei Aspekte des Dhyāna: Der erste Aspekt ist das Bemühen, unnützes Denken zu unterlassen; der zweite ist eine mentale Konzentration in der Bemühung, sich diese Leerheit (Śūnyatā) von Geist-Substanz zu vergegenwärtigen. Am Anfang wird der Neuling dies noch getrennt üben müssen, aber sobald es ihm gelingt, sein Denken zu beherrschen, werden beide miteinander verschmelzen. …
Er sollte über die Tatsache nachdenken, dass alle Dinge, obgleich sie vergänglich und leer sind, dennoch auf der physischen Ebene für jene einen relativen Wert darstellen, die an falschen Vorstellungen festhalten. Für diese Unwissenden ist Leiden sehr wirklich, es war immer real und wird immer real sein, unermessliches, unsagbares Leiden. …
Deshalb erwacht in der Seele jedes ernsthaften Schülers tiefes Mitleid mit allen leidenden Wesen, das ihn zu furchtlosem, ehrlichem Eifer und zu erhabenen Gelübden veranlasst. Er entschließt sich, alles, was er hat und was er ist, zur Befreiung aller Lebewesen hinzugeben. … Nach diesen Gelübden sollte der ernsthafte Schüler zu allen Zeiten, soweit es seine körperlichen und geistigen Kräfte zulassen, jene Handlungen ausführen, die anderen und ebenso ihm selbst förderlich sind. Ob er steht, sitzt, liegt oder sich bewegt, unablässig sollte er seine Gedanken darauf konzentrieren, was klugerweise zu tun und was klugerweise zu unterlassen wäre. Dies ist der aktive Aspekt von Dhyāna.
Wie kann man intuitive Weisheit ausüben (Prajñā)?
Wenn jemand durch das gewissenhafte Ausüben von Dhyāna Samādhi erlangt hat, ist er über das Unterscheidungsvermögen und das Wissen hinausgeschritten; er hat die vollkommene Einheit von Geist-Substanz verwirklicht. Mit dieser Realisation kommt ein intuitives Verstehen der Natur des Universums. …, er verwirklicht nun die vollkommene Einheit von Substanz, innerer möglicher Kraft und Aktivität in der Tathāgataschaft. …
Prajñā-Pāramitā ist höchste vollkommene Weisheit. Ihre Früchte stellen sich unbemerkt ein, sie kommen mühelos und spontan. Sie vereinigt alle scheinbaren Unterschiede, gute wie böse, zu einem vollkommenen Ganzen.
Deshalb sollten alle Schüler, die nach der höchsten, vollkommenen Weisheit, der Prajñā-Pāramitā, streben, sich unablässig der Schulung des Edlen Pfades widmen, denn er allein führt sie zur völligen Verwirklichung der Buddhaschaft.
Um die wahre Natur von Prajñā verstehen und spirituell erfühlen zu können, ist es notwendig, die „Diesseits“-Betrachtung aufzugeben und mit spiritueller Einsicht an das „andere Ufer“ (Pāra) zu gelangen oder die Dinge anders zu betrachten. Auf „dieser Seite“ sind wir in eine Bewusstseinssphäre des individuellen analysierenden Verstandesdenkens eingehüllt, was zu einer Unmenge von Verknüpfungen und zu verminderter Unterscheidungskraft auf der niederen Ebene führt. Wenn uns diese innere „Umkehr“, diese Bewusstseinsveränderung aufwärts zum mystischen „anderen Ufer“ des Seins gelingt, dann betreten wir mehr oder weniger erfolgreich eine Welt transzendentaler Wirklichkeiten, von der aus wir die Dinge in ihrer ursprünglichen und spirituellen Einheit sehen können, jenseits der Māyā der täuschenden Schleier der Vielheit. Dann ergründen wir die essenzielle Natur dieser Realitäten und sehen sie, wie sie wirklich sind.
Dieser Zustand der inneren Klarheit und der richtigen spirituellen und intellektuellen Wahrnehmung ist von dem vertrauten Wirken unseres „diesseitigen“ Bewusstseins in unserer alltäglichen Welt der vergänglichen Erscheinungen so verschieden, dass der Ungeübte ihn mit der Vorstellung der Leere oder mit einem Vakuum in Verbindung bringt. Diese Leere (Śūnyatā im buddhistischen Sprachgebrauch) sollte in ihrer wahren metaphysischen Bedeutung jedoch nicht mit „Nichts“ verwechselt werden, das eine totale Verneinung des realen Seins und somit Auslöschung bedeutet. Auch kann diese Leere nicht durch die rein vernunftmäßigen Fähigkeiten des Gehirn-Verstandes begriffen werden, sondern eher durch die direkte oder unmittelbare Wahrnehmung, die dem erhabenen spirituell-intellektuellen Zustand angehört, der Prajñā genannt wird und der über den māyāvischen Unterscheidungen von Sein und Nichtsein, von Besonderem und Universalem, von dem Vielen und von dem Einen steht.
Dieser erhabene Zustand entsteht tatsächlich durch intuitives Wissen und die tiefe Erkenntnis der spirituellen Seele des Menschen, seines Buddhi-Manas, das unermesslich mächtiger und scharfsinniger ist als bloße Verstandestätigkeit. Solch intuitives Wissen und solch tiefe Einsicht sind immer in den erhabensten und umfassendsten universalen Bereichen unseres Bewusstseins aktiv enthalten. Durch das allmähliche Erwachen des niederen Menschen zu selbstbewusster Verwirklichung dieses spirituell-intellektuellen Bewusstseins – das in seiner aktiven Manifestation identisch mit Prajñā ist – steigen wir aus den unteren Bewusstseinsebenen empor und entkommen der Sklaverei von Ignoranz und Nichtwissen (Avidyā) und werden so von den vielen Arten der inneren und äußeren Schmerzen befreit. Diese Befreiung bedeutet das Erlangen höchster Erleuchtung und Unabhängigkeit (Mukti). Kurz, Prajñā kann vielleicht am besten mit Intuition übersetzt werden, die jene unmittelbare Erleuchtung oder jenes unumschränkte Wissen kennzeichnet, das wahrhaft göttlich ist.
In der Prajñā-Pāramitā-Gruppe der buddhistischen Schriften wird Prajñā als das leitende Prinzip der anderen Pāramitās angesehen, das auf diese als die Methode hinweist, Wirklichkeit zu erlangen. Prajñā wird mit dem wahrnehmenden und verstehenden Auge verglichen, das mit visionärer Klarheit die Horizonte des Lebens überblickt und als der Pfad bezeichnet wird, dem der Aspirant folgen soll. Ohne Prajñā wären die anderen Pāramitās ohne eines ihrer höchsten Elemente. Sie leitet deren fortschreitende Entwicklung, so ähnlich, wie die Erde die Äcker für das Wachstum der Vegetation bereithält.
Alle Wesen des Universums besitzen Prajñā, obgleich sie nicht selbstbewusst aktiv ist, es sei denn, die evolvierenden Wesenheiten sind auf ihrer evolutionären Pilgerreise eins damit geworden. Die Tiere besitzen also auch Prajñā, einschließlich der Bienen und Ameisen. Sie sind sich dessen jedoch nicht bewusst, da eine solche Selbsterkenntnis in Verbindung mit Prajñā erst beim Menschen beginnt – zumindest hier auf dieser Erde. Im Menschen erscheint das erste schwache Wirken von Prajñā als ein Streben nach Erleuchtung, Liebe und Weisheit. Sie erblüht in einem Bodhisattva und steht in voller Blüte in den Buddhas und Christussen, die den Zustand der vollkommenen Erleuchtung verkörpern.
Der hohe Chela oder Eingeweihte, der erfolgreich die Stufe erreicht hat, auf der er selbst zu den Pāramitās geworden ist, der mit seinem kristallklaren und relativ grenzenlosen Bewusstsein und mit seinem ganzen Wesen mit der spirituellen Seele der Menschheit in Einklang steht, der sein Selbst für die selbstlose Ehre hingab, für alles Seiende zu leben, wird genau genommen ein Bodhisattva genannt – „einer, dessen Essenz (Sattva) aus der wahren Natur der Weisheit (Bodhi) besteht“. Das Motiv, das den echten Schüler bewegt, für sich selbst höchste Erleuchtung zu erlangen, ist niemals persönlicher Gewinn, wie hoch und vergeistigt dieser auch immer sein mag. Es ist vielmehr das Verlangen, der gesamten Welt zu dienen, um alle Wesen aus den Ketten der Unwissenheit und des Leidens zu befreien, um in sich ein mitleidsvolles Herz für alles Lebende zu wecken, damit jedem fühlenden Wesen im Laufe der Zeit vollständige Befreiung gelingen möge.7
In der Mahā-Prajñā-Pāramitā wird von Śāriputra die Frage gestellt, ob der Bodhisattva nur anderen Bodhisattvas und nicht „allen Wesen allgemein“ Ehrerbietung entgegenbringen solle. Worauf der Weise antwortet, dass er sie tatsächlich „mit demselben Gefühl der Selbstverleugnung verehren solle, wie er die Tathāgatas verehrt.“ Er fährt dann fort:8
Der Bodhisattva sollte daher ein unbegrenztes Mitgefühl gegenüber allen Wesen in sich erwecken, sein Denken völlig frei von Hochmut und Eitelkeit halten, das ihn auf diese Weise bewusst werden lässt: Mit aller mir zu Gebote stehenden Kraft will ich dafür arbeiten, in allen fühlenden Wesen die Erkenntnis des Höchsten in ihnen zu erwecken, nämlich ihre Buddha-Natur (Buddhatā). Indem sie dies verwirklichen, werden sie alle Buddhas. …
Prajñā nimmt in der individuellen Wesenheit, wie z. B. in einem Menschen, ziemlich genau dieselbe Position ein wie Ādi-Buddhi oder Mahā-Buddhi im Universum. Eines der Axiome der esoterischen Weisheit besagt, dass unser Universum eine Wesenheit ist; deshalb dürfen wir uns seinen individuellen universalen Geist oder sein Bewusstsein als einen weiten Ozean selbstbewusster buddhi-manasischer Energiepunkte vorstellen. Aus dieser Sicht kann man Prajñā als das spirituelle individuelle Bewusstsein eines jeden Mitgliedes der Scharen von Dhyāni-Chohans oder kosmischen Geistern bezeichnen. Wenn jemand also den Prajñā-Bewusstseinszustand erreicht hat, so ist er in selbstbewusster Gemeinschaft mit dem buddhi-manasischen Herzen des Wunderbaren Wesens unserer Hierarchie.
Aus dem Vorhergehenden sollte es klar sein, dass es zahlreiche Unterschiede in der Größe der Vollkommenheit unter den Mitgliedern einer Hierarchie gibt, denn es bestehen unterschiedliche Grade der Erkenntnis zwischen einem Chela, der sich am Anfang des Pfades befindet, und einem Mahatma, auf den noch höhere Wesen folgen, die Prajñā auf der Leiter der Vollendung noch mehr verwirklichen, einer Leiter, die beständig weiter nach oben führt, bis das Wunderbare Wesen erreicht ist. Die Prajñā ist in allen dieselbe. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Wesen zeigen sich in ihren jeweiligen Äußerungen von Prajñā.
Es gibt auch noch Unterschiede anderer Art, wie z. B. zwischen einem Menschen, der Prajñā relativ verwirklicht hat und in Nirvāṇa eintritt, und einem anderen, der eine ähnliche Stufe erreicht hat, der dem Nirvāṇa jedoch entsagt. Hier sehen wir einen wesentlichen Unterschied, der auf der kosmischen Ethik beruht: Derjenige, der Nirvāṇa erlangt hat, jedoch darauf verzichtet, um zurückzukehren und der Welt zu helfen, steht ethisch weit höher als jener, der für seine eigene Glückseligkeit in Nirvāṇa eingeht. Jeder von ihnen hat genügend Prajñā erlangt, um den Nirvāṇa-Zustand verdient zu haben. Derjenige aber, der darauf verzichtet, hat eine selbstbewusste Verwirklichung von Prajñā auf einer höheren buddhischen Ebene erreicht als jener, der Nirvāṇa gewann und darin eingeht.
Der Schlüssel zu diesem Geheimnis liegt in der Tatsache, dass jedes der sieben Prinzipien der menschlichen Konstitution siebenfach ist und dass deshalb Buddhi als Sitz von Prajñā ebenfalls siebenfach ist. Daraus erkennen wir, dass der in Nirvāṇa Eintretende das erreicht hat, was man als Kāma-Buddhi definieren kann, aber qualitativ hat er sich in seiner Verwirklichung von Prajñā nicht weiterentwickelt. Der andere hingegen, der Nirvāṇa entsagte, hat den Zustand buddhischer Prajñā errungen, den man entweder als Buddhi-Buddhi oder Manas-Buddhi bezeichnen kann. Die Buddhas und Mahā-Buddhas sind jene, die das erlangt haben, was man den ātmischen Zustand von Buddhi nennen kann; sie fühlen sich deshalb absolut und uneingeschränkt identisch mit dem Universum.
Wie bereits bekannt, enthalten die sieben Pāramitās den Kern der Verhaltensregeln, die ausführlicher in der Aufzählung der zehn Pāramitās oder in den vollständigen zehn ethischen Geboten des Okkultismus niedergelegt sind. Die drei zusätzlichen lauten: Adhishṭhāna, Upekshā und Prabodha oder Sambuddhi. Von diesen sieht Adhishṭhāna, das „unbeugsamer Mut“ bedeutet, nicht nur einer Gefahr oder Schwierigkeit entgegen, sondern, sobald sie durch Intuition oder Prajñā erleuchtet ist, „schreitet sie voran“ und „behauptet sich“. An nächster Stelle folgt Vīrya oder „Standhaftigkeit“. Die nächste, Upekshā oder „Urteilskraft“, erforscht und findet die richtige Methode für die Anwendung der Pāramitās und kommt demgemäß nach Dhyāna. Für die zehnte Pāramitā gibt es zwei Ausdrücke: Prabodha, das „Erwecken des inneren Bewusstseins“ bedeutet und Wissen und Vorherwissen bringt und damit zeigt, wie herrlich der Pfad sein wird; und Sambuddhi, „vollständige oder vollendete Erleuchtung oder Vision“ oder Selbstbewusstsein der eigenen Identität mit dem Spirituellen, dem Höhepunkt oder der Krone von allem. Anders formuliert ist es die „Vereinigung mit Buddhi“.
Im Orient werden von anderen Schulen für esoterische oder quasi-okkulte Ausbildung gelegentlich noch weitere „Tugenden“ mit einbezogen, zum Beispiel: Satya oder Wahrheit und Maitra oder universale freundschaftliche Gesinnung oder universales Wohlwollen. Wenn man diese jedoch analysiert, so erkennt man, dass sie bereits in den zehn Pāramitās enthalten sind. Auch soll hier erwähnt werden, dass in vielen Teilen der Welt unterschiedliche Ausbildungssysteme bestehen, von denen die meisten nutzlos sind, denn bei sorgfältiger Untersuchung erkennt man, dass es sich mehr oder weniger um Abwandlungen des Hatha-Yoga handelt, und diese sind, wie bereits betont wurde, auch im günstigsten Falle noch äußerst gefährlich und sie verursachen im schlimmsten Falle Wahnsinn oder den Verlust der Seele.
Stärke ergibt sich aus der Übung und durch Üben unserer Stärke in den Prüfungen und Erfahrungen des täglichen Lebens werden wir mit der Zeit auf den Pfad geführt. Folgt der Schüler der inneren Schulung nicht, die darin besteht, die zehn glorreichen Tugenden oder Pāramitās dem Geiste nach andauernd und nie nachlassend als unabänderliche Denk- und Verhaltensregeln täglich zu üben, so wird seinen Bemühungen der Erfolg versagt bleiben. Gerade diese Schulung, dieses Üben seiner Willensstärke, seiner Intelligenz und seiner Liebe, von der sein Herz erfüllt sein sollte, führt den Neophyten schließlich zur Neugeburt oder zur „zweiten Geburt“, die den Dvija, den „Zweimal Geborenen“, den Initiierten, hervorbringt, der letztlich Meister über Leben und Tod werden soll.
Der Leser mag sich nun mit Recht fragen, welcher Zusammenhang zwischen den Pāramitās und den weitaus bekannteren Lehren des Buddhismus besteht, die als die vier edlen Wahrheiten und ihre logische Konsequenz, der achtfache Pfad, bekannt sind. Der Zusammenhang ist sowohl historisch begründet als auch naheliegend, denn beide enthalten die gleichen Grundgedanken, die jedoch in den mehr öffentlichen Lehren so abgefasst sind, dass sie als Verhaltensrichtlinien dienen können. Ihnen kann der Durchschnittsmensch folgen, falls er die das menschliche Leben begleitenden aufreibenden Fehler vermeiden möchte und den Frieden und die intellektuelle Gelöstheit gewinnen will, die Kennzeichen eines gut und edel geführten Lebens sind.
Kurz gesagt lauten die Vier Edlen Wahrheiten: 1. Die Ursache des Leidens und der Sorgen unseres Lebens entspringt dem Anhaften oder dem „Durst“ – Tṛishṇā. 2. Diese Ursache kann behoben werden. 3. Jene Ursachen, die menschliches Leid bewirken, werden durch eine Lebensweise aufgehoben, die die Seele von ihrem Anhaften an die Existenz befreit. 4. Die vierte Wahrheit, die zur Auslöschung der Leidensursachen führt, ist in der Tat der erhabene achtfache Pfad, das heißt: „rechter Glaube, rechter Entschluss, rechte Rede, rechtes Verhalten, rechte Beschäftigung, rechtes Bemühen, rechte Betrachtung und rechte Konzentration.“
Dieser Weg des Strebens wurde von Buddha der mittlere Weg genannt, weil er einerseits keine nutzlose oder fanatische Askese erfordert und andererseits keine Nachlässigkeit der Prinzipien und Gedanken zulässt, sondern eine konsequente Verhaltensweise verlangt. Wie gesagt, es handelt sich um Regeln, die jeder Mann und jede Frau erfüllen können und die keine besonderen Voraussetzungen oder Umstände erfordern. Jeder kann sie anwenden, der sich danach sehnt, sein Leben zu verbessern und seinen Teil zur Beendigung des Leidens beizutragen, das uns überall umgibt – und dessen sich auf der ganzen Welt mitfühlende Herzen bewusst sind.
Man sollte jedoch nicht glauben, dass der Chela die strengen ethischen Gebote des achtfachen Pfades außer Acht lasse; dies würde bedeuten, dass er ihre Wichtigkeit missverstünde. In Wirklichkeit befolgt er sie nicht nur, sondern er tut es mit einer wesentlich größeren Konzentration seines Denkens und Fühlens als der Durchschnittsmensch, weil er gleichzeitig mit seinem ganzen Herzen danach strebt, sich auf die erhabene Höhe der Pāramitās zu erheben, nach denen er leben sollte.
Es ist vielleicht notwendig, diesem Punkt etwas mehr Gewicht zu verleihen, da unter einigen unerfahrenen Mystikern die völlig falsche Vorstellung herrscht, es gehöre zum Leben eines Chela, normale menschliche Beziehungen zu ignorieren, sich wenig um diese zu kümmern und zu glauben, er sei von allen Pflichten, auch weltlichen, gegenüber seinen Mitmenschen befreit. Diese Anschauung steht in krassem Gegensatz zu allen Lehren des Okkultismus.
Die hinter den Vier Edlen Wahrheiten stehende Grundwahrheit und deren acht Zusätze lauten: Wenn die Wurzel des Anhaftens – das Verlangen – abgeschnitten werden kann, wird die Seele befreit, und, indem sie so die Ketten des Verlangens, die das Anhaften verursachen, abwirft, hört die Ursache des Leidens auf. Die Wurzel des Anhaftens wird durch eine Lebensweise abgetrennt, durch die der Durst der Seele nach materiellen Dingen allmählich abstirbt. Ist dies geschehen, so ist der Mensch „frei“ – er ist zum relativ vollkommenen Jīvanmukta geworden, zu einem Meister des Lebens. Wenn er diesen Zustand des äußersten Losgelöstseins erreicht hat, so ist er ein Bodhisattva. Er widmet sich von nun an vollständig allen Wesen und Dingen. Sein Herz ist mit grenzenlosem Mitleid erfüllt und sein Denken vom Lichte der Ewigkeit erleuchtet. Deshalb erscheint er auf Erden immer wieder als Bodhisattva, entweder als ein Buddha oder als ein Bodhisattva, oder er bleibt in der Tat als ein Nirmāṇakāya in den unsichtbaren Welten.
Die gewöhnliche Vorstellung, ein Bodhisattva habe nur noch eine Inkarnation zu durchlaufen, bevor er zum Buddha wird, ist so weit korrekt, aber in dieser Weise ausgedrückt nicht angemessen, denn das Ideal sowohl der esoterischen Theosophie als auch des esoterischen Buddhismus ist vielleicht noch mehr der Bodhisattva als der Buddha, weil ein Bodhisattva ein Mensch ist, dessen ganzes Wesen und Bestreben, dessen gesamte Tätigkeit darin liegt, allen Wesen Gutes zu tun und sie sicher zum „anderen Ufer“ hinüberzubringen. Ein Buddha hingegen steht, obgleich er dasselbe in erweitertem Umfang verkörpert, allein durch die Tatsache seiner Buddhaschaft während des gegenwärtigen Zustandes der spirituellen Entfaltung der Menschheit bereits an der Schwelle zu Nirvāṇa und geht in der Regel auch darin ein. Natürlich kann ein Buddha auch dem Nirvāṇa entsagen und hier auf der Erde als ein Bodhisattva oder ein Nirmāṇakāya verbleiben; in diesem Falle ist er als ein Buddha des Mitleids zugleich ein rechtmäßiger Buddha und ein Bodhisattva aus eigener Wahl.
Es kann nicht stark genug betont werden, wie wichtig es ist, die innere Bedeutung der Bodhisattva-Lehre zu verstehen, denn sie verkörpert den Geist der okkulten Unterweisung, der den gesamten Zyklus der Initiationsvorbereitung und die edlen Schulen des Mahāyāna erfüllt. Man erkennt sofort, weshalb der Bodhisattva im nördlichen Buddhismus so sehr verehrt wird und eine so erhabene Position in den menschlichen Herzen einnimmt. Sie sind Buddhas des Mitleids, weil sie dieses Ideal verkörpern, wenn sie auf die spirituell selbstsüchtige Glückseligkeit der nirvāṇischen Buddhaschaft verzichten, um in der Welt zu bleiben und für sie zu wirken. Selbst der einfachste und nur wenig Gebildete kann diesem Ideal nachstreben.
In künftigen Äonen wird man sich entscheiden müssen, ob man ein Buddha des Mitleids oder ein Pratyeka-Buddha werden will. Wenn die Wahl ansteht, dann kommt sie als karmisches Resultat vergangener Leben; denn sie ergibt sich aus der Charakterfestigkeit, den erweckten spirituellen Fähigkeiten, dem Willen zur Wachsamkeit und der Bereitschaft, Weisungen zu folgen: Alle diese Faktoren bestimmen und entscheiden tatsächlich die Wahl, wenn der Zeitpunkt zu wählen gekommen ist. Deshalb beginnt die Schulung schon jetzt: Indem man groß in den kleinen Dingen wird, lernt man, groß in den großen Dingen zu werden.
Als Schlussgedanke noch Folgendes: Man sollte das Leben, das durch den erhabenen achtfachen Pfad oder tatsächlich durch die Pāramitās bestimmt wird, nicht so schwer nehmen. Man sollte Freude daran finden. Ich bin der aufrichtigen Überzeugung, dass jeder, der diese edlen Regeln wenigstens bis zu einem gewissen Grade befolgt, dadurch außerordentlich vorwärtskommt. Wir sollten auch nicht vergessen, wie sehr durch solch beständiges Üben die Willenskraft gesteigert, das Denkvermögen gefestigt, das mitfühlende Herz gestärkt, die Seele erleuchtet und durch all das letztlich der Mahatma, der echte Bodhisattva, geboren wird.
Der Einweihungszyklus
Der Kern unseres Wesens ist reines Bewusstsein. In dem Maße, in dem wir uns mit unserem inneren Gott, mit diesem reinen monadischen Bewusstsein vereinigen, wird uns auf natürliche Weise Wissen zuteil. Unser Verständnis erweitert sich und wird schließlich kosmisch. Wir werden dann erkennen, dass es einen anderen, noch größeren Kosmos gibt, von dem unser Kosmos nur ein Atom ist. Dies ist der Weg der Evolution, des inneren und äußeren Wachstums. Es ist der Pfad der Initiation, der Pfad zu allmächtiger Liebe und zum Mitleid.
Das Wort „Initiation“ stammt aus einer lateinischen Wurzel mit der Bedeutung „beginnen“. Esoterisch bedeutet es zugleich ein Neuwerden, den Beginn einer Lern- und Lebensrichtung, die schließlich alle spirituelle und intellektuelle Größe, die der Einzelne in sich birgt, hervorbringt. Der evolutionäre Prozess wird tatsächlich beschleunigt, nicht in dem Sinne, dass eine Stufe ausgelassen oder übersprungen wird, sondern so, dass innerhalb einer kurzen Zeit alles zusammengefasst wird, was im natürlichen Ablauf Äonen des Strebens in Anspruch nehmen würde, bis es erreicht wäre.
Esoterische Schulung ist daher oft schmerzvoll, denn sie bewirkt ein beschleunigtes Wachstum – und sie vollzieht schnell und energisch, was sich nach der üblichen Verfahrensweise der Natur über viele Jahrzehntausende, vielleicht Jahrmillionen hin erstrecken würde. Es ist deswegen zeitweise schmerzvoll, weil man anstatt langsam zu wachsen, um überall die Schönheit und die Harmonie des Lebens zu erkennen, lernen muss, sich mit einem eisernen Willen selbst zu bezwingen, sich selbst völlig zu vergessen und allem zu dienen: das eigene Selbst für das universale Selbst aufzugeben und täglich zu sterben, um das kosmische Leben leben zu können.
Für jeden Menschen ist es vermutlich selbstverständlich, dass er von dem Augenblick an, in dem er das erste Mal als ein nicht selbstbewusster Gottesfunke aus dem Herzen des Unendlichen hervortrat, bis zu dem Augenblick, in dem er als selbstbewusster Gott die Göttlichkeit wieder erlangt, viele Male versagte und noch versagen wird. Aber am Ende wird er es erreichen – wenn er sich erhebt und vorwärtsdrängt. Ein Misslingen ist nicht so schlimm. Rückwärts gehen, stillstehen und es geschehen zu lassen, dass der evolutionäre Strom an uns vorbeizieht und uns zurücklässt – das ist moralisch falsch. Es ist unsere Pflicht, vorwärts zu gehen, unpersönlich und selbstvergessend zu werden. Natürlich bedeutet „Rückwärtsgehen“ nicht eine tatsächliche Rückwärtsbewegung eines Körpers. Dieser Begriff kommt aus der menschlichen Erfahrung. Wir gehen manchmal mit großem Mut und sprunghaftem Ehrgeiz an eine Sache heran, werden dann mutlos, wenden uns ab und lassen die Aufgabe unerledigt. Genau genommen ist es unmöglich, rückwärts zu gehen, denn in jedem Augenblick schließt die Natur die Tür hinter uns zu. Es bedeutet auch nicht, etwas rückgängig zu machen, was die Evolution zustande gebracht hat. Es deutet vielmehr ein tieferes Eintauchen in die Materie an, anstatt vollständiger zum Spirituellen aufzusteigen; anders ausgedrückt: eine Kursänderung unserer evolutionären Reise.
Es hat noch nie einen Mahatma gegeben, der nicht viele Male versagt hätte. Versagen ist bedauerlich, aber das kann geändert und durch die Entschlossenheit eines willensstarken Menschen in einen Sieg umgewandelt werden. Um W. Q. Judge zu zitieren:9
In bestimmten Handlungen oder Bemühungen mögen wir „scheitern“, aber solange wir standhaft weitermachen, sind dies keine „Misserfolge“, sondern notwendige Lektionen. Durch Festigkeit und Ausdauer erhalten wir neue Kraft. Damit ziehen wir – nach okkulten Gesetzen – alle Kraft an, die wir durch Überwindung gewonnen haben. Vollständiges „Gelingen“ ist für uns im Augenblick nicht erreichbar, aber wir können uns immer wieder beharrlich bemühen, und das allein ist bereits Erfolg, nicht das bloße Ausführen aller unserer Pläne und Versuche. Darüber hinaus gibt es immer noch weitere Stufen der Leiter zu erklimmen, ganz gleich wie hoch wir in der Natur bereits stehen. Die Stufen jener Leiter werden alle durch Arbeit und unter Schmerzen genommen, aber auch in der großen Freude bewusster Stärke und bewusster Willenskraft. Auch der Adept sieht neue Prüfungen vor sich. Wenn wir uns sagen: „Ich habe versagt“, sollten wir uns daran erinnern, dass dies ein Zeichen für unsere frühere und noch andauernde Bemühung ist. Und solange uns dies bewusst ist und solange wir erhabenere Höhen der Vollendung erklimmen müssen, wird uns die Natur nie verlassen. Wir streben und steigen empor, wofür das Gefühl des Versagens der sicherste Beweis ist. Die Natur hat jedoch keine Verwendung für jemand, der die Grenzen seines Strebens erreicht hat oder glaubt, nicht mehr streben zu müssen. Somit ist jedes „Versagen ein Erfolg“. Je größer zu Beginn unser Streben ist, desto größer sind die Schwierigkeiten, mit denen wir zu kämpfen haben. Wir sollten deshalb nicht vergessen, dass der einzige Weg zum wirklichen Erfolg ist, es immer wieder zu versuchen, auch wenn man ständig versagt.
Das Ziel der Initiation liegt darin, den Menschen mit den Göttern zu vereinigen. Es fängt damit an, den Neophyt in Übereinstimmung mit seinem inneren Gott zu bringen. Das bedeutet nicht nur eine Gemeinschaft mit den Gottheiten, sondern auch, dass der Initiand, der Lernende, falls er erfolgreich ist, einen Schleier nach dem anderen lüften wird: zuerst den Schleier des materiellen Universums, danach die Schleier der anderen Universen innerhalb des Physisch-Materiellen, wobei jedes weitere Schauen hinter einen Schleier die Einführung in ein größeres Geheimnis bedeutet. Kurz, es handelt sich um das selbstbewusste Einswerden mit dem spirituell-göttlichen Universum, um die Erweiterung des Bewusstseins, sodass dieses von ehemals nur menschlichen, sich nun in kosmische Bereiche begibt. Auf diese Weise ist der Mensch in seinem Denken und Bewusstsein in jedem Teil des universalen Seins zu Hause – auf dem Sirius oder dem Polarstern, auf dem Kanopus oder auf der Erde und noch mehr in den unsichtbaren Welten.
Initiation ist eine Beschleunigung des Evolutionsprozesses, eine Belebung des inneren Menschen im Gegensatz zur äußeren physischen Erscheinung. Die höheren Stufen bringen Kräfte und eine Bewusstseinsentfaltung mit sich, die wahrhaft göttlich sind. Damit ist für den Betreffenden jedoch gleichzeitig die Übernahme gottähnlicher Verantwortung verbunden. Niemand wird durch seine bloße Unterschrift auf einem Stück Papier zu einem Esoteriker. Er kann kein Esoteriker werden, wenn nicht in seinem Herzen ein Schimmer buddhischen Lichtes scheint und sein Denken erleuchtet. Ein wirklicher Esoteriker ist ein Mensch, der zumindest mit einem Schimmer des Christus-Lichts, das in seinem Inneren leuchtet, geboren wurde. Ein solcher Mensch wird früher oder später, so gewiss wie das Wirken des Karmas seinen festen Lauf nimmt, zu diesem Pfad hingezogen, da dies die Auswirkung seines Schicksals ist, das, in der Vergangenheit vorbereitet und geformt, zu seinem heutigen Charakter führte und als Frucht eine instinktive Erkenntnis der Wahrheit hervorbrachte.10
Der unbedeutendste und praktisch nebensächlichste Teil der Initiation ist das Ritual. Keine Initiation kann auf einen anderen übertragen werden. Das gesamte Wachstum, jede spirituelle Erleuchtung findet in uns statt. Es gibt keinen anderen Weg. Symbolische Riten und äußeres Drum und Dran sind nur Hilfen für den Lernenden, Hilfen zur Entwicklung der Fähigkeit der inneren Schau, des inneren Auges. Daher ist jede Initiationsprüfung, ganz gleich, wo sie stattfand oder unter welchen Umständen, im Wesentlichen ein individuelles inneres Sichöffnen. Wäre es nicht so, gäbe es keine Initiation; sie wäre nur ein leeres Ritual, so wie es die Sakramente der heutigen Kirche größtenteils darstellen; und dennoch sind sie schwache Widerspiegelungen der einst lebendigen Erfahrungen von Chelas während ihrer Initiation.
Die alten Mysterien in Griechenland zum Beispiel, die vom Staat in Eleusis, in Samothrake oder in Delphi durchgeführt wurden, oder auch diejenigen, die beim Orakel des Trophonius vorgenommen wurden, waren größtenteils zeremonieller Art. Dennoch war in allen, selbst noch in der Zeit des Verfalls, ein gewisses Maß an echter spiritueller Erfahrung vorhanden. Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass die Literaturhinweise über die schweren Prüfungen, die zu bestehen waren, nicht zu wörtlich ausgelegt werden sollten. Es handelt sich weniger um erfundene, sondern vielmehr um symbolische Darstellungen dessen, was dem Initianden in seinem Inneren begegnet. Gedanken sind ja mentale Wesenheiten und besitzen daher ihre eigene Form und Kraft. Der Betreffende muss entweder seine niedere Natur überwinden oder er wird versagen.
Es gibt im Einweihungszyklus insgesamt zehn Grade, aber nur die sieben, die den sieben geoffenbarten Ebenen des Sonnensystems zuzuordnen sind, können uns interessieren – da die drei höchsten weit über unserem gegenwärtigen menschlichen Begriffsvermögen liegen. Das wird auch weiterhin so bleiben, bis unser Bewusstsein wirklich universal oder übermenschlich geworden ist. Diese sieben Grade sind die sieben großen Tore, die der Pilger durchschreiten muss, ehe er Gottähnlichkeit erreicht. Zwischen diesen Toren befinden sich je sieben kleinere Tore, die durchschritten werden müssen. Jedes bedeutet eine Stufe in der Vorbereitung und der Schulung, sodass es insgesamt neunundvierzig Stufen gibt, die den neunundvierzig Ebenen in unserem Sonnensystem entsprechen: sieben große Hauptebenen mit jeweils sieben Unterebenen oder kleineren Sphären oder Reichen.
Die ersten drei Stufen oder Grade bestehen aus Lernen, verbunden mit dem beständigen Streben, spirituell und intellektuell zu wachsen, sich zu entwickeln und erfolgreicher zu werden; dazu gehört auch die rechte Lebensführung. Diese ersten drei Stufen sind symbolisch, das heißt, die Riten werden in der Form eines Dramas ausgeführt. Es werden auch tiefere Lehren (die den Hauptteil dieser Riten bilden) über die verborgenen Naturgeheimnisse gelehrt. Selten werden sie jedoch in einer klaren und zusammenhängenden Form gegeben, weil das die Methode des Gehirn-Verstandes ist. Die Lehren werden vielmehr durch einen Hinweis hier und eine Andeutung dort erteilt. Diese Methode füllt den Verstand des Lernenden nicht mit den Gedanken anderer Menschen, sie facht vielmehr das spirituelle Feuer in ihm selbst an, wodurch seine Erkenntnis geweckt wird, sodass der Neophyt in Wahrheit sein eigener Initiator wird.
Was man von außen an Gedanken und Ideen empfängt, das sind nur die äußeren Anregungen, die die innere Schwingung auslösen und zum Empfangen des inneren Lichtes bereit machen. Die Übertragung von Ideen ist nichts anderes als eine Methode des Sprechens. Sie ruft Eindrücke hervor, die die entsprechende Schwingungssaite im psychischen Apparat des Empfängers anregen, und sofort stellt sich das entsprechende Wissen aus dem Denkbewusstsein ein, das noch über der Psyche des Empfängers liegt. Wahrheitsliebe bis zur völligen Selbstvergessenheit öffnet den Empfangskanal. Licht und Wissen treten dann in Herz und Verstand ein, aus dem eigenen Selbst, aus dem eigenen inneren Gott, der auf diese Art erweckt wird oder, genauer gesagt, zu arbeiten beginnt, wenn auch vielleicht nur zeitweilig. Auf diese Weise initiiert sich der Mensch selbst. Der gesamte Prozess basiert auf den Naturgesetzen, auf dem natürlichen Wachstum der Erkenntnis, der inneren Schau.
Mit der vierten Initiation beginnt eine neue Reihe innerer Entfaltungen – das heißt, auf den zukünftigen Stufen werden nicht nur das Studium, das höhere Streben und die rechte Lebensführung fortgesetzt, sondern es tritt bei diesem Grad noch etwas Neues hinzu. Von diesem Moment an beginnt der Initiand sein persönliches Menschsein zu verlieren und in die Göttlichkeit einzutauchen; das heißt, es beginnt die Loslösung vom rein Menschlichen und das Eintreten in den göttlichen Zustand. Es wird ihm vermittelt, wie er seinen physischen Körper verlassen kann, wie er sich von seinen physischen Sinnen trennen und nicht nur in die Unermesslichkeit des physischen Universums, sondern hauptsächlich auch in die unsichtbaren Bereiche vordringen kann. Er lernt dann, in das innere Bewusstsein der Wesenheiten und Sphären einzutreten, mit denen er in Berührung kommt, um ein Teil von ihnen zu werden und zu sein.
Dafür besteht folgender Grund: Wenn man etwas völlig verstehen will, muss man es sein; wenigstens zeitweise muss er es selbst werden, wenn der Initiand genau verstehen will, was alles damit verbunden ist. Sein Bewusstsein muss sich mit dem Bewusstsein des Wesens oder des Dings, das er in diesem Augenblick ist, verschmelzen, um die Bedeutung von allem zu erkennen. Daher die quasi-mystischen Erzählungen über den „Abstieg“ des Initianden in die „Hölle“, damit er das Leben und die Leiden der Höllenbewohner kennenlernt, und teilweise auch, um das Mitgefühl in ihm zu wecken, während er erlebt, was diese Wesenheiten auf Grund der karmischen Folgen ihrer eigenen Missetaten durchmachen. Und ebenso muss der Initiand in der anderen Richtung lernen, sich mit den Göttern zu vereinen und unter ihnen zu verweilen. Um ihr Wesen und ihr Leben zu verstehen, muss er für diese Zeit selbst zu einem Gott werden; mit anderen Worten, er muss in sein eigenes höchstes Wesen eintreten.
Auf diese Weise gerät der Neophyt – beginnend mit dieser vierten Initiation – in neue Bewusstseinsbereiche. Die spirituellen Feuer der inneren Konstitution sind sowohl ihrem Wesen als auch ihrer Funktion nach äußerst wirksam. Die spirituelle Elektrizität, wenn man es so ausdrücken will, fließt mit einem weitaus stärkeren Strom. Diese mystischen Dinge lassen sich nicht leicht in Begriffe der Alltagssprache fassen. Zusätzlich zu den Lehren und den symbolischen oder dramatischen Riten lernt der Neophyt – und ein Neophyt ist er immer, wie hoch der Grad auch sein mag –, die Naturkräfte zu beherrschen und fähig zu werden, solche Wunder zu vollbringen, z. B. den Körper oder unseren Planeten bewusst zu verlassen, um zu anderen Zentren unseres Sonnensystems zu gelangen.
Der fünfte Grad verläuft entlang der gleichen Erfahrungswege. Der Mensch entwickelt sich dabei zu einem Meister der Weisheit und des Mitleids. Mit diesem Grad kommt die endgültige Wahl: Will er wie die großen Buddhas des Mitleids zurückkehren, um der Welt zu helfen und ihr sein Leben zu widmen und nicht für sich selbst zu leben, oder will er wie die Pratyeka-Buddhas auf dem Pfad für sich selbst voranschreiten – nur zu seiner Selbstentwicklung?
Die sechste Initiation führt in noch höhere Bewusstseins- und Erfahrungsbereiche. Dann folgt die letzte und höchste Initiation, die siebente, die aus einer Gegenüberstellung mit dem eigenen göttlichen Selbst besteht und zu einer Vereinigung mit diesem führt. Wenn das geschieht, benötigt er keinen anderen Lehrer mehr.
Jedem Grad liegt eine eigene Regel und eine eigene Schulung zugrunde. Eine Regel gilt indes für alle Grade: Sie besteht in der Erkenntnis, dass der höchste Führer des Neophyten sein eigener, innerer Gott ist. Er ist sein höchster spiritueller und intellektueller Richter, und erst an zweiter Stelle kommt sein Lehrer. Ihm hält der Schüler freudig die Treue. Er zollt ihm jedoch keinesfalls blinden Gehorsam, denn er weiß jetzt, dass sowohl sein eigener innerer Gott als auch der innere Gott des Lehrers Funken des Selbst des Alaya11 sind.
Ich darf hinzufügen: Je höher der Grad ist, desto ungezwungener und weniger rituell werden die Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler und desto mehr wird vom Schüler erwartet, dass er danach strebt, mit seinem inneren göttlichen Mahner übereinzustimmen und mit ihm eins zu sein. Außerdem wird auf den weiter fortgeschrittenen Entwicklungsstufen keinerlei Aufzeichnung gemacht. Es wird nur das Gedächtnis der Hörer geschult, damit sie die eingeprägten Eindrücke aufnehmen und bewahren. Eine Schulung, die durch Abhängigkeit von schriftlichen Notizen niemals zustande gebracht werden könnte. Die Lehren sind weder schriftlich oder in Bildern oder in Geheimschrift noch in Stein gehauen als sichtbare Aufzeichnung niedergelegt. Sie existieren allein im Gedächtnis und im Herzen.
Alles Bemühen dient dazu, die Willenskraft, die Individualität und die angeborenen Fähigkeiten des inneren Gottes zu erwecken. Die Weitergabe von Wissen erfolgt deshalb im Flüsterton von Mund zu Ohr, wie eine alte Redewendung besagt. In den höchsten Graden ist nicht einmal das erlaubt, denn der Neophyt, der Empfänger des esoterischen Wissens und der Weisheit, ist dann so geübt, dass er sozusagen durch Gedankenübertragung empfängt und nicht einmal mehr in der Nähe seines Lehrers zu sein braucht. Immer mehr teilt sich der Lehrer durch den tonlosen Ton, die Stimme der Stille mit, die Stimme, mit der die „geoffenbarten“ Lehren im Schüler die spirituellen Ausblicke erschließen.
Jeder Schritt vorwärts ist ein Eindringen in ein größeres Licht, gegen das das Licht, das gerade verlassen wurde, nur ein Schatten ist. Wie hoch man auch auf der Evolutionsleiter stehen mag, selbst wenn man die Stufe der Götter erreicht hat, gibt es immer noch eine Stufe darüber, selbst in den Höhen, wo die Gottheiten walten. Es gibt immer jemanden, der noch mehr weiß und vor ihm ist, eine stetig aufsteigende, noch höhere Reihe von Wesenheiten mit stufenweise höherem kosmischem Bewusstsein. Der hierarchische Strom ist das Grundsystem der Natur. Niemand ist daher ohne Lehrer, denn über uns ist das unendliche Universum – Hierarchien des Lebens und der evolutionären Erfahrung, die die unsrige weit übersteigen.
Wenn daher die monadische Essenz eines Menschen, nachdem sie unsere eigene Hierarchie verlassen hat, in erhabenere Regionen des kosmischen Seins weiterschreitet, so tut sie das in Form einer Embryo-Wesenheit und beginnt dort ihren nächsten Aufstieg im ersten Zyklus der neuen Lebensleiter, wobei sie zwangsläufig wieder jemanden braucht, der ihre Schritte leitet. Führer und Lehrer sind so lange notwendig, bis im Laufe von zeitalterlangen Zyklen, immer höher steigend, die oberste Sprosse auch dieser Lebensleiter erklommen und diese Wesenheit wieder eins mit jenem noch erhabeneren Geheimnis des Innersten seines verborgenen Wesens geworden ist. Welchen Namen können wir diesem erhabeneren Geheimnis geben? Die menschliche Sprache versagt und nur die spirituelle Vorstellungskraft vermag in diese Sphären des Göttlichen aufzusteigen. So geht die sich entwickelnde Wesenheit immer wieder von einem Lebensbereich in den anderen über, von einer Hierarchie zur nächsten Hierarchie von unbeschreiblicher Erfahrung – und so ewig weiter. Beweist das nicht eindeutig, dass in der Schule des Lebens jeder ständig ein Lernender ist, da immer neue Schleier das Gesicht der ewigen Wirklichkeit verhüllen?
Wenn das spirituelle Verständnis erst einmal vorhanden ist, wird der Mensch nie wieder vergessen können. Das Unglück des versagenden, nicht erfolgreichen Aspiranten liegt gerade darin, dass er die geschaute und fast berührte Herrlichkeit nicht aus dem Gedächtnis löschen kann. Wer den Himmel niemals erfahren hat, sehnt sich danach und hofft auf ein Gelingen. Wer aber an seine Grenzen gelangte und durch seine Tore einen flüchtigen Blick vom Überirdischen erhaschte und wem es dann misslang hineinzugehen, der wird sich so sehr daran erinnern, dass seine Seele voller Qual und sogar Verzweiflung an das Geschaute und Verlorene denkt.
Wenn die schweren Prüfungen kommen, die in den höheren Graden schrecklich sind, muss eine Geisteshaltung vorherrschen, die auch die überzeugendsten äußeren Einflüsse zurückweist. Solche Einflüsse entstehen aus der Beeindruckbarkeit, die gleichzeitig eine hervorragende Eigenschaft und doch in mancher Beziehung eine fatale Schwäche ist. Ein weiterer psychologischer Faktor, der besonders beachtet werden muss, ist die Fähigkeit des Gehirn-Verstandes, zu intensiv und zu schnell logisch zu denken. Die Denkweise muss den edleren Eigenschaften streng untergeordnet werden und darf nicht die Herrschaft übernehmen; ist sie untergeordnet, so ist sie auch von echtem Nutzen. Das höhere, im Buddhi-Prinzip wurzelnde Denken besitzt eine unfehlbare Logik und auch eine eigene unfehlbare Intuition, gegenüber denen die Schlüsse des Gehirn-Verstandes blasse und für gewöhnlich verzerrte Widerspiegelungen und deshalb oft höchst gefährliche Gegner sind.
Man kann nicht ungestraft mit dem Okkultismus spielen. Die gesamte Natur ist aufgerüttelt und der Kampf mit dem niederen Selbst kann zuweilen einen verzweifelten Charakter annehmen, denn der Neophyt spürt instinktiv, dass er siegen oder scheitern muss. Erfüllt er aber gewissenhaft die nächste anfallende Pflicht, und sei sie noch so gering und einfach, so befindet er sich auf seinem Weg. Indem wir unsere eigenen Schwächen überwinden, helfen wir nicht nur uns selbst, sondern der gesamten Menschheit; und mehr noch, wir helfen jedem fühlenden Lebewesen, denn wir sind eins mit den wahren Kräften, den Kreisläufen des Universums.
Das höchste Ziel der Initiation besteht darin, die Verbindung mit unserem essenziellen Höheren Selbst herzustellen.12
Das ist der Pfad zu den Göttern, in der Bedeutung, dass sich jeder von uns zu einem individuellen göttlichen Wesen entwickelt. Das Betreten dieses Pfades ist ein sehr ernstes, ein sehr heiliges Unterfangen. Wenn jemand dieses erhabene Ziel erreichen will, bedarf es dazu aller verfügbaren Stärke und Willenskraft, die im Menschen vorhanden sind. Das kann nur geschehen, indem die persönlichen Probleme völlig ignoriert werden, sodass man in den sanften, kreisenden Bewusstseinsstrom gerät, der um den Kern unseres Wesens verläuft, um sich dann schließlich mit dem erhabenen Wunder – der Gottheit im Inneren – zu verschmelzen und mit diesem eins zu werden.
Hinter jedem Schleier liegt ein weiterer Schleier; doch durch alle scheint das Licht der Wahrheit, das Licht, das ewig in jedem von uns lebendig ist, denn es ist unser innerstes Selbst. Jeder Mensch ist in seinem innersten Wesenskern eine Sonne, deren Bestimmung es ist, ein Teil der Sternenschar in den Räumen des Weltalls zu werden, sodass er gleich vom ersten Anfang an, wenn unser göttlich-spiritueller Teil seine Wanderung durch das universale SEIN beginnt, bereits eine embryonale Sonne ist, das Kind einer anderen Sonne, die im Universum existierte. Die Initiation bringt diese innere, latente Sternenenergie im Herzen des Neophyten zum Vorschein.
Aham asmi Parabrahman – Ich bin das grenzenlose All – jenseits von Raum und Zeit. Dieser Gedanke ist das Fundament des Tempels der alten Wahrheit. Mutter Natur in ihren göttlichen, spirituellen, psychologischen, etherischen und physischen Reichen ist unsere universale Heimat – eine Heimat ohne bestimmten Ort, denn sie ist überall.
Hier nun verläuft der Pfad, auf dem jeder Menschensohn aufsteigen kann, wenn er den unbeugsamen Willen dazu besitzt und sich nach größerem Licht sehnt. Er kann die verschiedenen Stufen der Hierarchie erklimmen und bei jedem Schritt nach oben eine Initiation durchlaufen, bis sein Wesen schließlich eins mit dem Stillen Wächter unseres Globus wird. Dann wird in einer noch ferneren Zukunft seine Monade eins mit dem Stillen Wächter unserer Planetenkette werden, und in noch fernerer kosmischer Zeit wird er als individuelles monadisches Lebenszentrum mit dem Hierarchen unseres Sonnensystems identisch werden.
Unser Innerstes ist das Innerste des Universums: Jede Essenz, jede Energie, jede Kraft, jede Fähigkeit, die im grenzenlosen All vorhanden ist, ist in einem jeden von uns aktiv oder latent vorhanden. Alle großen Weisen lehrten dieselbe Wahrheit: „Mensch, erkenne dich selbst.“ Dies bedeutet, sich im Denken und Fühlen nach innen zu wenden, sich zunehmend selbstbewusst mit der Göttlichkeit im innersten Kern unseres Wesens zu verbinden – mit der Göttlichkeit, die auch das wahre Herz des Universums ist. Dort ist in der Tat unsere Heimat: im unendlichen, grenzenlosen Raum.
Fußnoten
1. Oft wird gefragt, welche Garantie der Aspirant bieten könne, die Lehren nicht unrechtmäßig und planlos weiterzureichen. Es gibt keine absolute Garantie. Das ist einer der Gründe, weshalb die Grenzen stets so eng gezogen werden und weshalb man in der richtigen Weise anklopfen muss. Ein Schutz gegen den Verrat von tieferen Lehren ist die Tatsache, dass die Welt diese Lehren nicht versteht und den Menschen, der die heiligste Wahrheit der Welt verrät, für geistesgestört halten würde. Dinge, die die Menschen nicht begreifen, halten sie immer für Torheiten – wie viele Genies sind, zumindest am Anfang ihrer Laufbahn, wenigstens teilweise für verrückt gehalten worden!
Ein weiterer Schutz ist dadurch gegeben, dass jeder, der einer der höheren Stufen angehört, genau weiß, dass ein einziger Verrat genügt, um ihn von sämtlichen weiteren Lehren auszuschließen, und dass erst mit jedem neuen Einweihungsgrad die Lehren des jeweils vorausgegangenen erklärt werden. Folglich würde ein Verrat im dritten Grad beispielsweise bedeuten, dass ein „Schleier“ gelüftet würde, der im vierten Grad erklärt oder dessen Hintergrund untersucht werden muss, usw. Das Gleiche gilt für alle weiteren Stufen. [back]
2. Ist uns wirklich bewusst, dass jeder Mensch der Gedanke seines eigenen inneren Gottes ist – eine zwar unvollkommene Widerspiegelung jenes inneren Glanzes, aber dennoch ein Kind der Gedanken der inneren Gottheit –, genauso wie die Gedanken der sich entwickelnden Menschen lebendige Wesenheiten sind, embryonale Seelen, die sich entwickeln und auf der Straße des evolutionären Wachstums aufsteigen? [back]
3. Answers to Correspondence, Dezember 1893. [back]
4. Majjhima Nikaya, I, S. 288. [back]
5. Diese bedeutende Tatsache des Okkultismus besitzt demzufolge sowohl einen hohen als auch einen niederen Aspekt. Es handelt sich um dieselbe Fähigkeit der Seele, die sowohl von einem Adepten der weißen als auch der schwarzen Gruppe angewandt wird, um gegebenenfalls magische Effekte zu produzieren. Es ist in der Tat nicht übertrieben zu sagen, dass die Kräfte von Āveśa, das Eindringen in den und das Gebrauchen des Körpers eines anderen, sowie das Hpho-wa oder die Macht, den Willen und die Intelligenz auf andere Teile zu projizieren – manchmal über unglaubliche Entfernungen hinweg –, größtenteils von dieser Eigenschaft oder Charakteristik der leicht wandelbaren Seele abhängen. [back]
6. Oft übersetzt als „Das Erwachen des Glaubens im Mahāyāna“. Jedoch vermittelt dies die Bedeutung des ursprünglichen Sanskrit nur sehr unzulänglich. Śrāddha bedeutet Gewissheit oder Vertrauen, das auf einem Entfalten innerer Erfahrungen beruht und dessen Beweis sowohl innerhalb als auch außerhalb des Selbst zu finden ist und hier einen unaufhörlichen Prozess der inneren Entfaltung mit einschließt, also eine Bedeutung, die im Wort „Glaube“ völlig fehlt. Utpāda enthält dieselbe Vorstellung eines beständigen und fortschreitenden Entfaltens, ein Erwachen oder ein Sicherheben zur Bewusstheit oder Vergegenwärtigung von Weisheit, die im mystischen Verzicht auf die Früchte der Befreiung und im Erreichen der Buddhaschaft gipfelt. Diese Schrift gehört zur Gruppe der Prajñā-Pāramitā-Schriften und wird allgemein Aśvaghosha zugeschrieben, einem angesehenen buddhistischen Gelehrten, der in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts n. Chr. lebte und dessen hervorragendes Werk Mahā-Alaṃkāra oder „Buch der großen Herrlichkeit“ ist. [back]
7. Vgl. Fo-Mu Prajñā-Pāramitā, Fas. 14, Kapitel „Über weise Männer“. [back]
8. Hsüan-chuang, Fas. 387, Kapitel XII, „Über die Moralität“. [back]
9. Answers to Correspondence, September 1892. [back]
10. Es gibt gelegentlich Fälle, in denen Menschen in ihren vergangenen Leben Chelas waren, sie sind aber auf dem Pfad gestolpert und haben in einer für sie sehr unglücklichen Weise die Verbindung zu ihrem Lehrer unterbrochen. Doch auf Grund ihrer früheren Qualitäten werden sie in der folgenden oder übernächsten Inkarnation mit ungewöhnlichen Kräften oder Fähigkeiten geboren. Sie beginnen mit einem Reservoir aus gesammelten inneren spirituellen, intellektuellen und psychischen Erfahrungen, durch die sie das Licht und die Hilfe erhalten, um mit ihrem inneren Gott in Verbindung zu bleiben.
HPB nannte diese die Schützlinge der Nirmāṇakāyas und verweist auf Jakob Böhme als Beispiel. Er war ein Mensch, der durch beträchtlichen Eigensinn gefährlicher Art die Verbindung unterbrochen hatte. Er war jedoch weit genug fortgeschritten, sodass er die erzielten spirituellen Erkenntnisse nicht mehr verlor. Obwohl er nicht mehr ein direkter Chela war, wurde dennoch über ihn gewacht. Es wurde ihm geholfen und sein zukünftiger Fortschritt wurde unmerklich stimuliert, sodass er im nächsten Leben (oder sogar bereits am Ende seines Lebens als Jakob Böhme) erneut die bewusste Verbindung herstellen kann oder hergestellt hat. Anders ausgedrückt, Böhme war spirituell erfahren, er initiierte sich selbst aus seiner inneren Lichtquelle, die er in früheren Zeiten, als er noch ein angenommener Chela war, erworben hatte. Wie schon erwähnt, ist in Wirklichkeit jede Initiation eine Selbstinitiation, ein Selbsterwecken. Ein Lehrer leitet nur an, hilft, tröstet, spornt an und unterstützt. Siehe Die Geheimlehre, Bd. I, 508–9. [back]
11. Alaya (Sanskrit) – das Unauflösliche, die Ewigkeit. Nach buddhistischer Auffassung der Ursprung aller Wesen und Dinge. [back]
12. Aus irgendeinem Grund kam es bei einigen Leuten zu einem außergewöhnlichen Missverständnis, indem sie annahmen, dass Frauen zu den höchsten Initiationen nicht zugelassen werden. Das ist nicht der Fall. Nichts in der Welt kann eine Frau davon abhalten, den edelsten Gipfel zu erreichen, die schwersten Initiationsprüfungen erfolgreich zu bestehen. Diejenigen, die sich den höchsten Initiationen unterziehen, tun das jedoch gewöhnlich in einem männlichen Körper, einfach weil es leichter ist, da der psychologische und physiologische Apparat besser dazu ausgestattet ist. Es ist jedoch geradezu töricht anzunehmen, dass eine Initiation zu irgendeiner Zeit in der Vergangenheit oder Gegenwart ein Vorrecht oder besonderes Privileg der Männer gewesen sei.
Man braucht sich nur der langen und ununterbrochenen Kette der Prophetinnen zu erinnern, auch jener der anthropomorphischen und materialistischen Zivilisationen des antiken Griechenlands und Roms, um zu erkennen, dass Frauen ihren Platz in den Tempelschulen einnahmen und hohes und hervorragendes Ansehen in der esoterischen Schulung erlangten. Das Orakel zu Delphi ist vielleicht das bekannteste. Weitere Beispiele sind die keltischen Druiden und die germanischen Völker, die in der Vorzeit wegen ihrer weiblichen Führer, ihrer Seherinnen und Prophetinnen berühmt waren. Wie viele weibliche Initiierte sich auch unter dem Schleier der Zurückgezogenheit verborgen haben mögen, ihre inneren Fähigkeiten und ihre Stärke waren weltweit anerkannt. [back]
Goldene Regeln der Esoterik
Dr. Gottfried von Purucker
3 – Der innere Gott
Hovern Sie über ein Hervorehobenes Wort um den Glossareintrag zu lesen.
Der Mensch an sich ist eine unsichtbare Wesenheit. Was wir von ihm im und durch den Körper sehen, ist lediglich die Manifestation des inneren Menschen, da der Mensch seinem Wesen nach eine spirituelle Energie ist – eine spirituelle, intellektuelle, psychomaterielle Energie. Das Adjektiv hängt davon ab, welche Ebene seiner Lebensäußerungen man gerade untersuchen will, denn man kann in Wirklichkeit sagen, daß er auf allen Ebenen existiert, auf den inneren und äußeren.
Obwohl der Mensch eine unsichtbare Wesenheit ist, benötigt er einen stofflichen Körper zum Leben und zur Betätigung auf dieser physischen Ebene. Er ist ein Pilger der Ewigkeit. Er entsprang dem unsichtbaren Teil des kosmischen Seins, in Äonen, die so weit in der Vergangenheit liegen, daß die Menschheit, mit Ausnahme der großen Weisen und Seher, alle Erinnerung daran verloren hat. Er kam hervor aus dem Schoß des kosmischen Seins als ein sich seiner selbst nicht bewußter Gottesfunke, und nach langer, langer, äonenlanger Wanderung durch alle die verschiedenen inneren Welten, wobei er auf verschiedenen Stufen durch unsere eigene materielle Sphäre und von da wieder in die inneren Welten ging, wurde er schließlich Mensch, eine selbstbewußte Wesenheit. Und hier stehen wir jetzt. Künftige Zeitäonen werden, noch auf dieser unserer Erde, die noch verschlossenen Fähigkeiten und Kräfte, die in jedem Menschen liegen, zu weit vollkommenerer Offenbarung bringen als heute; und in jenen Tagen der fernen, fernen Zukunft wird der Mensch als ein Gott auf dieser Erde wandeln und mit seinen Mitgöttern leben, denn er wird dann die gottgleichen Kräfte entfaltet haben, die jetzt noch unentwickelt, aber trotzdem in seiner Essenz verborgen liegen.
Das Zentrum des Herzens des Menschen ist ein Gott, ein kosmischer Geist, ein Funke des zentralen kosmischen Feuers; und die ganze Evolution – das Entfalten dessen, was im Innern ist, das Enthüllen dessen, was sich innerhalb der sich entwickelnden Wesenheit befindet, das Hervorbringen dessen, was im Innern eingeschlossen ist – die ganze Evolution bedeutet nur eine immer vollkommener werdende Offenbarung der eingeschlossenen, unentfalteten, unentwickelten Energien, Fähigkeiten, Kräfte und Organe der Wesenheit, die sich entwickelt. Und im gleichen Maß, wie diese Fähigkeiten und Energien sich immer vollkommener offenbaren und vollkommener entwickeln werden, zeigt auch der Organismus, durch den sie sich äußern, der Körper, die Wirkungen dieses inneren Feuers der Entwicklung, und daher entwickelt sich auch der Körper, weil er automatisch jeden inneren Schritt nach vorn selbst widerspiegelt.
Die Menschen sind den Göttern, den kosmischen Geistern, stammverwandt. Das Universum ist unsere Heimat. Wir können es nie verlassen. Wir sind seine Kinder, seine Abkömmlinge, und deshalb sind wir in unserem tiefsten Innern alles, was der grenzenlose Raum ist. Wir entstammen ihm. Der grenzenlose Raum ist unsere Heimat, und unser tiefstes Gefühl sagt uns daher, daß ‘alles wohlgefügt ist’.
Wie eine wachsende Pflanze tritt der Mensch, die Menschenpflanze der Ewigkeit, aus dem Unsichtbaren ins Sichtbare. In einem Erdenleben beginnt er als menschlicher Same, reift heran und bringt hervor, was in ihm eingeschlossen ist; dann, mit dem natürlichen Verfall der Kräfte, sinkt der Körper zur Erde und stirbt; und nach einer langen Ruheperiode in den unsichtbaren Welten, wo die Erfahrungen assimiliert werden, steigt die innere spirituelle Flamme wieder zu einer neuen Reinkarnation auf die Erde hinab.
Dies ist in Kürze die Geschichte des Menschen, der Menschenpflanze der Zeitalter. Er wird geboren und blüht eine Weile, dann stirbt er und geht zur Ruhe, und mit dem wiederkehrenden Lebenszyklus tritt er von neuem ins Dasein, erblüht von neuem und stirbt wieder dahin; doch immer zieht sich der goldene Faden des Selbstes – der Sūtrātman – durch Zeit und Raum.
Der Geist des Menschen wirkt durch die menschliche Seele, und diese menschliche Seele wirkt durch das vital-astrale oder ätherische Vehikel, den Träger oder Körper, den Übermittler der seelischen Energien oder Kräfte, der psycho-magnetisch mit den Organen des physischen Körpers verbunden ist, und dieses vital-astrale Prinzip wirkt auf den physischen Körper ein und strömt durch alle Teile unserer physischen Hülle, so wie der elektrische Strom nicht nur durch, sondern auch über und um den Leitungsdraht fließt. Der Geist entfaltet und beschützt die menschliche Seele und erzeugt sie aus seinem eigenen Schoß der Selbstheit. In gleicher Weise erzeugt und durchdringt die menschliche Seele die vital-astrale Form; und diese erzeugt und durchdringt ihrerseits den physischen Körper.
Ein menschlicher Same kommt aus den ätherischen Welten und ist das Layazentrum, durch das der entstehende Körper, Zelle um Zelle, aus den inneren Welten einströmt und sich aufbaut. Dieser Same wird zum physischen Körper. In harmonischer Koordination und progressiv mit seinem Wachstum vollzieht sich die Inkarnation der menschlichen Energien, bis der Reifezustand erreicht ist. An diesem Punkt hat man den erwachsenen Menschen und die mehr oder weniger vollständig inkarnierte menschliche Seele vor sich.
Der Mensch ist eine komplexe, zusammengesetzte Wesenheit. Seine Konstitution erstreckt sich vom Körper zum Geist mit allen Zwischenstufen ätherischer Substanzen, Energien und Kräfte, sieben an der Zahl. Wenn diese sieben verschiedenen Stufen oder Grade in vitaler Aktivität zusammenwirken, dann ergibt dies einen vollständigen, lebendigen Menschen.
Die menschliche Seele ist an sich weder unsterblich noch sterblich. Sie ist im Durchschnittsmenschen der Sitz von Wille, Bewußtsein, Intelligenz und Gefühl. Sie ist nicht unsterblich, da sie nicht rein genug ist, um wahrhaft unpersönlich zu sein. Wenn sie es wäre, dann wäre sie nicht menschlich, sondern übermenschlich. Sie ist nicht völlig sterblich, da ihre Instinkte, Regungen und Tätigkeiten in gewissem Sinn über den rein sterblichen, stofflichen Dingen stehen.
Der Mensch hat heilige Liebesempfindungen, Sehnsüchte, Hoffnungen und geistige Vision. Diese gehören dem Geist an, der unsterblich und todlos ist; sie werden durch die menschliche Seele oder Zwischennatur übermittelt, die die Menschen gewöhnlich ihr ‘Ich’ nennen, ganz ähnlich wie das Sonnenlicht durch eine Fensterscheibe strahlt. Die Fensterscheibe ist das Vehikel, der Leiter, der Träger oder Übermittler dieser wunderbaren Qualität oder Kraft, die von dem Geist von oben herniederströmt.
Die menschliche Seele gleicht diesem Glas des Fensters. Sie spiegelt vom Geist, von des Geistes goldenem Sonnenlicht ebensoviel wider, wie ihre evolutionäre Entwicklung es ihr erlaubt.
Die menschliche Seele ist bedingt unsterblich, wenn sich der Mensch durch Wille und Vision mit dem todlosen Geist in seinem Innersten und Höchsten verbindet – und sterblich, wenn er sich zu Kräften hinabziehen läßt, die Materie, materielle Instinkte und Triebe genannt werden, die ganz und gar sterblich sind und sich mit dem Körper auflösen, wenn der Tod eintritt und der unsterbliche Geist im Innern befreit wird. Wenn der Mensch für die Dauer der Periode der Ruhe und des Friedens zwischen zwei Leben in seine erhabene Heimat einzieht, verbleibt daher nur Glückseligkeit und hohes Schauen und die Erinnerung an alles Große und Erhabene in unserem vergangenen Leben. Die Seele selbst ist ein ätherisches Gefäß oder ein ätherischer Träger der todlosen und unsterblichen Energien des schöpferischen Geistes oder der Monade.
Der Geist ist der unsterbliche Teil der menschlichen Konstitution; er ist die Monade, die monadische Essenz: das, was den Tod niemals schmeckt, was vom Beginn des Manvantara bis zum Ende dieser majestätischen Periode kosmischer Offenbarung dauert: das, was das kosmische Pralaya überdauert und seine spirituelle und sonstige Wirksamkeit wieder aufnimmt, wenn das neue kosmische Manvantara beginnt.
So entfaltet sich in zyklischen, beständig wiederkehrenden Perioden der Geist oder die Monade in ewigem Werden immer weiter vom Spirituellen zum Überspirituellen, um dann zum Göttlichen und weiter zum Übergöttlichen zu werden. Ist dies das Ende seiner Entwicklungsmöglichkeiten? Nein, er schreitet ewig fort, sein Wachstum und seine Entwicklung finden nie ein Ende. Doch Worte versagen hier zur Beschreibung dieser erhabenen Idee. Wir können sie in der armseligen menschlichen Sprache nicht zum Ausdruck bringen. Unsere Phantasie erlahmt bei solchem Versuch, und wir können nur auf den Entwicklungsweg hinweisen, der nach beiden Richtungen im Ewigen und Unendlichen verschwindet, anfangslos und endlos.
Das ist der Geist oder die monadische Essenz; es ist der innere Gott; es ist die Leuchtende Intelligenz, die die innersten Regungen des höheren Teils der Konstitution erzeugt. Diese Regungen werden ihrerseits im Gehirnverstand, im menschlichen Denken reflektiert. Es ist die Quelle von allem Großen, Edlen, Hohen, Reinen, Himmelstrebenden und Lauteren im menschlichen Wesen. Es ist die Quelle unsterblicher Liebe, die Quelle der Selbstaufopferung, der Quell aller Harmonie und Schönheit im Menschen – das Gefühl des ‘Ich bin’. Das ist der Geist, die unsterbliche Monade, der unsterbliche, makellose, ewige innere Gott.
Die menschliche Seele ist ein Strahl aus ihm. Dieser Strahl ist das, was wir als den Menschen erkennen, das Gefühl des ‘Ich bin ich’. Und die Seele ist, wie auch der Geist, ein wachsendes, werdendes, fortschreitendes, sich entwickelndes Wesen. Sie wächst immer weiter; und in den fernen Äonen der Zukunft wird die Seele ihrerseits die eigenen, innewohnenden und latenten Fähigkeiten, Kräfte und Möglichkeiten – ihre innere Herrlichkeit – hervorentwickelt haben, so daß sie aus Seele Geist geworden sein wird, weil die Wurzel oder der Keim der Seele ein spiritueller Strahl ist. Wenn dieser Höhepunkt erreicht sein wird, hat sich der Mensch von seinem menschlichen Zustand in den eines Gottmenschen verwandelt, aus einem Menschen in einen inkarnierten Gott. Dann wird sich der Gott in dir mit seinen transzendenten Fähigkeiten und Kräften offenbaren und du wirst ein lebender Buddha geworden sein.
Der menschliche Geist ist eine todlose Wesenheit. Er ist ein Teil der wesentlichen Struktur des innersten universalen Lebens. Und dieser Geist des Menschen, dieses innere Wesen, diese spirituelle Seele vollführt eine ewige Pilgerfahrt im Raum, unendlich im Raum und ewig in der Zeit. Er schreitet von Wohnung zu Wohnung des Lebens und weilt bald hier, bald da und lernt überall. Eine solche Wohnung ist in der Tat die Erde. Jede Sphäre, jede Welt in den Himmelsräumen ist eine andere Wohnung des Lebens.
Die erhabensten Lektionen werden in den unsichtbaren Welten gelernt; denn diese uns sichtbare physische Welt ist trotz ihrer sinnenhaften Schönheit, ihres täuschenden und zauberhaften Glanzes nur die Schale, das Gewand, der Körper, das Äußere. Und so wie aus dem Innern des Menschen all seine Gedanken, all seine Inspirationen, all seine genialen Fähigkeiten, all seine Kräfte und Energien in das Physische fließen und sich in seinen Werken ausdrücken, so sind auch alle Offenbarungen, die wir im physischen Universum sehen, nur der Ausdruck der innewohnenden Energien, Fähigkeiten, Kräfte und Eigenschaften innerhalb dieses Universums.
Diese ewige Pilgerschaft der spirituellen Seele des Menschen erfolgt nicht nur auf dieser Schnittfläche des physischen Universums, die unseren unvollkommenen Augen sichtbar ist, sondern in viel höherem Maß in den unsichtbaren Reichen, die von den Menschen als spirituelle Welten bezeichnet werden; denn es gibt davon Stufen über Stufen über Stufen, höher, höher, höher und immer höher.
Und dieser innere Gott, ein ewiger Pilger, lernt unaufhörlich und steigt dabei höher und immer höher, und so wie die menschlichen Rassen auf der Erde nach dem glänzenden Höhepunkt ihrer Kultur wieder fallen, um aufs neue wieder emporzusteigen, so steigt auch die Monade, der Gott, die spirituelle Seele aus den spirituellen Welten hinab in ätherische Materie. In jeder lernt sie und steigt aufs neue wieder empor, um einen noch höheren Gipfel des Schicksals zu erklimmen; dann steigt sie wieder hinunter in die Reiche ätherischer Materie und wieder hinauf zu noch Höherem und Erhabenerem – und das in alle Ewigkeit.
Oh, der Frieden und das Glück, die aus einer Verbindung mit jenem inneren Glanz entstehen! Dieser Bund des Lebens und Bewußtseins mit unserer inneren Gottheit verleiht unserem Leben allen Wert, und wenn wir uns so verbinden, werden wir eins mit den Energien und Kräften, die das Universum lenken, von dem dieser Gott in uns ein Funke des zentralen Feuers ist. Und wenn diese innere Vereinigung vollkommen ist, dann bist du auf dem Pfad zum Gottmenschentum. Die Buddhaschaft liegt dann vor dir.
Dieses Wissen um unser inneres Selbst, um unseren inneren Gott, bedeutet eine Weitung unseres eigenen Bewußtseins; es bedeutet Wachstum; es ist Evolution, es ist ein immer größeres Verstehen alles Seienden. Und wer auch nur eine schwache Ahnung, einen blassen Schimmer dieser höheren Einsicht besitzt, den kann Furcht nicht mehr befallen. Der Tod verliert all seine Schrecken, denn du weißt dann, daß du eins bist mit dem All, unzertrennlich, und daß du in der Tat das All selbst bist und daher deinen fernsten Zielen keine Grenzen gesteckt sind, da es in Wirklichkeit solche überhaupt nicht gibt. Niemals kannst du Grenzen deiner selbst, deines göttlichen Selbstes erreichen, nie; denn dein Innerstes ist eben das spirituelle Universum, in dem du lebst und dich bewegst und dein Sein hast.
Es sind die äußeren Sinne, die unsere Aufmerksamkeit von dem inneren Glanz ablenken. Tatsächlich lenken die fünf Sinne unsere Aufmerksamkeit von dem Tempel des Allerhöchsten, von dem Geist in der menschlichen Konstitution ab, der sich durch den Körper offenbart. Sie sind der Ausdruck fünf verschiedener Energien der menschlichen Zwischennatur; sie sind die Kanäle – oder wirken als solche –, durch die der Mensch selbstbewußt die äußere Welt wahrnehmen kann. In gewisser Hinsicht sind diese Sinne eine Hilfe, und in anderer Hinsicht sind sie ein Hindernis für den Fortschritt. Sie sind förderlich, weil sie uns etwas von der Natur zeigen, die den Menschen umgibt, und durch die Sinne wirkt zur Zeit ein großer Teil seines gewöhnlichen Bewußtseins, weshalb er viel über die Welt und seine Mitmenschen erfährt. Dieses Lernen lehrt ihn schließlich Selbstbemeisterung und hilft ihm, die Eigenschaften wie Mitleid, Liebe, Erbarmen und den Willen zu besserem Verhalten zu erwecken, die alle im Menschen wohnen.
Der innere Geist des Menschen ist der Tempel der Unendlichkeit und seiner vielfältigen Lebensenergien und Lebenskräfte; im Verlauf unseres zyklischen Vordringens in die Materie offenbaren sich diese Energien und Kräfte äußerlich. Doch nunmehr befinden wir uns auf dem aufwärtsführenden Bogen fortschreitender Entwicklung, und der ganze Trend der künftigen Evolution wird darauf gerichtet sein, in der Menschheit den Drang nach innen zu entwickeln und damit schließlich auch die Fähigkeit, nach innen zu schauen, so daß der Mensch zur Erkenntnis seiner selbst gelangt und sich selbst als einen Mitarbeiter der Götter beim Aufbau und bei der Leitung des Universums erkennt, als einen der Funken des unendlichen kosmischen Feuers; denn im Menschen ist alles enthalten – alle Kräfte und Energien, die in den unendlichen Räumen existieren, und die ganze Evolution ist nur das Hervorbringen dieser eingeschlossenen Kräfte, ihre Entfaltung, ebenso wie eine Blume ihr Inneres entfaltet.
Der innere Gott ist immer in dir, um dich, über dir; er wartet auf dich und wartet, wartet, wartet und wartet; er wurde erst während der Äonen, während sie in den Ozean der Vergangenheit flossen, durch den äußeren Menschen zur Manifestation gebracht durch selbstgeleitete Entwicklung, die die Entwicklung des inneren Menschen ist – dessen, was wir in unserem innersten Sein sind. Der ganze Zweck der Evolution ist die Beseitigung der dichten Schleier aus Seele und Materie, die den Geist verhüllen, damit das Licht im Heiligen Tempel – dem menschlichen Herzen – den Menschen mit seinem Glanz erleuchten kann.
Was hindert das Licht daran, den Menschen zu erleuchten? Was hemmt die Tätigkeit des inneren Gottes? Es ist die Persönlichkeit – nichts anderes, und alle Übel, die sich aus der Persönlichkeit herleiten. Nicht die Individualität, unser göttlicher, unteilbarer, todloser und unsterblicher Teil, der nie Tod oder Verfall schmecken wird, sondern die Persönlichkeit, das Persönliche, das Kleine, Niedrige, Geringe, Beschränkte und Begrenzte legt eine dichte, undurchdringliche Atmosphäre um unser Wesen, die kaum von etwas anderem als von unsterblicher Liebe durchdrungen werden kann.
Persönlichkeit, Selbstsucht, Egoismus – das sind die Dinge, die die Offenbarung der göttlichen Energien in uns hemmen. Sie lähmen die Menschen, so daß sie nicht einmal die Kräfte und Fähigkeiten voll zum Ausdruck bringen, die sie jetzt besitzen.
Wenn wir innerlich wachsen wollen, müssen wir das Persönliche abwerfen, um unpersönlich zu werden: Das Begrenzte muß zur Erweiterung abgeworfen, aufgegeben werden. Wie kann das Küken dem Ei entschlüpfen, ohne die Schale zu zerbrechen? Wie kann der innere Mensch sich erheben, ohne die Schale der niederen Selbstheit zu sprengen? Wie kann der innere Gott – unser eigenes, göttliches Bewußtsein – sich offenbaren, bevor nicht das Unvollkommene, das Kleine, das Beschränkte, mit anderen Worten das Persönliche überschritten, überwunden, zurückgelassen, aufgegeben worden ist? Im Unpersönlichen liegt die Unsterblichkeit, im Persönlichsein der Tod. Deshalb wachse, weite und erhebe dich, werde, was du im Innern bist! Die Götter rufen uns unaufhörlich – nicht mit menschlichen Worten, sondern mit jenen unhörbaren Symbolen, die uns über den inneren Äther erreichen und die von Herz und Seele des Menschen als spiritueller Instinkt, als Sehnsucht, Liebe und Selbstvergessen empfunden werden; und der ganze Sinn dieser lautlosen Botschaften ist: „Komm höher herauf!“
Welche Freude ist es, unsere Verwandtschaft zu empfinden, zu fühlen und zu verstehen mit allem, was da ist, und aus diesem Fühlen und Verstehen in der Erkenntnis zu handeln, daß wir den Göttern wesensverwandt sind, die das grenzenlose All leiten und lenken! Und wir können uns zwanglos mit den Göttern unterhalten, wenn wir erst einmal gelernt haben, mit dem Gott in uns Zwiesprache zu halten.
Jeder Mensch ist der sichtbare Ausdruck einer göttlichen Wesenheit, eines inneren Gottes, eines spirituell-göttlichen Wesens; der menschliche Ausdruck ist nur ein unvollkommener und matter Abglanz – eine schwache und unvollkommene Wiedergabe der inneren spirituellen Kräfte in menschlicher Form. So viele Menschen auf Erden, so viele Götter in den inneren Welten.
Wenn ein Mensch sich des inneren Gottes bewußt geworden ist und diesen Gott sozusagen befreit hat durch das Aufgeben der nichtigen Persönlichkeit des Alltagslebens – der eigenen persönlichen Ichheit des Menschen – und so die Ketten gesprengt hat, die die transzendenten Kräfte des inneren Gottes binden und fesseln, dann kann der Messias, der auferstandene Christus, der Erlöser eines jeden einzelnen seine erhabenen Fähigkeiten und Kräfte offenbaren. Dann wird der Mensch ein lebender Christus sein – auferstanden aus dem Grab der niederen Selbstheit in die Atmosphäre spiritueller Herrlichkeit; und das Christuslicht wird in ihm wirken. Er hat dann den lebenden Buddha in seinem Wesen erweckt, oder vielmehr, er hat die buddhische Strahlenkraft freigemacht, die schon in seiner Seele war.
Dieses göttliche Wesen im Herzen eines jeden versucht stets, sich immer besser und besser durch die emotionale und intellektuelle Zwischennatur zum Ausdruck zu bringen – durch die sogenannte menschliche Seele. Diese innere Gottheit ist die Quelle, der Urborn, der Ursprung von allem, was den Menschen wahrhaft zum Menschen macht, was ihn groß, erhaben und edel macht, was ihm Verständnis, Erkenntnis, Mitgefühl, Liebe und Frieden gibt.
Verbinde dich in der Stille mit deinem inneren Gott, mit jener lebendigen inneren Tempelkammer in dir, in der du, wenn du achtsam lauschst, das Flüstern des Göttlichen vernehmen kannst, des Göttlichen, das jene Kammer erfüllt. Dort liegen Wahrheit, Weisheit, Verstehen und unnennbarer Frieden. Öffne die Pforten deiner menschlichen Ichheit den Strahlen der göttlichen Sonne im Innern; tritt ein in diese Kammer in deines Herzens Tiefe, werde eins mit deinem Selbst, mit deinem göttlichen Selbst, mit dem Gott in dir; sei der Gott, der du in den Tiefen deines Wesens bist!
Die vier heiligen Jahreszeiten
Dr. Gottfried von Purucker
II – Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche
Hovern Sie über die Hervorgehobenen Begriffe um den Glossareintag zu lesen..
Wir wollen uns nunmehr dem Initiationszyklus der Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche zuwenden. Für diesen Zyklus gibt es eine wunderbare Lehre, zugleich wundervoll und seltsam, der das Wirken der Mutter Natur zugrunde liegt. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Ausdruck Mutter Natur, wenn er in seinem esoterischen Sinn gebraucht wird, nicht nur die physische Fülle des Universums um uns bezeichnet, deren Existenz wir mit den unvollkommenen, äußeren Sinnen wahrnehmen, sondern ganz besonders auch die gewaltigen und in der Tat grenzenlosen Bereiche der Räume des Raumes.
Diese außergewöhnliche und wunderbare Lehre legt dar, dass das große Initiationsabenteuer, in das der erhabene Initianden zur Zeit der Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche eintritt, die Kopie, die Nachahmung oder die Wiederholung eines Geschehens in unserer eigenen kleinen menschlichen Sphäre ist, das sich in kosmischen Zeitintervallen bei den Göttern abspielt. Die Einweihungen, die selbst heute noch mehr oder weniger regelmäßig zur Zeit der Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche stattfinden, setzen sich nicht nur aus Prüfungen zusammen, die bestanden werden müssen und schließlich zur Auferstehung des inneren Gottes aus dem persönlichen Menschen führen und aus einem zumindest zeitweiligen Aufstieg in die spirituellen Reiche, sie beinhalten vielmehr auch einen Vorgang, der in der westlichen Literatur über dieses Thema gewöhnlich als Abstieg des Neophyten-Initianden – wie hoch dieser auch spirituell stehen mag – in die Unterwelt bezeichnet wird, in jene sehr realen, aber für uns gänzlich unsichtbaren Reiche des Raumes, die ihre Existenz in kosmischen Bereichen haben, die noch viel materieller sind als unsere grobe Sphäre aus physischer Māyāvi-Substanz.
Es wäre falsch diese Unterwelt ausschließlich als die Ebene anzusehen, die in der theosophischen Literatur auch als ‘Achte Sphäre’ oder als ‘Planet des Todes’ bezeichnet wurde, obwohl die Achte Sphäre von dem wahrnehmenden Bewusstsein, das in dieser Zeit seine Wanderung zurücklegt, tatsächlich besucht werden muss.
Wir haben damit nun eine Vorstellung von der Initiation zur Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche als einer Phase des allgemeinen Initiations-Zyklus. Diese Phase besteht einerseits aus schweren und gründlichen Prüfungen – aus spirituellen, intellektuellen, psychischen und auch astralen Prüfungen – und andererseits umfasst sie einen Abstieg in Sphären, die von den wandernden Monaden der Durchschnittsmenschen seit Beginn ihrer Manifestation auf der menschlichen Stufe im gewöhnlichen Verlauf ihrer Entwicklung nie durchlaufen wurden.
Diese außergewöhnliche und geheimnisvolle und hier nur kurz umrissene Lehre legt dar, dass auf dieser unserer Erde bei dieser heiligen feierlichen Gelegenheit ein Geschehen wiederholt oder nachvollzogen wird, das sich in gewissen Intervallen unter den Göttern ereignet. Ebenso wie im Verlauf des kosmischen Schicksals zu gewissen Zeiten eine bestimmte Gottheit ihre eigenen strahlenden Bereiche verlässt, um in die Menschenwelt ‘hinabzusteigen’ – oder richtiger ausgedrückt, um einen Teil ihrer eigenen göttlichen Essenz in diese Welt zu übertragen, um der irrenden Menschheit beizustehen und zu helfen – genauso steigt der Neophyt-Initiand in die Unterwelt hinab oder überträgt sein wahrnehmendes Bewusstsein in sie, um dort zu lernen und den Bewohnern dieser dunklen Sphäre zu helfen. Was die Götter von ihren erhabenen Höhen aus in diesem Zusammenhang tun, um uns zu helfen, das tun gleichfalls diese großen Menschen in Sphären, die unterhalb unserer eigenen Sphäre liegen.
Wenn man intensiv über diese geheimnisvolle und tiefgründige Lehre nachdenkt und ihre außergewöhnlichen und rätselhaften Paradoxa, das heißt ihre vermeintlichen Widersprüche wahrzunehmen beginnt, mag man sich wohl fragen, warum eine Gottheit überhaupt ‘herabsteigen’ oder einen Teil ihrer Essenz in unsere Sphäre, die sie vor langen Äonen während ihres evolutionären Aufstiegs hinter sich gelassen hat, projizieren muss. Die Erklärung dafür liegt in anderen Lehren, die die Natur unseres kosmischen Sonnensystems – vom spirituellen Standpunkt aus betrachtet – betreffen. Wir ersehen daraus, dass selbst die Götter unter der Herrschaft des allmächtigen Schicksal stehen; dass selbst sie in ihren eigenen, erhabenen Sphären Karma schaffen und abtragen und Werke beginnen und vollenden, die auf die kosmischen Räume einen weitreichenden Einfluss haben. Ein bestimmter Teil dieser göttlichen Tätigkeiten muss notwendigerweise bis in die Sphären der Menschen hineinreichen und sie auf das Tiefste beeinflussen.
Wenn der Schüler der Esoterik die Lehren über die Dreiheit der Hindu-Gottheiten – Brahmā, Vishnu und Śiva – voll erfasst, ihre tiefe Bedeutung und ihren wirklichen Sinn, dann wird er verstehen, warum diese eben erwähnten wunderbaren Ereignisse stattfinden. Wie Brahmā der Entwickler und Erzeuger und Vishnu der Unterstützer und Erhalter ist, so ist Śiva der besondere Schirmherr des Esoterikers – der Erneuerer, weil er der Auflöser ist.
Die wirkliche Bedeutung und Tiefe der esoterischen Lehre über diese Dreiheit von Gottheiten im Sonnensystem kann überhaupt nicht erfasst werden, wenn man sie nur so versteht, wie sie in den exoterischen Werken der Hinduliteratur dargestellt wird. Diese drei sind in der Tat drei Individuen und doch sind sie eins, genau wie die Evolution und Involution zwei Vorgänge und doch dem Wesen nach ein Vorgang sind, denn nichts kann etwas aus seinem Inneren herausentwickeln, bevor dieses Etwas nicht hineinevolviert war. Es kann somit keinen Brahmā oder Entwickler und Erzeuger geben, wenn der Erneuerer und Auflöser nicht bereits in einer vorangegangenen kosmischen Periode die Samen des Universums involviert hat, das dann später entwickelt oder hervorgebracht wird. Auch könnte es kein Manvantaras oder keinen geordneten Lauf kosmischen Lebens und keine Evolution geben, ohne den unaufhörlichen und beständigen Einfluss des Ernährers, Erhalters und Bewahrers.
Diese drei spirituell-göttlichen Energien im Sonnensystem, die unverwechselbar drei und dem Wesen nach dennoch eins sind, sind in Wirklichkeit die höhere Triade der Siebenheit, die zu den zehn Prinzipien unseres Sonnenkosmos gehören. In ihrer Erhabenheit, weil sie die höhere Triade der Siebenheit der Welten aus Leben-Energie-Bewusstsein des Sonnensystems sind, existieren und wirken sie in Sphären, die für uns völlig still und dunkel sind.
Von Zeit zu Zeit – streng durch das Karma des Sonnensystems geregelt – erhebt sich im Herzen des Mahā-Vishnu der Impuls, einen Teil seiner selbst zu manifestieren. Dieser Teil ist eine Gottheit, und dieser Impuls oder spirituelle Drang kann nie verweigert oder unterdrückt werden. Dieser Impuls hat in unserer esoterischen Lehre eine technische Bezeichnung. Er wird Bīja, ‘Same’ genannt, oder vielleicht richtiger Avatāra-Bīja – kosmischer Avatarā-Same.
Die Avatāras erscheinen in bestimmten Intervallen auf der Erde, und zwar wenn die spirituellen Energien bei uns zur Neige gehen und die materiellen Kräfte in heftigen Wogen immer höher schlagen. Es ist, als ob eine spirituelle, psycho-magnetische Spannung in der Konstitution des Sonnensystems vorhanden wäre, die eine spirituell-elektrische Entladung einer spirituellen Energie zur Folge hat, dem Blitz auf der Erde ähnlich. Diese Entladung wird gewöhnliche als ‘Abstieg’ des Avatāras bezeichnet, durch den die Stabilität und das Gleichgewicht der Dinge erhalten bleiben. Ebenso verhält es sich auf unserer Erde mit jenen großen Menschen, mit jenen erhabenen Neophyten-Initianden, die im Laufe ihrer Initiation in die Unterwelt ‘hinabsteigen’, um den Wesen, die an die Finsternis dieser düsteren Sphären gefesselt sind, spirituelles Licht zu bringen – Sphären, die uns nur deshalb als Reiche der Finsternis erscheinen, weil wir über ihnen stehen.
So eng ist alles in der ganzen Natur miteinander verbunden, so innig und kompliziert sind die Fäden des Lebensgewebes miteinander verwoben, dass die ganze Natur als ein einziger gewaltiger Organismus betrachtet werden muss. Und wenn in irgendeinem Teil des kosmischen Körpers eine bestimmte Element-Energie fehlt, entsteht in anderen Teilen, die diese fehlende Element-Energie im Überfluss besitzen, ein Impuls oder Drang zu dem Ort hin, in dem ein derartiger Mangel vorherrscht. Infolgedessen wandert, zieht oder überträgt sich die fehlende Element-Energie zu ihrem Bestimmungsort, damit die Stabilität und das Gleichgewicht des kosmischen Gefüges wieder hergestellt oder aufrechterhalten werden kann.
Die Initiationsperioden finden nicht zufällig oder willkürlich statt, noch werden sie vom Wunsch oder Willen menschlicher Wesen geleitet, wie edel und groß diese auch sein mögen. Sie finden vielmehr in genauer Übereinstimmung mit dem Wirken der spirituellen, kosmischen Anziehungskräfte des Universums statt. Die erhabenen Neophyten-Initianden unterziehen sich ihren Prüfungen und machen ihre Wanderung in die Unterwelt, weil sie für die entsprechende Zeit völlig gehorsame Diener des universalen Gesetzes geworden sind und daher kaum anders handeln können.
Aus dem Gesagten wird somit augenblicklich klar, mit welchem mächtigen, mitleidsvollen Puls das Herz der Natur überall schlägt; denn was die Menschen in ihren armseligen Worten als „Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts“ oder „Aufrecherhaltung der kosmischen Stabilität“ bezeichnen, ist nur eine dürftige Beschreibung des automatischen Wirkens des kosmischen Lebens bei der Wiederherstellung der kosmischen Harmonien, beim Wiederausgleich der kosmischen Energien, die alle unter der Leitung und Herrschaft des unbeschreiblich mächtigen Herzens des Lebens-Bewusstseins stehen, das bis zum Ende des Sonnenmanvantaras unaufhörlich und ohne Unterbrechung oder Pause schlägt.
Im menschlichen Denken, wie auch in der kosmischen Wirklichkeit, hängt daher speziell die Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche eng mit den Avatāras zusammen. Behaltet im Gedächtnis, dass es drei allgemeine Fälle oder Beispiele für derartige ‘Abstiege’ oder avatārische Manifestationen spiritueller Energien in die menschliche Daseinssphäre als außerordentlich starke Impulse gibt. Einer dieser Fälle betrifft die Avatāras, die durch den Einfluss des Bīja im Mahā-Vishnu erzeugt werden. Der zweite Fall betrifft die Buddhas. Der dritte bezieht sich auf Fälle, die in seltenen Intervallen unter Menschen vorkommen – solche die weder Avatāras noch Buddhas sind. Beachtet wohl, dass der Avatāra der Abstieg des Einflusses oder eines Teils einer Gottheit durch ein geliehenes, vermittelndes, bodhisattvisches, psychologisches Instrument ist, um sich in einem reinen Menschenkörper im menschlichen Dasein zu offenbaren. Die Buddhas inkarnieren ihre eigenen spirituell-göttlichen Einflüsse, die in jedem Fall von dem eigenen inneren Gott des Buddhas ausstrahlen. Dies geschieht während der ganzen Dauer ihres Wirkens in der Menschenwelt. Diese spirituellen Kräfte offenbaren sie für Ziele und Werke, deren Güte unbeschreiblich erhaben und deren Wohltätigkeit weitreichend ist.
Bei den selten vorkommenden Menschen, die weder Avatāras noch Buddhas sind, die jedoch zeitweilig spirituell-göttliche Strahlen verkörpern oder beherbergen, handelt es sich um jene außergewöhnlichen Männer und Frauen, die infolge eines karmischen Lebensabschnittes besonders frei von den lähmenden und hindernden Fesseln der Persönlichkeit sind und infolgedessen einen Strahl ihrer eigenen höheren Dreiheit empfangen können. Dieser Strahl dringt in ihre Seele ein und entfacht das Denken und Fühlen solcher Männer und Frauen mit seiner heiligen Flamme.
Beispiele für solche ungewöhnliche Menschen sind Männer und Frauen, deren ganzes Leben von einer spirituellen und intellektuellen Kraft erfüllt ist, die die Fähigkeit der Durchschnittsmenschen bei weitem übertrifft. Dennoch sind sie nur menschliche Wesen. Es können dies zum Beispiel große und hochherzige Dichter mit einer seherischen Vision sein – oder es kann sich um große und edelgesinnte Künstler, um hervorragende und hochgemute Philosophen, Menschenfreunde oder Staatsmänner handeln. Es sind aber Menschen und nur Menschen. Sie sind also weder Avatāras noch Buddhas. Ihre Existenz ist in den verschiedenen Weltreligionen so gut bekannt, dass sie mit verschiedenen Namen bezeichnet wurden. In der christlichen Religion zum Beispiel nennt man sie ‘Heilige’, ‘heilige Männer’ und Ähnliches.
Obwohl diese drei Klassen, die spirituell-göttliche Strahlen manifestieren – die drei Fälle, in denen sich das Göttlich-Spirituelle in der menschlichen Lebensebene manifestiert –, untereinander ganz verschieden sind, muss doch besonders beachtet werden, dass der ursächliche Impuls oder Drang in allen drei Klassen seinen Ursprung in dem geheimnisvollen Bīja hat, der vom Anfang bis zum Ende eines kosmischen Manvantaras im Herzen des Mahā-Vishnu existiert und wirksam ist.
Beachtet als einen letzten Gedanken in diesem Zusammenhang, dass es auch Avatāras des Mahā-Śiva gibt, wie auch Avatāras des Vishnu, des solaren Erneuerers, die vielleicht die einflussreichsten und welterschütterndsten Wirkungen in der Sphäre der Menschen hervorbringen.
Die Pflicht einiger Avatāras, ihr Charakteristikum oder ist es, alles Spirituelle, Edle, Gute, Erhabene und Heilige zu bewahren und zu erhalten, während die Arbeit anderer Avatāras in Erneuerung und Umarbeitung besteht. Sie müssen aus dem Schoß des Schicksals hervorbringen, was auf Geburt wartet. Aus diesem Grunde ist die Tätigkeit des Śiva-Einflusses oft und einfältigerweise als ‘zerstörend’ bezeichnet worden. Die tiefe Philosophie in diesem Vorgang ist weder von den abendländischen noch von den orientalischen Gelehrten verstanden worden. Aber es ist klar, dass das wirbelnde Rad des Lebens Zeiten hervorbringt, in denen das Schlechte, das sich im Laufe des Schicksals bildete, beseitigt werden muss, wo überalterte Strukturen und Werke von Grund auf zerstört werden müssen, damit – spirituell wie materiell – neuere Strukturen und mächtigere und erhabenere Bauten errichtet werden können.
Das Gedankenthema, auf das ich mich hier eingelassen habe, ist in der Tat sehr schwierig. Ich fühle mich daher genötigt, ein warnendes Wort zu äußern, damit man nicht voreilige Schlüsse zieht – in der Annahme, man habe die volle Bedeutung und Tragweite der wunderbaren Lehre, die ich so kurz darlegte, verstanden. Denkt daran, dass das ganze Sonnenuniversum ein einziger gewaltiger Organismus ist, der in all seinen Bereichen von Leben durchströmt und durchpulst ist, und dass das, was die Menschen ‘Geist’ und was sie ‘Materie’ nennen, nur zwei Phasen oder zwei Aspekte oder zwei Ergebnisse des Vorwärtsdrängens oder des Dahineilens der kosmischen Leben-Bewusstsein-Substanz sind, die ihre unfassbar erhabene Bestimmung ausarbeitet.
Daher kann unser ganzes Sonnensystem von zwei Standpunkten aus betrachtet werden: einmal als ein kosmischer Körper aus Sphären, die aus dem Gewebe des kosmischen Bewusstseins gebildet sind. Von einem anderen Standpunkt aus kann es als ein wunderbares und höchst kompliziertes Flechtwerk von Sphären angesehen werden, die auf vielen Ebenen existieren, die aber alle unter der Herrschaft unserer kosmischen Gottheit und innerhalb deren Grenzen stehen. Daher vibriert jedes Atom voll Leben; jedes ist ein verkörpertes Bewusstseinszentrum, eine Monade, wie wir sagen. Der einzige Unterschied zwischen Atom und Gott, zwischen den Scharen der Finsternis und den Scharen des Lichts besteht im Unterschied ihrer evolutionären Entwicklung.
Abschließend: Lasst uns den Versuch machen, etwas von der Bedeutung der so geheimnisvollen und gefährlichen Erfahrungen zu verstehen, denen sich einige, die weiter evolviert sind als wir, jetzt unterziehen.
Der Wind des Geistes
Dr. Gottfried von Purucker
Der direkte Weg zur Weisheit
Worin besteht der direkte Weg zur Weisheit? Dies ist, wie ich glaube, das wichtigste Gesprächsthema, das man heutzutage aufgreifen kann. Ist irgend jemand in der Lage, genau zu definieren, was dieser direkte Weg zur Weisheit ist, im Unterschied zu dem, wie ich ihn nennen würde, indirekten Weg?
Man könnte den indirekten Weg auch als den bezeichnen, der von außen her in unser Bewußtsein führt. Es ist der Weg der Instruktion, der übliche Weg der Kirchen und der Vortragssäle. Er kann für bestimmte Gemüter zuweilen hilfreich und anregend sein. Aber können wir wirklich sagen, daß wir auf diesem Wege oder Pfad Weisheit erlangen können?
Der direkte Weg zur Weisheit ist der Weg des inneren Lichtes, des Verstehens, der aus dem inneren Streben und der inneren Erfahrung entsteht. Er wurde zumindest in Andeutungen von jedem der großen Lehrer der menschlichen Rasse gelehrt. Mystisch gesprochen könnte man sagen, daß derjenige ihn gefunden hat, der sich mit dem eigenen inneren Gott in ihm selbst vereinigt hat, in mehr oder weniger vollkommenem Grade. Das ist der direkte Weg.
Was braucht die Welt heute? Was sind die Ursachen ihrer mannigfaltigen inneren Schwierigkeiten, ihrer Unschlüssigkeiten und ihres Verlustes an Vertrauen? Die Antwort findet man darin, daß die Menschen größtenteils innerlich leer sind. Sie sind als Masse und als einzelne relativ leere Gefäße: sie besitzen keine innere Fülle, die sie mit anderen teilen könnten, keinen inneren Reichtum des Verständnisses, durch den wir die Probleme, die die Menschheit bedrängen, begreifen und lösen könnten und auf diese Weise uns selbst und den anderen auf kluge Art helfen würden. Anstatt einig und verständnisvoll zu handeln, was sich aus solchem inneren Reichtum zwangsläufig ergäbe, sehen wir nichts anderes als Opposition, Streit, Zank und als unausbleibliche Folge davon Elend, verbunden mit drückender Armut und entsetzlicher Not. Daher meine ich, daß der innere spirituelle Reichtum, der aus der inneren Einheit des Lebens hervorgeht, der direkte Pfad zur Weisheit ist, denn alles, was das Leben lebenswert und großartig macht, ist darin enthalten.
Die meisten Menschen sind seelenlos, oder fast so. Das bedeutet nicht, daß sie keine Seelen besitzen oder daß sie „verlorene Seelen“ sind. Es bedeutet vielmehr, daß sich die innere Seele nicht durch uns nach außen manifestiert und ihre transzendenten Kräfte nicht in unserem Leben zum Ausdruck bringt. Halten Sie sich immer vor Augen, daß die spirituelle Seele in und über uns ist, und daß sie beständig versucht, unser Leben zu inspirieren und zu erfüllen, damit es reicher, kraftvoller, erfüllter und schöner wird. In diesem Sinne sind die meisten Menschen noch nicht beseelt. „Wir stoßen an jeder Straßenecke auf seelenlose Menschen“, sagte H. P. Blavatsky. Mehr als irgend etwas anderes ist es die Pflicht und das große und vornehme Bemühen und Privileg der Theosophischen Gesellschaft dabei zu helfen, daß sich denkende Männer und Frauen die Erkenntnis und die Gewißheit der Tatsache, daß sie beseelte Wesen sind und sein sollten, ins Gedächtnis zurückrufen.
Wie würde dies, setzte die Mehrzahl unserer Mitmenschen das in die Tat um, das Antlitz der Erde verändern! Alles wäre anders. Statt Unglück würde Glück einkehren. Streit würde dem Frieden Platz machen, Verständnis und gegenseitige Rücksichtnahme würden an die Stelle von Haßausbrüchen und Verachtungsbeweisen treten, die uns alle jetzt zur Schande gereichen. Denn die Menschen wären mit innerem Licht und innerer Stärke erfüllt. Dadurch wiederum würden sie Verständnis, gegenseitige Sympathie, Güte und instinktives brüderliches Verhalten entwickeln. Ein universales Streben nach Frieden und Wohlwollen wäre die Folge.
Die meisten der heutigen Menschen sind seelenlos und leere Gefäße, anstatt gefüllte Gefäße zu sein, erfüllt mit innerer Kraft und Licht. Anstatt sich vom inneren Geist und seinen unwiderstehlichen Befehlen leiten zu lassen, folgen sie den selbstsüchtigen Intrigen des Gehirnverstandes. Immer heißt es: „Erst komme ich, und alles andere schere sich zum Teufel.“
Zweifellos kann der indirekte Weg zur Weisheit helfen, diese Umstände zu ändern. Um jedoch der Wahrheit die Ehre zu geben, sollte man einräumen, daß er vielleicht nur für bestimmte schwache und unsichere Leute hilfreich sein kann. Er ist auf jeden Fall ein Umweg und führt im Kreis herum. Er besteht in dem Versuch, Dinge von spirituellem und intellektuellem Wert allein von außerhalb von uns zu erhalten, ohne sich darum bemüht zu haben, sie in uns selbst entstehen zu lassen. Vielleicht können wir diese äußeren Gaben sogar irgendwie horten. Es ist gut, wenn man dies kann. Trotzdem sind sie nur dünne Pilgerstäbe in unseren Händen. Die Stäbe sind nicht fest genug. Wenn jedoch das innere Leben, die innere Leere mit dem Reichtum und der heiligen Kraft der spirituellen Wirklichkeit in uns erfüllt ist, erlangen wir Weisheit und Wissen: wir wissen.
Es wird erzählt, daß H. P. Blavatsky Tränen über ihre Wangen liefen, als sie von einem Erholungsspaziergang nach ihrer morgendlichen Arbeit zurückkam und sie die Diele ihrer Wohnung gequält von innerer Verzweiflung durchschritt. Als Grund dafür gab sie später an: „Oh, diese seelenlose Masse. Ihre Gesichter sind leer, voller Vorurteile und voller Dummheit. Man kann in ihnen weder Wissen noch Weisheit erkennen. Diese Menschen hungern, sie jagen nach Wahrheit und schreien vergeblich. Sie versuchen, die schmerzliche Leere von außen her zu füllen, anstatt aus der immerwährenden Quelle der Inspiration, die in ihren Herzen strömt!“
Ich glaube, es ist unsere vordringlichste Pflicht, unser Äußerstes zu tun, diese Leere in den Menschenherzen auszufüllen, den Menschen den direkten Pfad zur Weisheit zu zeigen und ihre innere Leere mit Reichtum zu füllen, einem Reichtum an Weisheit und augenblicklicher, verstehender Sympathie. Dadurch würde ihr Leben groß, voller Stärke und Wahrhaftigkeit werden. Wir würden gerecht handeln und in all unseren Handlungen edler Vernunft den Vortritt lassen. Viel, wenn nicht alle menschliche Dummheit wäre dann verschwunden, und das Licht der Weisheit würde unsere Schritte leiten.
Was ist das Alter?
Was ist das Alter, die wissenschaftliche Begründung für das Älterwerden? Krankheit ist – wie jedermann weiß – Nichtbefolgung der Naturgesetze, der Gesetze der Gesundheit, deren Mißachtung wir alle mehr oder weniger schuldig sind. Der Tod ist einfach der Rückzug der feineren Kräfte von dieser physischen Ebene, damit das wandernde Ego in seiner egoischen Fülle zu anderen Abenteuern weiterzuziehen vermag, wenn der Ruf und die Anziehung dieser Erde zeitweilig aufgehört haben. Allein über diese beiden Punkte könnten Bücher geschrieben werden. Was also ist das Alter?
Haben Sie sich jemals über die einfache Tatsache gewundert, daß die meisten Menschen mehr oder weniger innerhalb einer gewissen Spanne von Jahren sterben? Wenn wir Krankheiten und Unfälle beiseite lassen, ist die durchschnittliche Lebenserwartung überall in der Welt so ziemlich die gleiche: wir werden nicht tausend Jahre alt, und wenn wir nicht durch Unfall oder Krankheit in die anderen Sphären fortgenommen werden, leben wir länger als zehn oder hundert Tage. Wie kommt es also, daß die Lebensspanne für den Durchschnittsmenschen ungefähr zwischen fünfzig und achtzig Jahren liegt? Lassen Sie uns hundert Jahre sagen, wenn Sie wollen. Das ist immer noch sehr kurz. Warum ist es so? Sind wir nur wie Schafe, daß wir eine Tatsache akzeptieren, weil sie so ist, und weil wir nicht darüber nachdenken und uns fragen, warum sie so ist? Warum sollte ein Wal oder eine Schildkröte nahezu 200 Jahre alt werden, wie manche sagen, und wir Menschen werden gewöhnlich schon vom Todesengel eingeholt, ehe wir einhundert Jahre alt geworden sind? Für einen Menschen ist es so selten, über diese hundert Jahre im physischen Leben hinauszukommen, daß man diese außergewöhnlichen Fälle sogar aufzeichnet, wenn manche hundertfünf oder hundertdreißig oder über hundertvierzig Jahre alt werden.
Ich will Ihnen sagen, was es ist. Es ist Gewohnheit. Die Gewohnheit, die wir in den Aktionen und Reaktionen in dem evolutionären Stadium, in dem sich die Menschheit gegenwärtig befindet, angenommen haben. Wir sprechen über die Planeten und wie diese die Lebensspanne des Menschen regieren. Vollkommen richtig; aber wie kommt es, daß die Planeten zulassen, daß ein Mensch eine Zeit übersteht, die man vielleicht als kritische Zeit bezeichnen könnte, und möglicherweise erst weggenommen wird, wenn er erneut eine solche Periode passiert? Er hat sie vielleicht in seinem bisherigen Leben schon viele Male passiert. Warum erfaßt es ihn zu einer bestimmten Zeit? Das sind faszinierende und interessante Tatsachen, und ich frage Sie, warum ist es so? Meine Antwort lautet: Es ist eine Gewohnheit der Natur, entsprechend unserem vergangenen Karma, entsprechend unseren Gefühlen, Gedanken und unserem vergangenen Denken. Wir haben uns selbst einen Rahmen aus psychischen und intellektuellen Gewohnheiten geschaffen, die den Todesengel veranlassen, uns mehr oder weniger innerhalb dieser kurzen Spanne zwischen einem und siebzig oder hundert Jahren abzurufen.
Wie entstand diese Gewohnheit? War diese Gewohnheit immer so? Wird sie immer so bleiben? Mit anderen Worten, lebten Vorfahren zum Beispiel vor hundertzwanzig Millionen Jahren ebenfalls nur fünfzig oder sechzig oder siebzig Jahre und starben dann? Sie taten es nicht. Sie wurden mehrere hundert Jahre alt. In allen Schriften des Altertums findet man Aufzeichnungen darüber; zum Beispiel in der jüdischen Bibel, nach der Methusalem über neunhundert Jahre alt wurde. Ich halte das zwar für eine Übertreibung, aber es ist ein Beispiel, und wir können es dabei belassen. Dann wurden die Tage der Menschen auf der Erde geringer, weil sie das Böse suchten und das Böse und seinen heißen und tödlichen Atem liebten. Da das Böse eine Zunahme an vitalem Tempo bedeutet, wird das vitale Reservoir vor seiner normalen Zeit erschöpft. Dadurch wurde die Lebensdauer der Menschen kürzer. Das ist eine zutreffende Erklärung, und wenn die Menschheit in Millionen von Jahren eine psychische Gewohnheit erwirbt, dann reagieren selbst die Atome des menschlichen Körpers auf diese Gewohnheit; sie folgen ihr. Das gilt für alle Arten von Gewohnheiten; zum Beispiel für das Aufwachen an jedem Morgen zu einer bestimmten Stunde. Man kann sich angewöhnen, zu viel zu essen oder zu hungern. Man kann alle Arten von Gewohnheiten erwerben. Jeder aufmerksame Arzt kennt die physiologischen Gewohnheiten genau, denen jeder normale menschliche Körper bei der Geburt, bei Heilprozessen und selbst bei Krankheiten unterliegt.
Das beantwortet aber immer noch nicht die Frage, wie es kommt, daß der Mensch gewöhnlich nur zwischen achtzig und hundert Jahre alt wird, was verglichen mit der endlosen Zeit so kurz ist. Nur ein kurzes Aufblitzen und vorbei! Denken Sie an die Sterne und auch an die anderen Geschöpfe der Erde. Viele sind viel langlebiger als wir Menschen. Warum sollte das gerade so sein? Dazu noch ein okkulter Gedanke, von dem Sie halten mögen, was Sie wollen, er ist trotzdem wahr. Diese Gewohnheit wurde nicht nur durch unser vergangenes Karma geschaffen, d. h. durch Dinge, die wir taten, durch die Gedanken, die wir hatten, und durch die Gefühle, die wir durchlebten, und denen wir in all unseren vergangenen Reihen von Leben folgten oder nicht folgten, sondern sie entsteht auch daraus, daß die Menschheit sich auf ihrer evolutionären Reise zu einer weit größeren Vollkommenheit, als wir sie jetzt haben, nur etwa am mittleren Punkt dieser evolutionären Reise auf der planetarischen Kette, wie sie in der Theosophie genannt wird, befindet. Mit anderen Worten, die Menschheit hat in ihrer Reihe von sieben Runden gerade etwas mehr als den zentralen Punkt, der am weitesten unten in der Materie liegt, passiert. Der Ruf des physischen Stoffes ist daher am stärksten.
Wenn man nun das Alter betrachtet, wird man verschiedene Dinge bemerken: Fälle, in denen das Alter höchst wundervoll ist. Diese Menschen verlieren nie ihre Kräfte, außer wenige Tage oder vielleicht eine Woche vor dem Tod. Ihre Kräfte bleiben intakt – nicht die körperlichen Kräfte, weil der Körper ja rasch altert. Ich meine jedoch die wirklichen Kräfte, die uns zu einem Menschen machen. Lediglich einen physisch kräftigen Körper zu besitzen ist nicht das Kennzeichen eines wahren Menschen. Manche schwerfälligen Tiere haben Körper, die weitaus kräftiger sind als der Körper des hoch intellektuellen und zivilisierten Menschen. Es sind die inneren Kräfte, die uns zu Menschen machen, und es sind diese Kräfte, die bei diesen Fällen bis in das reinste, hohe Alter erhalten bleiben, weil diese Menschen die reinsten, die in der gegenwärtigen Zeit am weitesten entwickelten Menschen sind. Es ist, als ob sie der Rasse mit tastenden Schritten vorangehen – wegen dieser Reinheit des evolutionären Standes selbst in der heutigen Zeit – in die Zukunft und in ihre größere Herrlichkeit und dieses evolutionäre Vorausschreiten beibehalten, sozusagen als Vorläufer der rassischen Gewohnheit, bis der Tod sie ereilt.
Wir befinden uns gegenwärtig in der sogenannten vierten Runde, gerade etwa an ihrem zentralen und niedrigsten Punkt. Wenn wir die fünfte Runde erreicht haben, wird der Tod nicht mehr so schnell eintreten. Die menschliche Lebensspanne wird dann weitaus länger sein als nur die dreimal zwanzig und zehn Jahre, die uns die hebräische Bibel als normale menschliche Lebensspanne gibt. Wenn wir die sechste Runde erreicht haben werden, wird die Lebensspanne noch länger sein. Wenn wir die siebte und letzte Runde dieser planetarischen Verkörperung erreicht haben werden, wird die Lebensspanne am längsten sein. Es wird kein Greisenalter mehr geben. Es wird für diese besondere Planetenkette keine Zukunft mehr geben, keinen besten Menschen sozusagen, der der Norm etwas voraus ist, denn alle Menschen werden ihre Fähigkeiten bewahren, bis der Tod eintritt. Während dieser siebten Runde wird die Menschheit im Verhältnis zu uns zu einer Rasse von Buddhas und Christussen geworden sein. Der Tod, der zuletzt zu überwindende Feind, wie das christliche System ihn nennt, wird dann überwunden sein. Krankheit wird nicht mehr existieren, denn die Menschen werden nach einer Gewohnheit leben, die absolut mit den Naturgesetzen übereinstimmt. Was wir Tod nennen, wird einfach ein Einschlafen sein, um in höheren Reichen zu erwachen. Ich meine genau dies – kein Kampf wie gegenwärtig, weder ein sanfter noch ein heftiger Kampf, sondern einfach ein Einschlafen.
Sie sehen, wir schauen Millionen und aber Millionen Jahre voraus, in eine Zeit, in der das menschliche Leben wieder einige hundert Jahre dauern wird, in der seine Gesundheit eine relative Perfektion erreicht haben wird, weil alle Naturgesetze von der Menschheit automatisch befolgt werden. Der Tod wird dann, wenn er kommt, gleich einem sanften Schlaf eintreten, worauf die Entlassung in die inneren Welten erfolgt. In jener Zeit können die Menschen willentlich aus ihrem Körper heraustreten, wenn sie müde sind, ihn hinter sich lassen und willentlich einen neuen Körper annehmen oder in andere Sphären gehen, denn wir werden dann den Tod überwunden haben. Es wird keinen Tod mehr geben, so wie wir ihn verstehen. Das bringt uns die Evolution in der Zukunft – ein wundervolles Bild! Dann werden die Menschen – anstatt sehr alt zu sein – im vollsten Besitz ihrer Fähigkeiten bleiben, nicht nur im Besitz der physischen Kräfte, wie wir sie jetzt so um die fünfundvierzig haben, sondern ihr Intellekt, die Spiritualität, die Einsicht und der Verstand werden auf höchster Stufe stehen. Das kommt sogar heute gelegentlich bei den besten Menschen der menschlichen Rasse vor, die ihren sich entwickelnden Brüdern, die hinter ihnen einhergehen, ein kleines Stück voraus sind. Sie erfassen intuitiv, sie haben Intuitionen, gewissermaßen wie ein Kind, das unsichere Schritte auf etwas noch Unbekanntes zu macht. Die Natur drängt sie vorwärts, so daß ihre Altersperiode derjenigen gleicht, wie sie in der Zukunft für alle Menschen sein wird. Visionen der Zukunft werfen ihre Schatten zu uns hierher zurück.
In der heutigen Zeit gehen wir aufgrund unserer Vergangenheit so auf das Alter zu, wie wir es tun; aber in jenen noch weit entfernten Äonen, so können wir sagen, wird der Mensch mit zunehmendem Alter noch stärker und kraftvoller in allen Dingen, sogar sein Körper. Aber so weit sind wir noch nicht! Das Alter ist bei uns sozusagen eine Kopie im Kleinen von allem, was die Menschenrasse bis jetzt erreicht hat. Es wurde zu einer rassischen Gewohnheit.
Ich will noch auf etwas anderes hinweisen: Bloßes physisches Alter ist keinesfalls etwas Wünschenswertes. Wenn man bedenkt, was das hohe Alter für so viele Millionen Menschen bedeutet, ist es bedauernswert – Verlust der intellektuellen Kräfte, Verlust der Spiritualität, Verlust natürlich auch der physischen Kräfte; Verlust der seelischen Einsichten und großenteils Verlust des Verstandes. Trotzdem leben sie weiter, weil die physische Vitalität so stark ist. Wer möchte das? Aber das ideale Alter, nach dem wir sogar jetzt schon streben und das wir entsprechend unserer Anstrengung gewinnen können, beinhaltet, daß wir den Tod, wenn er kommt, mit Freude empfangen, denn er ist der Beginn eines wunderbaren Abenteuers. Bis diese Zeit jedoch herankommt, gilt es von der Geburt an bis zum Zeitpunkt des Todeseintritts so zu leben und so zu denken und so zu fühlen und so zu streben, daß der Geist, während der Körper mit dem Eintritt des Alters unausweichlich immer schwächer wird, unbeeinträchtigt bleibt, die Spiritualität zunimmt und zur Verherrlichung der Jahre führt, die so unangemessen als Abstiegsjahre bezeichnet werden. Das Ideal hohen Alters ist ein Mensch, der an innerer Kraft, an innerer Vision, an Gedankenkraft, an Intellekt, an Spiritualität zunimmt – so daß er bis wenige Stunden vor seinem Tode mit jedem fortschreitenden Tag ein größerer Mensch ist als am Tag vorher oder ein Jahr vorher. Das ist kein unmögliches Ideal. Wenn man richtig lebt, ist das der Lohn.
Es gibt jedoch im Leben vieler Menschen karmische Dinge, die Krankheiten bringen; Krankheiten, die auf weit vergangene Leben zurückgeführt werden können. Deshalb sollten wir in diesen Dingen weise sein und uns an die schöne alte Regel erinnern: Richte deinen Bruder nicht, auf daß Du nicht gerichtet werdest. Man weiß nie, ob dieser Bruder vielleicht eine schreckliche Vergeltung in diesem Leben durchmacht für eine Missetat, die vielleicht zehn Leben zurückliegen mag und die wie ein Same des Unheils verborgen lag und sich nun entfaltet. Richte ihn nicht, er mag Dir weit voraus sein – sobald dieses Leben zu Ende ist, und er einen neuen Körper und ein neues Karma hat, kann dieses weitaus besser sein als alles, was Du erwarten könntest.
Wir haben noch viele Gebirge der Erfahrung zu erklimmen. Aber welche Freude liegt in all diesen wunderbaren Abenteuern. Blicken Sie auf die zukünftigen Verkörperungen in allen Arten von Rassen und allen möglichen Ländern, von denen sich einige aus der Oberfläche des Wassers erheben, wenn unsere jetzigen dann versunken oder untergegangen sein werden: neue Länder, neue Sprachen, neue Erfahrungen, neue Abenteuer, wobei wir immer vorwärts- und aufwärtsgehen und immer besser werden.
Aber hier ist ein Trost für die gegenwärtigen Zustände: daß die Rasse als Ganzes den zentralen Punkt passiert hat. Von jetzt an wird es nicht länger abwärts in die Materie gehen. Die Menschheit wird vielmehr langsam aufwärts klettern bis zum Ende der Zeit dieser Erde. Den Tod wird es nicht mehr geben. Die evolutionäre Gewohnheit, welcher die menschliche Rasse gegenwärtig unterliegt und die die Lebensspanne auf diese lächerliche geringe Zahl von Jahren begrenzt, wird sich geändert haben. Der Tod wird verschwunden sein. Die Geburt wird auf andere Weise zustandekommen. Der menschliche Genius wird sich mit den Göttern unterhalten. Inspiration wird das allgemeine Erbe aller Menschen sein. Es wird keine Armut, keinen Kummer, kein Leid mehr geben; denn die Sonne der Wahrheit wird in den Menschenherzen aufgegangen sein und Heilung in ihren Schwingen tragen!
Errette Dich selbst
Dies ist die Lehre der großen Weisen und Seher aller Zeiten: errette Dich selbst! Übe die Kräfte in Dir, mit denen Du ausgestattet bist. Bedeutet die Tatsache, daß die Menschen verwirrt und oft von Gewissensfragen geplagt werden, daß wir ohne Führung gelassen wurden? Sehen Sie nicht, daß uns die Natur vielmehr eben dadurch dazu auffordert, die latent in uns liegenden Kräfte auszuüben? Durch die Ausübung von Urteil und Unterscheidungskraft werden Urteil und Unterscheidungskraft gestärkt. Wenn wir unsere eigenen göttlichen Rechte spiritueller und intellektueller Urteilskraft nicht ausüben, werden wir schwächer und schwächer. Nur durch diese Übung entwickeln wir uns und bringen wir die gottgleichen Kräfte in uns immer mehr hervor.
Schauen Sie auf die großen, hervorragenden Vorbilder menschlicher Spiritualität und Genialität, auf denen sich die Annalen der menschlichen Geschichte aufbauen. Sie sind in der Tat herrlich. Sie geben uns Mut und zeigen uns, daß auch wir das, was andere erreicht haben, erreichen können. Sie sind Wegweiser entlang jenes mystischen Pfades, der zu den Höhen des Geistes führt. Wir selbst aber sind es, die diesen Pfad gehen müssen, und wir selbst müssen unsere eigenen Entscheidungen fällen und an ihnen festhalten. Gerade darin liegt ihre große Schönheit.
Was Ihr säet, werdet Ihr ernten. Nichts anderes als das, was Ihr gesät habt. Denken Sie darüber nach, was das bedeutet. Wenn die Menschen davon überzeugt sein werden, wird ihr Urteilsvermögen erweitert sein; dann werden sie keine voreiligen Entscheidungen mehr treffen. Sie werden sich nicht einfach auf andere verlassen und damit ihr eigenes Urteilsvermögen schwächen, weil sie es nicht benutzt haben. Sie werden die großartigen Beispiele der menschlichen Geschichte als Ermutigung annehmen. „Was er als ein Sohn der Menschen getan hat, das kann auch ich tun, indem ich die gleichen Kräfte in mir anwende, die jene große Gestalt der menschlichen Geschichte angewandt hat.“ Ihr Leben ist ein immerwährendes Beispiel für uns. Aber wir selbst sind es, die wachsen müssen und durch die Anwendung unserer Kräfte wachsen wir. Mit jeder Ausübung wird die Unterscheidungskraft schärfer, das Urteil sicherer und das Licht heller. Wenn die Prüfung dann kommt, wissen wir, welchen Weg wir einschlagen müssen.
Der Prüfstein der Wahrheit
Wie kann man etwas über die Zustände nach dem Tode wissen? Zu oft verbirgt sich hinter einer solchen Frage die Annahme, daß es ein Wissen über Dinge, die nicht sichtbar sind, nicht geben kann – nicht sichtbar, nicht erreichbar. Warum nur hat sich das menschliche Denken so unglücklich gerade an diese Torheit geheftet? Wenn Sie die Geschichte der Religion, der Philosophie, der Wissenschaft studieren, werden Sie entdecken, daß einer der traurigsten Züge des menschlichen Wesens die häufige Neigung ist, Tatsachen nicht anzuerkennen. Bedenken Sie folgendes: Die Dinge, die man berühren und sehen kann, sind genau die Dinge, die am meisten in die Irre führen. Denn erstens muß man sich mit den Unvollkommenheiten seiner Sinne abfinden – Fühlen, Sehen, Hören und so weiter – und dann folgt diesen unvollkommenen Wahrnehmungsorganen des Verstandes der Verstand selbst, der auch kein perfektes Urteilsinstrument ist, wenn er Schlüsse ziehen muß.
Aber es gibt etwas im menschlichen Wesen, das aus erster Hand erkennt. Nennen Sie es Geist, nennen Sie es Intuition, bezeichnen Sie es, wie Sie wollen. Die Tatsache bleibt, daß das einzige Wissen, dem Sie jemals trauen können, nicht in dem liegt, was Sie fühlen und sehen können, sondern in dem, was von innen zu Ihnen kommt. Darüber hinaus wissen Sie nichts. Über andere Dinge haben Sie Vorstellungen, oder Sie legen die Vorstellungen anderer Menschen aus.
Erkennen Sie, daß praktisch jede große Erfindung, die je inner- oder außerhalb der Wissenschaft auf jedem Gebiet menschlicher Anstrengung gemacht wurde, von einem Menschen stammt, der auf diese Weise inspiriert wurde? Und wenn er dieses wunderbare Geschenk der Menschheit übergibt, wird die Menschheit erhoben. Jedes Geschenk solcherart wurde von dem inneren Genius des Menschen hervorgebracht. Jede große Erfindung war zuerst ein Blitz der Inspiration; zuerst kam die Idee und dann kommen vielleicht Jahre der Arbeit, um sie herauszuarbeiten und andere von ihr zu überzeugen.
Durch diese innere Kraft können Sie die Wahrheit erkennen. Wenn Sie aber diese Kraft in sich finden wollen, dann stehen Sie in der Tat vor einer Menge harter Arbeit.
An jene, die trauern
Die wunderbare Botschaft, die die Theosophie jenen geben kann, die trauern und sich grämen, bezieht sich nicht allein auf den Tod. Sie wendet sich auch nicht nur an die Hinterbliebenen von Verstorbenen. Sie gilt in gleichem Maße jenen, die mit dem Tod noch nicht in Berührung gekommen sind, allen, die auf dieser Erde leben müssen, wo mehr Gram, Verzweiflung und geistige Müdigkeit existieren als Glück und wirklicher Friede. Ich zweifle daran, ob ein weichherziger Mensch in einer Welt wie der unseren wirklich glücklich sein kann, wenn wir die entsetzlichen Beweise der Unmenschlichkeit sehen, die uns überall umgeben und die von Menschen an ihren Mitbrüdern begangen werden. Wie können wir uns in unsere unanfechtbaren Bastionen des Geistes und des Herzens in unseren Lebensbereichen zurückziehen, wenn wir sehen, was rund um uns herum passiert, nicht nur innerhalb der Menschheit, sondern ebenso unter den hilflosen Tieren: nur Leid, Schmerz und Kummer. An allen Ecken und Enden erhebt sich der Hilfeschrei dieser Märtyrer zum Himmel!
Wir sprechen über die Trauernden und beschränken uns dabei auf uns selbst, jeder einzelne von uns. Warum? Schätzen wir nicht die gütige Hand, die sich in Mitleid und Verständnis den anderen entgegenstreckt, die in Einsamkeit leiden? Der Tod an sich ist nichts, über das man sich grämen müßte. Wir sind ihm auf dieser Erde tausendmal begegnet. Wir kennen ihn gut. Er ist für uns eine alte Erfahrung und nun sind wir wieder hier. Aber wir fühlen mit jenen, die während ihres Lebens trauern: trauern um den Verlust eines geliebten Angehörigen; trauern um entschwundenes Glück. Vielleicht haben sie sogar Schwierigkeiten, das tägliche Brot für den Lebensunterhalt jener zu besorgen, die sie lieben. Dann sind da die anderen, die trauern, weil sie es schwer haben, eine ihnen entsprechende Arbeit zu finden, die es ihnen ermöglicht, ihre hungrigen Kinder zu ernähren. Oder die, die trauern, weil sie eine Freundschaft, eine Liebe, eine Hoffnung verloren haben oder vielleicht das Entsetzlichste von allem: weil sie das Vertrauen in ihre Mitmenschen verloren haben.
Jeder Mensch weiß, was es heißt, um etwas zu trauern, es sei denn, er wäre herzlos. Jemand, der nicht trauert und nicht trauern kann, ist meiner Meinung nach unmenschlich. So großartig und wundervoll ist die Natur beschaffen, daß wir gerade aufgrund dieser göttlichen Eigenschaft, trauern zu können, fähig sind, für andere Mitgefühl zu empfinden und ein verständnisvolles Herz für die Trauernden zu haben. Und welch seltsame Magie des menschlichen Geistes ist es, daß Trauer, Gram und Leid unsere weisesten Freunde sind. Wie sie unsere Herzen bereichern! Welch unvergleichlicher Schatz ist die Erweiterung des Bewußtseins, die erfolgt, wenn Trauer ihre oft brennende, aber stets heilende Hand auf unsere Herzen legt. Wir bringen ein Opfer; aber in diesem Opfer liegt Läuterung, es ist das Erwachen zu einem größeren Leben. Durch Gram, durch Trauer und durch das als Folge davon hervorquellende Erbarmen und Mitleid lernen wir wahrhaft zu leben. Selbst kleine Kinder wissen, was Leid ist. Welch wundervolle Erfahrung ist es für sie, wenn sie das größte, was das Leben zu bieten vermag, kennenlernen: zu lernen und dadurch bereichert zu werden, dadurch größer gemacht zu werden.
Wie erbärmlich ist ein Mensch, der nicht mit anderen fühlen kann. Er ist gänzlich im winzigen Gefängnis seines kleinen Selbst eingeschlossen. Wo in ihm ist Größe? Selbst wenn Sie danach suchen, können Sie keine finden. Der Mensch jedoch, der gelitten hat, fühlt mit der ganzen Welt. Jedes Wehklagen der Trauer fällt auf sein Herz wie eine heiße Träne, und er gewinnt dadurch an Größe. Die Natur arbeitet hier in einer magischen Weise, denn in diesem Prozeß ruht knospenhaft eine vielversprechende Hoffnung, eine von Sternenlicht erfüllte Inspiration, die aus dem erweiterten Bewußtsein entsteht.
Seliger Friede, unbeschreibliche Freude und alles Glück, das ein menschliches Herz und ein menschliches Bewußtsein ertragen können, sind das spirituelle Erbe jener, deren Herzen durch Leid geläutert wurden. Diejenigen, die niemals gelitten haben, sind hartherzig und unreif in ihrem beschränkten Bewußtsein. Wer als Mensch niemals gelitten hat, weiß nicht, was innerer Friede ist. Er hat ihn niemals erfahren. Wer nie Trübsal kennengelernt hat, kennt weder ihr Nachlassen noch die Seligkeit, die uns erfüllt, wenn sich die Ruhe auf uns legt.
Es sind die Trauernden – sie bilden eigentlich die gesamte menschliche Rasse – denen Theosophie ihre erhabene Lehre der Hoffnung und des Friedens vermittelt, denn sie lehrt uns, zu verstehen. Es gibt ein französisches Sprichwort, das besagt: Tout comprendre c’est tout pardonner, das heißt übersetzt: Alles verstehen heißt alles vergeben.
Ist es nicht klar, daß innere Größe aus einer Erweiterung kommt, und daß eine Erweiterung unseres Bewußtseins, unseres Verständnisses und unseres Herzens aus Leid entsteht? Auch Freude kann uns ein Lächeln auf die Lippen und einen Glanz von Glücklichsein in die Augen zaubern. Aber stimmt es nicht, daß sich sämtliche alltäglichen Lebensfreuden in unserem Mund zu Asche verwandeln? Stimmt es nicht ebenso, daß diese Lebensfreuden uns allzuoft selbstsüchtig werden lassen? Wir haschen nach den Freuden und erschrecken, wenn sie uns verlassen. Oft machen sie uns engherzig. Aber Mitgefühl und durch Leid erwachsene Sympathie lassen alle Welt gütig sein. Ein Mensch, der in seinem Leben nur Freude erlebt, hat vielleicht keine Bedenken, einem Mitmenschen Kummer zu bereiten. Er ist noch nicht erwacht und kann nicht begreifen. Er ist verwirrt und unwissend. Aber Menschen, die gelitten haben, die Trauer empfunden haben, sind in ihrer Güte und in ihrem Verständnis groß, denn sie verstehen und begreifen. Ihr Bewußtsein ist erweitert, und sie sind großherzig. Die höchste Verfeinerung davon ist, daß sie im buchstäblichen Sinne verklärt werden. Sie werden glorifiziert und den Gottmenschen auf Erden ähnlich.
Unsere segensreiche Botschaft an die Trauernden ist deshalb: Fürchtet die strahlende und heilige Flamme nicht. Sie wird Euch zu wahren Männern und Frauen machen, zu mehr als nur männlichen oder weiblichen Wesen. Was ist das große und hervorragende, charakteristische Merkmal der Gottmenschen, die von Zeit zu Zeit unter uns lebten? Es ist ihr verstehendes Herz, das sie befähigte, zu der Frau, die sich in Schwierigkeiten befindet, zu sprechen und ihr zu helfen; zu dem unwissenden Mann und ihm Beistand und Frieden zu geben; zu den kleinen Kindern und ihnen Verständnis zu bringen. Denn das einfache Herz des großen Mannes spricht zu dem einfachen, direkten Herzen des Kindes, bevor es noch verdorben wird, zugrunde gerichtet von der Falschheit, die es nur allzuoft lernt, wenn es heranwächst, und die es wieder verlernen muß, um ein wahrer Mann, eine wahre Frau zu sein.
Zu denen, die trauern, kommt die frohe Botschaft: Möge die heilige Flamme wie ein besuchender Gott in Ihre Herzen einkehren. Begegnen Sie ihm freundlich. Heißen Sie ihn willkommen. Empfangen Sie ihn wie einen Gast. Und jener leidgeprüfte Gast wird Sie der Trauergewänder entledigen. Sie werden erkennen, daß Sie unvermutet einem Gott gegenüberstehen. Und dieser Gott sind Sie selbst. Sie haben zu sich selbst gefunden.
Die Hingabe des Selbst
Keine Freiheit ist so groß, kein Glück so gewaltig und so weitreichend wie die Hingabe des Selbst im Dienen. Der Held ist es, der sich selbst gibt. Wenn er sich nicht völlig hingeben würde, läge kein Heroismus darin. Die Hingabe ist das Heroische.
So ist es auch mit der Liebe. Wo sie in Frage gestellt wird – nicht Unsicherheit, denn Unsicherheit ist in diesen Dingen immer sehr natürlich; man möchte sicher sein – wo die damit verbundenen Werte bezweifelt werden, wo selbstsüchtig nach dem gesucht wird, ‘was ich will’, da gibt es keinen Heroismus, keine Liebe, keine Selbsthingabe. Es gibt in einem solchen Falle nicht den Hauch eines Schattens einer Chance für die gottgleiche, heroische Eigenschaft der Selbstverleugnung.
Wenn das Jahr anfängt, wenn es beginnt, lasse ich immer dieses eine Mantram in meinem Herzen und in meinen Gedanken erklingen: Ein neues Jahr beginnt. Kann ich mich in diesem Jahr etwas mehr hingeben als im letzten Jahr? Ich bedaure aus tiefer Seele jeden Menschen, der nicht die außerordentliche Freude der Hingabe des Selbst kennengelernt hat. Es gibt nichts auf der Erde, was dem an Schönheit, an Größe, an Erhabenheit und Frieden und Reichtum gleicht, die sie für Herz und Verstand bringt.
Warum nicht über sich selbst lachen?
Viele Menschen sprechen über die heroische Tat der Selbstüberwindung – eine Sache, der wir alle zustimmen. Aber ich frage mich manches Mal, ob unsere Vorstellung vom heldenhaften Kampf mit uns selbst nicht etwas hysterisch, ja sogar töricht ist! Dabei meine ich nicht das Heroische, sondern unser niederes Ich, das arme kleine Ding! Es spielt die ganze Zeit verrückt mit uns, nur weil wir uns selbst mit ihm identifizieren und immer versuchen, es zu bekämpfen und es ebenso groß zu machen, wie wir sind. Ist es heroisch, gegen ein selbstgeschaffenes Gespenst zu kämpfen?
Was sagte doch der weise, alte Lao-tse? Wenn Du dein niederes Ich überwinden willst, lasse es beschämt sein über sich, lasse es lächerlich erscheinen. Lache es aus; lache über Dich selbst. Solange Du etwas beachtest, hebst Du es hervor und stellst es auf Dein eigenes Niveau, und wenn Du es dann zu bekämpfen versuchst, bekämpfst Du in Wirklichkeit einen anderen Teil Deiner selbst, der wirklich äußerst nützlich sein könnte.
Ich hörte jemanden sagen: Töte das niedere Selbst. Nehmen Sie einmal an, wir könnten dies tun. Wir wären dann die unglücklichsten Wesen. Ja, wir wären dann überhaupt nicht vorhanden. Das niedere Selbst ist, wenn es im Zaum gehalten wird, ein gutmütiges, kleines Tier. Es hilft uns. Unsere Pflicht besteht nur darin, es im Zaum zu halten. Wenn jemand einen launischen Hund oder ein störrisches Pferd oder ein anderes Haustier besitzt, was es auch immer sei, dann tritt er es nicht oder versetzt ihm Hiebe oder schlägt es auf den Kopf, um es gutmütig zu machen. Er würde es dadurch eher rebellisch, feige und hinterhältig machen. Er würde es erniedrigen. Daher sollte das niedere Selbst nie erniedrigt oder mit der falschen Würde eines Gegners ausgestattet werden, der irrtümlich in den Rang des höheren Selbst erhoben wird. Es sollte an seinem Platz gehalten werden und mit Freundlichkeit, Aufmerksamkeit und Höflichkeit behandelt werden, jedoch immer mit einer festen und führenden Hand. Wenn aber das niedere Selbst anmaßend wird, dann stellen Sie es an seinen ihm zustehenden Platz, aber nicht durch Brutalität oder durch Bevorzugung noch durch Bekämpfung. Verspotten Sie Ihr niederes Selbst, und Sie werden bald sehen, wie das niedere Selbst wieder seinen ihm zustehenden Platz einnimmt, weil es sich eine Zeitlang schämt und an Ansehen verloren hat – ‘es hat sein Gesicht verloren’, wie die Chinesen sagen.
Genauso ist es bei einem Hund. Haben Sie nicht schon erlebt, wie ein Hund seinen Schwanz zwischen die Beine einzieht, wenn man ihn auslacht? Die Hunde wissen es, wenn man sie auslacht, und es ist eine der besten Möglichkeiten, mit einem Tier umzugehen.
Ich glaube, daß Lao-tse aus China eine sehr weise Feststellung traf; er sagte: eine der besten Möglichkeiten, einen Feind zu überwinden, besteht darin, ihn lächerlich erscheinen zu lassen.
Nun, das schickt sich natürlich nicht zwischen Mensch und Mensch, weil es sehr oft hart und grausam ist. Beide stehen auf gleicher Stufe. Man kann einen Menschen schrecklich und ungerecht verletzen, wenn man ihn in eine falsche Lage bringt, indem man ihn lächerlich macht. Unmöglich! Aber versuchen Sie es bei sich selbst. Das nächste Mal, wenn das niedere Selbst Ihnen sagen will, was Sie tun sollen, dann lachen Sie darüber. Schenken Sie ihm keine Beachtung, geben Sie ihm nicht Rang, Kraft oder Stärke, indem Sie es bekämpfen. Beleidigen Sie es andererseits auch nicht und machen Sie es nicht schwach und hinterhältig und feige. Stellen Sie es an den richtigen Platz durch Spott und manchmal auch durch eine freundliche Geringschätzung. Lernen Sie den größeren Heroismus. Lachen Sie über die Sache, die Sie stört.
Die Rolle, die ein Sinn für Humor im menschlichen Leben spielt, das heißt, im menschlichen Denken und Fühlen und folglich auch im Verhalten, und die Rolle, die der Humor in spirituellen Dingen spielt, wird allzuoft übersehen. Wir mögen den Sinn für Humor definieren als ein Erkennen der harmonischen Beziehungen zwischen scheinbar nicht übereinstimmenden Dingen, zwischen den Übereinstimmungen und den Nichtübereinstimmungen, die den Sinn für das Komische in uns wecken.
Die Fähigkeit, Humor in dem zu erkennen, was uns widerfährt, ist eine spirituelle Eigenschaft, denn letzten Endes ist Humor ein Urbestandteil des Universums. Ich glaube, eine der größten Tragödien im persönlichen Dasein ist die Unfähigkeit, die komische Seite der Dinge zu sehen, wenn Schwierigkeiten auftreten. Wenn uns Unglück zustößt, sollten wir versuchen, das Komische daran zu sehen; damit ersparen wir uns aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur eine Menge Kummer, sondern gewinnen daraus auch noch großen Spaß.
Ich erinnere mich an den großen Spaß, den ich in meiner Kindheit bei einer Diskussion mit meinem lieben alten Vater hatte. Mein Vater hatte in einer theologischen Zeitschrift einen Artikel von einem bedeutenden christlichen Geistlichen gelesen, der dafür plädierte, daß der „allmächtige Gott“ einen Sinn für Humor habe. Ich sagte, das sei einfach großartig. Unser Sinn für Humor ist zwar menschlich und gering, weil wir gering sind, aber ist es möglich, daß der Mensch als Teil etwas besitzen kann, was das allmächtige Ganze, das Göttliche, nicht besitzt? Wenn das Göttliche einen Sinn für Humor hat, sagte ich, dann muß es natürlich ein Sinn für göttlichen Humor sein; aber es ist trotzdem Humor.
Es steckt sehr viel vernünftige Wissenschaft und Philosophie in der alten hinduistischen Idee, daß Brahma(n) das Universum im Spiel, in der Freude hervorgebracht hat. Die Worte unterscheiden sich von jenen des christlichen Geistlichen, aber die Idee ist die gleiche. Mit anderen Worten, die Hervorbringung aller Dinge war keine Tragödie, es lag Schönheit darin; es lag Harmonie darin; es steckte Humor darin; und wer in diesem Universum lebt, kann den Humor darin erkennen, wenn er will.
Betrachten Sie die Religionskriege und die religiösen Streitereien, die nie stattgefunden hätten, wenn die Menschen einen Sinn für Humor gehabt hätten. Wenn heutzutage die Menschen die humorvolle Seite der Dinge sehen würden, dann würden sie anfangen, miteinander zu leben, einander zu lieben, miteinander zu lachen und gegenseitigen Rat anzunehmen, anstatt einander zu mißtrauen.
Der Schutzengel
Ich bitte um Ihre ehrerbietige Aufmerksamkeit für eine tiefe und schöne Tatsache der Natur. Für mich ist dieser Gedanke einer der schönsten der theosophischen Lehren. Nämlich, daß die „Engel“ oder die „Schutzengel“, wie die Christen sagen, uns behüten. Diese wunderbare Lehre, die für Menschen in Zeiten der Not und Trübsal soviel Trost und Hilfe bedeutet, wird jedoch von den heutigen Christen nicht mehr verstanden, weil ihnen der ursprüngliche Sinn verlorengegangen ist. Sie scheinen anzunehmen, daß es ein Engel außerhalb von uns ist, den der allmächtige Gott beauftragt hat, für das Kind eine Art schützender Elternteil zu sein. Manche Christen nehmen wohl auch an, der Schutzengel trenne sich wieder von dem Kind, nachdem es erwachsen wurde. Diese Lehre von beschützenden und leitenden spirituellen Einflüssen in der Welt ist eine sehr alte Lehre der Weisheitsreligion. Sie wurde in Persien, Indien, Ägypten, bei den Druiden, ja, soweit mir bekannt ist, tatsächlich überall gelehrt.
Sie besagt einfach: In und über dem Menschen ist etwas Geistiges oder eine Macht, die ihn führt und die sein Herz und seinen Geist mit Hoffnung, Trost, Frieden und Rechtschaffenheit erfüllt. Wer aufnahmebereit ist und es einläßt, der wird den inneren Weisungen folgen und offen danach handeln. Die Gegenwart des Schutzengels wird ihm mehr oder weniger bewußt sein. Er wird ihn als Helfer ansehen, der Tag und Nacht bei ihm ist, der niemals versagt, der ihn immer leitet und lehrt, sich selbst zu schützen. Geist und Herz müssen jedoch empfangsbereit sein, andernfalls kann das Gehirn die Führung und Inspiration nicht wahrnehmen.
Was ist dieser Schutzengel? Man kann ihn einen Dhyāni-Chohan nennen. Unsere eigene, spezielle Fachbezeichnung für ihn ist das Sanskritwort Chitkāra: „Gedankenwirker“. Sie erinnern sich, daß von dem großen griechischen Philosophen Sokrates berichtet wurde, er sei von seinem inneren Daimon, seinem ständigen Begleiter, geführt worden, der ihm – seltsam genug – nie sagte, was er tun sollte, ihn aber stets davor warnte, was er nicht tun sollte. Es wurde berichtet, daß er oft, wenn er sich über den einzuschlagenden Weg nicht sicher war, beiseite ging, die Augen schloß, sich ganz ruhig verhielt und versuchte, seinen Geist von allem bruchstückhaften Gerede und von der Unruhe und Rastlosigkeit fahriger Gedanken zu befreien – mit anderen Worten, das Denkorgan leer und klar zu machen, damit der innere Schutzengel in das materielle Gehirn eindringen konnte. Das war in diesem Falle der Schutzengel.
Nun, was ist dieser Schutzengel? Befindet er sich außerhalb des Menschen? Er ist ein Teil des Geistes im Menschen, er gehört seiner Pneumatologie an; er ist nicht der menschliche Teil, sondern ein Teil seines spirituellen Wesens. Man kann ihn das Höhere Selbst nennen, aber ich bezeichne ihn lieber als das Spirituelle Selbst, weil der Ausdruck „Höheres Selbst“ eine bestimmte enger begrenzte Bedeutung in der Theosophie hat. Die innerste Wesenheit des Menschen, der Schutzengel, das Spirituelle Selbst, ist daher im Vergleich zu dem Menschen aus Fleisch und Blut, dem Gehirnmenschen, wie ein Gott. Verglichen mit seinem menschlichen Wissen, ist sie allwissend; verglichen mit seiner menschlichen Vision, hat sie die Vision der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, die alle drei in Wirklichkeit nur ein ewiges JETZT in der ewigen Gegenwart sind.
Dieser Schutzengel wird stets und unaufhörlich danach streben und trachten, sein eigenwilliges irrendes Kind – den irdischen Menschen – zu leiten. Wenn Sie Ihren Verstand diesem inneren Lehrer öffnen und seinen Weisungen folgen, dann wird Ihr Leben sicher, glücklich und erfolgreich sein. Natürlich müssen wir durch alles hindurch, was Karma uns bringt, d. h. durch alles, was wir in der Vergangenheit geschaffen haben; dies muß sich auswirken. Wenn man seinen Finger in das Feuer hält, wird er verbrannt. Wenn man mit seinem Fuß in eine Maschine gerät, wird er gequetscht. Aber der innere Krieger, der Schutzengel, wird uns, wenn wir ihn erst einmal zum Gefährten gewonnen haben, mit der Zeit daran hindern, den Finger ins Feuer zu halten oder den Fuß dorthin zu setzen, wo er zerquetscht werden kann. Soweit es mich betrifft, ist mein Leben dadurch sechsmal gerettet worden. Ich muß mich nur tadeln, daß ich nicht eher, nicht schon als jüngerer Mensch, den Versuch unternommen habe, diesen wunderbaren Lehrer, diesen göttlichen Funken, dieses Spirituelle Selbst in mir, das wirklich aus dem Stoff der Göttlichkeit geschaffen ist, noch klarer zu erkennen und mir selbst noch bewußter zu machen. Im Vergleich zu mir, ist mein Beschützer ein Engel, ein Gott.
Der einzige Unterschied zwischen dem gewöhnlichen Menschen einerseits und dem Christus- und dem Buddhamenschen andererseits ist der, daß es uns gewöhnlichen Menschen noch nicht gelungen ist, mit dem Schutzengel in uns vollkommen eins zu werden, wie es die Buddhas und die Christusse geworden sind. Buddha oder Christus ist einer, der sich, sein ganzes Wesen, sein Herz, dem Eintritt des innwendigen Schutzengels so öffnete, daß dieser sich tatsächlich in ihm verkörpert hat, so daß der niedere Mensch kaum noch vorhanden ist. Es ist dann der Schutzengel, der mit den Lippen des Fleisches spricht, er ist der Bodhisattva, der innere Christus.
Dieses sind einige der vergessenen Werte im menschlichen Leben, und ich kenne keine größeren Werte als diese beiden: erstens, wir sind eins mit dem Universum, eins mit der Göttlichkeit, untrennbar von ihr. Damit wird es ziemlich unwichtig, was einem widerfährt. Was auch kommen mag, es ist ein Teil des universalen Schicksals. Mut und Hoffnung und Frieden werden uns erfüllen. Der andere vergessene Wert ist der vorhin erwähnte Chitkāra. Lassen Sie diesen Schutzengel in Ihnen lebendig werden und durch Sie sprechen, und das so bald wie möglich. Ich sage das, was ich weiß, nicht nur um vor Not und Gefahr zu bewahren, sondern auch vor Unheil aller Art. Er bringt Frieden und Trost, Glück und Weisheit und Liebe, denn diese sind seine Wesensart. Dieser Dinge bedarf die arme Menschheit heute ganz besonders, denn die meisten Menschen haben den Eindruck, daß all die Not in der Welt ganz zufällig entstanden ist, und daß es keinen Ausweg gibt, außer durch einen glücklichen Zufallstreffer. Das ist natürlich barer Unsinn. Diese Welt ist eine Welt von Gesetz und Ordnung, und wenn wir die Regeln dieser Gesetze und Ordnung brechen, müssen wir leiden.
Wenn doch die Menschen diese einfachen Wahrheiten der universalen Natur erkennen würden! Sie helfen so sehr. Sie geben dem Leben Inhalt und machen es wunderbar sinnvoll. Sie regen uns dazu an unsere Arbeit zu tun, und zwar so, wie es dem Menschen gebührt. Sie bewirken, daß wir unsere Mitmenschen lieben, und das veredelt uns. Wer nur sich selbst liebt, der beschränkt sein Bewußtsein auf einen kleinen Punkt, und es ist keine Weite oder Größe in ihm. Wer hingegen seine Mitmenschen liebt und damit beginnt, alle Dinge zu lieben, ob groß oder klein, dessen Bewußtsein wächst über sich selbst hinaus und fängt an, alles zu umfassen, zu verstehen und aufzunehmen. Es wird schließlich zu universaler Empfindung, zu universaler Sympathie, zu universalem Verständnis. Das ist groß, das ist göttlich!
Stärke durch Übung
Unser Schicksal liegt in unseren eigenen Händen, und wir können uns selbst fördern oder verderben. Kein Gott verbietet, kein Gott zwingt; wir sind Kinder des Göttlichen und daher Teilhaber an der göttlichen Willensfreiheit. Auf unsere eigene, schwache Weise als nur teilweise entwickelte Seelen erarbeiten wir unser Schicksal. So wie wir unser Leben gestalten, so wird unser Leben werden: Gut, schlecht, wohlgestaltet, entstellt, schön oder häßlich. Wir machen es so. Darin liegt kein Fatalismus. Die Natur, die uns umgibt, unterstützt uns nicht nur, sondern sie behindert uns seltsamerweise auch gleichzeitig in gewissem Maß, um uns die Gelegenheit zu geben, unsere Stärke an der Opposition zu üben; das ist der einzige Weg, mehr Kraft zu entwickeln!
Übung bringt Stärke heraus. Wenn die Natur uns keine Gelegenheit gäbe, den Gott in uns zu erproben, dann würden wir niemals wachsen. Daher ist die Natur nicht nur eine sehr schöne, hilfreiche Mutter, sondern auch eine strenge Amme, die mit unendlich mitleidvollem Auge über uns wacht. Und mit ihrem Wirken und mit ihren Reaktionen auf das, was wir tun oder mit unserem Willen verfolgen, drängt sie darauf, daß dieser Wille durch Übung an Stärke zunimmt, daß unser Verständnis durch Anwendung klarer und schärfer wird.
Die Ursachen für das Leid in der Welt und seine Heilung
Was ist heutzutage mit der Welt los? Das Problem ist der verzweifelte Wunsch der Menschen, anderen ihre Meinung aufzuzwingen. Seit dem Untergang des Heidentums war und ist das im Westen ein Grund für Unruhe. Es war der Schandfleck in der Geschichte der christlichen Kirche – ich sage dies mit Ehrfurcht vor den vielen nobel gesinnten Herzen, die in dieser Kirche wirkten und sie durch ihr Leben mit Licht erfüllten. Seit der Zeit des Niedergangs von Rom war der große Fehler der Menschen aller europäischen Länder, natürlich auch der unserer beiden Kontinente, rücksichtslos darauf zu bestehen, daß andere genauso denken müssen wie sie, in der Religion, in der Politik, im Gesellschaftssystem, gleichgültig, worum es sich handelt.
Diese Geisteshaltung schürte die Scheiterhaufen der Märtyrer. Sie ist auch verantwortlich zu machen für die marodierenden Banden, die man schickte und beauftragte, andere Menschen umzubringen. Mit dieser Geisteshaltung wurden Verträge geschlossen, besiegelt und anderen Nationen aufgedrängt. Und heute beunruhigt uns das, man sieht es überall, genauso. Diese Haltung können Sie sogar in friedlichen Ländern beobachten. Sie sehen es zum Beispiel in unseren Gesellschaftsformen. Die Leute in der westlichen Hemisphäre scheinen nicht eher glücklich zu sein, als bis es ihnen mehr oder weniger gelingt, ihren Willen, ihr Denken und ihre Vorstellungen darüber, was richtig ist, anderen aufzuzwingen: So und so sollte die Welt funktionieren, dieses und jenes sollte auf solche Weise getan werden, und vor allem sollten andere Völker nur bestimmte Dinge glauben und für richtig halten. Wenn Sie sich vergegenwärtigen, wie hoch wir selbst das Heiligtum unserer eigenen Herzen schätzen, die Freiheit unseres eigenen Lebens und unser Recht, frei zu denken, dann können Sie leicht erkennen, wie tragisch die Konsequenzen immer sind.
Ich sah dasselbe falsche Verhalten sogar im Denken von Theosophen. Diese schienen zu glauben, alle anderen Theosophen, die ihre theosophischen Meinungen nicht akzeptierten, seien allesamt auf dem falschen Pfad. Das ist eine Wiederholung desselben alten und üblen Wunsches, andere Weggefährten müßten ebenso denken wie sie.
Was Sie auch immer versuchen, Sie können damit niemals vollen Erfolg haben. Sie können die Menschen töten, ihre Körper in Ketten legen, ihren Verstand und ihr Herz quälen und versuchen, sie zu verwirren. Aber die menschliche Seele läßt sich nicht in Ketten legen. Sie wird sich immer befreien. Dann beginnt dieselbe alte Tragödie von neuem. Das ist erschütternd. Das Pathos liegt keinesfalls nur in dem großen menschlichen Leid, das damit verbunden ist. Mindestens ebenso bedauerlich ist, daß die Menschheit freiwillig auf die immensen Schätze verzichtet, die in den Herzen und im Denken anderer Mitmenschen verborgen sind. Bedenken Sie, ob es für einen Menschen etwas Schöneres geben kann, als die Denkprozesse seines Freundes oder seines Mitgefährten zu studieren, ihm dabei zu helfen, sie zu artikulieren und wachsen zu sehen und seinen ganzen Gedankenreichtum zu entfalten. Das ist produktiv. Alles andere zerstört nur. Der eine macht die Schätze fruchtbar, die im menschlichen Denken und Fühlen enthalten sind. Die Folge davon sind Großherzigkeit sowie Friedfertigkeit und Milde im Umgang mit anderen Menschen. Der andere erzeugt Haß, Argwohn, nicht zu bändigenden Unwillen und fördert den Drang, sich von der Sklaverei auferlegter Glaubensüberzeugungen, auferlegter Ideen und Denkformen zu befreien.
Wissen Sie, warum das alles passiert? Einfach deshalb, weil die meisten Menschen unbeseelt sind. Ich meine damit nicht, daß sie keine Seelen besitzen. Aber ihre Seelen sind nicht aktiv, sie arbeiten nicht und sind nicht produktiv. Sie schlummern. Die meisten Menschen leben wie menschliche Tiere. Tatsächlich schlimmer, denn Tiere werden mehr oder weniger durch einen Instinkt geleitet, so daß sie gewissermaßen anderen Tieren gegenüber Respekt zeigen. Aber die Menschen denken mit List und Tücke. Wenn sie das noch unter Einsatz ihres Verstandes tun, dann ist das Ergebnis in jeder Weise religiöse, soziale und politische Tyrannei. Es ist meines Erachtens nach Tyrannei, wenn eine Minorität oder Majorität, ein einzelner oder viele aus einer bestimmten Gruppe versuchen, bestimmte Ideen, Denkformen oder Führungssysteme anderen aufzuzwingen, die dann zustimmen müssen – und das nennen wir „die Freiheit des Okzidents“!
Freiheit! Sie ist eine der segensreichsten Himmelsgaben und eines jener Geschenke, die wir am schlimmsten mißbraucht haben. Denn wir waren der Meinung, daß andere Menschen erst dann Freiheit hätten, wenn sie sich entschließen würden, unsere Überzeugungen, unsere Institutionen und unsere Lebensweise zu übernehmen. Und das Resultat: die Unterdrückung von Millionen blühender menschlicher Seelen, die sonst vielfach Frucht getragen hätten und auf wunderbare Weise ihren Beitrag zur Bereicherung unseres gemeinsamen menschlichen Schatzes geleistet hätten.
Bin ich mit diesen Ideen zu revolutionär? Niemals. Damit würde ich mich nämlich desselben moralischen Verbrechens schuldig machen, das ich gerade verurteilt habe. Ich würde versuchen, meine Anschauung anderen aufzudrängen. Evolutionär? Ja! Ich appelliere an die Herzen und an den Verstand der Menschen, sich stets zu vergegenwärtigen, daß man niemals vollständig glücklich sein, niemals sein Bestes geben und seine Mitmenschen nie anregen kann, dasselbe zu tun, wenn man andere bekämpft. Das hat nie funktioniert und wird es auch in der Zukunft nicht. Dem stehen alle Gesetze der menschlichen Natur entgegen. Es widerspricht allen Gesetzen der höheren und der niedrigeren Psychologie. Es ist jedermanns Pflicht, den Gesetzen seines Landes zu gehorchen. Dabei spielt es keine Rolle, um welches Land es sich handelt und um welche Gesetze. Solange man in dem betreffenden Land lebt, muß man seinen Gesetzen gehorchen. Falls jemand jedoch mit seinem Leben bezeugt, daß er ein besserer Mensch ist, bereit, als Märtyrer für eine gerechte Sache sein Leben zu opfern, dann wird die Welt von seinem Vorbild erfahren, und um eine alte christliche Ausdrucksweise zu gebrauchen, er wird zum „Samenkorn seiner Kirche“; es ist doch eine seltsame Sache mit der menschlichen Psychologie, daß selbst jemand, der elendig sein Leben verliert, damit noch Propaganda machen kann.
Im Leben ist es ein Ausdruck höchster Weisheit, so lehren die Meister der Weisheit, für die Seelen aller Menschen Sympathie zu empfinden. Machen Sie Ihr Leben zu einem Beispiel dessen, was Sie predigen: von Gerechtigkeit, brüderlicher Liebe, Sympathie, Mitgefühl, Mitleid, Erbarmen, Hilfsbereitschaft und von der Unfähigkeit, gegenüber einem anderen Menschen eine unehrenhafte Handlung zu begehen. Andere werden dann Ihrem Beispiel folgen, weil Sie wie ein Leuchtfeuer die dunkle Nacht erhellen.
Dies ist das Ideal; ich werde es mir stets vor Augen halten. Seit meiner Kindheit weiß ich, daß das interessanteste aller menschlichen Dinge, das interessanteste Ereignis in den menschlichen Beziehungen, im täglichen Geben und Nehmen, das Herausarbeiten der inneren Fähigkeiten des anderen ist, die er zu zeigen und auszudrücken versucht. Es ist ein faszinierender Vorgang. Der schnellste Weg, ihn zu beenden und die Entfaltung dieses Vorgangs zu unterbinden, ist der Versuch, dem anderen seine eigenen Ideen aufzunötigen. Sie töten damit tatsächlich etwas wunderbar Schönes. Anstatt einfühlend dabei zu helfen, daß sich diese inneren Fähigkeiten entfalten können, zerstören Sie das Edelste, was das menschliche Leben zu bieten vermag. Es ist ein Verbrechen, so zu handeln. Wenn Sie andererseits dabei helfen, die inneren Qualitäten einer menschlichen Seele zu entfalten, bereichern Sie diese und ebenso sich selbst. Dies ist das Kennzeichen echter Führung. Das bedeutet Führung der Herzen der Menschen: das Beste in anderen hervorzubringen, so daß sie selbst die Schönheit lieben lernen, die so zur Entfaltung kommt und vom Feuer des Enthusiasmus entflammt wird. Anderen Ideen aufzuzwingen, ist Tyrannei.
Wir leben unter einer Herrschaft der Gewalt. Überall werden Menschen gewaltsam unterdrückt. Sie kennen die Auswirkungen von Gewalt im Bereich der Technik; gleichermaßen bewirkt die Unterdrückung des Strebens der menschlichen Seele, das Niederhalten dessen, was eines Tages zum Vorschein kommen muß, Explosionen. Fragen Sie sich deshalb, warum uns die größten Menschen lehrten, die je auf Erden gelebt haben, daß der einzige Weg zu Frieden, Glücklichsein, Wachstum, Wohlstand, Reichtum und all den anderen schönen Dingen des Lebens darin besteht, gegenseitige Liebe und Gerechtigkeit zu praktizieren? Die Seelen der Menschen hungern nach Liebe und Sympathie. Fügen Sie anderen nichts zu, was Sie nicht wollen, daß man es Ihnen zufügt – diese negative Formulierung ist die klügere. Anderen das anzutun, von dem Sie wünschen, daß man es auch Ihnen antut – „Menschenseelen zu retten“ –, ist eine Regel, die nur die Ausübung von Dummheit und Fanatismus zuläßt.
Behandeln Sie andere – formulieren Sie es positiv, wenn Sie mögen –, behandeln Sie andere, wie Sie selbst von anderen behandelt werden möchten und sie werden nach und nach sehen, wie sich als Folge davon deren und Ihre Ideale zu voller Blüte entfalten. Wem das gelingt, der ist wahrlich seelenvoll. In ihm überwiegen die Qualitäten der Seele. Er liebt, weil Liebe etwas Wunderbares ist. Wer das Leben seiner Mitmenschen reicher macht, bereichert sein eigenes Leben. Er behandelt die anderen Menschen voller Edelmut und läßt ihnen den Vortritt. Das ist nicht nur ritterlich, sondern es läßt auch die eigene Kraft und Stärke wachsen, weil es Willenskraft erfordert, dies beständig zu tun. Das ist ein Prozeß, sich selbst immer mehr zu beseelen. Die größten Menschen auf der Welt waren die in diesem Sinne am meisten beseelten. Ihre Herzen empfanden die umfassendste Liebe. Ihr Verstand arbeitete am schärfsten, am lebendigsten, am stärksten und am aufrichtigsten. Ihr ethisches Empfinden war am subtilsten, am lebhaftesten und am beständigsten. Sie waren diejenigen, denen es niemals in den Sinn kam, ihren Willen anderen aufzuzwingen, sondern anderen dabei behilflich zu sein, die Schönheit ihrer eigenen Seele zum Ausdruck zu bringen.
Überwachen Sie Ihre Denkprozesse
Beim Überwachen meiner Denkprozesse stellte ich fest, daß ich sehr oft davor bewahrt wurde, eine falsche Schlußfolgerung zu ziehen, wenn ich diese Schlußfolgerung so lange nicht als endgültig akzeptierte, bis ich sie nicht gründlich überprüft hatte. Dies ist eine exzellente Regel, die wir alle befolgen sollten. Ich entdeckte außerdem, daß ich allein der Leidtragende bin, wenn ich zaghaft oder lässig an eine Sache herangehe und vor einem schwierigen Problem oder einem komplizierten Gedankengang zurückschrecke. Ich bin der Verlierer. So lernte ich denken und zu versuchen, klar zu denken, mich davor zu fürchten, unbedachte Gedanken zu haben und ich lernte immer danach zu trachten, daß die Gedanken, die durch meinen Verstand als ein Instrument des Erkennens ziehen, hoher Natur sein sollen; nicht einem vorschnellen Urteil nachzugeben, nicht von emotionalen, vulkanischen Ausbrüchen abgelenkt zu werden, oder, was meiner Ansicht nach schlimmer ist, dazu verleitet zu werden, andere ungerecht zu beurteilen. Das ist eine Übung, die die Hindus Yoga nennen würden. Es ist eine Übung, die ich jedem empfehle, der sich verbessern möchte. Überwachen Sie Ihre Gedanken! Überwachen Sie diese Prozesse, während Sie die Gedanken denken! Weisen Sie die Gedanken zurück, die Sie nicht lieben! Aber sind Sie sorgfältig damit, damit Sie nicht einer Göttlichkeit, die an die Pforte Ihres Herzens klopft, den Eintritt verweigern, wenn Sie zunächst zu blind sind, um ihren göttlichen Charakter zu erkennen!