I – Die ursprüngliche Weisheitslehre

Die Weitergabe des Lichts

Es gibt nur einen Okkultismus, eine Wahrheit. Die Quelle der Weisheit ist auf dieser Erde die Bruderschaft der Adepten, das spirituelle Herz der Welt, aus dem ein unaufhörlicher Strom der Inspiration und Erleuchtung fließt. Sie ist der eine höchste Ursprung, aus dem sich alle Facetten der Wahrheit ableiten, die in den religiösen und philosophischen Systemen der Welt enthalten sind. Von dorther kommen nicht nur von Zeit zu Zeit die großen Weisen und Lehrer als Führer und Erzieher der Menschen, sondern auch Botschafter oder Boten, die, erkannt oder unerkannt, für das Wohl der Menschheit in der Welt wirken.

Diese Quelle der Weisheit wird von den edelsten spirituellen und intellektuellen Titanen gebildet, welche die Menschheit je hervorgebracht hat – Menschen, die mit dem inneren Gott eins geworden sind. Sie kennen sich gegenseitig, verbünden sich und bilden so die große Schule des Lichts und der Wahrheit, die große Bruderschaft. In den verschiedenen Zeitaltern wurden die Höheren unter ihnen mit unterschiedlichen Namen bezeichnet. In den buddhistischen Ländern sind sie als Dhyāni-Chohans bekannt; die alten Perser nannten die Mitglieder dieser solaren Hierarchie Amshaspends. Jüdische Mystiker und Kabbalisten sprachen von ihnen als Bnēi ’Elohīm, Söhne der Götter; und in anderen Ländern, wie im alten Ägypten, wurden sie Söhne des Lichts oder Söhne der Sonne genannt.

Unzählige Schulen des Okkultismus, die alle ihren Ursprung in der Mutter­schule hatten, haben in der Vergangenheit existiert, existieren gegenwärtig und werden in der Zukunft existieren. Die Mysterien Griechenlands und auch die persischen und ägyptischen Mysterien waren solche Schulen. Die einst in den beiden Amerika praktizierten Mysterien (wie die der Peru­aner und Mayas) waren ebenfalls Schulen mit der gleichen heiligen Tradition. Sowohl der Lamaismus in Tibet als auch der Vedānta Hindustans sind im Grunde Schulen des Okkultismus, obwohl sie auch exoterische Philosophiesysteme sind. Die Rosenkreuzer des Mittelalters waren ursprünglich eine mystisch-theosophische und quasi-esoterische Körperschaft. Auch die Martinisten Frankreichs, die sogar heute noch existieren, bilden eine der „okkultis­tischen“ Schulen. Daneben gibt es in Indien, in Kleinasien oder in Europa noch die sogenannten alchimistischen Körperschaften, deren Anhänger mehr nach Kräften oder Phänomenen streben.

Es gibt im Orient außerdem noch eine Anzahl größerer und kleinerer quasi-okkulter Gruppen, die auf ihre Weise die verschiedenen spärlichen Reste der mystischen Literatur studieren, die jene Länder in vergangenen Epochen hervorbrachten. In Persien, Ägypten, Syrien und in Teilen der Türkei existieren ähnliche, oft sich selbst sehr abschottende Gruppen, von denen man gewöhnlich nichts erfährt.

Jede derartige Vereinigung leistet in dem jeweiligen Land und Zeitalter auf ihre Weise eine gewisse wertvolle Arbeit, je nachdem, wie viel von der alten Weisheit ihre Lehren enthalten. Die von ihnen dargebotene Wahrheit wird jedoch allzuoft durch das verzerrende mentale Prisma jener gesehen, die sich von der Quelle entfernt haben. Als Schulen des Okkultismus können sie aber nur dann zu Recht bezeichnet werden, wenn sie die Herrlichkeit der großartigen Lehren, die sie ursprünglich von der Mutter­schule empfingen, getreulich weiterreichen. Es muss noch hinzugefügt werden, dass in der Welt gegenwärtig auf jedem großen Kontinent einige wenige, ja, nur ganz wenige echte esoterische Schulen mit der Bruderschaft verbunden sind.

Einige intuitive Gelehrte haben vermutet, dass die archaischen Mysterien­schulen im Besitz esoterischer Lehren waren. Diese wurden jedoch bis jetzt noch nie in zusammenhängender Form gefunden. In den verschiedenen Schriften des Altertums finden wir eine Andeutung hier, eine Bezugnahme dort, aber eine begründete und zusammenhängende Darstellung solcher Lehren, die etwas aussagen, gibt es nur an Orten, zu welchen bisher kein unein­geweihter Forscher bewusst vorgedrungen ist.

Zur Aufzeichnung der tieferen Wahrheiten für spätere Generationen verwendeten die alten Weisen und Seher Metaphern und Sprachbilder, oft in Form phantastischer und seltsamer Geschichten: Legenden, Märchen­erzählungen, mythologische Abenteuergeschichten. Platon zum Beispiel gab mit Hilfe von Mythen manchen versteckten Hinweis auf Dinge, die in den Mysterien gelehrt wurden. Da er wusste, was er tat, und dazu eine Erlaubnis erhalten hatte und den Mantel der Metapher verwendete, bedeutete dies keine Verletzung seines Eides, weder dem Buchstaben noch dem Geiste nach.

Tatsächlich ermöglichte die Anwendung esoterischer Ausdrücke in dieser Weise den großen Lehrern der Vergangenheit, sich gegenseitig Briefe zu schreiben, ihre Bücher zusammenzustellen und diese von Hand zu Hand weiter­zureichen. Die Eingeweihten konnten das, was sie lasen, verstehen – für sie war es verständlich und klar, aber für jemanden, der nicht innerhalb der „Tempelmauern“ empfangen worden war, waren die Lehren lediglich spekulative Philosophie oder vielleicht sinnloses Kauderwelsch.

Seit die Mysterien in den späten lemurischen und atlantischen Zeiten erstmals unter den Menschen eingeführt wurden, sind diese Weisheits­lehren in direkter Folge von einem Weisen zum anderen weitergereicht worden. Dieser Schritt war lebensnotwendig geworden, weil die Menschheit die Fähigkeit der direkten und bewussten Verbindung mit ihren göttlichen Vorfahren verloren hatte. Die Menschen wurden daher gelehrt, die Seele durch Willensanstrengung, verbunden mit intensivem Höherstreben, zu erheben, damit sie in direkte spirituelle und intellektuelle Verbindung mit ihrem eigenen inneren Gott oder mit einer anderen Gottheit gebracht werden konnten. Auf diese Weise sind die edelsten Wahrheiten über den Menschen und das Universum ursprünglich erkannt und später „gesungen“ worden (um den Ausdruck des Veda zu gebrauchen), das heißt: in menschlicher Sprache formuliert worden.

Aus welchem Grund wurde fast in der gesamten alten Literatur die spirituelle Lehre in die Form der Handlung auf einem Schlachtfeld gekleidet? Die Bhagavad-Gītā zum Beispiel berichtet vom Konflikt zwischen den geg­nerischen Armeen der Kurus und Pāṇḍavas. ln den germanischen und skandinavischen Mythologien findet ein ständiger Kampf zwischen Göttern und Helden statt, ebenso in den griechischen, ägyptischen, persischen und babylonischen Mythologien – alle sind sich in dieser Hinsicht gleich.

Die Frage ist leicht zu beantworten: Kleinen Kindern gibt man Märchenbücher; jenen, die nicht verstehen können, welchen Sinn der Friede und die Ruhe und die enorme Stärke haben, die in diesen Märchen beschrieben sind, erzählt man von Schlachten und Kämpfen, weil es dort immer einen Sieger und einen Besiegten gibt. Daher wurden in den alten Schriften geheime mystische Wahrheiten in epischer Form niedergeschrieben, um der geistigen Einstellung jener Epochen zu entsprechen. Hinter alledem standen jedoch die esoterischen Schulen1, die die Wahrheit und das Mitleid direkter lehrten, wie Laotse in China sagte: „Der Weg des Tao ist, sich nicht zu mühen.“ Das ist das Gegenteil von Quietismus, denn Quietismus ist normalerweise spirituelle Betäubung, wohingegen die gesamte Anstrengung darauf gerichtet sein sollte, in unserem Leben und mit jeder Faser unseres Wesens eine aktive Einstellung des Mitleids für die gesamte Menschheit zum Ausdruck zu bringen.

So wie aus den ursprünglich esoterischen Körperschaften die großen religi­ösen und philosophischen Schulen der Vergangenheit entstanden, genauso sollte die gegenwärtige theosophische Bewegung die spirituell-intellektuelle Pflanzschule sein, aus der die großen philosophischen, religiösen und wissenschaftlichen Systeme zukünftiger Epochen geboren werden – das Herz der Zivilisationen der kommenden Zyklen.

In jedem bedeutenden Zeitalter sind theosophische Bewegungen in verschiedenen Gegenden des Globus gebildet worden. Einige wenige hatten Erfolg; die meisten existierten eine Zeitlang, taten viel Gutes, erfüllten einen bestimmten Teil der Arbeit, die ausgeführt werden sollte, und scheiterten dann, wurden zu einer Kirche, zu einer Sekte, zu einer Reihe dogmatischer Glaubenssätze. Solche periodischen Anstrengungen, die zeitlosen Wahr­heiten in die Herzen der Menschen einzupflanzen, werden sich in alle Zukunft fortsetzen, bis sich die Menschen so weit entwickelt haben, dass sie das Licht, wenn es erscheint, willkommen heißen und es als ihre köstlichste Gabe schätzen werden.

So kam es, dass im Jahre 1875 zwei Menschen mit buddhagleicher Seele die Herausforderung annahmen, in gewissem Sinne selbst die Verantwortung für die Aussendung einer neuen Botschaft zu übernehmen, die durch die Macht der ihr innewohnenden Stärke und durch die überzeugende Kraft der Wahrheit die Menschen zum Denken anregen sollte. Von da an wurde die Wissenschaft durch neue Ideen bewegt; frische Impulse wurden in die Gedankenatmosphäre der Welt eingeflößt, und nicht zuletzt bekam das Ideal, für eine zukünftige universale Bruderschaft unter allen Völkern zu arbeiten, festen Halt. Das Hauptziel war: Diese alten spirituellen Prinzipien sollten in den religiösen und philosophischen Schichten und schließlich in der sozialen Struktur selbst wie Sauerteig im menschlichen Denken wirken. H. P. Blavatsky wurde zur Niederschrift ihrer Meisterwerke Isis entschleiert und Die Geheimlehre in­spi­riert – nicht mit dem Ziel, eine weitere Religion zu gründen, sondern um wieder einmal und in größerem Umfang die archaische Weisheitstradition der Menschheit in ihren esoterischeren Aspekten darzustellen. Somit war sie eines der Glieder in der Reihenfolge von Lehrern, die zu bestimmten festgesetzten Perioden zur Weitergabe esoterischen Lichts und esoterischer Wahrheit auftreten. Sie kam zu Beginn eines neuen messianischen Zyklus und am Ende eines alten und war daher Botschafterin für das kommende Zeitalter.

Die erwähnte Abfolge von Lehrern, in der einer dem anderen nachfolgt, findet seit unzähligen Jahrhunderten statt. Daran ist nichts Erstaunliches; es ist lediglich die Illustration für eines der Naturgesetze: So wie Generation auf Generation folgt und wie im evolutionären Plan eine Art nach der anderen Art erscheint, genauso gibt es auch hier eine Kette von weisen Menschen, die den Strom der Wahrheit durch die Zeitalter fortsetzt. In Sanskrit-Schriften wird diese Kette Guruparamparā genannt; dort werden zwei Erscheinungsformen unterschieden: erstens jene Weisen, einer erhabener als der andere, sozusagen von zunehmend größerer Weisheit und größerem spirituellen Rang; und zweitens jene, die einander zeitlich in einer ununterbrochenen Kette in der äußeren Welt der Menschen folgen.

Das gleiche Muster war auch den griechischen Dichtern und Philosophen bekannt, Homer und Hesiod sprachen beide von der Goldenen Kette, die Olymp und Erde verbindet, und spätere griechische mystische Schriftsteller sprachen von ihr als der Hermetischen Kette. Die Fackel des Lichts ist immer von Hand zu Hand weitergegeben worden und wird immer weitergegeben werden – solange der Ruf aus den Herzen der Menschen erschallt. Wenn dieser Ruf stirbt, bleibt zwar die Kette der Nachfolger intakt, aber die Lehrer arbeiten dann nicht mehr öffentlich.

Die Wächter der Menschheit – man nenne sie, wie man will: Meister, Mahatmas, Adepten oder ältere Brüder der Rasse – arbeiten, wo immer sie die kleinste Gelegenheit sehen, Gutes zu tun und die spirituelle Natur ihrer Mitmenschen zu fördern. Offensichtlich wird jede Gesellschaft oder Gruppe von Menschen oder jedes Individuum, das einem edlen Pfad im Leben zu folgen versucht, ihre Hilfe empfangen, wenn sie ihrer würdig sind. Würdigkeit ist der Prüfstein, der einzige Prüfstein. Wo immer der richtige Ruf erfolgt, wird er beantwortet. Aber jeder Ruf, der nur dem Eigenwohl dient, ist ganz bestimmt nicht der „richtige Ruf“. Der einzige von ihnen anerkannte Ruf ist der, welcher von jenen ausgeht, deren Herzen nach Licht streben, deren Geist Weisheit sucht und deren Seele von Mitleid erfüllt ist. Außerdem darf der Ruf nur zu dem Zweck erfolgen, diese Weisheit und das Licht, so wie sie empfangen werden, auf dem Altar des Dienstes für die Menschheit niederzulegen. Es gibt keine einzige ernsthafte Gefühlsregung, die unbeantwortet bleibt, keine einzige seelische Bestrebung, helfen zu wollen, die nicht gewissenhaft registriert wird.

Von dieser Art ist die Bruderschaft der Adepten, der Wächter und Hüter der ursprünglichen Weisheit. Ihre Mitglieder sind eidlich gebunden, sie im Geheimen und in der Stille zu bewahren, bis jemand an den Toren richtig anklopft. Sie selbst empfangen wiederum Licht von anderen, die höher stehen als sie; und so, immer weiter, wird diese theosophia – die Weisheit der Götter – entlang der Goldenen Kette Merkurs, des Erklärers, an die Menschen weiter­gegeben.

Spirituelle Erleuchtung wider psychische Illusion

Spirituelle und astrale Kräfte sind ständig am Werk, und das waren sie seit den frühesten Epochen der Erde. In der menschlichen Geschichte kommen jedoch bestimmte Zeiten, in denen die Tore zwischen unserer physischen Welt und den inneren Reichen teilweise geöffnet sind, sodass der Mensch für diese feinen Einflüsse empfänglicher wird. Wir verlassen gerade eine Ära materialistischen Lebens und Denkens und betreten eine spirituellere. Gleichzeitig ist die Welt voller Anzeichen, dass psychische Einflüsse überhandnehmen, und diese sind immer trügerisch, immer gefährlich, weil die astralen Reiche zu einem niederen Bereich der materiellen Existenz gehören und mit üblen mensch­lichen und anderen Emanationen angefüllt sind.

Das gilt natürlich auch für die gegenwärtige Periode, in der die spirituellen und astralen Energien zwar nicht besonders angeregt werden, in der wir aber am Kreuzungspunkt zweier großer Zyklen stehen, am Ende des einen Zyklus und am Beginn eines anderen. In Übereinstimmung mit diesem Übergang zyklischer Perioden ändert sich das Bewusstsein der Menschen schnell, es wird psychisch sensitiver. Darin liegt eine große Gefahr, aber auch eine größere Gelegenheit zu schnellerem Fortschritt, sofern das menschliche Bewusstsein auf höhere Dinge gerichtet wird, denn diese beschleunigte Veränderung wirkt besonders stark auf spirituelle Kräfte.

Das ist nichts Einmaliges; es geschah auch in der Vergangenheit. Eine ungeheure Anstrengung wurde zur Zeit des Niederganges der atlantischen Rasse unternommen – eine Anstrengung, deren Höhepunkt die Errichtung von Mysterienschulen war, die noch lange Zeitalter danach in den verschiedenen mystischen, religiösen und philosophischen Zentren der alten Welt ihren Ausdruck fanden. Wenn wir die heiligen Schriften der Welt prüfen, dann entdecken wir, dass die ältesten das größte Maß an archaischen esoterischen Lehren enthalten. Der Grund dafür liegt darin, dass von der Zeit des Untergangs der letzten Insel des atlantischen Kontinentalsystems an – der nach der Aufzeichnung Platons ungefähr 9000 Jahre vor seiner Zeit stattgefunden hat – der Materialismus in der Welt ständig zunahm und damit in gleichem Ausmaß eine stetige Abnahme spiritueller Impulse einherging. Dieser Zyklus ist jedoch, wie gesagt, kürzlich abgelaufen. Der Zyklus, den wir nun beginnen, ist sehr ungewöhnlich, weil er nicht zu der sogenannten messianischen Ära zählt, die 2160 Jahre dauert, sondern eine Zeitspanne von etwa zehn- bis zwölftausend Jahren umfasst.

Große Ereignisse bereiten sich vor, denn die gesamte zivilisierte Welt nähert sich einem kritischen Punkt ihrer Geschichte. Es ist buchstäblich ein Kampf zwischen den Kräften des Lichts und den Kräften der Finsternis im Gange und es steht auf des Messers Schneide, auf welche Seite der Scheidelinie zwischen spiritueller Sicherheit und spirituellem Rückschritt sich die Waagschalen des Schicksals neigen werden.

In einem kurz vor ihrem Tod geschriebenen Brief warnte H. P. Blavatsky:

Das Psychische mit all seinen Verlockungen und Gefahren entwickelt sich notwendigerweise unter Ihnen, und Sie müssen sich davor hüten, dass die psychische nicht der manasischen und der spirituellen Entwicklung voraus­eilt. Vollkommen unter Kontrolle gehaltene psychische Fähigkeiten, die vom Manas-Prinzip überprüft und geleitet werden, sind wertvolle Hilfen in der Entwicklung. Wenn aber diese Fähigkeiten wild wuchern und die Herrschaft übernehmen, statt kontrolliert zu werden, und wenn sie uns benützen, statt benützt zu werden, dann führen sie den Schüler in die gefährlichste Verblendung und in den sicheren moralischen Untergang. Beobachten Sie deshalb diese in Ihrer Rasse und Evolutionsperiode unvermeidliche Entwicklung sorgfältig, damit sie sich schließlich zum Guten und nicht zum Üblen auswirken möge.2

Unglücklicherweise, wie es immer der Fall ist in einem Zeitalter, das den Kontakt zum Spirituellen verloren hat, streben die Menschen heute nach Kräften, nach der Entwicklung der vermuteten, aber selten allgemein anerkannten höheren Fähigkeiten; und in ihrer Blindheit suchen sie außerhalb ihrer selbst. Ihre Herzen hungern nach Antworten auf die Lebensrätsel und deshalb holen sie sich so viel wie möglich von sich selbst anpreisenden Lehrern, die dafür werben, wie man psychische Kräfte erlangen und anwenden könne; und diese „Lehren“ sind stets mit dem Köder persönlichen Nutzens verbunden. Es ist schwer, über diese Dinge zu sprechen, ohne viele vertrauensvolle Seelen zu verletzen, die, da sie die Wahrheit nicht kennen, Dingen folgen, die ihnen als Anzeichen eines erfolgreicheren Lebens, als sie es haben, erscheinen. Das ist der Grund für die vielen sogenannten psychischen und quasi-mystischen Bewegungen3, die gegenwärtig existieren und in vielen Fällen die Menschen von dem Licht, das ihrem eigenen inneren Gott entströmt, wegführen, anstatt zu ihm hin. Wir müssen in diesen Dingen immer wachsam sein. Die Wellen des Astrallichts sind äußerst unzuverlässig, und Tausende und Abertausende folgen den Irrlichtern des psychischen Lichts statt dem stetig leuchtenden Glanz der Gottheit im Inneren.

Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass der Westen durch psychische Lehren, die an sich nichts Dauerhaftes aufweisen, in die Irre geführt wird. Die Anwender dieser Praktiken sind in neunundneunzig von hundert Fällen Menschen mit einer spirituell und psychisch ungeschulten Charakterveranlagung. Sie werden daher leicht von den psychischen Māyās gefesselt. Das bedeutet nicht, dass solche Fähigkeiten und Kräfte böse oder unnatürliche Bestandteile der menschlichen Konstitution sind, und auch nicht, dass sie nutzlos sind. Gemeint ist vielmehr, dass sie sehr gefährlich sind für jemand, der nicht die spirituelle Vision, die intellektuelle Kraft und den spirituellen Willen besitzt, um die psychische Natur, der diese Eigenschaften angehören, zu lenken und zu kontrollieren.

Gefährlich sind auch die Hatha-Yoga-Praktiken von psycho-astraler Art, die gewöhnlich mit Körperhaltungen verbunden sind, denen sich bestimmte Menschen unterziehen, indem sie versuchen, für sich selbst Kräfte niederer Art zu gewinnen. Diese Praktiken können nicht nur das Bewusstsein beeinflussen und es sogar von seinem normalen Platz verdrängen und dadurch Wahnsinn hervorrufen, sie können auch die normalen prāṇischen Kreisläufe des Körpers störend beeinflussen. Religiöse Fanatiker werden oftmals wahnsinnig, und in bestimmten sensitiven Zuständen werden die sogenannten Entrückten von den Unwissenden sogar als Vorbilder heiligen Lebens angesehen, nur weil vielleicht ihre Haut blutet und ihre Hände oder Füße Wundmale zeigen, von denen man annimmt, sie repräsentierten die Nägel des Kreuzes. Dasselbe kann von den Fakiren und einer niederen Art orientalischer Yogis gesagt werden. Es können Wirkungen erzeugt werden, die das Bewusstsein, die Gesundheit und auch das Leben selbst bedrohen. In all diesen Praktiken ist nicht ein Hauch von Spiritualität enthalten.

Wer den Pfad in der Hoffnung betritt, Kräfte irgendeiner Art zu erlangen, und sie als etwas von allergrößter Bedeutung ansieht, ist zum Misserfolg verurteilt. Er begibt sich auf einen sehr gefährlichen und fragwürdigen Weg, der schlimmstenfalls zu Zauberei und schwarzer Magie führt und ihm bestenfalls enttäuschende hohle Nüsse einbringt. Die spirituellen, intellektuellen oder psychischen Kräfte als solche werden sich zur rechten Zeit und in einer vollkommen natürlichen Weise im Laufe unseres Fortschritts entwickeln, voraus­gesetzt, dass wir den unbeugsamen Entschluss gefasst haben, ans Ziel zu gelangen, und vor allem, dass unser Herz stets von mitleidsvoller Liebe erhellt und erfüllt ist, von einer Liebe, die schon jetzt ein charakteristisches Kenn­zeichen der spirituellen Seele im Inneren ist.

Es liegt eine ungeheure Hoffnung und spirituelle Schönheit in den Lehren der esoterischen Tradition. Sie zeigen den Weg, auf dem wir evolvieren können, aber es hängt von dem Einzelnen ab, ob er an dem Strahl, der in ihm lebt und wirkt, aufsteigt oder nicht. Es ist zwar richtig, dass ein volles Verständnis der tieferen Bereiche der Philosophie hohe intellektuelle Kraft und spirituellen Weitblick erfordert; oft sind es aber sehr einfache Menschen, die ein großes Licht erkennen, denn das Licht scheint überall. Wir brauchen nur die geschlossenen Tore unserer Persönlichkeit zu öffnen und das Licht wird von allein hereinkommen; und wir werden dann instinktiv die verborgensten Geheimnisse der Natur erkennen.

Jesus, der Avatāra, im Westen so wenig verstanden, lehrte die gleichen Wahrheiten: Suchet zuerst die Schätze des Geistes, des Königreichs des Himmels, und alle anderen Dinge werden hinzugefügt, all die psychischen Kräfte, Energien und Fähigkeiten werden auf natürliche und sichere Weise sich einfinden, erhellt und geleitet durch die spirituelle Sonne im Inneren.

Was sind nun diese Schätze des Geistes? Nichts anderes, als jene spirituellen und intellektuellen Fähigkeiten und Energien, die uns im Denken und Handeln gottgleich machen: Willenskraft, Vision, Intuition, unmittelbare Sympathie mit allem Lebenden. Es gibt keinen Grund, weshalb wir Menschen nicht sofort mit der Nutzung unseres Erbes beginnen sollten. Alle Kräfte und Qualitäten und Eigenschaften liegen in uns, selbst jetzt, aber sie sind zum größten Teil latent, weil wir noch nicht gelernt haben, sie hervorzubringen. In Wirklichkeit sind wir es selbst, mit unserem gewöhnlichen niederen Bewusstsein und unseren Gefühlen, die „schlafen“, wohingegen unsere höhere Natur nicht im mindesten schläft, sondern intensiv aktiv ist.

Wenn zum Beispiel in einem Menschen der spirituelle Wille erweckt und aktiv ist, dann gewinnt dieser Mensch Macht über sich selbst, sodass er unter absoluter Selbstkontrolle steht, und sogar die Bewohner der astralen Welten können ihn in keiner Weise beherrschen. Der tätige Wille ist ein Energiestrom, das heißt, ein substanzieller Strom, genauso wie die Elektrizität Energie und Materie ist. Hinter dem Willen steht der Wunsch. Wenn der Wunsch rein ist, ist der Wille rein. Wenn der Wunsch böse ist, ist der Wille böse. Hinter dem Verlangen liegt das Bewusstsein. Deshalb entsteht durch das Verlangen der Wille im Bewusstsein. Wir wünschen etwas und sofort erweckt der Wille Intelligenz, die dann diesen Willen leitet, und wir handeln – oder enthalten uns der Handlung, was manchmal noch besser ist.

Es gibt ein göttliches Verlangen4, das im Menschen spirituelles Streben genannt wird; davon gibt es auch die materielle Reflexion. Wie viele von uns lassen es zu, dass ihr Wille von den egoistischen und selbstischen Impulsen des niedrigeren Aspekts unserer Wunschnatur, dem Kāma-Prinzip, geleitet wird! Da der menschliche Wille in Buddhi-Manas wurzelt, sollten aber konsequenterweise die Intuition und das höhere manasische Prinzip unseren menschlichen Willen zu den edleren Taten anleiten, denn es gehört zu unserer Aufgabe, diese auszuführen: Taten der Bruderschaft und der unpersönlichen Dienstleistung; das ist die wirkliche Natur und Eigenschaft des spirituellen Ego, des buddhi-manasischen Prinzips im Menschen.

Intuition bringt sich als sofortige Vision, als sofortiges Wissen zum Ausdruck. Es besteht aber ein großer Unterschied zwischen Weisheit und Wissen. Weisheit kann als das Wissen des höheren Ego, der spirituellen Seele, bezeichnet werden und Wissen als die Weisheit der Persönlichkeit. In beiden Fällen ist es die Einlagerung des Gelernten und Wiedervergessenen in die Schatzkammer der Erfahrungen – ein Speicher, der nicht aus einer großen oder kleinen Kammer besteht, sondern der wir selbst sind. Jede Erfahrung ist eine Modifikation des verstehenden Selbst; und der Speicher der Erinnerung ist mit den Aufzeichnungen aus langen Zeiträumen angefüllt, genauso wie die Persönlichkeit von der karmischen Aufzeichnung aller vorhergehenden Persönlichkeiten geprägt und geformt ist, die sie erzeugt haben. Weisheit, Wissen und innere Kraft sind Fähigkeiten des Geistes. Sie sind die Früchte der evolutionären Entfaltung der inhärenten Kraft der Geist-Seele. Intuition an sich ist spirituelle Weisheit und erworbenes Wissen, das in vergangenen Leben im Schatzhaus der Geist-Seele gesammelt wurde. Andererseits kann Instinkt als der passive Aspekt der Intuition bezeichnet werden. Die Intuition selbst ist die tatkräftige, die Willensseite, der wache und aktive Aspekt. Instinkt kommt in allen Wesen der Natur zum Ausdruck: Die Atome bewegen sich und singen vermöge des Instinkts, wie es auch der Mensch unter Anwendung seines Bewusstseins und seines Willens tun kann; aber der Gesang und die Bewegung der Intuition sind unvergleichlich erhabener als der Gesang und die Bewegung des Instinkts. Beide sind Funktionen des Bewusstseins, die eine ist vegetativ, automatisch, die andere tatkräftig und wach.

Der Geist ist alldurchdringend, überall lebendig und sich bewegend, denn er ist universal. Spirituelles Hellsehen, wovon das psychische Hellsehen nur ein tanzender Schatten ist, befähigt den Menschen, hinter alle Schleier der Illusion zu sehen, zu erfahren, was auf jedem noch so weit entfernten Stern in den Gefilden des Raumes vor sich geht. Es ist die Kraft, die Wahrheit der Dinge auf einen Blick zu erfassen, die Herzen der Menschen zu erkennen und ihr Denken zu verstehen. Es ist die Fähigkeit, mit dem inneren Auge zu sehen. Es ist nicht so sehr ein Sehen von Formen als ein Erlangen von Wissen, und weil dieser Wissenszuwachs auf eine Art erfolgt, die dem Sehen mit dem physischen Auge fast gleicht, nennt man es direkte Vision.

So ist es auch beim spirituellen Hellhören. Es ist keine Hörfähigkeit des physischen Ohres (oder des Sehens, denn manchmal werden Töne gesehen und Farben gehört, da eine Wechselbeziehung zwischen den Sinnen besteht), sondern das Hören mit dem geistigen Ohr. Die Töne, die mit dem geistigen Ohr vernommen werden, werden in der Stille gehört, wenn alle Sinne schweigen. Solches spirituelles Hellhören befähigt den Menschen dazu, die Bewegungen der Atome zu hören, während sie ihre individuellen Hymnen singen; das Wachsen des Grases zu hören, das Entfalten der Rose – alles wie eine Symphonie zu hören.

Sokrates pflegte zu seinen Mitmenschen zu sagen, dass sein Daimónion, sein innerer Mahner, ihm nie sage, was er tun solle, sondern immer, was er nicht tun solle.5 Dieses Daimónion war die „Stimme“ des höheren Ego, die bei hervorragenden Menschen oft eine sehr starke Energie aufweist – und bei einigen übersensiblen Naturen kann sie wie eine „Stimme“ gehört werden. Es ist keine wirkliche Stimme (obwohl sie manchmal dem physischen Gehirn als solche erscheint), es ist vielmehr ein innerer Drang, der sich möglicherweise auch in Form von Lichtblitzen und innerer Vision manifestiert.

Wir können weder uns selbst noch andere verstehen, ehe wir nicht das verstehende Herz entwickelt haben. Der Schlüssel ist Sympathie, und der Weg besteht in der Betrachtung des göttlichen Wesens im Inneren. Wenn wir danach streben, ihm in jedem Augenblick unseres Lebens in höherem Maße gleich zu werden, wird das Licht kommen und wir werden die Wahrheit erkennen, wo wir sie finden. Wir werden mitleidsvoll und stark werden – Eigenschaften, die die wahren Insignien des selbsterleuchteten Menschen sind. Die erste Lektion ist also, das Licht unseres eigenen inneren Gottes zu suchen und ihm allein zu vertrauen. Wenn wir diesem Licht folgen und von seinen gewaltigen und lebenspendenden Strahlen erwärmt werden, dann werden wir das gleiche Gotteslicht in anderen sehen.

Wenn wir zur ursprünglichen Quelle gehen, finden wir das klarste Wasser, warum sollten wir also von dem schmutzigen Wasser Hunderte von Kilometern vom Ursprung entfernt trinken? Wenn ein Mensch sich selbst und die wunderbaren Kräfte und Fähigkeiten, die sein eigen sind, kennenlernen möchte, dann möge er sich selbst überall im Universum erkennen und jenes Universum studieren, als wäre er es selbst. Ein Epigramm? Vielleicht; aber ein wirklicher Meisterschlüssel zur Weisheit, der nicht nur die Essenz jeder Initiation enthält, sondern die Essenz allen künftigen Wachstums.

Der stille, schmale Pfad

Alle exoterischen Schulen lehrten als Hauptgrundlage ihrer Existenz: „Mensch, erkenne dich selbst!“ Das war schon immer so, und der Schlüssel dazu liegt in vielen Dingen. Er liegt im Studium der Leiden, die die komplexe Persönlichkeit durchmachen muss, bevor ihr verschlungenes Labyrinth der Selbstsucht überwunden ist; und er liegt auch auf einer mehr exo­terischen Ebene, im sorgfältigen Studium der erhabenen Schriften ver­gangener Zeit­alter: in der Verstandesarbeit, in der Herzensarbeit, in der Arbeit der Seele und in der Arbeit der Seher und Weisen aller Zeiten. Den wichtigsten Schlüssel von allem findet man aber im Bemühen um Liebe für andere, im äußersten Vergessen des eigenen Ich. Darin liegt das Mysterium der Buddhaschaft, das Geheimnis der Sendung Christi: sich selbst vergessen, aufgehen in allumfassender, selbstloser, grenzenloser Liebe für alles, was ist.

Manche Menschen glauben, der Pfad, auf dem man das spirituelle Ziel erreicht, sei weit weg hinter den Bergen der Zukunft, fast unerreichbar, während in Wirklichkeit nur eine verhältnismäßig schmale Grenze das gewöhnliche Leben von dem Leben trennt, das der Neophyt oder Chela führt. Der wesentliche Unterschied liegt in der Lebenseinstellung und nicht im metaphysischen Abstand. Es ist derselbe Unterschied, der zwischen dem Menschen besteht, der der Macht der Versuchung unterliegt und ihr Sklave wird, und jenem Menschen, der der Versuchung erfolgreich widersteht und ihr Meister wird.

Jeder kann den Pfad betreten, wenn sein Wille, seine Hingabe und sein Streben darauf gerichtet sind, für andere eine größere Hilfe zu sein. Das Einzige, was ihn daran hindert, diesen so wunderbaren Schritt zu tun, sind seine Überzeugungen, seine psychologischen und mentalen Vorurteile, die ihm ein verzerrtes Bild vermitteln. Wir alle sind Lernende, wir alle haben Illusionen. Selbst die Mahatmas und Adepten haben Illusionen, wenn auch von außerordentlich subtiler und erhabener Art, die sie daran hindern, noch höher zu steigen, und das ist einer der Gründe, warum sie so mitleidsvoll zu jenen sind, die sich bemühen, denselben erhabenen Pfad zu beschreiten, den sie selbst in früheren Zeiten erfolgreich vorangegangen sind.

Der schnellste Weg, diese Illusionen zu überwinden, ist der, sie an der Wurzel zu packen, und diese Wurzel ist die Selbstsucht in ihren tausend­fachen Formen. Sogar das Verlangen nach Fortschritt, wenn es nur das eigene Ich betrifft, beruht auf Selbstsucht, und diese bringt wiederum ihre eigenen feinen und mächtigen Māyās hervor. Deshalb wird jegliches Erfolgsstreben sich unweigerlich selbst zunichte machen, solange es nicht frei von allem Persönlichen ist, denn der Weg des inneren Wachstums ist Selbstvergessenheit. Er bedeutet, persönlichen Ehrgeiz und Sehnsüchte jeglicher Art aufzugeben und ein selbstloser und unpersönlicher Diener für alles zu werden, was lebt.

Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass der Zweck des echten Okkultismus nicht darin besteht, „Schüler zu produzieren“ oder widerspenstiges „Menschenmaterial“ in Individuen umzuwandeln, die nur nach eigenem Fortschritt streben. Unsere unvollkommene menschliche Natur soll vielmehr gebessert werden, damit wir zuerst edle Menschen und schließlich gottgleich werden – im Sinne der überlieferten archaischen Methoden der Unterweisung und der Schulung, wie sie seit Jahrtausenden erkannt und angewandt werden.

Chelaschaft ist eine Vision, aus der Überzeugung und eindeutiges Handeln entstehen. Alle moralischen Verhaltensregeln, die man sowohl in den großen Werken alter Philosophien als auch im theosophischen Schrifttum finden kann, sind für den Suchenden nur großartige Hilfen beim Versuch, sich von der Selbstsucht zu befreien. Die wahren Regeln der Ethik sind ein ungeschriebenes Gesetz, sie unterliegen daher keinem Dogmatismus und können nur schwerlich durch konventionelle Vorstellungen oder Missdeutungen von Menschen, die über bloße Worte debattieren und streiten, unterdrückt werden. Ihr Kern ist sehr einfach, denn die erhabensten und tiefsten Wahrheiten sind immer die einfachsten. Es gibt manchmal Augenblicke, in denen ich meinen Schreibstift weglege und zu mir selbst sage: „Nehmen wir doch die einfachen Wahrheiten, damit auch die Kinder in ihrer unverdorbenen Art, mit ihrem schnellen und klaren Auffassungsvermögen, sie begreifen können.“ Es ist schwer, ein Kind ständig zu hintergehen. Wenn aber gesagt wird, der Neophyt müsse erst wieder wie ein Kind werden, so ist damit nicht gemeint: kindlich oder einfältig! Wir brauchen das Herz eines Kindes – vertrauensvoll, intuitiv und aufgeweckt.

Intellektuelle Schulung ist sehr wertvoll und hilfreich, aber es ist für die Menschen die am schwierigsten zu lernende Aufgabe, wie ein „Kind“ zu werden. Der Gehirn-Verstand ist ein gutes Instrument, wenn er gelenkt und geschult wird. Wenn er aber seinen eigenen Neigungen und Impulsen überlassen wird, ist er eher wie ein Tyrann, denn er ist immer selbstsüchtig. Sein Vorstellungsvermögen ist zwangsläufig auf die Wirbel der unteren und begrenzten Bewusstseinsebenen der manasischen Verbindung zur Persön­lichkeit beschränkt. Die höher entwickelte Erkenntnis liegt in der höheren Natur, und nur diese kann die innere Bedeutung der Lehren begreifen. Der Verstand allein kann die Lehren intellektuell wohl einigermaßen gut erfassen, aber nur dann, wenn er von der inneren Erkenntniskraft unterstützt wird. Jemand kann wirklich aufrichtig lernen wollen und völlig bereit sein, zu erproben und zu erforschen, aber der buddhische Glanz kann dennoch fehlen. Den einzigen Tauglichkeitsbeweis liefert der Mensch selbst, denn wenn das buddhische Licht auch noch so schwach leuchtet, so genügt es d­ennoch. Dieser Mensch hat dann das esoterische Recht zu wissen.

Selbstüberwindung ist der Weg des Wachstums. Die ganze Wahrheit ist in diesen einfachen Worten enthalten. Es ist ein langsames Wachstum, wie bei allen großen Dingen, und wenn es Erfolg haben soll, muss der Mensch sich selbst entfalten. Es gibt keinen anderen Weg als den der inneren Entwicklung; das ist kein leichter Weg. Wenn jemand sich in den alltäglichen Dingen des Lebens nicht beherrschen kann und nicht weiß, wer oder was er ist, dann hat er auch keine Kontrolle über die Ereignisse und Erfahrungen, die unweigerlich mit jedem noch so kleinen Schritt auf dem Wege zum „engsten aller Tore“ auftauchen werden.

Es liegt ein seltsamer Widerspruch darin, dass jemand, der Herr seiner selbst werden möchte, völlig selbstlos werden und doch durchaus er selbst sein muss. Das niedere Selbst muss ausgeschaltet werden – nicht getötet, sondern ausgelöscht, was bedeutet: Es muss von dem Höheren Selbst eingesogen und absorbiert werden, denn das Höhere Selbst ist unser essenzielles oder wirk­liches Wesen und das niedere Selbst ist lediglich ein Strahl davon – sozusagen beschmutzt, verunreinigt, weil es von dieser Welt der tausendfachen Illusionen angezogen wird.

Der Mensch, der am leichtesten getäuscht wird, ist der Mensch, der am tiefsten in der Māyā verstrickt ist; oft sind das die sogenannten Weltklugen. Einen Adepten kann man nicht täuschen, denn er würde den Versuch der Irreführung augenblicklich erkennen, weil man ihn mit persönlichen Neigungen seines Wesens nicht fangen kann. Was man auch tun und sagen mag, er wird davon nicht beeinflusst. Er wird auch von den Gedanken und Vorstellungen nicht angezogen, solange diese noch die geringsten Spuren der Selbstsucht zeigen und nicht universal sind. Er steht über jenen Illusionen, er hat sich durch sie hindurchgekämpft, sie erkannt und verworfen. Noch bevor wir es selbst erkennen, spüren die Meister die zarteste Regung des wahren Chela-Geistes. Der Ruf, der an sie ergeht, ist gewaltig, und unverzüglich entsteht eine anziehende Sympathie.

Folgen wir diesem Gedanken noch weiter: Trifft ein Neophyt mit all seiner Kraft eine wohl durchdachte, wirkliche Entscheidung, so entzündet er damit ein inneres Licht. Das ist der buddhische Glanz, der, wie bereits erwähnt, von den Lehrern verständnisvoll wahrgenommen, beobachtet und betreut wird; und damit ist der Neophyt ein „angenommener Chela“. Wie lange wird dieser Zustand dauern? Niemand wird von in der Welt umher­reisenden Magiern ausgewählt, die von ihm glauben mögen, er sei geeignetes Material. Die Dinge liegen ganz anders. Der Mensch selbst hat die Freiheit der Wahl: Er wählt seinen Weg; er trifft seinen Entschluss; und wenn das buddhische Licht gesehen wird, und sei es auch nur ein Funke, so ist er bereits angenommen, obgleich dieser Umstand dem einzelnen Menschen zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt sein mag. Danach hängt alles von ihm selbst ab, ob er erfolgreich ist oder ob er auf der Strecke bleibt.

In den seltensten Fällen weiß der Schüler sofort, dass er angenommen ist, denn im Allgemeinen wird er auf hunderttausend verschiedene Arten geprüft, die sich aus den gewöhnlichen Begebenheiten des Lebens und den darauf folgenden Reaktionen des Aspiranten ergeben. Sobald der Schüler jedoch seinen Lehrer erkennt, wird der Pfad sowohl leichter als auch schwieriger – leichter, aufgrund der neuen Überzeugung, zumindest einen gewissen Erfolg erzielt zu haben, und auch, weil daraus frischer Mut und Selbstvertrauen erwachsen; ungemein schwieriger jedoch, weil er von nun an einer direkteren Schulung und Führung untersteht und geringe Ausrutscher und Rückfälle, die am Anfang mit großer Milde geduldet wurden, fortan sehr ernste Konsequenzen nach sich ziehen.

Überdies gibt kein Lehrer sich seinem Schüler zu erkennen, bevor dieser nicht viele belehrende Warnungen aus seinem eigenen Inneren erhalten hat. Der Grund ist offensichtlich: Niemand wird jemals angenommen, solange er nicht von seiner eigenen inneren Gottheit angenommen worden ist, d. h. bevor er sich nicht der inneren Regung eines wunderbaren Mysteriums mehr oder weniger bewusst geworden ist.

Um eine solche Wahl treffen zu können, ist natürlich eine gewisse Stufe des Fortschritts notwendig. Jeder normale Mensch kann jedoch diese Wahl treffen, denn Geist und Materie haben in ihm bereits ein mehr oder weniger stabiles Gleichgewicht erreicht. Mit anderen Worten, jeder Mensch, der das Christus-Licht in seiner Seele und in seinem Herzen zu erwecken vermag, kann auf jeder Stufe den Weg der Chelaschaft beginnen. Was zählt, ist das Opfer seines niederen Selbst auf dem Altar. Kein menschlicher Hilferuf verhallt jemals ungehört, wenn dieser Ruf nach mehr Licht unpersönlich ist. Der Prüfstein ist Unpersönlichkeit.

Wir dürfen jedoch nicht annehmen, dass Entsagung und Opfer – weil diese Worte so oft gebraucht werden – den Verlust von irgendetwas Wertvollem bedeuten. Im Gegenteil. Entsagung und Opfer sind kein Verlust, sondern ein unbeschreiblicher Gewinn. Die Dinge aufzugeben, die uns herabwürdigen, die einen Menschen erniedrigen, unbedeutend und kleinlich machen, das bedeutet, dass wir unsere Fesseln abwerfen und die Freiheit und den Reichtum des inneren Lebens gewinnen, und vor allem, dass wir selbstbewusst unsere essenzielle Einheit mit dem All erkennen.

Es sollte klar verstanden werden, dass diese Schulung, die aus Lernen und Selbstdisziplin besteht, aus den spirituellen und intellektuellen Regungen der eigenen Seele des Schülers kommt. Niemals waren und werden damit die familiären Rechte und Pflichten beeinträchtigt oder verletzt. Chelaschaft ist nichts Überirdisches, Exzentrisches oder Sonderbares. Wenn es sich so verhielte, dann wäre es keine Chelaschaft. Sie ist der natürlichste Pfad für uns und wir sollten uns bemühen, ihm zu folgen, denn indem wir uns mit dem Edelsten in uns verbinden, verbinden wir uns mit den spirituellen Kräften, die das Universum lenken und regieren. Bereits in diesem Gedanken liegt Inspiration.

Das Leben eines Neophyten ist wirklich schön und wird immer noch schöner, je mehr die Selbstvergessenheit in seinem Leben zunimmt. Zuweilen kann es aber auch sehr traurig sein; das kommt daher, weil es ihm unmöglich ist, sich selbst zu vergessen. Er sieht seine große Einsamkeit und sein Herz sehnt sich nach Gefährten. Anders gesagt: Seine menschliche Natur sucht nach einem Rückhalt. Doch gerade durch die Überwindung dieser Schwächen wird er zum Meister des Lebens, mit der Fähigkeit, in jeder Situation aufrecht, stark und allein zu stehen. Man darf jedoch keinesfalls annehmen, die Mahatmas seien ausgetrocknete Exemplare von Menschen, ohne menschliche Gefühle und ohne menschliches Mitleid. Im Gegenteil: In ihrem Inneren sind sie weitaus lebendiger als wir. In ihnen fließt ein weitaus kräftigerer und stärker pulsierender vitaler Strom. Ihr Mitgefühl ist so weitherzig, dass wir sie noch nicht verstehen können, doch eines Tages werden wir sie verstehen. Ihre Liebe schließt alles ein; sie sind unpersönlich, und daher werden sie universal.

Chelaschaft bedeutet: zu versuchen, den in uns wohnenden Meister hervorzubringen, denn er ist bereits dort gegenwärtig.

Wenn man jedoch weit genug voranschreitet, dann kommt einmal der Zeitpunkt, an dem sogar die Pflichten gegenüber der Familie aufgegeben werden müssen. Die Umstände werden dann aber so sein, dass dieses Auf­geben der Pflichten sowohl dem Betroffenen als auch seinen Angehörigen zum Segen gereichen wird. Es sollte sich jedoch niemand von der gefähr­lichen Theorie täuschen lassen, dass sich ein Mensch, je höher er steigt, um so weniger an das Gesetz der Moral zu halten brauche. Genau das Gegenteil ist wahr. Einem anderen Unrecht zuzufügen, ist niemals recht.

Bei keinem einzigen Schritt auf diesem erhabenen Pfad gibt es jemals irgendeinen äußeren Zwang. Es gibt nur das edle Begehren – das aus der sehnsuchtsvollen Seele des Aspiranten aufsteigt – immer weiter und weiter nach innen und nach oben vorwärts zu schreiten. Am Anfang wird jeder Schritt dadurch gekennzeichnet, dass man etwas überwunden hat, dass man einen Teil der persönlichen Fesseln und Unvollkommenheiten, die uns an diese materiellen Bereiche ketten, fallen gelassen hat. Immer wieder wird uns mit Nachdruck gesagt, dass die erhabenste Lebensregel darin besteht, in uns selbst unsterbliches Mitleid mit allem, was lebt, zu hegen. Dadurch wird man selbstlos und die wandernde Monade ist schließlich imstande, das Selbst des kosmischen Geistes zu werden, ohne dass die Monade ihre Individualität verliert.

In dem soeben Dargestellten liegt das Geheimnis des Fortschreitens: Um größer zu sein, muss man größer werden; um größer zu werden, muss man das Geringere aufgeben; um ein Sonnensystem im eigenen Denken und Leben zu erfassen, muss man die Grenzen der Persönlichkeit, das, was nur menschlich ist, aufgeben, was bedeutet, sie zu überwinden und darüber hinauszuwachsen. Indem wir die Bereiche des niederen Selbst aufgeben, gehen wir in die Bereiche des größeren Selbst, in die Selbstlosigkeit ein. Niemand wird einen einzigen Schritt dem größeren Selbst, das bereits seine eigene höhere Natur ist, entgegengehen, ehe er nicht lernt, dass „für sich selbst zu leben“ das Hinab­gehen in noch dichtere und begrenztere Sphären bedeutet und dass „zu leben für alles, was ist“ bedeutet, dass sich die eigene Seele für dieses größere Leben erweitert. Alle Mysterien des Universums liegen latent in uns, alle seine Geheimnisse sind dort zu finden, und jeder Fortschritt in esoterischer Erkenntnis und Weisheit ist nur ein Entfalten dessen, was schon im Inneren vorhanden ist.

Wie unbedeutend erscheinen uns die menschlichen Probleme, die uns so sehr quälen, diese große Sorgenlast, wenn wir gelegentlich über diese unendlich trostvollen Tatsachen nachdenken. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn einer der Autoren der Bibel erklärt, dass nicht einmal ein Sperling vom Himmel fällt, ohne dass der HERR es weiß; dass es kein einziges Haar auf unserem Haupte gibt, das nicht gezählt und für das nicht gesorgt würde. Und weitaus mehr noch wird für uns getan. Auch diese Welt der Wahngebilde und der Schatten ist ein wirklicher und untrennbarer Bestandteil des Grenzen­losen, aus dem wir hervorgegangen sind und zu dessen göttlichem Herzen wir eines Tages auf den Schwingen unserer gesammelten Erfahrungen zurück­kehren werden, auf Flügeln, die uns über die Täler hinweg zu den fernen Berg­gipfeln des Geistes tragen werden.

Gelöbnisfieber und spiritueller Wille

Es kann zuzeiten vorkommen, dass sehr sensitive Menschen bei ihrer ersten Berührung mit dem Chela-Pfad aufs Tiefste erschüttert werden und dass ihr Herz und ihr Verstand stark darunter leiden. Das ist ganz natürlich. Es ist in Wirklichkeit die innere Stimme der Seele, die einen vagen Schimmer des spirituellen Lichts erhascht hat. Da das Gehirn das aber weder fassen noch begreifen kann, ergibt sich daraus eine seelische Qual. Manchmal kommt als Zwillingsschwester des inneren Leidens und des Schmerzes aber auch eine übergroße Freude, eine derart lebhafte Hochstimmung, die zu ertragen sogar noch schwieriger sein kann.

Die meisten Fälle, in denen der Aspirant emotionale oder mentale Qualen und Spannungen durchmacht, sind typisch für das, was H. P. Blavatsky Gelöbnisfieber nannte. Zwar erleben viele es unbewusst oder lediglich halbbewusst, doch verstehen bedauerlicherweise nur wenige, um was es sich in Wirklichkeit handelt. Am treffendsten kann man es als fiebrigen Zustand des Denkens und der Gefühle beschreiben. Oft ist es mit schädlichen Auswirkungen auf den Körper verbunden. Es entsteht aus dem aufgewühlten inneren Wesen, gewöhnlich aus dem kāma-manasischen Teil der menschlichen Konstitution.

Das Gelöbnisfieber kann sowohl von edler als auch unedler Natur sein. Wie schon HPB6 darlegte, treten „gewisse okkulte Wirkungen in Erscheinung“, sobald man gelobt, sein Leben in den Dienst für andere zu stellen. „Die erste Folge ist, dass alles, was in der Natur des Menschen verborgen liegt, äußerlich in Erscheinung tritt: seine Fehler, Gewohnheiten, Eigenschaften oder die unterdrückten Wünsche guter, böser oder indifferenter Art. … Wir alle kennen unsere irdische Herkunft, wer aber hat schon jemals alle astralen, psychischen und spirituellen Bindungen der Abstammung zurückverfolgt, die das ausmachen, was wir heute sind?“

In seinen Kommentaren über das, was HPB gesagt hat, und über die Wirkung des Gelöbnisfiebers auf den ernsten Schüler schrieb William Q. Judge:7

… Es ist eine Art Hitze in der gesamten Natur, die wie die Luft im Treibhaus alle guten und bösen Samen plötzlich aufgehen lässt, die sich dann im Menschen zeigen. …

Das Fieber ergreift die gesamte Wesenheit und schließt daher auch unsere verborgenen und unbekannten Charakterzüge mit ein, die für gewöhnlich ruhen und auf andere Inkarnationen und andere Bedingungen warten, um in späteren Jahrhunderten und in neuen Zivilisationen hervorzutreten.

In einem weiteren, im Jahre 1890 veröffentlichten Rundbrief fügte er hinzu:

Es darf auch nicht vergessen werden, dass jenes Gelöbnis8 sowohl hilf­reiche als auch oppositionelle Kräfte herausfordert. Wenn man das Höhere Selbst aufrichtig und ernst anruft, öffnet sich ein Kanal, durch welchen alle segensreichen Einflüsse aus den höheren Ebenen einströmen. Jede erneute Anstrengung wird durch neue Stärke belohnt, mit jedem Schritt vorwärts kommt neuer Mut. …

Habe also Mut, Schüler, und gehe deinen Weg beharrlich weiter durch die Entmutigungen und Erfolge hindurch, die deine ersten Schritte auf dem Pfad der Prüfung begleiten. Verweile nicht, um deine Fehler zu bedauern; erkenne sie und suche aus einem jeden seine Lektion zu lernen. Zweifle nicht an deinem Erfolg. So erlangst du allmählich Selbsterkenntnis, und aus Selbsterkenntnis wird sich Selbstbeherrschung entwickeln.

Das Gelöbnisfieber tritt in zahlreichen Formen in Erscheinung, die jedoch meistens dieselbe Ursache haben. Ein übersteigerter und unkluger Enthu­siasmus ohne entsprechendes mentales und emotionales Gleichgewicht ist zum Beispiel eine eindeutige Form eines psycho-mentalen Fiebers. Energieausbrüche, auf die schwere Reaktionen folgen; Gemütszustände, in denen der Schüler alles außer dem einen Ziel aufgeben, in denen er alles als total wertlos wegwerfen möchte, auch jene Dinge, die er als Mensch eigentlich schätzen sollte; die unbegründete Überzeugung, dass jeder andere, nur er selbst nicht, schuld daran sei, wenn Probleme auftauchen – alles das sind Erscheinungs­formen des Gelöbnisfiebers, eines Fiebers, das vom Über­enthusiasmus kommt, der das Herz erfüllt, und von dem lebhaften Gefühl der Verantwortung, die man ernsthaft auf sich genommen hat.

Gelöbnisfieber ist ein Zeichen von Ehrlichkeit; es ist auch ein Zeichen dafür, dass das Herz zutiefst berührt ist und dass wir im Inneren nachhaltig beeindruckt worden sind. Das bedeutet in Wirklichkeit, dass der Schüler seine Lebensumstände, wie auch immer diese beschaffen sein mögen, aus einer grundsätzlich anderen Perspektive zu überblicken beginnt und dass er auch bemüht ist, die alten Fesseln seines Ichs zu sprengen. So betrachtet ist es ein positives Anzeichen, erkennt man doch, dass die innere Natur aufgewühlt worden ist, dass der Aspirant Fortschritte macht; und alles ist besser als völlige, kaltherzige Gleichgültigkeit, die einem spirituellen und intellektuellen Schlaf gleichkommt.

Das hoffnungslose Gefühl der Entmutigung und der „totalen Erschöpfung“, das manchmal verspürt wird, ist einfach eine Reaktion, ein Teil des Gelöbnisfieber-Zyklus; genauso wie der Körper eines Patienten nach einem Fieberanfall eine Zeitlang schwach, erschöpft und teilnahmslos ist. Allerdings ist das Gelöbnisfieber auch ebenso gefährlich wie das Fieber, das entsteht, wenn die Natur bemüht ist, Giftstoffe aus dem Körper zu entfernen, um ihn zu heilen und zu reinigen. Es wäre viel besser, wenn es dem Schüler gelänge, durch Anstrengung und festen Willen das dringend erforderliche Gleich­gewicht und die ruhige Zuversicht der unbesiegbaren Stärke wiederher­zustellen. Dabei soll an die Worte von Horaz in einer seiner Oden (3. Buch, III) erinnert werden: Justum et tenacem propositi virum. …, „ein aufrichtiger Mann, beharrlich in seinem Ziel“ – einer, dessen unbeugsamer Wille weder durch Drohungen der Tyrannen noch durch die Blitze des Zeus, weder durch das Geschrei des Mobs noch durch die Wogen der stürmischen See erschüttert werden kann. Nichts dergleichen vermag einen solchen Menschen zu erschüttern.

In diesen Situationen muss man einen sicheren Mittelweg zwischen den beiden folgenden Verhaltensweisen finden und einhalten: Einerseits darf man nicht ungesunde Gefühlsregungen züchten und andererseits sollte man nicht kaltherzig und mitleidlos gegenüber jenen sein, die die fieberhaften Versuche der strebenden, nach Licht suchenden Seele durchmachen, aber noch in die verblendenden Schleier der Gefühle eingehüllt sind und sich deshalb in jedem Augenblick in echter Gefahr befinden, vom Pfad abzukommen.

Haben wir erst einmal den Pfad betreten, können wir nicht mehr zurück. Es ist unmöglich; die Türen haben sich hinter uns geschlossen. Wir können zwar versagen und in Schlaf versinken oder sterben, danach müssen wir aber weitergehen. Wenn innere Verwirrung den Schüler überkommt und die fiebrigen Zustände verstärkt auftreten, sollte er seinen spirituellen Willen gebrauchen und die göttliche Weisheit der höheren Ebenen seines Wesens in Anspruch nehmen; denn Wille ist Energie und arbeitet wie alle Formen der Energie sowohl aktiv als auch passiv. Der aktive Wille wird von der richtunggebenden Intelligenz und der innewohnenden Seele bewusst in Gang gesetzt. Der passive Wille ist der vegetative Wille, es sind jene Aspekte, die die automatischen Abläufe des Körpers und der Handlungen regeln.9 Jeder Mensch kann den spirituellen Willen entwickeln. Wie W. Q. Judge schrieb:

Spiritueller Wille wird durch wahre Selbstlosigkeit entwickelt, durch den aufrichtigen und starken Wunsch, vom Höheren Selbst geführt, geleitet und unterstützt zu werden, und durch Schulung und Erfahrung das zu tun, zu erleiden und sich daran zu erfreuen, was das Höhere Selbst für uns beabsichtigt; und dabei das rein persönliche Selbst möglichst auszuschalten, und das tagaus, tagein, Schritt für Schritt.10

In gewissem Sinne ist das Leben selbst der große Lehrmeister und der Lernende ist derjenige, der jeden Tag mit seinen wechselvollen Erlebnissen, Versuchungen, Attraktionen, dem Auf und Ab der mentalen Aktivitäten und der emotionalen Empfindungen lebt. Diese Prüfungen meistert man durch Gleichmut und durch die Standhaftigkeit der Seele und des Geistes, die durch nichts erschüttert werden kann, aber auch durch Großmut, unbeugsamen Mut, und indem man sich im Falle eines Scheiterns keinesfalls entmutigen lässt.

Wann immer das Gefühl eines unkontrollierten, launischen Enthusiasmus oder auch einer völligen Verzweiflung sich ausbreitet, sollte der Schüler ganz einfach innehalten und sein Möglichstes tun, um das ruhige Bewusstsein wiederzuerlangen, dass er in seinem Innersten ein spirituelles Wesen ist. Wer weiß, ob nicht sein vergangenes Karma so vortrefflich war, dass er, so wie die Sonne aus dunklen Wolken hervorbricht, eines Tages plötzlich erleuchtet wird und erkennt, dass er sich auf dem Pfad befindet.

Es ist ein eigenartiges Paradoxon, dass der äußere Lehrer in völliger Harmonie und in strenger Übereinstimmung mit den Anzeichen arbeitet, die aus dem eigenen Bewusstsein des Neophyten durch die Gegenwart des inneren Lehrers entstehen – des größten aller Lehrer für ihn, den Neophyten selbst. Gelegentlich sind diese Anzeichen wie Blitze blendenden Lichtes, die in sein Bewusstsein eindringen und das scheinbare Dunkel der Unwissenheit seines Wesens erhellen. In solchen Augenblicken besitzt der Neophyt die Erkenntnis, auf dem Pfad zu sein, mit einer solchen Intensität und Realität, dass es beinahe schmerzt. Dieses Aufleuchten der inneren Erkenntnis des eigenen steten Fortschrittes sollte jedoch und kann auch niemals mit dem Flimmern des Gehirnverstandes verwechselt werden, welches der Achtlose und Un­vorbereitete – weil er zu zuversichtlich, persönlich und egoistisch ist – oft als Anzeichen dafür sieht, dass er sich schon auf dem Pfad befindet. In Wirklichkeit ist dieser Möchtegern-Chela noch weit von diesem Pfad entfernt, denn er hat seine innere Natur noch nicht so weit entwickelt, dass er den Versuchungen des täglichen Lebens widerstehen könnte.

Möglicherweise glaubt jemand, dass man mit der Natur spielen kann, nur weil die Vorgänge des Universums in aller Stille ablaufen und keine direkten und sichtbaren Eindrücke hinterlassen. Die Natur lässt nicht mit sich spielen. Wenn auch anfangs den menschlichen Schwächen noch große Toleranz entgegengebracht wird – und das ist genau der richtige Ausdruck –, so werden die Regeln immer strenger und härter, je weiter man voranschreitet, denn der Anwärter hat seinem Höheren Selbst einen heiligen Eid des Gehorsams geleistet. In den weiter fortgeschrittenen Phasen kommt dieser Gehorsam aus dem willigen Herzen und aus dem verstehenden Denken, weil der Neophyt bald spürt, dass, je mehr er den Göttern ähnlich wird, es immer notwendiger ist, in Harmonie mit den Naturgesetzen zu handeln, was nicht heißt, den eigenen Vorstellungen zu gehorchen, sondern den Dingen selbst, so wie sie sind. Das ist die Bedeutung, wenn gesagt wird, dass die Mahatmas niemals in das Karma eingreifen werden und es auch nicht tun dürfen. Sie sind die Diener des Gesetzes, die gehorsamen Instrumente des höchsten spirituellen Lehrers unseres Globus – des Stillen Wächters der Menschheit –, und je höher der Mahatma steht, desto williger und freudiger gehorcht er.

Es ist falsches Mitleid, aber auch ein esoterisches Verbrechen, wenn ein sogenannter Lehrer strebende Schüler dadurch verleitet, indem er ihnen etwas verspricht, was nicht uralte Wahrheit ist. Es gibt keinen kurzen Pfad, keinen leichten Weg. Inneres Wachstum, innere Entfaltung und innere Entwicklung sind eine Frage der Zeit und vor allem eine Frage der eigenen Anstrengung. Es gibt Augenblicke, in denen die Wahrheit hart und unannehmbar erscheint, das ist jedoch ein Irrtum des Neophyten und nicht des Lehrers und beweist nur, dass der Schüler noch nicht genügend erwacht ist, um das Wahre vom Falschen und den rechten vom linken Pfad unterscheiden zu können.

Es sollte einleuchten, dass kein Meister dieser Welt aus „unchelahaftem“ Material einen Chela machen kann, denn das würde heißen, man könnte ein Feuer mit Wasser anzünden. Selbst wenn man einen Durchschnittsmenschen durch Zauberei in einen erfolgreichen Chela verwandeln könnte, so wäre das nur ein Akt schlimmster schwarzer Magie, denn es würde dem Betroffenen in keiner Weise helfen, sondern nur einen künstlich geschaffenen Mechanismus aus ihm machen, ohne innere Stärke, ohne inneres Licht und ohne die innere Fähigkeit, dem Pfad weiter zu folgen. Es gibt keine Fähigkeiten, es sei denn, der einzelne Mensch hat sie selbst erworben. Deshalb greifen die Mahatmas auch nicht in die langsame Entfaltung der inneren Fähigkeiten der Konsti­tution des Chelas ein. Wenn sie es täten, würde das einen Eingriff in das Wachstum bedeuten und hätte eine Verkrüppelung und Schwächung des Chelas zur Folge. Das wäre das genaue Gegenteil des Gewünschten.11

Das Beschreiten des Pfades führt zu jenen höheren spirituellen und intellektuellen Ebenen des Bewusstseins, wo die Meister wohnen. Doch es ist absolut unmöglich, sich ihnen zu nähern, wenn man nicht tatsächlich die gleiche ungewöhnlich spirituelle und stärkende intellektuelle Luft atmet wie sie. Wer andere führen will, sollte immer daran denken, denn man schadet ihren Seelen, wenn sie irgendwann entweder durch falsche Hoffnungen oder durch die Sirenenklänge des persönlichen Ehrgeizes oder durch die irrige Meinung, man könne dem Pfad durch Anlehnung folgen, verführt werden. Wenn jemand glaubt, er könne die Verantwortung für die eigenen Gedanken und Taten auf einen anderen abwälzen, so beginnt er, auch wenn dieser andere ein vermeintlicher Gott oder Dämon, ein Mensch oder ein Engel ist, dem abwärtsführenden Pfad zu folgen. Er gibt den eigenen Willen zur Errettung, seinen eigenen Willen, zu vollbringen und zu überwinden, auf.

Wie wurden die Meister zu den überragenden und edlen Menschen, die sie sind? Durch selbstgeleitete Evolution über viele Zeitalter hinweg. Keiner wird erfolgreich sein, niemand vermag dem Pfad zu folgen, bevor er seine eigene Stärke entwickelt hat, bevor seine eigenen inneren Kräfte und Fähigkeiten evolviert sind und bevor er selbst die Schleier der Illusion durchbricht, die sein Bewusstsein umhüllen. Das ist ein langer, aber glorreicher Prozess.

Einige Schüler rätselten über eine Äußerung, die W. Q. Judge in Bezug auf eine Altersgrenze gemacht hat. Er meinte, dass es jenseits des vierundvierzigsten Lebensjahres „schwierig wird, das Tor der inneren Welt zu durchschreiten“12, und dass es für diejenigen, die sich noch später mit diesen Dingen beschäftigen, unmöglich wird. Die Begründung hierfür liegt darin, dass im „mittleren Alter“ die Schleier der Selbstsucht das innere Wesen bereits dermaßen verhüllt haben, dass das innere Licht nur schwer das Gehirn­bewusstsein durchdringen kann. Derjenige, der das Studium der Esoterik in diesem Alter beginnt, findet es schwieriger, als wenn er sich bereits in seiner Jugend, oder noch besser in seiner Kindheit, diesen Gedanken zugewandt hätte. Es gibt jedoch auch von dieser Regel zahlreiche Ausnahmen.

Tatsächlich braucht niemand anzunehmen, dass es für ihn künftig keinen Fortschritt geben könne, weil er den Pfad erst im späteren Leben betritt. Nichts kann der zwingenden Energie des spirituellen Willens widerstehen; und allein die Tatsache, dass jemand im mittleren oder sogar fortgeschrittenen Alter den Pfad des hellen Glanzes betreten möchte, ist für sich selbst der Beweis, dass Wille, Entschlossenheit, Enthusiasmus und Intuition in ihm wirken und ihrerseits zeigen, dass es möglich, ja nahezu sicher ist, das Licht zu empfangen. Kommende Ereignisse werfen ihre Schatten voraus, und so ist es auch hier, weil das Licht durchbricht, weil es hinter den künftigen Ereignissen steht und ihr Kommen ankündigt.

Chelaschaft verwandelt die Dunkelheit des Persönlichen in das glorreiche Sonnenlicht des Unpersönlichen. Sie bewirkt, dass man aus dem Sumpf der materiellen Existenz mit ihren Trugbildern der Gedanken und der Gefühle zum klaren Glanz der inneren spirituellen Sonne aufsteigt und am Ende zum Einssein mit der Seele des Universums geführt wird. Dieser uralte Pfad wird den Aspiranten zu einem Einssein mit seiner eigenen spirituellen Essenz führen, was bedeutet, einen ungeheuer erweiterten Bereich des Bewusstseins und des Lebens zu gewinnen. Da unsere spirituelle Natur in einer gewissen Hinsicht universal ist, erkennt man sofort, dass Chelaschaft ein stetes Wachsen zu universalem Denken und Fühlen ist, ein Vorwärtsdrängen auf dem wunderbaren Pfad zu den äußersten Schleiern der inneren Grenzen des Universums.

Ein herrlicher Gedanke: Wir reisen, ohne voranzugehen; wir gehen weiter, ohne uns zu bewegen. Wir erreichen das Herz des Universums, indem wir uns selbst verlieren, um dabei das kosmische Selbst zu gewinnen, welches in unserem innersten Wesen ruht. Unser Weg ist lang und mag mühsam sein, doch er ist auch voller Freude und von den Feuern des Geistes erleuchtet. Die „Reise“ ist in Wirklichkeit ein Ändern des Bewusstseins, eine spirituelle Alchimie. Das Herz des Universums liegt in unendlicher Ferne und ist doch näher als unsere eigene Seele, denn es ist unser Selbst.


Fußnoten

1. Jedes System religiös-philosophischen Denkens hatte eine eigene Bezeichnung für diese universale esoterische Lehre. In den Hindu-Schriften der vorbuddhistischen Zeit wird darauf mit Brahma-Vidyā, Ātma-Vidyā und Gupta-Vidyā hingewiesen, in der jeweiligen Bedeutung von Kenntnis des Höchsten, Kenntnis des Selbst und Geheime Kenntnis; ebenfalls mit Rahasya, ein Wort, das Mysterium bedeutet und den gleichen Sinn hat wie das „Mysterion“ der Griechen oder die „Gnosis“ des Neuplatonismus und der gnostischen Schulen. Im Buddhismus war und ist sie noch bekannt unter Begriffen wie Āryajñāna, edles oder erhabenes Wissen, und Bodhidharma, Weisheitsgesetz oder -pfad. [back]

2.  Aus einem Brief, datiert London, 15. April 1891, an den Fünften Jahreskonvent der Theosophischen Gesellschaft, Amerikanische Abteilung, abgehalten in Boston, Mass., am 26.–27. April. Siehe H. P. Blavatsky an die Amerikanischen Konvente, 1888–1891, Theosophical University Press, S. 44. [back]

3.  Mit sehr, sehr wenigen Ausnahmen streben alle diese Gruppen mehr oder weniger nach den niederen Siddhis, über die HPB unter Verwendung des Paliwortes Iddhis in The Voice of the Silence (S. 73), Die Stimme der Stille (S. 97), spricht. In Indien werden diese durch die verschiedenen Schulen der Yogapraktik vertreten. Siddhi, von der Sanskrit-Verbwurzel sidh, erfüllt sein, ein Ziel erreichen, bedeutet „vollkommene Erlangung“. Es gibt zwei Klassen von Siddhis: jene, die zu den niederen psychischen und mentalen Energien zählen, und jene, die zu den intellektuellen, spirituellen und göttlichen Kräften gehören. Der spirituell Eingeweihte besitzt beide Arten, er wendet sie jedoch nur zum Wohle der Menschheit an, nie für sich selbst. Der Eigenname von Gautama, dem Buddha, Siddhārtha, bedeutet „einer, der sein Ziel erreicht hat“. [back]

4. Der Spruch in dem alten Veda: „Der Wunsch (Kāma) entstand zuerst im ES“, und dann kamen die Welten ins Dasein, bedeutet, dass Brahman, seit Äonen in Pralaya schlafend, im Anfang eine Erregung in sich fühlte, die Samen göttlichen Verlangens zur Entfaltung zu bringen. Bewusstsein stand hinter dem Wunsch; der Wunsch entstand und brachte den Willen ins Dasein und der Wille wirkte auf die schlafenden Atome ein und rief die Welten hervor. [back]

5. Siddhi, von der Sanskrit-Verbwurzel sidh, erfüllt sein, ein Ziel erreichen, bedeutet „vollkommene Erlangung“. Es gibt zwei Klassen von Siddhis: jene, die zu den niederen psychischen und mentalen Energien zählen, und jene, die zu den intellektuellen, spirituellen und göttlichen Kräften gehören. Der spirituell Eingeweihte besitzt beide Arten, er wendet sie jedoch nur zum Wohle der Menschheit an, nie für sich selbst. Der Eigenname von Gautama, dem Buddha, Siddhārtha, bedeutet „einer, der sein Ziel erreicht hat“. [back]

6. E. S. Instructions, I. [back]

7. E. S. Suggestions and Aids. [back]

8. Es muss daran erinnert werden, dass jeder Schwur, jedes Gelöbnis vor dem eigenen Höheren Selbst, dem inneren spirituellen Meister, abgelegt wird und dass Ermahnungen aus dieser Quelle Vorrang vor allem anderen haben. Wir müssen uns aber auch darüber im Klaren sein, dass wenige, sehr wenige von uns behaupten können, dass sie stündlich mit dem Gott im Innern in Verbindung, geschweige denn für längere Zeit unter seiner erhabenen Inspiration stehen. [back]

9.  Zumindest teilweise ist der Schlaf auf die automatische Aktion des Willens zurück­zuführen. Die Blutzirkulation, der Herzschlag, der Lidschlag der Augen, ja sogar das Wachstum werden letztlich vom automatischen oder vegetativen Teil des Willens, der passiven Seite, hervorgerufen. Diese Prozesse laufen nicht nur im Menschen ab, sondern auch in allen niederen Dingen. Desgleichen ist es auch der Wille, der durch unzählige Wieder­holungen gelernt hat, korrekt und mühelos im alten Gleis zu bleiben – uns selbst normalerweise unbewusst. [back]

10. Subsidiary Papers, September 1894. [back]

11. Alles ist karmisch. Was auch immer geschieht, ist die Folge der zahlreichen karmischen Energien, die in einem Leben zum Ausdruck kommen. Die stärksten dieser Energien manifestieren sich zuerst, während die schwächeren nicht beiseite gelegt, sondern zurückgehalten werden, bis sie an der Reihe sind. Unter bestimmten, äußerst ungewöhnlichen Umständen ist es einem Adepten oder Lehrer mit der uneingeschränkten Zustimmung seines Schülers möglich zu verhindern, dass sich die stärksten karmischen Energien zuerst auswirken, oder ihr Wirken so abzuschwächen, dass andere karmische Energien oder Elemente fast gleichzeitig erscheinen können. Diese seltenen Ausnahmefälle dienen immer dem Wohle des Schülers oder einem großen, unpersönlichen Werk für die Menschheit. Sie können nur für Umstände und Bedingungen gelten, die tatsächlich zu dem gehören, was man ein höheres Karma des Betroffenen nennen kann, der sich in dieser Weise dem so geänderten Schicksal unterwirft. Doch auch dann wirkt sich das Karma des Betreffenden mit genau derselben Wucht und mit den genau gleichen Ergebnissen aus.{footnote}Alles ist karmisch. Was auch immer geschieht, ist die Folge der zahlreichen karmischen Energien, die in einem Leben zum Ausdruck kommen. Die stärksten dieser Energien manifestieren sich zuerst, während die schwächeren nicht beiseite gelegt, sondern zurückgehalten werden, bis sie an der Reihe sind. Unter bestimmten, äußerst ungewöhnlichen Umständen ist es einem Adepten oder Lehrer mit der uneingeschränkten Zustimmung seines Schülers möglich zu verhindern, dass sich die stärksten karmischen Energien zuerst auswirken, oder ihr Wirken so abzuschwächen, dass andere karmische Energien oder Elemente fast gleichzeitig erscheinen können. Diese seltenen Ausnahmefälle dienen immer dem Wohle des Schülers oder einem großen, unpersönlichen Werk für die Menschheit. Sie können nur für Umstände und Bedingungen gelten, die tatsächlich zu dem gehören, was man ein höheres Karma des Betroffenen nennen kann, der sich in dieser Weise dem so geänderten Schicksal unterwirft. Doch auch dann wirkt sich das Karma des Betreffenden mit genau derselben Wucht und mit den genau gleichen Ergebnissen aus. [back]

12.  Subsidiary Papers, Oktober 1895. [back]

2 – Alter, Krankheit und Tod

 

 

Hovern Sie über ein Hervorehobenes Wort um den Glossareintrag zu lesen.

 

 

Wie schön ist die Welt, die uns umgibt! Der Sonnenaufgang über den östlichen Bergesspitzen ist eines der schönsten und herrlichsten Erlebnisse, die ich kenne.

Er ist so schön, weil er in uns eine Harmonie des Verstehens wachruft, die der natürlichen Herrlichkeit verwandt ist, die wir am östlichen Himmel abgebildet sehen. Alle Schönheit liegt daher im Bewußtsein des Schauenden, wo in einem sehr wahren Sinn überhaupt alle Dinge sind, die wir erkennen.

Niemand kann äußere Schönheit wahrnehmen, der nicht Schönheit in sich trägt. Niemand kann das Schöne verstehen, es sei denn, er selbst ist in seinem Innern schön. Niemand kann Harmonie verstehen, der nicht in seinem inneren Wesen Harmonie ist. Alle wertvollen Dinge sind in dir, und die Außenwelt gibt dir nur den Anreiz zur Betätigung der inneren Fähigkeit des Verstehens.

Es liegt Schönheit im Verstehen, und Verstehen entspringt nur einem verstehenden Herzen, so widerspruchsvoll das auch anfangs klingen mag. Das verstehende Herz besitzt Vision.

Der Seher schult sich, das Auge des Schauens in sich zu öffnen, und die Natur spricht zu ihm in Tönen, die mit jedem Jahr bezaubernder und schöner erklingen, da er innerlich wächst. Sein Verstehen erweitert und vertieft sich. Das Flüstern der Bäume, das Rascheln und Rauschen der Blätter, das leise Schwappen der Wellen am Gestade, das Zirpen des Heimchens, das Gurren der Taube, der Klang einer menschlichen Stimme – so mißtönend sie oft auch sein mag – enthalten Wunder für ihn. Er erkennt seine Verwandtschaft mit allem, was da ist; er nimmt wahr, daß er nur ein Element ist in einem wunderbaren Lebensmosaik, in das er unzertrennlich eingegliedert ist, und mit zunehmender Fähigkeit des Schauens wird dieses Mosaik immer schöner und erhabener. Er weiß nun, daß die erhabene Vision da ist, und strebt danach, sie immer klarer zu schauen.

Von jedem Baum, von jeder Blüte, von jedem Sandkorn, das unter deinem Fuß knirscht, von allem, was da ist, könntest du lernen, wenn du das Auge des Schauens hättest. Hast du nie in den Kelch einer Blume geblickt? Hast du nie die Schönheit, das Ebenmaß und die Herrlichkeit, die dich umgeben, studiert? Hast du nie die Morgen- oder die Abendsonne betrachtet und den Farbenglanz am östlichen oder westlichen Himmel bewundert? Hast du nie einem Mitmenschen tief ins Auge geblickt, nie mit sehendem Auge deine Artgenossen angeschaut? Hast du dort nie Wunder entdeckt? Wie wunderbar ist die Welt, von der wir umgeben sind!

Und doch, trotz all der Schönheit, die uns umgibt, schmerzt das Herz, und tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigt sich des Gemütes bei dem Gedanken an der Menschheit Jammer, der aus den drei düsteren Worten spricht – Alter, Krankheit und Tod.

Lerne, das Denken zu beherrschen. Der Mensch ist der Götter Sproß, und sein Denken sollte gottähnlich, himmelstrebend sein, sein Herz sollte sich immer mehr in Liebe öffnen; und gottgleich sollte deshalb auch seine Haltung sein.

Tritt ein in die stillen Tiefen deines Herzens, tritt ein in die so stillen und ruhigen Kammern deines inneren Wesens. Bald wirst du lernen, an der Tür deines eigenen Herzens anzuklopfen. Die Übung macht den Meister. Intuition wird dir dann werden. Sofortige Erkenntnis wird in dir erwachen. Unmittelbar wird dir Wahrheit aufleuchten. Das ist der Weg, das ist die Lehre.

An diesen stillen Stätten wird dir Erleuchtung, und du wirst Visionen der Wahrheit empfangen, weil dein Geist – dein innerstes Herz und Selbst – eingegangen ist in das Innerste des Seins, aus dem es stammt, von dem es nie getrennt ist, von dem es einst ausging und mit dem du in unmittelbarer, steter Verbindung stehst.

Erkenne diese wundervolle Wahrheit; nimm sie zu Herzen; denn es gibt unerschöpfliche Quellen der Weisheit, des Wissens und der Liebe – ja, und der Macht – Macht über das Selbst zuallererst, und das bedeutet Macht über die Natur, in der wir leben und weben und unser Dasein haben. Denn der Kern deines Wesens ist der innere Gott in dir, der göttliche Geist, der Christos-Geist, die buddhische Herrlichkeit in dir.

In diese Friedensstätte der Seele, in dieses Reich der Herzensstille, in das Allerinnerste des menschlichen Wesens treten die Großen ein, wenn sie nach mehr Licht und größerer Erkenntnis verlangen; denn damit dringen sie auch in den inneren Aufbau und in das Gewebe des Universums ein und erkennen die WAHRHEIT aus erster Hand, weil sie mit ihrem Denken und ihrer Intelligenz – mit dem Organ der Geisteskräfte – eins mit jenem Universum werden und sich im Gleichklang, in gleichem Rhythmus mit den Schwingungen auf allen Ebenen der Ewigen Mutter halten. Dort werden sie eins mit allem und erkennen deshalb die Wahrheit intuitiv.

Das Alter muß dich nicht schrecken. Wer recht gelebt hat, wer ein reines Leben geführt und edle Gedanken gehegt hat, wird im Alter, wenn die körperlichen Kräfte abnehmen und die stofflichen Schleier dünn werden, sehen und mit dem Sehen erkennen. Sein Blick dringt hinter die Schleier der Materie, denn er wird allmählich mit den Mysterien hinter jenem Schleier vertraut, den die Menschen Tod nennen.

Eine gewisse Zeit lang, die von dem Zeitraum abhängt, der dem Tod vorausgeht, zieht sich die Seele vom alternden Körper zurück. Dieser Vorgang verursacht den Ablauf der sogenannten Alterserscheinungen. Bei normalem Verlauf geht dieses Zurückziehen der Seele jedoch friedlich und ruhig vor sich. Es ist die Art der Natur, den Tod als stille Segnung des Friedens und der Harmonie eintreten zu lassen.

Der Tod ist Geburt, Geburt; und anstelle des Losreißens, das freilich bei Todesfällen in jugendlichem Alter stattfindet, kommt der Tod zu unseren Betagten in Frieden und Stille; er schleicht sich wie ein Mitleidsengel in ihr Wesen ein und löst die Bande, die die Seele an ihr Gehäuse aus Fleisch und Bein bindet; der Übergang ist ebenso ruhig und sanft wie das Hereinsinken der Abenddämmerung vor der Nacht und ist ein seliger Schlaf.

Jeder Mensch kann ein schmerzvolles Alter vermeiden oder seine Beschwernisse wenigstens beträchtlich mindern. Das ist erreichbar durch einen menschenwürdigen Lebenswandel, durch ein Leben im höheren Selbst, wenn er die Bedürfnisse und Wünsche seines Körpers nicht zu seinen Idealen macht. Dann kommt das Alter sachte zu dir, bringt Segnungen mit sich und steigert alle höheren Fähigkeiten und Kräfte, so daß sein Nahen durchdrungen ist von den Harmonien einer anderen Welt, schön mit ihren Lichtblicken von Wahrheit und Herrlichkeit.

Das Alter ist ein Segen, wenn das vorangegangene Leben recht geführt wurde. Es bringt außerdem noch manche andere, sonst unerreichbare Dinge mit sich, wie die Weitung des Bewußtseins, von der die Jugend nichts weiß. Es bringt eine gesteigerte, intellektuelle Kraft mit sich, die wegen ihrer Reichweite von den weniger entwickelten Menschen, den Jugendlichen und den Menschen im mittleren Lebensalter, nicht verstanden und deshalb für vage Verallgemeinerungen eines Großvaters gehalten werden. Der Großvater ist indes in solchen Umständen der Wahrheit näher und sieht mehr als das noch unentwickelte Auge der Jugend. Ein schönes, hohes Alter bringt eine Weitung der Seele mit sich, nicht nur des Intellekts, sondern auch des spirituellen Bewußtseins und seiner Einsicht.

Doch manchmal, wenn das Leben von groben, sinnlichen Begierden beherrscht war, wenn sozusagen die Bande, die die Seele an den Körper fesseln, durch Nachgiebigkeit den groben Begierden gegenüber stark mit dem Gehäuse aus Fleisch verwachsen sind, dann ist der Tod selbst im Alter schmerzvoll; denn das natürliche, langsame Zurückziehen der Seele hat nicht stattgefunden oder wenigstens nicht in so hohem Maß; auch ist, wenn der Tod schließlich ein Ende macht, meist kein besonders hohes Lebensalter erreicht worden.

Das Alter ist nichts, vor dem man sich fürchten müßte. Es ist ein Segen. Es ist wie ein Lichtschein, der durch einen Schleier schimmert, ein Abglanz des jenseitigen Lebens, des höheren Lebens, des Lebens, in dem das höhere inkarnierende Ego tatsächlich lebt, ein Schattenbild kommender Ereignisse, die ihren Schatten vorauswerfen, die Schatten der bevorstehenden Herrlichkeit: Das ist das schöne Alter!

Krankheiten, das zweite der Übel, die die Menschheit heimsuchen, sind Reinigungsvorgänge, Prozesse der Reinigung, und für die Menschen unseres gegenwärtigen unvollkommenen Entwicklungszustands sind sie in vielen, vielen Fällen ein vom Himmel geschickter Segen. Sie heilen von der Selbstsucht. Sie lehren Geduld. Sie führen das Denken zu einer Betrachtung der Schönheit des Lebens, der Notwendigkeit rechter Lebensführung. Sie erziehen zu Güte und Wohlwollen.

Betrachte den Durchschnittsmenschen in seinem gegenwärtigen unvollkommenen Entwicklungszustand, mit seinen Leidenschaften, seinem unbeherrschten Gefühlsleben, seinem heftigen Verlangen nach Sinnesempfindungen, nach mehr und immer mehr Sinnesempfindungen. Überlege einmal: Hätten die heutigen Menschen, so wie sie sind, gegen Krankheit gefeite Körper, die von den Ausschweifungen nicht geschwächt und getötet werden könnten – haben dann die Dinge, so wie sie sind, nicht auch etwas Gutes an sich? Krankheiten sind in Wirklichkeit Warnungen an uns, unsere schlechten Gedanken zu ändern und in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen zu leben.

Denke daran, daß keine äußere und tyrannische Natur uns mit Krankheiten heimsucht; Krankheit ist in jedem Fall das Ergebnis oder die Folge unseres unrechten Handelns, von schlechten Gedanken und von üblen Taten in diesem oder in einem früheren Leben. Krankheiten mit ihrem Gefolge von Schmerzen und Leiden sind unsere besten, mahnenden Freunde: Sie erweichen unser Herz, sie weiten unser Denken, sie geben uns eine Gelegenheit zur Schulung unseres Willens und ein Betätigungsfeld für unsere sittlichen Instinkte. Sie flößen unserem Herzen auch Mitleid und Erbarmen für andere ein.

Es ist wahr, daß jeder einzelne von uns selbst verantwortlich ist für seine Krankheiten und für sein Mißgeschick. Alles Mißgeschick, das uns im Leben begegnet, haben wir selbst verursacht. Wir haben es verdient, denn wir haben es auch erzeugt. Es kommt über uns, es trifft uns, und wir empfangen damit nur die Wirkung, das Ergebnis der Saaten von Gedanken und Handlungen, die wir in der Vergangenheit gesät haben – eine wunderbare Lehre: Karma!

Doch ‘gut’ und ‘böse’ sind relative Begriffe. Wir nennen Dinge ‘gut’, wenn sie uns gerade gefallen, und wenn sie uns nicht passen, sagen wir, sie seien ‘böse’. Und doch erwies sich gerade das, was dir nicht behagte, in manchen Fällen als etwas sehr Segensreiches, brachte dir Glück und Gedeihen, oder es verlieh dir wenigstens Charakterstärke, die mehr wert ist als alle Schätze der Welt. Es gab dir Einsicht, erschloß die Kräfte deines Herzens, lehrte dich denken, kurz, es machte einen Menschen aus dir.

Nichts stößt uns zu, was wir nicht selbst anfänglich verursacht haben. Wir säten die Samen. Nun sind die Saaten in uns aufgegangen und wir sagen: Ich kann nicht verstehen, wie mir derartiges zustoßen konnte! Doch es ist da; und wenn du es in der rechten Weise nimmst, ihm recht begegnest, dich richtig dazu stellst und es als das ansiehst, was du selbst gewählt haben würdest, wirst du zu einem Mitarbeiter des Schicksals: Glück, Wachstum und Stärke werden dir zuteil und Weisheit geht in deinem Herzen auf.

Ich will es noch mehr verdeutlichen an dem Beispiel eines außergewöhnlich guten und edlen Menschen. Plötzlich wird er, sagen wir, um es drastisch darzustellen, von einer schauderhaften, schrecklichen Krankheit befallen. Nichts in seinem jetzigen Leben hat sie, soviel er weiß, verursacht. Ganz plötzlich und auf unerklärliche Weise wird er niedergestreckt, so daß er sich eine Zeitlang selbst verabscheut und seine Seele sich in ihren Qualen zu den Göttern wendet, deren Ohren für ihn aber taub sind, und er sagt: „Was habe ich getan, daß mir dies zustoßen mußte?“ Sollen wir sagen, er sei ein schlechter Mensch gewesen? Nein, er ist ein guter Mensch. Hier haben wir aber einen Fall, wo frühere Saaten – Gedanken-und Gefühlssaaten – und Schwächen in vergangenen Leben nicht zum Durchbruch, nicht zur Reife gekommen waren; jetzt aber brechen sie hervor. Jetzt gehen sie auf. Vielleicht wollten sie schon in vergangenen Leben aufgehen, doch war dieser Mensch ein Feigling und dämmte sie auf die eine oder andere Art durch sein Denken zurück und schob so das Leiden auf einen späteren Zeitpunkt hinaus.

Daraus ergibt sich folgende Lehre: Wenn Leid und Ungemach über dich kommen, wenn Unglück dein Herz peinigt, wenn es scheint, als stünde die ganze Welt gegen dich auf, dann sei ein Mensch. Nimm es beherzt auf dich und bringe es hinter dich, so daß du in kommenden Zeiten, wenn dein Charakter stärker und besser geworden ist, nicht mit noch ungekeimtem Samen karmischen Geschicks behaftet bist, der dann aufgehen und dir weit größeres Unglück bringen wird, als er jetzt bringen könnte.

Es hat große und edle Menschen gegeben, Jünger des Pfades und fortgeschrittene Schüler, denen solches zugestoßen ist. Alte karmische Schicksalssamen, unterdrückt, zurückgehalten, durch den Willen zurückgedämmt, kamen zum Durchbruch und zerstörten anscheinend ein edles Leben.

Wenn dich daher Leid trifft, wenn Kummer in deinem Leben auftaucht, wenn Schmerz dich heimsucht, so nimm sie zu Herzen, denn sie sind Erwecker. Vergnügungen lullen dich in Schlaf, die sogenannten Freuden lassen dich einschlummern. Leid und Kummer und Schmerzen – Veränderungen in deinen Lebensumständen, die dir nicht behagen –, diese drei sind deine Erwecker. Oh, daß du diese Wahrheit erkennen mögest! Sie werden dir Stärke verleihen und Frieden; sie werden deinen Verstand erleuchten, so daß du den Lebensproblemen erfolgreich begegnen kannst, sie werden dir Trost und Hilfe bringen.

Erinnere dich, es ist nur das Endliche, das leidet; ebenso ist es auch das Endliche, das liebt; nur das Endliche vollführt diese Dinge, weil es lernt. Es lernt und wächst, wie klein oder wie groß es auch immer sein mag, Insekt oder Gott, Übergott oder Erdenatom: Alle lernen und wachsen und gehen deshalb durch Zustände von Wohlsein und Glückseligkeit und von Schmerz und Leiden.

Alles, was ist, ist eine Gelegenheit für das schauende Auge und für das verstehende Herz, eine Gelegenheit zum Lernen, was Wachsen bedeutet; und wenn man erkennt, daß Schmerz und Leiden zwei von den Mitteln sind, durch die wir wachsen, dann zieht Friede ins Herz und Ruhe in die Seele.

Was macht die majestätische Eiche zu dem, was sie ist? Ist es der säuselnde Zephyr und der sanft rieselnde Regen? Die Eiche würde schwach und biegsam sein wie die Weide im Sturm, wenn es so wäre. Nein, Sturm und Ungewitter müssen sich an der Eiche versuchen, und die Eiche antwortet mit Widerstandskraft und Stärke. Im Kampf gegen Sturm und Orkan wird sie stark.

Menschen lernen viel schneller als die Pflanze, die man ja unbeseelt nennt. Nichts lernt so rasch und leicht wie das Menschenherz. Deshalb schrecke nicht zurück vor Schmerz und Leid, denn sie sind bessere Lehrer als Glück und behagliches Zufriedensein. Das letztere ist fast spiritueller Selbstmord – wenn man nämlich so sehr mit sich und dem, was man ist, zufrieden ist, daß man schläft. Doch die Natur duldet das nicht für immer. Schließlich kommt der karmische Impuls, und dann leidest du ein wenig, aber nur um aufzuwachen und zu wachsen. Preise den karmischen Anstoß und fürchte ihn nicht. Blicke auf den göttlichen Wesenskern in dir. Denke daran, daß alles, was geschieht, vergänglich ist und daß du aus allem lernen kannst und dadurch wachsen wirst – zunimmst an Größe und dich zu immer größerem Sein entfaltest.

Es ist alles ein Kampf des SELBSTES gegen das Ich: Weniger ein gegenseitiges Bekämpfen als ein immerwährendes Standhalten gegen Ungleichheiten, und das ist in gewisser Weise ein spirituelles Exerzitium. Diese Übung macht uns stark, gewandt und kampfgeübt, bereit und fähig, noch größere Proben zu bestehen, größeren Schwierigkeiten standhaft entgegenzutreten. Unser größter Freund, unser edelster Reiniger von allen ist Leid, ist Schmerz; denn Herz und Verstand müssen durch Schmerz geläutert werden, genauso, wie Gold im Feuer geläutert wird.

Wir Menschen haben das im allgemeinen nicht gern. Wir gleichen in dieser Hinsicht kleinen Kindern. Dennoch verhält es sich so, und wenn wir darüber nachdenken, dann lernen wir bald, daß der wirkliche Mensch die Prüfungen und Schwierigkeiten des Lebens mit frohem Mut annimmt und besteht.

Eine schöne, nützliche Regel ist die folgende: Was auch immer dir zustößt, trage es mannhaft. Betrachte es als gerade das, was du selbst gewollt hättest – und gewinne Frieden daraus. Es wird vorübergehen, es wird sich auswirken. Es ist eine gute, praktische Regel des Moralgesetzes: Jammere nicht, richte dein Antlitz nach dem mystischen Osten der Zukunft, wappne dein Herz mit Mut und denke daran, daß du vom Stamm und Geschlecht der unsterblichen Götter bist, die das Universum leiten und lenken.

Es gibt tatsächlich Zeiten im Leben, in denen uns das höhere Selbst auf Pfade der Prüfung führt, damit wir durch ein erfolgreiches Bestehen der Prüfungen wachsen. Doch ist das höhere Selbst immer mit uns und mahnt uns beständig durch Ahnungen und Eingebungen, mutig zu sein, das Leben kühn zu meistern, wahr, rein, stark, aufrichtig und noch mehr in dieser Art zu sein. Gerade dieses sind die Eigenschaften der menschlichen Natur, die uns vor Unheil bewahren, wenn sie unentwegt angestrebt werden. Das einzige Unheil, das die Geistseele des Menschen kennt, ist Schwachheit, Versagen, Mutlosigkeit. Körperliches Ungemach und andere Drangsale des physischen Lebens sind oft verkappte Segnungen. Das höhere Selbst lehrt uns, diesen mit rechtem Mut zu begegnen und sie siegreich zu überwinden. Die innere Freude ist es, die uns zum Sieg führt, die Wahrnehmung des Gefühls, daß wir es erreichen können, wenn wir es nur wollen. Das könnte aber nicht so sein, wenn das Herz des Universums nicht Harmonie und Liebe wäre, denn das Herz der Dinge ist himmlischer Friede, Liebe und Schönheit.

Deshalb gedenke dieser Wahrheiten, wenn Schmerz und Leid über dich kommen. Raffe dich auf, ermanne dich! Trotze dem Sturm, und ehe du dich dessen versiehst, wirst du blauen Himmel über dir haben, Erfolg und Gedeihen sehen, denn du hast wie ein Mensch gehandelt. Du hast die Prüfung bestanden, und sie hat dir Stärke verliehen.

Alle physischen Krankheiten haben ihren Ursprung in einer falschen Lebensanschauung, in einer falschen Willensrichtung des einzelnen. Deshalb haben alle Krankheiten – nicht erst, wenn sie physisch im Körper zum Ausbruch kommen und ihm schmerzvolle Leiden verursachen, sondern schon vorher – ihren Ursprung im Denken, erzeugt in diesem oder einem früheren Leben. Willensschwäche, Nachgiebigkeit gegen schlechte Gewohnheiten, die Gedankensamen erzeugen, die im Verstand Gedankenniederschläge zurücklassen, schwächen den Charakter. Ein schlechter oder falscher Gedanke offenbart sich im Körper und zerstört ihn schließlich durch schlechte Gewohnheiten. Kritiksucht, Pessimismus, Wehklagen und Tadelsucht sind in wahrstem Sinn des Wortes mentale Krankheiten.

Jeder Weise und Seher hat das gleiche gelehrt: Reinige den Tempel des heiligen Geistes, treibe die Dämonen der niederen Natur hinaus. Welches sind diese Dämonen? Die eigenen Gedanken.

Unharmonische Gedanken vergiften nicht nur die Luft, sondern sie vergiften auch deinen eigenen Blutstrom, sie vergiften deinen Körper, und Krankheit ist die Folge. Was sind unharmonische Gedanken? Es sind egoistische Gedanken, böse Gedanken, niedrige Gedanken, mürrische Gedanken. Sie entstehen in einem Herzen, das keine Liebe hat. Vollkommene Liebe im Menschenherzen führt zum Aufbau eines starken, von Natur reinen Körpers, weil dein Inneres seelisch und moralisch rein ist, harmonisch in seinen Funktionen; denn in diesem Fall sind Verstand, Seele und Geist – der wahre Mensch – in harmonischem Zusammenwirken. Der Körper spiegelt nur das wider, was du selbst bist.

Du machst dich jetzt in hohem Maß zu dem, was du in zehn Jahren sein wirst. Du magst dann eine Krankheit überwunden haben, an der du jetzt leidest. Du magst dann eine Krankheit haben, die du jetzt nicht hast. In jedem dieser Fälle bist du selbst verantwortlich. Das sicherste Vorbeugungsmittel gegen Krankheiten ist eine selbstlose Seele, die durch ein selbstloses Denkvermögen wirkt – ein sich selbst vergessendes Herz. Nichts bringt so rasch Krankheiten über einen Menschen wie die Selbstsucht mit ihrem Anhang von Versuchungen, und wenn man diesen Versuchungen unterliegt. Sei völlig selbstlos, und aller Reichtum der Welt ist dein: Reichtum an Gesundheit, Reichtum an innerem Schauen, Reichtum an irdischen Gütern, Reichtum an Macht, Reichtum an Liebe, Reichtum an Können, Reichtum an allem.

Wenn die Gedanken gleich wilden Rossen durch das Gehirn jagen, dann mühe dich nicht ab, du vergeudest dabei deine Kräfte. Male dir in deinen Gedanken gegenteilige Bilder von den Dingen aus, die du verabscheust. Male dir die Dinge aus, die du wirklich innerlich liebst, die du wirklich in deinem Herzen mit Liebe hegst und die du als hilfreich erkennst. Das Geheimnis heißt innere Imagination: Wende sie an!

Wenn du dich in düsterer Stimmung befindest, wenn du dich der Gedanken schämst, die in deinem Bewußtsein auftauchen, dann mühe dich nicht mit ihnen ab, bekämpfe sie nicht, sondern vergiß sie einfach. Sie sind nichts als Trugbilder aus deiner eigenen Vergangenheit. Du aber wende dein Antlitz gen Osten und schaue zur aufgehenden Sonne. Laß die Visionen in ihrem Glanz erstehen. Betrachte die Bergesspitzen deiner Natur, auf denen die rosenfingrige Aurora der inneren Morgendämmerung das Gewebe ihrer wundersamen Zaubermacht vor deinen Augen erstehen läßt.

Hier liegt das Geheimnis deines Sieges. Das ist der beste, der leichteste Weg, und du kannst ihm folgen, weil du mit deiner Imagination und Willenskraft der Schöpfer deines eigenen Schicksals bist. Dadurch wird die schöpferische Fähigkeit in dir wirksam. Das ist eine so einfache Regel; dennoch ist sie die Botschaft der Weisen aller Zeiten.

Vergiß die üblen Gedanken und gib ihnen kein künstliches Leben, indem du sie als Erinnerungsbilder in deiner Vorstellung erstehen läßt und dann bekämpfst. Vergeude deine Energien nicht im Kampf gegen Unholde – die Gaukeleien und Gespenster deiner Einbildung. Sie sind nur die Trugbilder deiner eigenen Einbildungskraft und haben außerhalb von dir keine Wirklichkeit. Doch können dich diese Erscheinungen und Gespenster manchmal überwältigen und zu einer zeitweiligen Wirklichkeit werden, weil du ihnen Form und Gedankenkraft gegeben hast. Du kleidest diese Dinge in Gedanken ein, und Gedanken beherrschen dann deinen Körper.

Stelle dir das Gegenteil vor. Schaffe dir in deiner Vorstellungskraft schöne und kraftvolle Bilder. Wenn du von diesen häßlichen Zerrbildern heimgesucht wirst, male dir schöne Dinge aus. Das ist viel anziehender. Es ist eine herrliche Beschäftigung und ist immer wirksam. Stelle dir hohe und erhabene Dinge vor und stelle sie mit aller Kraft vor dein inneres Auge. Stelle dir vor, du habest Erfolg in edlen Dingen. Male dir schöne und von innerem Glanz erfüllte Dinge aus.

Das Denken kann durch hohe und erhabene Gedanken veredelt werden. Selbst der Arbeiter kann, während seine Hände beschäftigt sind, in Gedanken die Linie seiner Ahnen bis zu den Göttern im Raum verfolgen und die Inspiration einer göttlichen Abkunft empfinden, die sozusagen durch die Adern seiner Seele fließt. Dadurch kann er ein wirklicher Mensch sein.

Bringe deine Gedanken zum Schweigen. Das bedeutet nicht, daß du mit dem Denken aufhören, sondern daß du deine Gedanken überwachen und ihr Herr sein sollst. Sei nicht der Sklave jener streunenden Vagabunden, die dein Denkvermögen zu ihrem Tummelplatz machen; sei mannhaft! Erzeuge Gedanken und lenke diese deine Gedankenkinder. Und wenn sie unfolgsam werden, so setze ihnen einen Dämpfer auf. Bringe sie zum Schweigen!

Sei ein Denker, doch verwirre dich nicht in deinen Gedanken, sondern wende dich nach innen. Mit anderen Worten: Unterlasse die ruhelose Tätigkeit deines Gehirnverstands und tritt ein in die inneren Kammern deines Herzens, in die Tiefen deines Bewußtseins, in die heilige Stätte im Innern und erblicke das Licht. Empfange das Licht. Bringe deine Gedanken zum Schweigen und tritt ein in das Bewußtsein.

Prüfe deine eigenen Denkprozesse und erkenne, wieviel Zeit du mit bloßen Gedankenspielereien vergeudest – zumeist unnützen Gedanken –, und wie du darüber versäumst, aus jenem erhabenen Brunnen der Erkenntnis, der Weisheit und des Bewußtseins zu trinken, der in dir ist, aus den Quellen der Inspiration und des Genius, von jenen Geistesquellen, jenen elysischen Brunnen, denen alles entströmt, was dem Leben Wert verleiht.

Es gibt eine Probe, mit der man bestimmen kann, ob irgendein Gedanke vom höheren Selbst kommt oder ob er lediglich einer Begierde entspringt oder von einer solchen gefärbt ist. Hier ist der Test, und er ist sehr einfach: Das höhere Selbst ist unpersönlich, es ist selbstvergessend, es ist gütig, liebevoll, es ist mitleidsvoll, es ist mitfühlend; es hat erhabene Inspirationen. Die niedere Natur ist selbstsüchtig, habgierig, oft gehässig, unversöhnlich, heftig.

Das höhere Selbst ist eine spirituelle Wesenheit und schwebt sozusagen über dem Schlamm des niederen Selbst, so wie die Sonne auf die Erde scheint. Das höhere Selbst hat einen gewaltigen Einfluß auf das niedere Selbst; das niedere Selbst hat jedoch keinen Einfluß auf das höhere Selbst, nicht einmal indirekt. Das niedere Selbst hat eher einen gewaltigen Einfluß auf das menschliche Selbst, auf unsere Zwischennatur.

Wenn das, was in dein Bewußtsein tritt oder durch deine eigene Willenskraft und durch dein Streben hineinkommt, dich zu guten Taten deinen Mitmenschen gegenüber antreibt, dir inneren Frieden und Trost bringt, dich gütiger und rücksichtsvoller gegen andere macht, dann stammt es aus dem höheren Teil. Dieser höhere Ansporn mag ein Verlangen sein; doch es ist kein Verlangen für die Persönlichkeit, es ist ein geistiges Verlangen, ein Verlangen nach Größerem und Besserem, ein Bestreben, anderen zu helfen, andere zu lieben, Unrecht zu vergessen und zu vergeben.

Ein gütiger Gedanke, einem anderen Menschen zugesandt, ist ein Schutz für jenen anderen; und es ist eine wundervolle Tat. Sie zeugt von Menschentum, von wahrem Menschentum, und jeder normale Mensch liebt solches Tun. Es gibt wenig Dinge, die für Herz und Verstand so erquickend sind wie das Gefühl, daß wir wenigstens heute keine unfreundlichen Gefühle oder Gedanken gegen andere hegten, sondern hilfreich, gütig, rücksichtsvoll und unpersönlich waren.

Gedankensamen zu säen ist eine verantwortungsvolle Handlung. Wer Gedankensamen in das Denken seiner Mitmenschen sät, wird durch natürliches Gesetz zu strenger Rechenschaft gezogen. Die Natur ist nicht anarchisch; sie wird überall von Ursache und Wirkung beherrscht – von Karma.

Das legt zwar jedem, der andere lehrt und so Gedanken- und Gefühlssamen in ihr Denken streut, eine ernste Verantwortung auf. Was ist jedoch andererseits der Lohn eines edlen, gut ausgeführten Werkes? Der Lohn, der Ausgleich ist herrlich!

Hüte deine Gedanken wohl und beachte ebenso sorgfältig, was du sagst. Sprich wenig, doch wenn du redest, so sprich im vollen Bewußtsein deiner Verantwortung.

Was ist ein Gedanke? Ein Gedanke ist ein Ding, er ist ein lebendes Wesen. Alle die zahllosen und mannigfaltigen Erscheinungen der Natur sind, soweit es Differenzierungen betrifft, auf die eine Tatsache gegründet, daß im Kern einer jeden solchen Wesenheit ein göttlicher Gedanke existiert, ein Same des Göttlichen, dazu bestimmt, die Äonen hindurch zu wachsen, bis sich das innewohnende Leben, die Individualität, Kraft und Fähigkeit in einem solchen Samen mehr oder weniger vollkommen offenbaren. Daher kommt es, daß ein solcher Gottsame oder eine solche Monade ihrerseits zu einer göttlichen Wesenheit wird, zu einer selbstbewußten Göttlichkeit, zu einem Kind der kosmischen Göttlichkeit, der es entstammt.

Gedanken sind Dinge, weil Gedanken stofflich sind. Gedanken sind stoffliche Wesenheiten – nicht aus dem Stoff unserer physischen Welt zusammengesetzt, sondern aus feiner, ätherischer Substanz.

Der Mensch ist ein Brennpunkt schöpferischer Kräfte; er ist ein Energiezentrum, das beständig zahllose Ströme und Fluten kleiner Leben von sich aussendet. Diese atomischen Leben, diese Lebensatome verlassen ihn durch seine physischen Ausstrahlungen. Auch aus seinem Denkorgan gehen sie hervor, und in seinem Denkorgan sind sie Gedanken, die so in die Gedankenatmosphäre der Welt gesendet werden. Zudem ist jeder Gedanke eine Wesenheit, denn sonst könnte er doch offenbar keinen Bruchteil einer Sekunde bestehen, wenn er nicht mit irgendeiner Art von Individualität ausgestattet wäre, die ihm innewohnt und seine Essenz bildet, die ihn als Wesenheit in individualisierter Form bestehen läßt.

Diese ausströmenden Emanationen des schöpferischen Lebenszentrums, das der Mensch ist, treten als Gedanken in die unsichtbaren Reiche ein und als seine physischen Emanationen auch in die physischen, sichtbaren Reiche. Aber die unsichtbaren, die guten, schlechten, unwichtigen, stark gefärbten, fast farblosen, sehr emotionalen, kalten, heißen, reinen, sanften, verruchten oder sonstigen Gedanken – alles Energiearten – verlassen das Lebenszentrum, das der Mensch ist; und diese Lebensatome sind es, die dann fortan eine eigene Entwicklung beginnen, und im Laufe der Zeit entwickeln sie sich zur Zwischennatur von Tieren.

Die Emanationen des Menschen bauen so die tierische Welt auf; die Tiere leben von diesen verschiedenen Arten von Lebensatomen, ob physischer, vitaler, astraler, mentaler oder anderer Art. Wie nun der Mensch Ströme von Lebensatomen aussendet, so strömt auch die Sonne ihre Lebensessenz in den Raum hinaus und gibt allem, was ihre kraftspendenden Strahlen berühren, Leben und Energie und ätherische Substanz – auch ihren eigenen Atomen, Elektronen und sonstigen Teilchen, die zur physischen Ebene gehören.

So strömt der Mensch fortwährend seine Lebenskraft aus. Die von ihm ausgehenden Lebensströme geben den Wesenheiten der unter dem Menschen stehenden Reiche Leben, evolutionäre Antriebe und ihre Eigenschaften, weil diese unter dem Menschen stehenden Reiche die evolvierten Ergebnisse der Gedanken und vitalen Emanationen der menschlichen Rasse sind.

Gedanken des Hasses und der Zwietracht, die der Mensch hegt, seine oft tierischen Leidenschaften und die verschiedenen Arten unedler Energien, die aus ihm strömen, sind die Wurzeln der Dinge und Wesenheiten in den unter dem Menschen stehenden Reichen, die der Mensch für seine eigene Gattung als feindselig und gefährlich ansieht; während andererseits eine andere Art von vitalen und mentalen Emanationen des Menschen, solche von höherstrebender, harmonischer, gütiger, freundlicher, ausgeglichener Natur, in entsprechender Weise die mittleren oder psychischen Prinzipien der unschädlichen, harmlosen und wohlgestalteten Tiere bilden, wie auch der großen Zahl von nützlichen Gewächsen und schönen Blumen im Pflanzenreich.

Da die Natur ein gewaltiger Organismus ist, ist alles mit allem verbunden; deshalb setzt jeder Atemzug und Gedanke Kräfte und Energien in Bewegung, die schließlich die äußersten Grenzen unseres Heimatuniversums erreichen und über diese Grenzen hinausgehend in den Bereich anderer Universen eindringen.

Daher berührt sogar ein Gedanke an einen Stern diesen Stern im Lauf der Zeit, wenn auch nur mit unendlich kleiner Wirkung; trotzdem stellt diese Tatsache eine wunderbare Wahrheit dar. Zudem ist es eine Wahrheit, die uns nachdenklich stimmt.

Ja, selbst die Sterne werden durch unser Denken beeinflußt. Und bei jenen, deren innere Vision mehr erwacht ist und die erkennen, daß jene herrlichen Lichtkörper, die über das blaue Himmelsgewölbe der Nacht verstreut sind, nur die stofflichen Gewänder einer inneren und glänzenden Bewußtseinsflamme darstellen, die sich in der Herrlichkeit dieser kosmischen Sonnen offenbart – geradeso wie sich unser Bewußtsein durch uns als Menschenwesen offenbart –, bei jenen, die derart zu Sehern werden, erreicht das Denken die Sonnen und Sterne. Jeder ist das Kind einer Sonne und deshalb ein Atom spiritueller Energie. Und welcher Vater kennt sein Kind nicht und hört nicht auf sein schwaches Rufen?

Doch wie steht es mit dem dritten Weh, das die Menschheit heimsucht, dem Tod? Der Tod ist der Eröffner, er verleiht die Vision; der Tod ist der größte und lieblichste Wechsel, den das Herz der Natur für uns bereithält.

Es gibt keinen Tod, wenn wir mit diesem Ausdruck ein vollständiges, absolutes und unbedingtes Aufhören des Bestehenden meinen. Der Tod ist Veränderung, geradeso wie die Geburt durch Reinkarnation (die für die Seele den Tod bedeutet) eine Veränderung ist; es besteht kein Unterschied zwischen dem sogenannten Tod und dem sogenannten Leben, denn beide sind eins. Es handelt sich um eine Veränderung in eine andere Phase des Lebens. Der Tod ist eine Lebensphase, wie das Leben eine Todesphase ist. Er ist nichts, was man fürchten müßte.

Um seine Kräfte zu erneuern, muß der physische Körper des Menschen eine bestimmte Zeitlang schlafen; so muß auch die psychische Konstitution des Menschen ihre Ruhezeit haben – im Devachan.

Der Tod ist so natürlich, der Tod ist so einfach, der Tod selbst ist so schmerzlos, der Tod ist so schön wie das Heranwachsen einer lieblichen Blume. Er ist die Pforte, durch die der Pilgrim auf eine höhere Stufe tritt.

Beim Tod findet genau dieselbe Aufeinanderfolge von Ereignissen statt wie beim Einschlafen, wenn wir uns nachts zur Ruhe gelegt haben und in jenes Wunderland des Bewußtseins hinübergleiten, das wir Schlaf nennen; und wenn wir ausgeruht, gestärkt, erfrischt und bereit zur Wiederaufnahme unserer Arbeit und Pflicht am neuen Tag erwachen, dann finden wir, daß wir dieselbe Person sind, die wir vor dem Einschlafen waren. Im Schlaf findet eine Unterbrechung des Bewußtseins statt. Auch der Tod ist eine solche Unterbrechung des Bewußtseins. Im Schlaf träumen wir, oder wir sind, mehr oder minder, unbewußt; und im Tod haben wir ebenfalls Träume: herrliche, wundervolle, spirituelle Träume – oder vollständige Unbewußtheit. So wie wir vom Schlaf erwachen, so kehren wir auch bei der nächsten Reinkarnation zur Erde zurück, um in einem neuen menschlichen Körper unsere karmischen Lebensaufgaben fortzusetzen.

Es gibt freilich einen Unterschied zwischen Schlaf und Tod, doch betrifft dieser nur die Umstände und nicht das Wesen der Sache. Nach dem Schlaf kehren wir in denselben Körper zurück, während wir nach dem Tod einen neuen Körper annehmen. Wir inkarnieren, wir reinkarnieren jeden Tag, wenn wir aus dem Schlaf erwachen; weil das, was während des Schlafs des physischen Körpers mit uns vorgeht und geschieht, in Kurzfassung mit dem übereinstimmt, was mit uns bei und nach dem Tod vorgeht und geschieht.

Der Tod ist ein absoluter, ein vollkommener Schlaf, eine vollkommene Ruhe. Der Schlaf ist ein unvollkommener Tod, oft von aufregenden und beängstigenden Träumen gestört, aufgrund der Unvollkommenheit der bewußten Wesenheit, die das menschliche Ego ist – man nenne es Seele, wenn man will. Tod und Schlaf sind Brüder. Was im Schlaf geschieht, geschieht auch bei und nach dem Tod, jedoch auf vollkommene Weise. Was bei und nach dem Tod geschieht, geschieht auch während des Schlafs, jedoch auf unvollkommene Weise. Wir verkörpern uns bei jedem Erwachen aufs neue; denn das Erwachen bedeutet, daß die Wesenheit, die während des Schlafs zeitweilig den Körper verlassen hat – das Gehirnbewußtsein, das astral-physische Bewußtsein –, in diesen Körper zurückkehrt, sich neu inkarniert, und daher erwacht der Körper, dessen Blut, Gewebe und Nerven durch das psychische Feuer neu belebt werden.

Hast du dich jemals beim Zubettgehen, beim Einschlafen und beim Schwinden des Bewußtseins gefürchtet? Nein. Es ist etwas so Natürliches, es ist ein so beglückender, Ruhe verleihender Vorgang! Die Natur ruht sich aus, und das ermüdete Gehirn erholt sich; und die innere Konstitution, die ‘Seele’, wenn man sie so nennen will, wird während der Schlafperiode zeitweilig in das höhere Bewußtsein des Menschen zurückgezogen – der Strahl wird sozusagen wieder in die innere, spirituelle Sonne aufgenommen.

Genau das gleiche findet beim Tod statt; doch wird beim Tod das abgetragene Gewand beiseite gelegt; auch ist die Ruhe lang, unvergleichlich schön und beglückend, sie ist von herrlichen und wundervollen Träumen und von unerfüllten Hoffnungen erfüllt, die jetzt im Bewußtsein der spirituellen Wesenheit verwirklicht werden. Dieser Traumzustand ist ein Panorama der Erfüllung aller unserer edelsten Hoffnungen, all unserer früheren Träume unverwirklichter geistiger Bestrebungen. Er ist ihre Erfüllung in strahlendem Glanz und in Herrlichkeit, in überfließender Fülle und Vollkommenheit.

Der Tod ist ein absoluter Schlaf, ein vollkommener Schlaf. Der Schlaf ist ein unvollkommener Tod, ein unvollständiger Tod. Daher wird alles, was während der kurzen Periode des Schlafens mit uns vorgeht, beim Sterben vollständig, vollkommen und in großem Maßstab wiederholt. Wie man morgens im gleichen physischen Körper erwacht, weil der Schlaf nicht vollständig genug ist, um den Silberfaden der Lebenskraft zu zerreißen, der die innere abwesende Wesenheit mit dem schlafenden Körper verbindet, so kehren wir auch nach unserer devachanischen Erfahrung, den Erfahrungen in der Himmelswelt, in der Welt der Ruhe, des absoluten Friedens, des absoluten, glückseligen Schlummers zur Erde zurück.

Während des Schlafs verbindet der Silberfaden der Lebenskraft die umherwandernde Seele noch mit dem Körper, den sie verlassen hat, so daß sie entlang dieser psycho-magnetischen Verbindungskette zum Körper zurückkehrt; wenn aber der Tod eintritt, wird dieser silberne Lebensfaden zerrissen, in Blitzesschnelle (die Natur ist in diesem Fall sehr barmherzig), und die wandernde Seele kehrt nicht mehr in den abgelegten Körper zurück. Dieses völlige Scheiden des inneren Bewußtseins bedeutet das Zerreißen jenes Silberfadens; der Körper wird dann wie ein abgetragenes und nutzloses Kleidungsstück beiseite gelegt. Im übrigen ist die Erfahrung des umherwandernden Bewußtseins, der umherwandernden Wesenheit oder Seele genau die gleiche wie im Schlaf, nur geschieht es jetzt in kosmischem Maßstab. Das Bewußtsein scheidet, und bevor es als ein reinkarnierendes Ego wieder zur Erde zurückkehrt, geht es von Sphäre zu Sphäre, von Reich zu Reich, von ‘Wohnung’ zu ‘Wohnung’ in des ‘Vaters Haus’, wie es im Neuen Testament heißt.

Trotzdem ruht das reinkarnierende Ego auch in gewissem Sinne: in vollkommener Glückseligkeit, in höchstem Frieden; und während dieser Ruhezeit verarbeitet und assimiliert es die Erfahrungen des vergangenen Lebens und fügt diese Erfahrungen seinem Wesen als Charakteranlagen ein, geradeso wie der Körper während des Schlafs die tagsüber aufgenommene Nahrung verdaut und in sich aufnimmt und alles Unbrauchbare ausscheidet und neues Gewebe aufbaut, um dann neugestärkt zu erwachen, so kehrt auch das reinkarnierende Ego neugestärkt zur Erde zurück.

Ähnlich ist es mit dem Schlaf. Der Schlaf wird von der Wesenheit verursacht, wenn sie sich aus dem physischen Körper zurückzieht, den sie mit ihrer Flamme erfüllte und dem sie tätiges Leben verlieh. Das ist der Schlaf. Und wenn jener Rückzug der inneren Wesenheit ganz stattfindet, dann ist auch der Schlaf als solcher verhältnismäßig vollkommen, und es herrscht eine relativ vollkommene Unbewußtheit – die schönste aller Schlafformen. Denn dann ist der Körper ungestört, ruht friedlich und ruhig und erneuert in seinem System, was in der Zeit aktiven Arbeitens oder Spielens verbraucht worden ist.

Ist hingegen der Rückzug der inneren Wesenheit unvollständig oder nur teilweise eingetreten, dann entstehen Träume; denn die innere Wesenheit fühlt dann die Anziehung ihres physischen Teils, des physischen Menschen, fühlt den psycho-magnetischen Einfluß, den dieser physische Mensch auf sie ausübt, und die Unbewußtheit des Schlafs ist gestört durch die Schwingungen des physischen Menschen, des mit Leben erfüllten Körpers. Das erzeugt böse Träume, schlechte Träume, aufregende Träume, seltsame und unheilvolle Träume. Ist der Rückzug etwas vollständiger als in letzterem Fall, aber nicht ganz vollständig, dann entstehen glückliche, friedliche Träume.

Ist der Schlaf völlig frei von Bewußtheit, dann hat das seine Ursache darin, daß die innere Wesenheit fast gar nicht mehr von den psycho-magnetischen Schwingungen des Körpers und besonders des Gehirns beeinflußt ist. Jenes Bewußtsein oder Denken selbst ruht in einem Schlummer, in dem ihm ein gewisses Maß seines Erkenntnisvermögens verbleibt, das das Gehirn aber nicht mehr als Traum registrieren kann, weil die Trennung zwischen dem Körper und dem Bewußtsein, das diesen Körper verlassen hat, zu groß ist. Doch während dieses Bewußtsein sozusagen halb wach ist und halb schläft, befindet es sich in jener besonderen, für menschliche Augen unsichtbaren Welt, zu der es von seinem Denken und Fühlen in den vorausgehenden Augenblicken und Stunden hingelenkt wurde. Es weilt dort als Besucher, vollkommen beschützt und behütet, und nichts kann oder wird ihm aller Wahrscheinlichkeit nach Schaden bringen, außer, wenn die innere Natur des betreffenden Menschen so verdorben ist, daß der Schutzschild des Geistes, der normalerweise diese innere Wesenheit umgibt, so brüchig geworden ist, daß feindliche Einflüsse eindringen können.

Wiedergeburt, das Erwachen aus der Ruhe zwischen Erdenleben, ist das Ergebnis des Schicksals, des Schicksals, das du dir in vergangenen Leben selbst geschaffen hast. Du selbst hast dich so gestaltet, daß du wieder hierher auf die Erde zurückkommen mußt; und du bist jetzt hier, weil du dich in anderen Leben zur Reinkarnation vorbereitet hast. Du selbst bist für dich Vater und Mutter, du bist dein eigenes Kind, denn du bist du selbst. Du bist als Charakter, als Menschenwesen nur das Ergebnis dessen, was du in der Vergangenheit aus dir gemacht hast, und dein künftiges Schicksal – die Wirkung folgt notwendigerweise der Ursache – wird genau das Ergebnis, das Karma von dem sein, wozu du dich jetzt machst.

Hier liegen die geheimen Ursachen der Wiedergeburt: Die Menschen hungern nach Licht und wissen nicht, wo sie es finden können. Ihre Intuitionen sagen ihnen die Wahrheit, doch sie wissen nicht, wie sie diese Ahnungen deuten sollen. Ihr Denken, ihr Verstand ist verwirrt durch die Lehren jener, die nur in der materiellen Welt nach Licht gesucht haben. Lichtsucher sein, ist wahrlich ein edles Streben, aber nur in der materiellen Welt danach zu suchen, beweist, daß die Suchenden den Schlüssel zum größeren Innen verloren haben, von dem das materielle Universum nur die Schale, das Gewand, der Körper, die äußere Hülle ist.

Eine der verborgenen Ursachen der Wiedergeburt, der Wiedergeburt der menschlichen Seele ist die, daß der Mensch, weil er ein essentieller Teil des Universums und mit diesem in seinem innersten Herzen und mit seinem ganzen Sein eins ist, dem kosmischen Gesetz der Wiedereinkörperung gehorchen muß: erst Geburt, dann Wachstum, dann Jugend, Reifung, Entwicklung von Fähigkeiten und Kräften, dann Niedergang, das Nahen des großen Friedens – Schlaf, Ruhe; und dann das erneute Heraustreten in das manifestierte Dasein. So verkörpern sich auch Universen wieder. So verkörpert sich auch ein Himmelskörper wieder – jeder Stern, ob Sonne oder Planet. Jeder einzelne ist ein Körper, wie du es in deinem niederen Teil auch bist; jeder ist ein untrennbarer Teil des grenzenlosen Universums, wie auch du selbst es bist; jeder einzelne entspringt dem Schoß des grenzenlosen Raums als dessen Kind, wie auch du selbst; und ein universales kosmisches Gesetz durchdringt und durchwaltet alles, so daß, was dem einen geschieht, sei es groß oder klein, entwickelt oder unentwickelt, fortgeschritten oder nicht, jedem und allen geschieht.

Du selbst gestaltest dir dein Schicksal; du selbst machst dich zu dem, was du bist. Was du jetzt bist, ist genau das, wozu du dich in vergangenen Leben gemacht hast. Und für das, was du in Zukunft sein wirst, legst du jetzt die Ursachen. Du hast einen Willen, und du gebrauchst diesen Willen zu deinem Wohl oder Weh, während du hier auf Erden lebst und später in den unsichtbaren Reichen, in den Gebieten des grenzenlosen Raums. Das ist eine weitere, die zweite der verborgenen Ursachen der Wiedergeburt.

Es gibt noch eine dritte verborgene Ursache, und diese ist vielleicht die materiell wirksamste. Diese dritte Ursache wurzelt im Innern eines jeden von uns. Es ist der Durst nach sinnenhaftem Dasein, Durst nach irdischem Leben, Hunger nach den Stätten und Gebieten, in denen wir einst wandelten und die uns vertraut sind. Das bringt uns wieder und immer wieder zur Erde zurück. Diese Tṛishṇā, diese Tanhā, dieser Durst, in vertraute Verhältnisse zurückzukehren, bringt uns wieder zur Erde zurück – er ist als einzelne Ursache wohl wirksamer als alle anderen.

Die entkörperte Wesenheit geht nach dem Tod und vor der Rückkehr zur Wiedergeburt auf der Erde dorthin, wohin die Gesamtsumme ihres Sehnens, ihrer Gefühle und Bestrebungen sie hinlenkt. So ist es ja auch im menschlichen Leben auf der Erde. Der Mensch versucht sein Bestes, um jenem Pfad zu folgen, den er innerlich ersehnt oder anstrebt. Und wenn wir diesen physischen Körper abwerfen, wie ein Gewand, das seinen Dienst getan hat, werden wir zu jenen inneren Sphären und Ebenen hingezogen, die wir schon während des letzten Erdenlebens ersehnten und erstrebten. Das ist auch genau der Grund, warum wir auf diese Erde in irdische Körper zurückkehren. Es ist dieselbe Regel, nur wirkt sie dann in entgegengesetzter Richtung. Nach dem Tod haben wir irdische Sehnsüchte, Hunger und Durst nach Materiellem in unserem Charakter latent als Samen zurückgelassen, und diese bringen uns schließlich wieder zur Erde zurück.

Nach dem Tod tragen uns die edleren, helleren, reineren, zarteren Charaktersamen, die Früchte, die Folgen unseres Sehnens nach Schönheit, Harmonie und Frieden in jene Reiche, wo Harmonie, Schönheit und Frieden wohnen. Und diese Reiche sind Sphären wie auch die Erde, doch weit ätherischer und schöner, weil die Schleier der Materie dünner und die Krusten materieller Substanz dort nicht so dicht sind wie hier. Das Auge des Geistes sieht klarer. Der Tod befreit uns von der einen Welt, und wir treten durch die Tore der Verwandlung in eine andere Welt ein, wie auch genau das Umgekehrte stattfindet, wenn die inkarnierende Seele die feineren Bereiche des Äthers verläßt, um zu unserem gröberen, stofflichen Erdenleben in den schweren Körper aus physischer Materie hinabzusteigen.

Die inneren Welten sind für die Wesenheit, die sie durchwandert, wie sie auch diese äußere Welt durchwanderte, ebenso wirklich, ja noch wirklicher als die äußere, da sie ihnen nähersteht. Sie sind ätherischer und stehen deshalb der ätherischen Natur des ewigen Pilgers näher, der auf seiner immerwährenden Reise zur Vervollkommnung einen weiteren Erfahrungszustand durchläuft. Und diese Wandlungen erfolgen, eine nach der anderen, vor der nächsten Inkarnation auf dem wiederkehrenden Rad des Zyklus. Der Pilger wandert während der ablaufenden Jahrhunderte von einer Sphäre zur anderen, immer höher steigend zu höheren Reichen, bis der Gipfelpunkt des Zyklus dieser betreffenden Wanderung des Pilgers erreicht ist.

Deshalb, fürchtet euch nicht. Alles ist wohlgefügt; denn dein Herz ist das Universum, und das Allerinnerste deines Herzens ist das Herz des Universums. Wie unser herrliches Tagesgestirn die Fluten seiner Strahlen nach allen Richtungen aussendet, sendet auch dieses Herz des Universums, das überall ist, weil es nirgends im besonderen ist, unaufhörlich Ströme von Strahlen aus; und diese Strahlen sind die Wesenheiten, die das Universum erfüllen.

I – Wintersonnenwende

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Es gibt vier Wendepunkte des Jahres: Die Sonnenwenden des Winters und Sommers und die Tag-und-Nacht-Gleichen des Frühlings und Herbstes. Im Jahreszyklus sahen die alten Völker stets ein Symbol für das menschliche Leben und auch für das Leben des Universums. Die Geburt zur Wintersonnenwende, zum Jahresbeginn. Die Jugend-Reifezeit – die Versuchungen und ihre Überwindung – zur Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche. Das Erwachsenenalter – voll erblühte Stärke und Kraft – zur Sommersonnenwende: eine Einweihungsperiode, in der die Große Entsagung erfolgt. Und abschließend die Herbst-Tag-und-Nacht-Gleiche, die Periode des Großen Hinscheidens. Ebenso symbolisiert der Jahreszyklus auch die Schulung in Chelaschaft.

Zur Zeit der Wintersonnenwende gilt es für die Neophyten oder Initianden zwei Hauptprüfungen zu bestehen, nämlich den vierten Grad und den siebenten oder letzten Grad: der vierte für Menschen, deren innere Größe etwas geringer ist, die aber dennoch große Menschen sind; und die letzte oder siebente Initiation, die im Laufe der Zeitalter nur in seltenen Intervallen vorkommt. Aus ihr gehen die Buddhas und Christusse hervor.

Während der Einweihung der Menschen, deren spirituelle und intellektuelle Kapazität etwas geringer ist als die jener Menschen, aus denen die Buddhas hervorgehen – während dieser vierten Initiation wird dem Kandidaten gelehrt, sich selbst von allen Fesseln des Ichs und von den vier niedrigeren Prinzipien seiner Konstitution zu befreien. Nach seiner Loslösung geht er entlang den magnetischen Kanälen oder Kreisläufen des Universums bis zu den Toren der Sonne. Dort macht er halt und kehrt wieder zurück. Hierzu werden gewöhnlich drei Tage benötigt. Der Betreffende erhebt sich dann als ein vollständig Eingeweihter. Ihm ist bewusst, dass über ihm noch erhabenere Gipfel auf diesem einsamen Pfad zu erklimmen sind, auf jenem stillen und schmalen Pfad, der zur Göttlichkeit führt.

Die siebente Initiation kommt in einem Zyklus vor, der ungefähr 2 160 Menschenjahre dauert, die Zeit, die für ein Tierkreiszeichen benötigt wird, um durch eine Konstellation rückwärts zur nächsten Konstellation zu gelangen – mit anderen Worten ein Zyklus, der unter Mystikern im Okzident als messianischer Zyklus bezeichnet wurde. Wenn die Planeten Merkur und Venus, die Sonne, der Mond und die Erde in Syzygie stehen, kann die befreite Monade des erhabenen Neophyten entlang dem magnetischen Pfad durch diese Körper wandern und weiter direkt zum Herzen der Sonne. Vierzehn Tage lang befindet sich der auf der Erde zurückgelassene Mensch wie in einer Trance oder läuft herum wie betäubt, wie ganz benommen, da sein innerer Teil, sein wirkliches Wesen, durch die Sphären wandert. Zwei Wochen später, während der lichten Hälfte des lunaren Zyklus oder Monats, das heißt bei Vollmond, kehrt seine wandernde Monade rasch wie ein Gedankenblitz auf dem gleichen Weg zurück, auf dem sie zu Vater Sonne aufgestiegen war. Dabei nimmt sie die Gewänder wieder auf, die sie auf jedem dieser Planeten auf dem Hinweg zurückgelassen hatte: die Gewänder des Merkur, die Gewänder der Venus, die Gewänder des Mondes – des lunaren Körpers, des lunaren Globus – und vom Mond kehrt die Monade in den zurückgelassenen, in Trance befindlichen Körper zurück. Eine Zeit lang, den Umständen entsprechend kürzer oder länger, erstrahlt dann das ganze Wesen des Neophyten in spirituellem Sonnenglanz. Er ist ein soeben geborener Buddha. Sein ganzer Körper erstrahlt in Herrlichkeit. Von seinem Kopf und besonders aus seinem Hinterhaupt treten in Form einer Aureole Strahlen hervor, herrliche Strahlen, gleich einer Krone. Aus diesem Grunde wurden früher im Okzident von jenen, die diesen Grad durchschritten hatten, Kronen und im Vorderen Orient Diademe getragen, weil sie wahrhaftig mit dem Glanz der Sonne gekrönte Söhne der Sonne sind.

In diesen Einweihungen stirbt der Mensch. Initiation ist Tod – Tod des niedrigen Teils des Menschen. Der Körper stirbt tatsächlich, er wird aber dennoch am Leben erhalten; aber nicht von der spirituellen Seele, die nun von ihm fortgeflogen ist wie ein Schmetterling, der sich aus seiner Puppe befreit hat, sondern am Leben gehalten von jenen, die bei ihm wachen und warten und ihn behüten. Da die physische Dreiheit lebendig erhalten wird, kann die wandernde, spirituelle Seele schließlich wieder wie ein Vogel in sein Nest zurückkehren. Sie erkennt ihr früheres physisches Heim wieder und wird ‘wiedergeboren’, aber in diesem Fall in demselben Körper. Während der Zeitperiode, in der die wandernde Monade abwesend war, ob für drei oder vierzehn Tage, folgte die exkarnierte Monade buchstäblich den Wegen des Todes. Sie tat es jedoch sehr schnell und innerhalb der vierzehn Tage. Tatsächlich stimmt dieser Vorgang dem Wesen nach völlig mit dem Prozess überein, der bei der Exkarnation und der Reinkarnation abläuft, denn die Monade kehrt entlang dem Wege der Wiedergeburt, der Wiederverkörperung, zu dem in Trance befindlichen Körper zurück und wird gewissermaßen im alten Körper wiedergeboren, anstatt in einem neuen. Daher sagte man von einem solchen Menschen in Indien, er sei ein Dvija – ein Ausdruck der Brahmanen von Āryāvarta – ein ‘zwei Mal geborener’ Initiierter.

Dieser Ausdruck hat noch eine weitere Bedeutung: Einer, der aus der Asche des alten Lebens wiedergeboren ist, aus einem Leben, das jetzt ausgebrannt und vergangen ist. Er hat aber auch jene tiefere Bedeutung, von der ich zuvor gesprochen habe. Diese Initiationen des siebenten Grades, die im Verlauf des messianischen Zyklus einmal vorkommen und aus denen als spirituelle Frucht ein geringerer Buddha, ein sogenannter Bodhisattva hervorgeht, dürfen nicht mit einer der größten Initiationen verwechselt werden, die die Menschheit kennt, nämlich mit der Initiation, die ausschließlich mit den Rassen-Buddhas zusammenhängt. Es gibt in jeder Wurzelrasse nur zwei Rassen-Buddhas, während Bodhisattvas verschiedener evolutionärer Größenstufen sehr zahlreich vorkommen. Von den zyklischen Bodhisattvas kommt, wie oben angedeutet, in jedem messianischen Zyklus von 2 160 Jahren je einer. Sie sind gewöhnlich avatārischer Art.

Es gibt Fälle, in denen Neophyten versagen. Die Versager haben jedoch eine neue Gelegenheit in weiteren Leben. Die Strafe für Misserfolg in diesem Leben heißt aber Tod oder Wahnsinn; es ist eine sehr gerechte Strafe. Schwerwiegend sind in der Tat die Warnungen an jene, die Vögeln gleich in die Ätherräume der inneren Welten fliegen und den Spuren der Vorgänger folgen wollen, die ihnen den Kreislaufbahnen des Universums entlang vorangegangen sind.

Wenn man nachts das Sternenzelt betrachtet oder während des Tages die Augen erhebt und die Pracht von Vater Sonne am mittagsblauen Himmelsgewölbe leuchten sieht, wie leer scheint dann die Ausdehnung des Raumes zu sein – anscheinend so zwecklos, anscheinend so nichtig! Die Astronomen sagen uns, die Erde sei eine Kugel, die in der Leere, im Äther frei im Gleichgewicht schebe, nur gebunden durch die Gravitationskraft der Sonne, und dass der Weg oder die Bahn der Erde um die Sonne nur durch die Schwerkraft bestimmt sei: kurz, dass der ‘Raum’ leer sei. Ja, der Raum ist – mystisch gesprochen – wahrlich Śūnyatā, ‘Leere’ in ihrer esoterischen Bedeutung, aber keineswegs ‘Leere’ wie die Astronomen des Okzidents sie verstehen; denn in Wirklichkeit ist der Raum, den wir erblicken, den unsere physischen Augen zu sehen vermeinen – oder nicht sehen – von so dichter, von so konkreter Substanz, dass keine menschliche Vorstellung dem Gehirn eine klare Idee davon vermitteln kann, die Mathematik ausgenommen.

Ein Physiker und Astronom, J. J. Thomson, berechnete vor einigen Jahren, dass der Äther des Raumes zweitausend Millionen Mal dichter sei als Blei. Damit wird einer alten Lehre Ausdruck gegeben. Man muss sich dabei aber bewusst sein, dass die richtige Darstellung dieser Tatsache von unserer Betrachtungsweise abhängig ist. Wir haben Augen zur Wahrnehmung und Durchdringung der Materie unserer Sphäre entwickelt, und wir sehen etwas, das uns als ein Vakuum, eine Leere, erscheint. In Wirklichkeit aber ist dieses anscheinende Vakuum, diese Leere etwas gänzlich Ausgefülltes. Es ist in der Tat eine Fülle, ein Pleroma: voller Welten, Sphären und Ebenen, voller Hierarchien, erfüllt mit Wesen, die sich auf und in diesen Welten, Sphären und Ebenen entwickeln.

Versucht bitte, diese Idee ganz klar zu erfassen. Unser ganzes Śurya-System, unser ganzes Sonnensystem – ‘Ei des Brahmā’ genannt – kann von einem sehr realen Standpunkt aus als ein gewaltiger eiförmiger, zusammengesetzter, im Raum schwebender Körper betrachtet werden. Wenn ein Astronom auf einem fernen Globus in den stellaren Tiefen unser ‘Ei des Brahmā’ sehen würde und wenn er es von der geeigneten höheren Ebene oder Welt aus sehen könnte, dann würde ihm unser ganzes Sonnensystem als ein eiförmiger Lichtkörper erscheinen – als ein eiförmiger unauflöslicher Nebel. Dieser würde die ganze ‘Leere’, die wir sehen oder die wir zu sehen vermeinen, die sogenannte Leere, miteinschließen und infolgedessen auch unsere ganze solare Welt des ‘Eis des Brahmā’ – vom innersten Herzen von Vater Sonne bis über die Grenzen jener Planeten, die die Astronomen als äußerste Planeten bezeichnen.

Das ‘Ei des Brahmā’ setzt sich aus konzentrischen Sphären zusammen, die ihren Mittelpunkt in der Sonne haben. Jede einzelne dieser Sphären ist eine kosmische Welt. Ihr Herz – das Zentrum jeder einzelnen – ist die Sonne. Die Welt oder Sphäre unserer Erde ist eine dieser Sphären. Sie umgibt die Sonne als eine Sphäre dichter Substanz und der Kern dieser Sphäre oder in diesem Ei – denn das ist es – ist das, was wir gewöhnlich unsere Erde nennen. Das Gleiche gilt für die Sphäre des Merkurs, für die Sphäre der Venus, für die Sphäre des Mars, des Jupiters und des Saturns. Ja und auch des Uranus. Aber denkt daran, dass Uranus nicht zu unserem eigenen System heiliger Welten gehört, obwohl er zu unserem ‘Ei des Brahmā’ gehört.

Obwohl jede solche verdichtete Sphäre wie die unserer Erde oder die des Jupiters oder die des Merkurs de facto solch ein ‘Ei des Brahmā’ oder solch eine ‘Sphäre des Brahmā’ ist, muss in diesem Zusammenhang genau beachtet werden, dass dennoch der Kern jeder solchen Sphäre oder jedes solchen Planeten, wenn seine Bewegung von einer anderen Ebene aus betrachtet würde, als eine Welle oder Woge erscheinen würde, die sich ständig in und um eine feste oder halbfeste Zone oder einen Gürtel vorwärtsbewegt. Diese Zone oder dieser Gürtel ist in Wirklichkeit das, was wir auf unserer Ebene als den Ort der Umlaufbahn eines solchen Planetenkörpers wie der Erde oder des Jupiters oder des Merkurs bezeichnen. Das bedeutet wiederum, dass eine Planetenbahn wie die der Erde, von einer anderen Ebene aus gesehen, ein wirklicher Gürtel oder eine wirkliche Zone um die Sonne ist. Dieser Gürtel oder diese Zone ist sozusagen der Weg des Kerns, dessen Bewegung in dieser Zone als eine Welle oder Woge betrachtet werden kann, die sich stetig entlang dieses Gürtels oder dieser Zone oder dieses Rings bewegt. Aus dem soeben Gesagten ist sofort ersichtlich, dass das, was wir einen Planeten nennen, korrekterweise von drei verschiedenen Betrachtungsebenen aus als drei verschiedene Dinge gesehen werden kann: Erstens als ein Globus, wie wir ihn auf dieser Ebene sehen; zweitens – von einer anderen Ebene aus – als eine Welle oder Woge, die sich in einer ringförmigen Zone oder einem Gürtel folgend, der die Sonne umgibt, zirkulierend vorwärtsbewegt; und drittens als eine konzentrische Sphäre oder vielmehr als ein Sphäroid oder Ei, dessen Mittelpunkt sich im Herzen der Sonne befindet.

Diese konzentrischen Welten oder Sphären rotieren beständig kreisförmig um das Herz der Sonne. Die Sphären, die ungefähr wie die Schichten einer Zwiebel ineinander liegen, sind in gewissem Sinne aus verschiedenen Materien gebildet, aus Materien, deren Zustand vom Zustand der Materien der anderen Sphären verschieden ist. Daher können sie einander so leicht durchdringen, als ob die anderen nicht vorhanden wären. Deshalb kann unser Auge einige der Sternenkörper sehen, die jenseits der Bahnen des Mars, des Jupiters und Saturns liegen. Alles, was wir von der Sternenschar außerhalb unseres ‘Eis des Brahmā’ sehen, zählt zu jenen besonderen Sternen oder Sonnen, die für unsere Sehorgane deshalb sichtbar sind, weil sie die gleiche Stufe der materiellen Evolution erreicht haben, auf der wir uns jetzt selbst befinden und auf der auch unsere physische Sonne steht. Würden wir auf einer anderen Ebene leben, könnte unser Blick die betreffenden Materien oder – anders gesagt – die Bahnen oder Sphären von Mars oder Jupiter oder Saturn nicht durchdringen. Allein diese drei Planeten verbergen Milliarden und Abermilliarden von Sonnen, die wir während unseres jetzigen Manvantaras oder Weltzyklus nie werden sehen können. Eines Tages, in ferner Zukunft, werden wir auf Grund der Einwirkung der Evolution auf die Materie unserer Weltsphäre einige der Rājā-Sonnen sehen, die jetzt durch diese drei Planeten verborgen werden – durch die Sphäre dieser drei Planeten, denn die Planeten und ihre jeweiligen Sphären sind in Wirklichkeit das Gleiche. Gerade weil das ‘Ei des Brahmā’ durch und durch stofflich und daher der interplanetarische Raum gänzlich stofflich ist, kann das Licht, das zu dieser vierten kosmischen Ebene gehört, von den Sternen zu uns dringen.

Bei der Erörterung dieser konzentrischen Sphären muss auch daran gedacht werden, dass zu einer korrekten Vorstellung über die Struktur und die Eigenschaften des ‘Eis des Brahmā’ auch die Erkenntnis der wichtigen Tatsache gehört, dass es noch zahlreiche weitere planetarische, konzentrische Sphären gibt, als die der acht, neun oder zehn Planeten, die der abendländischen Astronomie bekannt sind. Es gibt Dutzende von Planeten im Sonnensystem, die für jedes astronomische Instrument oder Gerät völlig unsichtbar sind. Ferner und noch viel wichtiger ist, dass es eine Vielzahl solcher konzentrischen Sphären gibt, die zu ganz anderen Ebenen des Kosmos gehören. Und jede einzelne dieser unsichtbaren konzentrischen Sphären, die unserer Ebene teilweise übergeordnet und teilweise untergeordnet sind, wird ebenso von ihren mannigfachen Scharen von Wesen bewohnt wie unsere Ebene. Jede Ebene hat ihre eigenen Hierarchien von Bewohnern, ihre eigenen bewohnten Welten mit ihren Lebewesen, mit ihren Ländern, mit ihren Bergen und Meeren und Seen und sonstigen Dingen, wie unsere Erde sie besitzt.

Diese konzentrischen Weltsphären waren als Gesamtheit betrachtet die ‘kristallinischen Sphären’ des Altertums, die von den Astronomen so gröblich missverstanden und deshalb so belächelt wurden. Was bedeuteten dann diese Worte in Wirklichkeit: ‘kristallinische Sphären’? Gemeint waren Sphären, deren Zentrum die Sonne ist, die für unsere Augen durchsichtig sind. Genau wie Glas sehr dicht und dennoch für unser Auge durchsichtig ist, sind die Äthersubstanzen unserer vierten kosmischen Ebene sehr dicht und doch durchsichtig für unser Auge. Für die Bewohner der Erde, die das Erscheinungsbild des Sonnensystems von der Erde aus beoachten, scheint sich das ganze System der konzentrischen Sphären infolge der Erdrotation um die Erde zu drehen. Daraus ergibt sich die geozentrische Betrachtungsweise der scheinbaren Bewegungen der Planeten, der Sonne, des Mondes und der Sterne. Alle Dinge in der universalen Natur wiederholen sich in Struktur und Wirkungsweise. Das Kleine spiegelt das Große wider und das Große wiederholt sich im Kleinen, da beide wahrlich eins sind.

Weiter kann gesagt werden, dass unsere Erde aufgrund der magnetischen Struktur und Wirkung der zwölf Globen unserer Planetenkette zwölf verschiedenartige magnetische bipolare Aktivitäten aufweist. Ein solches Polpaar ist unseren Wissenschaftlern bekannt, die anderen sind ihnen nicht bekannt. Unser ‘Ei des Brahmā’, unser Sonnensystem als ein Ganzes, hat ebenfalls zwölf magnetische bipolare Bahnen oder – wie man kurz sagt – Magnetpole, und jeder einzelne dieser zwölf Pole hat seinen Ort in einem der zwölf Sternbilder des Tierkreises – oder richtiger die zwölf Konstellationen des Zodiak sind die Orte der zwölf Pole der zodiakalen Periode. Das Lebensrad mit seinen zwölf Speichen läuft unablässig.

Aus diesem Grund kann ein Mensch ein Sohn der Sonne sein. Daher kann ein Menschenwesen entlang den magnetischen Wegen von der Erde zum Mond, vom Mond zur Venus, von der Venus zum Merkur und vom Merkur zum Herzen des Vater Sonne gelangen – und wieder zurück. Auf dem Hinweg legt die wandernde Monade bestimmte Hüllen oder Gewänder in jeder planetarischen Station ab. Staub zu Staub auf der Erde. Der lunare Körper wird in den Tälern des Mondes abgelegt und zurückgelasen. Auf der Venus werden die Hüllen, die der Art der Venus entsprechen, ebenfalls beiseite gelegt, ebenso auch auf dem Merkur. Dann wird unser solarer Teil in sein eigenes Herz aufgenommen. Auf ihrer Rückreise verlässt sodann die wandernde Monade die Sonne, nachdem sie wieder ihre eigene solare Hülle aufgenommen hat. Sie betritt die Sphäre des Merkurs und sammelt dort die Gewänder, die sie vorher abgelegt hatte, und legt sie wieder an. Dann geht sie weiter zur Venus. Dort bekleidet sie sich wieder mit der dort zurückgelassenen Hülle. Darauf tritt sie in die unheilige Sphäre des Mondes ein und nimmt in seinen dunklen Tälern ihren früheren lunaren Körper auf und wird dann auf den lunaren Strahlen, bei Vollmond, auf der Erde geboren. Staub zu Staub, Mond zu Mond, Venus zu Venus, Merkur zu Merkur, Sonne zu Sonne!

Initiation ist das zeitweilige Einswerden mit anderen Welten und Ebenen durch selbstbewusste Erfahrung. Die verschiedenen Grade der Initiation kennzeichnen die verschiedenen Stadien des Fortschritts oder der entsprechenden Befähigung. In dem Maße, wie die Initiationen an Erhabenheit zunehmen, dringt auch die spirituelle Seele des Einzuweihenden tiefer und tiefer in die unsichtbaren Welten und Sphären ein. Man muss alle Geheimnisse des solaren Eis vollständig kennenlernen, bevor man in diesem solaren Ei ein göttliches Wesen werden kann und eine bewusste und freiwillige Arbeit im kosmischen Werk übernimmt.

Bereitet euch ununterbrochen vor, denn jeder Tag ist eine neue Gelegenheit, ist ein neuer Eingang, eine neue Möglichkeit. Versäumt nicht eures Lebens Tage, denn es wird die Zeit kommen, schicksalshaft nahen, da ihr an der Reihe seid, dieses erhabenste aller Abenteuer zu bestehen. Herrlicher als es Worte schildern können, wird die Belohnung sein, wenn ihr erfolgreich seid. Übt daher, übt beständig euren Willen. Öffnet eure Herzen mehr und mehr. Denkt an die Göttlichkeit in eurem Innersten, an eure innerste Gottheit, an das Innerste in euch, an euren Kern. Liebet andere, denn diese anderen seid ihr selbst. Vergebt ihnen, denn damit vergebt ihr euch selbst. Helft ihnen, denn dadurch stärkt ihr euch selbst. Wenn ihr sie hasset, dann lenkt ihr eure Schritte selbst auf den Weg zum Abgrund, denn dadurch hasst ihr euch selbst. Kehrt dem Abgrund den Rücken zu und richtet eure Blicke auf die Sonne!

Nach dem Tode bist Du – Du selbst

Ich hoffe, daß die Zeit kommt, wo wir mehr Gewicht als bisher auf die Lehren legen werden, die sich mit den Vorgängen nach dem Tode befassen. Der Durchschnittsmensch ist heute anscheinend weniger unmoralisch als vielmehr amoralisch, das heißt, er scheint größtenteils den Sinn für moralische Verantwortung verloren zu haben. Wenn die Menschen erkennen könnten, was mit ihnen nach dem Tode geschehen wird, würde in ihnen ein gewisser Sinn für das notwendige Benehmen oder Verhalten geweckt.

Wir wollen versuchen, die alte Weisheitslehre für die Menschheit wiederherzustellen: So wie Du lebst, wirst Du nach dem Tode sein. Es ist eine einfache Lehre, und sie ist so logisch, sie wendet sich an uns. Einige mögen anfänglich darüber verstimmt sein, sie mag ihnen nicht gefallen; aber es liegt eine Idee darin, die wegen ihrer Logik, wegen ihrer Gerechtigkeit schließlich im Bewußtsein Wurzeln schlagen wird.

Wer Kāma-Loka und Devachan verstehen will, der studiere sich selbst jetzt, und er wird wissen, was er bekommen wird. Genau das. Sie werden die Fortsetzungen dessen sein, was Sie jetzt sind. Was wird einem Menschen zustoßen, der sich dem Laster hingibt? Er erntet die Folgen seiner Missetaten. Er lernt daraus die Lektionen, die dem Leiden entspringen. Wenn ein Mensch sein Gemüt mit rohen Gedanken und bösen Träumen anfüllt, dann wird er dadurch für lange Zeit durch Leiden lernen, denn die Wirkungen und Folgen für seinen Geist und Charakter ergeben sich unmittelbar. Er leidet, er empfindet Qualen, er zahlt die Strafe, er hat sein inneres System vergiftet, und er wird erst Frieden finden, wenn sich das Gift selbst herausgearbeitet hat, wenn er sich neugestaltet, das heißt, neugeformt hat. Dann wird er wieder Frieden haben, dann wird er wieder in Ruhe schlafen können.

Studieren Sie sich selbst in Ihrem täglichen Bewußtseinszustand; und studieren Sie auch die Art Ihrer Träume. Warum stehen beide in Zusammenhang? Weil Ihre Träume aus Ihrem eigenen Denken stammen und daher ein Teil Ihres eigenen Bewußtseins sind. Ein Mensch hat in seinen wachen Stunden böse Träume, üble Gedanken; wenn er schläft, hat er Alpträume. Er lernt daraus während des Schlafens, aber er wird im Schlaf sicher keine himmlischen Träume haben, denn er hat sein Denken mit gräßlichen, haßerfüllten, niedrigen und erniedrigenden Gedanken erfüllt. Er hat keine himmlischen Substanzen gebildet.

Das ist die Antwort: Kāma-Loka ist einfach ein Bewußtseinszustand, in den das Bewußtsein des Menschen nach dem Tode eintritt, weil er während seines Lebens bestrebt war, diese Art von Bewußtsein zu bilden. Kāma-Loka wirkt sich selbst aus, und dann erhebt er sich oder sinkt er in sein entsprechendes Schicksal: in ein schwaches Devachan, oder in überhaupt kein Devachan, seinem Wesen entsprechend. Mit anderen Worten: Wenn er sich den Charakter X geschaffen hat, wird er nach dem Tode den Charakter X haben, welcher Art er auch sei. Er wird nicht den Charakter Y oder Z oder A oder B haben. Umgekehrt wird ein Mensch, der sich während seines Lebens stets im Zaume hielt, der Selbstkontrolle übte und hochherzig lebte, genau das gleiche Gesetz erfahren: Sein nachtodlicher Zustand in Kāma-Loka wird unbewußt sein, oder nahezu unbewußt, weil er in seinem Innern keine Neigungen für Kāma-Loka entwickelt hat. Wahrscheinlich wird er ein glückseliges Devachan erleben.

Angenommen, ein Mensch hat überhaupt keinen ausgeprägten Charakter, er ist weder besonders gut noch besonders schlecht. Welcher Art wird sein Zustand nach dem Tode sein? Er wird ein farbloses Kāma-Loka haben, nichts besonders Schlechtes; und er wird ein farbloses Devachan haben, nichts besonders Schönes oder Segensreiches. Es wird alles wie eine Art verschwommener, ungreifbarer Traum sein. Es wird belanglos sein, und folglich wird alles belanglos sein, nachdem er gestorben ist.

Oder nehmen Sie den Fall eines jungen Menschen auf schlechten Wegen, der sich – sagen wir – in mittlerem Alter ändert und den Rest seines Lebens tugendhafte Taten vollbringt und an seiner Vervollkommnung arbeitet. Wie wird sein Schicksal in den zukünftigen Welten sein? Wie ich Ihnen zuvor sagte, sind Kāma-Loka und Devachan einfach eine Fortsetzung dessen, was der Mensch ist, wenn er stirbt. So hat folglich ein schlechter, junger Mensch, der sich zu einem guten, alten Menschen wandelt, praktisch überhaupt kein Kāma-Loka widriger Art. Er wird bis zum letzten Heller für jede schlechte Tat, die er in der Jugend beging, zu zahlen haben – aber in seinem künftigen Leben. Seine schlechten Taten sind dort Gedanken-Samen. Doch da er sich im mittleren Alter besserte und ein reines, sauberes Leben als anständiger Mensch führte, wird sein Kāma-Loka sehr mild sein, weil es einfach eine Fortsetzung dessen sein wird, was er bei seinem Tode war, und das Devachan wird entsprechend ausfallen.

Man kann auch schon vor Eintritt des Todes im Kāma-Loka und im Devachan sein; ja, man kann sich während der Verkörperung sogar im Avíchi-Zustand befinden. Aus dieser Tatsache sollten wir eine sehr wichtige Folgerung ziehen: Wenn wir als verkörperte Männer und Frauen Kāma-Loka erleben können, werden wir es auch nach dem Tod durchlaufen; und nach genau dem gleichen Gesetz werden wir, wenn wir während unserer Verkörperung geistige Bestrebungen, Träume spiritueller Art oder spirituellen Gepräges und Charakters haben, das Devachan nach dem Tode durchleben. Um es zu wiederholen: Kāma-Loka ist eine Weiterführung oder Fortsetzung dessen, was Sie während Ihres Lebens gewesen sind, und zwar bis es sich ausgewirkt hat. Wenn Sie Ihr Denken, Ihren Geist und Ihr Herz an Dinge hängen, die Ihnen Schmerz bringen, die Ihnen Leiden schaffen, weil Sie selbstsüchtig sind und halsstarrig aus Stolz und Egoismus, dann werden Sie nach dem Tode mit Sicherheit den gleichen Bewußtseinstendenzen folgen. Es kann nicht anders sein. Sie sind einfach Sie selbst. Daher sind Devachan und Kāma-Loka die Weiterführungen oder Fortsetzungen der jeweils entsprechenden gleichen Bewußtseinszustände, die Sie auf der Erde durchlaufen haben – mit diesem einen Unterschied: daß Sie, mit dem Verlassen des Körpers, der zugleich eine Blende und ein Schutzschild ist, ähnlich einem Gedanken sind – ähnlich einem bloßen Gedanken. Und wenn Ihr Denken während des Lebens bei schrecklichen Dingen verweilte oder wenn Sie während Ihrer Verkörperung Ihrem Denken gestattet haben, in diese Richtungen zu gehen, dann wird der Makel nicht von Ihnen abgewaschen werden, nur weil Sie den Körper abgelegt haben. Ihr Denken, das Sie selbst sind, wird fortdauern, und Sie werden durch Kāma-Loka hindurchgehen und jene Phase des Denkens erschöpfen müssen. Es wird absterben müssen, so wie ein Feuer abbrennen muß.

Gleichermaßen, in der Tat genauso, werden Sie, wenn Sie im Leben schöne Gedanken, großartige Gedanken, erhabene Gedanken gehegt haben, nach dem Ablegen Ihres Körpers gewiß das gleiche im Devachan erleben, nur tausendfach stärker, weil der Körper nicht mehr behindert. Wenn Sie also wissen wollen, was Ihr Schicksal nach dem Tode bringen wird, so studieren Sie sich jetzt selbst und lassen Sie sich warnen. Es gibt eine sehr wichtige und zutreffende Lehre, die wir aus dieser Tatsache ziehen können, gerade aus dieser Tatsache. Sie können jetzt Ihren Zustand nach dem Tode so gestalten, wie Sie ihn haben wollen, ehe es zu spät ist. Nichts im Universum kann verhindern, daß Ihnen die Glückseligkeit des Devachan zuteil wird, oder vielmehr, daß Sie sie sich selbst schaffen. Daraus folgt: nehmen Sie sich selbst in die Hand.

Das ist die Lehre von Kāma-Loka. Das ist die Lehre von Devachan. Es ist sehr einfach. Alle die verwickelten, abstrakten Fragen ergeben sich meines Erachtens weitgehend aus der Unfähigkeit, die Prinzipien der Lehren zu verstehen. Wenn Sie sich zur Ruhe legen, dann träumen Sie oder sind unbewußt. Wenn Sie sterben, träumen Sie oder sind unbewußt. Sie haben, wenn Sie in der Nacht schlafen, schlechte oder gute Träume, oder sind unbewußt. Wenn Sie sterben, werden Sie schlechte oder schöne Träume haben, oder werden unbewußt sein – alles hängt von dem einzelnen Menschen ab und von dem Leben, das er führte. Daher sind Kāma-Loka und Devachan und, in der Tat, Avíchi nicht Dinge, die Ihnen plötzlich begegnen werden, wenn Sie sterben; vielmehr wird Ihr Bewußtsein, weil es während Ihrer Verkörperung von bestimmter Art war – auf die eine oder andere Art – fortdauern, nachdem Sie gestorben sind.

Hier erkennt man die Bedeutung der Ethik, und warum alle großen Weisen und Seher zu jeder Zeit versucht haben, die Menschen zu lehren, ihre Gedanken zu vergeistigen, ihre Gedanken zu veredeln, ein Leben aus dem Herzen zu führen, und die Dinge abzulegen, die böse und schlecht sind. Das Devachan wartet nicht auf Sie; Kāma-Loka wartet nicht auf Sie – ich meine im Sinne von absoluten, im Moment völlig von Ihnen getrennten Zuständen. Wenn Sie sie im Leben erfuhren, werden Sie sie nach dem Tode erfahren. Der Mensch, der keine haßvollen, widerwilligen, abscheulichen oder giftigen Gedanken gegenüber einem anderen hegte, mit anderen Worten: dessen Herz und Geist nie Niststätten des Bösen waren, wird weder im Leben noch nach dem Tode ein Avíchi durchlaufen und auch kein unglückliches Kāma-Loka im Leben oder nach dem Tode. Ihm wird ein wundervolles Devachan zuteilwerden, und er wird erfrischt, gekräftigt, gestärkt und erneuert zurückkehren, um ein neues Leben mit allen günstigen Voraussetzungen zu beginnen.

Nach dem Tode sind Sie weiterhin genau das, was Sie sind, wenn Sie sterben. Das ist alles. Darin liegt das Geheimnis von Kāma-Loka und Devachan und aller dazwischenliegenden Zustände des Bardo, wie die Tibeter es nennen. Alles übrige sind Einzelheiten, und deshalb bleibe ich dabei, in meinen öffentlichen Ansprachen und in meinen Schriften zu betonen, daß der Tod nur ein Schlaf ist. Der Tod ist ein vollkommener Schlaf und der Schlaf ein unvollkommener Tod. Es ist buchstäblich so. Wenn Sie schlafen, sind Sie zu einem Teil tot. Wenn Sie sterben, sind Sie in vollkommenem Schlaf. Wenn Sie diese einfachen Ideen begreifen, werden Sie die ganze Lehre, bildlich gesprochen, auf Ihrem Daumennagel verzeichnet haben, ein daumennagelgroßes Bild.

Nun folgt noch ein anderer Gesichtspunkt: Ich habe Leute sagen hören, daß sie nicht im Devachan bleiben möchten, weil es eine Zeitverschwendung sei. Das ist ein Mißverständnis. Ebensowohl könnten Sie sagen: Ich möchte heute Nacht nicht schlafen, es ist eine Zeitverschwendung. In Wirklichkeit haben Sie die Ruhe nötig, die Erholung, die Assimilation der Erfahrungen des vergangenen Lebens. Sie werden dadurch gestärkt, Sie wachsen dadurch. Daher ist das Devachan, obwohl es keine Zeit der Evolution ist, doch eine Zeit des Aufbaues, der Erholung, der Assimilation, der inneren Verarbeitung und der Stärkung; es ist ebenso nötig, wie die Nachtruhe des Menschen im Bett für seinen Körper nötig ist.

Es wird in der menschlichen Entwicklung eine Zeit kommen, wo selbst das Devachan nicht länger erforderlich sein wird, weil der Mensch gelernt haben wird, im höheren Teil seines Wesens zu leben. Devachan ist, wie schön es auch sein mag, eine Illusion. Es wird in der Zukunft die Zeit kommen, wo die Menschen nicht länger nachts schlafen müssen; sie werden es nicht nötig haben. Sie werden verschiedene Arten von Körpern haben und so lernen, ohne Devachan auszukommen und beinahe unverzüglich wieder zu reinkarnieren, um der Menschheit und allen anderen Wesen zu helfen – was sie am meisten schätzen. Diese Menschen sind die Meister, wie wir sie heute nennen, in all ihren Stufen. Doch für uns gewöhnliche Menschen ist das Devachan eine notwendige Episode.

Das Devachan ist jedoch, wenn es auch eine schöne Erfahrung des Bewußtseins ist, eine Erfahrung des höheren persönlichen Bewußtseins, des höheren Teils unseres menschlichen Egos, des höheren Teils des persönlichen Menschen, sozusagen seines Aromas. Auf dieser Tatsache beruht die Übung, die eine Abkürzung des Devachan zustandebringt. Wenn Sie während Ihrer Verkörperung lernen, außerhalb der Persönlichkeit und im Ewigen zu leben, wenn dies Ihre Gewohnheit wird, dann wird Ihr Devachan entsprechend verkürzt werden, weil Sie es nicht länger wünschen würden. Sie werden es nicht nötig haben, Ihr Geist neigt dann nicht zur selbstsüchtigen, beglückenden Befriedigung der Seele. Das ist nämlich das Devachan: ein Narrenparadies. Im Vergleich mit der Wirklichkeit ist es eine Illusion. Doch gerade, weil Männer und Frauen nach diesen Dingen streben und leiden, um sie zu erlangen, wird das Devachan, so sie es erleben, durch das unendliche Mitleid der Natur zur Zeit der Ruhe und Entspannung, der Wiedererstarkung, der Verarbeitung, der Assimilation. Doch während wir wachsen, während die Zeitalter dahinziehen, werden wir in künftigen Zeitaltern lange nicht so verzweifelt nach diesen beglückenden Befriedigungen der Seele streben. Wir werden unser Glück in unpersönlichen Neigungen zu schönen Dingen finden, zu Dingen, die zum höheren geistigen Menschen gehören und nicht zu der verlangenden menschlichen Seele.

Darin liegt die Schulung, die allen Chelas gelehrt wird, diese Wahrheit, und nicht mehr. Erheben Sie sich aus der Persönlichkeit, damit Sie lernen, sie als ein willfähriges, fügsames Instrument zu benutzen, und leben Sie im spirituellen Teil Ihrer selbst, das heißt, unpersönlich; leben Sie ausnahmslos so, daß Sie nicht beherrscht werden von Ihrem eigenen Hunger nach Dingen, die Ihnen gefallen und Ihnen helfen und Ruhe verschaffen; leben Sie vielmehr im Geistigen, im Universalen und alle diese anderen Dinge werden Ihnen dann von selbst zufallen.

Das Geheimnis der menschlichen Konflikte

Das Geheimnis der Konflikte nicht nur zwischen Menschen, sondern ebenso im Universum, liegt im Vorhandensein von Stufen von Unwissenheit und Selbstsucht und im Fehlen von Altruismus – dem edelsten Gefühl, das sich im Herzen der Menschen regen kann. Es ist nur Altruismus, das Denken an andere, das Hintanstellen unserer selbst, wodurch wir uns selbst vergessen; und im Vergessen verlieren Leid und Sorgen und die winzigen Glückseligkeiten, die wir hegen und pflegen und unsere Persönlichkeit nennen, ihre Bedeutung.

Sehen Sie nicht, daß es nur einen einzigen Pfad gibt, der zu Weisheit, universalem Frieden und äußerster Glückseligkeit führt, und daß er darin besteht, das Unbedeutende dem Ganzen, das kleine Ich den Interessen des Ganzen unterzuordnen, wodurch es möglich wird, am universalen Leben teilzuhaben, anstatt nur im eigenen beschränkten Bereich wirklichen Verstehens zu leben? Hier liegt die Lösung für alles. Gerade dieses Geheimnis hat die moderne Welt vergessen. Sie vergaß, daß im Selbstvergessen Größe, Frieden und Glück liegen, und daß unser Mangel an Frieden und unser Unglück daraus entstehen, daß wir unsere kleinen Belanglosigkeiten und Sorgen hegen und pflegen. Denn diese Begierden und Haßgefühle zerfressen den Lebensnerv unseres inneren Wesens und dann leiden wir, fühlen uns verletzt und erheben unsere Augen zu Gott oder den Göttern und rufen: „Warum geschah dies gerade mir, gerade uns? Was habe ich, was haben wir getan?“ Doch die bloße Kenntnis um das Vorhandensein eines spirituellen und natürlichen Gesetzes sollte uns klarmachen, daß alles, was im Großen wie im Kleinen geschieht – das Kleine ist ja im Großen enthalten – dem göttlichen Gesetz folgt. Elend, Unglück, Konflikte, Not, Armut und die ganze Reihe der uns tangierenden Unannehmlichkeiten entspringen der Gleichgültigkeit der Menschen dem kosmischen Gesetz gegenüber. So einfach ist das.

Daß unsere moderne Zivilisation den großen Einklang verloren hat liegt am Vergessen dessen, daß universale Bruderschaft eine Tatsache in der Natur ist. Damit ist nicht nur eine sentimentale oder politische Bruderschaft gemeint, sondern daß wir alle aus einer gemeinsamen, kosmischen Quelle stammen, und daß das, was einen berührt, alle berührt; und daß deshalb die Interessen des Einzelnen, wenn sie mit den Interessen aller verglichen werden, unbedeutend sind. Aber vergessen Sie nicht, daß die Vielfalt aus Einzelwesen zuammengesetzt ist, so daß Sie keinem einzigen Individuum etwas Ungerechtes, Grausames oder Übles zufügen können, ohne zugleich auch die Gesamtheit zu verletzen. Dies sind einfache Gesetze. Sie wurden der Menschheit seit unvordenklicher Zeit eingeprägt, zu einer Zeit, die der unseren so weit vorausging, daß von den sogenannten ewigen Bergen noch nicht einmal geträumt wurde, weil sie noch im archäozoischen Schlamm ruhten.

Nun, diesen verlorenen Einklang, diese vergessene Wahrheit, die in Vergessenheit geratene Bruderschaft der Menschen kann man auch anders ausdrücken: es ist der Verlust der Überzeugung, daß die Natur im Grunde von spirituellem Charakter ist, vom Gesetz regiert wird und für ein gutes Verhalten Belohnung und für ein schlechtes Verhalten Bestrafung bereithält. Wir haben vergessen, daß diese zwei, Belohnung und Bestrafung, so unfehlbar sind wie das kosmische Gesetz selbst, denn sie sind nur dessen Ausdrucksweisen. Wenn ein Mensch es zuläßt, daß diese wunderbaren und doch so einfachen Gedanken in sein Bewußtsein einsickern, so daß sie zu einem Teil jedes Lebensnervs seines Wesens und seines Empfindens werden, wird er einen anderen Menschen nie mehr absichtlich verletzen. Er kann es einfach nicht. Es entspricht nicht mehr seinem Charakter. Er hat sich selbst aus dem Schmutz gezogen und den goldenen Sonnenschein erblickt. Er erkennt, daß im Grunde alles, alle Wesen, eins sind und daß das Eine so wichtig ist wie das Ganze und das Ganze so wichtig wie das Eine; und daß das Eine innerhalb des Ganzen unendlich wichtiger ist als das Eine für sich alleine genommen, für sich selbst. Wenn die Einzelwesen ihre Gedanken in eine solche Richtung lenken würden, dann wäre das kosmische Gesetz der Harmonie für endlose Zeit gesichert.

Das haben wir verloren: die Überzeugung, daß wir für unsere Gedanken und Gefühle entweder durch Belohnung oder durch Bestrafung bezahlen müssen; daß wir unfehlbar Gutes ernten, wenn wir Gutes tun, Gutes denken und in der rechten Art und Weise fühlen und wenn wir Samen der Gerechtigkeit, Ehrenhaftigkeit, Rechtschaffenheit und Anständigkeit im Umgang mit allen anderen Menschen aussäen – allen anderen, nicht nur im Umgang mit „meinen“◊√ Freunden, sondern mit allen Wesen. Denn der Kosmos ist eine Einheit und kennt keine Unterteilungen oder menschliche Trennungen. Das haben wir verloren. Darin liegt unser Versagen. Das ist das Geheimnis aller menschlichen Konflikte.

Sie sollten sich darüber klar sein, daß dieser Gedanke wegen des äußerst komplexen Charakters der modernen Zivilisation – allein deshalb – eine verwirrende Reihe schwieriger Fragen nach sich zieht. Aber jeder, der das Herz am rechten Fleck hat, kann diese Fragen klären, weil er durch den Gott im Inneren erleuchtet ist, wenn er seinem Herzen erlaubt zu sprechen. Sein Urteil ist dann eigentlich unfehlbar. Wenn ich vom Herzen spreche, meine ich damit nicht Emotion; ich meine den menschlichen Instinkt für aufrichtiges Ehrgefühl, innere Moral und spirituelle Sauberkeit. Wir Abendländer waren tatsächlich viel zu lange Feiglinge. Wir versuchten immer, unser Fehlverhalten jemand anderem aufzubürden. Deshalb schufen wir für unseren Zweck ein reines Phantasieprodukt, Jesus Christus genannt, und luden auf seine Schultern unsere gesamten Sünden. Dann bildeten wir uns noch ein, wenn wir das nur stark genug glauben könnten, würden wir durch das Blut des Lammes rein gewaschen werden. Ja, aber was ist dann mit denen, die durch mein Übeltun zu leiden hatten? Hilft es ihnen, wenn ich gerettet bin? Was ist mit jenen, denen ich in meiner von Dummheit, Ignoranz und Boshaftigkeit gezeichneten Vergangenheit vielleicht böswillig den Stoß ins Elend versetzte, anstatt ihnen eine brüderliche Hilfe angedeihen zu lassen, die es ihnen erlaubt hätte, nach oben zu kommen? Was ist mit ihnen? Sehen Sie nicht, daß Ideen solcher Art eine kosmische Philosophie in ihr gerades Gegenteil verkehren? Sehen Sie nicht, daß das alles falsch ist? Was dem Einzelnen in Aussicht gestellt wird, ist gar nicht so bedeutsam. Viel wichtiger ist, was mit allen anderen ist, mit der unüberschaubaren, sich abquälenden, hoffenden, sich abmühenden, leidenden Masse. Das allein ist wichtig. Jeder Geschädigte begreift dies und empfindet so.

Diese unvermeidliche Bestrafung oder die von Liebe gezeichnete Belohnung nennen wir die Lehre der Konsequenzen, die Lehre von Karma: was Du säst, das mußt Du ernten, jetzt oder später. Da gibt es kein Entrinnen. In den Dingen des täglichen Lebens ist uns das vollkommen vertraut. Dazu bedarf es keiner Argumente. Wenn Sie Ihre Hand in eine Flamme halten oder einen elektrischen Draht berühren, wird Sie das Feuer nicht etwa nicht brennen, weil Sie dumm und unwissend sind, und Ihre Unkenntnis der Gesetze der Elektrizität wird Sie nicht davor bewahren, eben durch sie vielleicht getötet zu werden.

Glücklicherweise gibt es dazu noch eine andere, eine schöne Seite. Unser bester Lehrer, unser größter Freund, ist das Leid, das wir erfahren. Welche Eigenschaften sind es, die ein menschliches Herz so gütig machen, daß man das Leid der anderen versteht und mitfühlen kann? Sympathie und Mitgefühl. Wenn wir leiden, wachsen wir. Nichts erweicht das Herz so sehr wie eigenes Leid. Aber es stählt auch gleichzeitig unseren Charakter. Das ist ein seltsames, aber schönes Paradoxon. Es macht uns stärker. Wer niemals gelitten hat, kann nicht nachfühlen. Er ist tatsächlich unentwickelt und nur auf sich selbst fixiert.

Wer ist ein großer Mensch? Ein Mensch, der nie gelitten hat oder jemand, dessen Leiden ihm Stärke, innere Kraft und Vision verliehen hat, der weiß, was es heißt, zu leiden und darum aufgrund eigener Erfahrung niemals fähig ist, Leid über andere zu bringen? Sein Herz hat begonnen zu erwachen. Sein Bewußtsein wird für diese einfachen kosmischen Wahrheiten wieder aufgeschlossen.

Sie sehen, wie wunderbar dieses Universum aufgebaut ist. Trotz unserer Dummheit und Unwissenheit, trotz der Tatsache, daß wir von unseren edelsten Empfindungen, die wir anderen Menschen gegenüber haben können, von Altruismus, Liebe und Mitgefühl, keinen Gebrauch machen, können wir durch wirkliches Leid, größte Dummheiten und tiefste Unwissenheit den richtigeren, besseren Weg ausfindig machen. Mit jedem Lernschritt wachsen wir und werden reifer. Wenn wir uns auf diesem langsamen, mühe- und schmerzvollen Evolutionsweg lange genug vorwärts gequält haben, kommen wir schließlich an einen Punkt, wo wir zu uns selbst sagen: jetzt reicht es, ich habe genug. Ich werde von jetzt ab mein Leben selbst in die Hand nehmen und durch eine von mir selbst gelenkte Evolution regieren. Von jetzt an wähle ich meinen eigenen Pfad. Nichts wird meinen Willen in diese oder jene Richtung ablenken. Dort sehe ich das Ziel, und es ist ein kosmisches Ziel. Ich will nicht länger ein Sklave zufälliger Umstände sein. Von jetzt an bestimme ich meinen Weg selbst. Ich suche mir mein Schicksal selbst aus. Ich habe das Gesetz erkannt.

Es ist ein seltsames Paradoxon, daß ein Mensch, dessen Seele zu erwachen beginnt und dessen Augen sich öffnen, der ernstlich versucht, seine Arbeit zu tun, im Leben seine Pflicht erfüllt, der seinen Mann steht und aufrecht zu leben versucht, sich wegen des äußerst komplexen und, wie ich denke, wirklich katastrophalen Zustandes des modernen Lebens in tausendmal größere Schwierigkeiten verwickelt sieht als jemand, der nur so dahinlebt, weil er wie die Tiere zum Nachdenken zu einfältig ist. Möchten Sie nur ein menschliches Tier sein, das nicht denkt, nicht überlegt und über kein gottähnliches Empfinden dafür verfügt, daß es seinen Weg im Leben selbst wählen kann?

Es ist deshalb meine Überzeugung, daß alle menschlichen Konflikte ein Ende, ein ziemlich schnelles Ende hätten, wenn wir alle unsere individuelle Verantwortlichkeit gegenüber unseren Mitmenschen erkennen würden. Ich bin sicher, gerade diese eine Regel würde das ganze Gewebe des menschlichen Lebens von oben bis unten durchdringen. Wir würden als Einzelwesen unsere Zusammengehörigkeit in einer menschlichen Hierarchie fühlen und begreifen, daß das, was den Einen angeht, alle angeht, im Guten wie im Schlechten.

Ich habe mich oft gefragt, wieviele Menschen in den stillen Stunden der Nacht an diese Dinge denken. Vielleicht dann, wenn sie ratlos und verwirrt sind und darüber nachsinnen, welchen Weg sie einschlagen sollen oder dann, wenn sie sich fürchten, einem Weg zu folgen, der nicht der Weg der breiten Masse ist. Die Masse hält sich lieber an das, was sie „gesunden Egoismus“ nennt. Ich kann mir keine teuflischere oder satanischere Vorstellung denken als die, die mit diesem Ausdruck gemeint ist. Es ist eine bewußte Verdunklung jeder edlen Regung der menschlichen Seele. Fragen Sie sich selbst: Tun diese Leute etwas, weil es schön, recht und gerecht ist, weil es allen Menschen Glück, Sicherheit und Frieden bringt? Nein, diese Verfechter des gesunden Egoismus sagen: „Wenn ich etwas tue, dann deswegen, weil es letzten Endes mir und den Meinen zum Vorteil gereicht.“ Jetzt stellen Sie sich vor, in den verschiedenen Teilen der Welt würden die Menschen diesem Evangelium folgen, was würden Sie sehen? Genau das, was Sie heutzutage sehen können. All das, jeder menschliche Konflikt könnte verhindert werden. Wohlgemerkt, ich meine damit nicht etwa eine Unterdrückung von Meinungsverschiedenheiten. Sie sind für uns Menschen eines der natürlichsten Dinge. Meinungsverschiedenheiten, wenn sie ehrlich, höflich und uneigennützig ausgetragen werden, verleihen dem Leben Würze und Reiz, verleihen ihm Zauber und Schönheit. Die Franzosen haben ein wundervolles Sprichwort: Du choc des idées jaillit la lumière, „Aus dem Widerstreit der Meinungen entspringt das Licht.“ Das ist der Grundsatz aller Kongresse, aller Parlamente, aller Vereinigungen und aller sonstigen Zusammenschlüsse von Menschen: Alle funktionieren erst durch Ideenaustausch und die Ausschöpfung der besten Ideen, die vorgebracht werden.

Ich spreche also nicht von Meinungsverschiedenheiten. Diese sind natürlich. Ich meine Konflikte, Haß, Mangel an Achtung für den Mitmenschen, die Unfähigkeit, in ihm etwas zu sehen, was ebenso wunderbar ist wie das, was er in uns sehen kann. Haben Sie sich schon einmal nach der so einfachen Regel gerichtet, dem anderen, mit dem Sie sprechen, in die Augen zu sehen? Dabei aber nicht zu versuchen, ihm Ihre Idee aufzuzwingen, wie wir es alle tun; dabei aber nicht zu versuchen, ihn zu überzeugen, damit er dasselbe glauben möge, was Sie glauben; nur ganz einfach in seine Augen zu schauen. Wissen Sie, daß Sie in ihnen etwas Wunderbares sehen können? Eine Welt von bisher nicht geschauter und unbekannter Schönheit. Die ganze Seele dieses Menschen ist bereit, Ihnen entgegenzukommen, wenn Sie ihm dazu eine Gelegenheit geben. Natürlich kann er sich von Ihnen ebensogut zurückgestoßen fühlen, wie Sie sich von ihm. Vielleicht fürchtet er sich vor Ihnen genauso, seine menschliche Seite zu zeigen, wie Sie selbst vor ihm.

Ich versichere Ihnen, daß die Menschen, wenn sie einander vertrauen und Anständigkeit erwarten würden, diese auch bekämen. Ich habe dieses Mittel niemals fehlschlagen sehen. Ich will Ihnen offen sagen, daß ich noch nie in meinem Vertrauen enttäuscht wurde, weil ich mein Vertrauen stets rückhaltlos und im Sinne einer Aufforderung gegeben habe. Das wirkt, und auf dieses Prinzip gründet sich auch die beste Verfahrensweise des modernen Geschäftslebens: gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Ehrenhaftigkeit. Wer sich nicht an diese Dinge hält, erlebt sehr bald einen Rückschlag.

Ich habe in allerletzter Zeit sagen hören, ständiger Kampf sei für die Menschheit gut, weil die Menschen dadurch stark würden. Gewiß, ich habe von Boxern gehört. Aber ich habe keinen von ihnen kennengelernt, der wegen seiner Genialität besonders berühmt wurde, keinen, der die Welt mit seinem Geist entflammt hätte, keinen, der den Lauf des Schicksals oder der Geschichte entscheidend beeinflußt hätte. Menschliche Pachydermen, menschliche Dickhäuter, haben ihren Wert, aber sie stellen nicht gerade jenen Typ dar, den wir wählen, wenn wir einen Menschen zur Bewältigung von besonders schwierigen, auf der Kippe befindlichen und verwickelten Angelegenheiten brauchen. Dazu benötigen wir einen Menschen, der nicht nur Verstand, sondern auch Herz hat. Ein reiner Verstandesmensch, der kein Herz besitzt, kann einen anderen Menschen, der über viel Herzensstärke verfügt, niemals verstehen. Letzterer wird dem Herzlosen jedoch immer wesentlich überlegen sein. Ein herzloser Mensch ist im psychologischen Sinne nur halb fertig und gewaltig im Nachteil. Jeder andere kann ihm durchaus überlegen sein. Herz und Verstand zusammen machen erst den vollständigen Menschen, denn bei diesem vereinigen sich der Gesang des Herzens und die Philosophie des Verstandes zu einem wahren Verstehen.

Sollen wir mit diesen endlosen Konflikten fortfahren? Ich glaube, sie werden ein Ende haben. Ich glaube, daß Schönheit und Achtung selbst jetzt zu finden sind. Der Weg für einen Neuanfang liegt in uns selbst: in mir und in Ihnen.

Die göttliche Entsprechung

Sympathie verhält sich zu Liebe oder kosmischer Harmonie wie Bewußtsein zu göttlicher Intelligenz. Anders ausgedrückt: Erwachte oder tätige Liebe äußert sich in dem, was die Menschen Sympathie nennen. Tätige und zu Selbstwahrnehmung erwachte Intelligenz äußert sich als Bewußtsein. Dies umfaßt auch das Selbstbewußtsein, das aber nur ein sich selbst widerspiegelndes Bewußtsein ist, das sich selbst „sieht“ oder „fühlt“. Alles im Universum und konsequenterweise alles im Menschen, der ja ein Kind dieses Universums ist, läßt sich daher letztlich auf das Eine zurückführen. Ob Sie dieses Eine das höchste oder das erhabenste Prinzip im Kosmos nennen, ist nur eine Frage der Wortwahl. Aus diesem Einen – das in keiner Weise mit Monotheismus gleichgesetzt werden kann – dieser abstrakten Einheit, erwacht all das zur Tätigkeit, was wir Intelligenz, Bewußtsein, Vernunft, Sympathie, usw. nennen. Darum können wir sagen, daß sich Sympathie zu Liebe, das heißt letztlich zu kosmischer Harmonie, wie Bewußtsein zu kosmischer Intelligenz verhält.

Zivilisation wird aus Gedanken erbaut

Der Gedanke ist die treibende Kraft im Menschen. Er steht hinter unseren Emotionen und kann sie sogar kontrollieren. Obwohl sich manchmal ein Gedanke aus einem Gefühl entwickelt, glaube ich, daß auf einer höheren Ebene beide eins sind. Die Welt, in der wir leben, ist eine Welt denkender und fühlender Menschen. Wenn die Welt schlecht ist, dann deshalb, weil unsere Gedanken und Gefühle sie so gemacht haben. Wenn die menschlichen Verhältnisse unharmonisch, zuweilen sogar diabolisch sind, und wenn anstelle von Vernunft und Recht nackte Gewalt regiert, dann ist es so, weil unsere Gedanken sie so gemacht haben.

Ideen kontrollieren Handlungen. In ihnen muß man die Ursache sehen für die Unruhe in der Welt, in der wir leben, und natürlich auch das Heilmittel. Wenn sich jemand ändern will, muß er vor allem damit anfangen, seine Gedanken zu ändern. Als Folge davon wird er beständig in einer neuen Weise fühlen. Das ist der einzig dauerhafte Weg, denn er bewirkt eine Veränderung des Charakters. Wenn Sie einen Streit verhüten wollen, müssen Sie Maßnahmen ergreifen, bevor der Streit sich ankündigt. Wenn Sie versuchen, sich in einen Streit zwischen zwei Personen einzumischen, werden Sie wahrscheinlich nicht nur sich selbst verletzen, sondern es werden drei statt zwei streiten. Sie können keinesfalls einen Streit beenden, indem Sie den Streitenden Vorhaltungen machen. Wenn Sie so verfahren, begegnen Sie den Menschen nicht auf der Ebene, wo sie ansprechbar sind, Sie haben sie nicht verändert und nicht an ihr Denken und an ihre Gefühle appelliert. Bestenfalls haben Sie Beruhigungsmittel verabreicht.

Lassen Sie sie erkennen, daß sie noch etwas schlechter als Tiere handeln, wenn sie streiten, denn die Tiere haben weder unseren Verstand noch unsere Vernunft. Appellieren Sie mit Ideen und erwecken Sie Gedanken. Erfüllen Sie ihr Bewußtsein mit neuen Gedanken und neuen Gefühlen. Dann werden sie anfangen zu verstehen, daß man einen Streit nicht durch rohe Gewalt entscheiden kann, denn das würde ganz einfach bedeuten, daß derjenige, der den Kürzeren gezogen hat, nur seine Zeit abwartet, um herauszufinden, ob er den anderen mit brutaler Gewalt übertrumpfen kann. Die Menschen müssen somit begreifen, daß sich Kriege nicht verhindern lassen, indem man Kriege führt, um sie zu verhindern. Das gelang nie und wird auch nie gelingen, denn es ist eine falsche Psychologie und ebenso töricht.

Jede Zivilisation wird aus Gedanken erbaut. Wenn Sie innerhalb einer Zivilisation eine Änderung bewirken wollen, müssen Sie versuchen, die bisher akzeptierten Gedanken durch neue zu ersetzen. Was ist eine Erfindung? Gedanken. Was sind Literatur, Philosophie, Religion und Wissenschaft? Gedanken. Was ist das Fundament der Sozialstruktur, in der wir leben? Gedanken. Jede Bewegung in der heutigen Welt beruht auf Gedanken, seien diese sozialer, politischer, philosophischer, religiöser oder wissenschaftlicher Natur. Neun von zehn dieser Bewegungen entstanden im Kopf eines einzigen Menschen und breiteten sich aus. Sie sehen es in den Blättern der Geschichte, welch verheerende, katastrophale Auswirkungen Gedanken haben können. Was ist Krieg? Er ist nicht nur das Resultat von Gedanken, er ist der Gedanke selbst. Wegen Ideen, wegen Gedanken kämpfen die Menschen. Wenn wir einen neuen Weltkrieg verhindern wollen, müssen wir vor seinem Ausbruch damit beginnen, der Welt eine neue Gedankenrichtung zu geben.

Weil diese Wahrheiten so einfach sind, gehen sie an uns vorüber, berühren sie uns kaum, und niemand denkt über sie nach. Doch es sind die Ideen, die die Welt erschüttern. Es sind die Ideen, die die Welt erschaffen. Es sind die Ideen, die die Menschen vernichten und ihre Welt zerstören. Studieren Sie die Annalen der Geschichte. Beobachten Sie die erstaunlichen Resultate von Bewegungen, die anfangs vielleicht nur mit einer Handvoll entschlossener Leute begannen. Jahrelang arbeiten, predigen und wirken sie scheinbar ohne Erfolg. Dann, auf einmal, aus irgendeinem bemerkenswerten Grund, zündet die Idee und breitet sich wie eine Feuersbrunst aus. Manchmal nahmen Ideen die Menschen auf höchst erstaunliche Weise gefangen. Wie war das mit den Kreuzzügen, als die Menschen Heim, Herd, Wohnstätte und alles, was ihnen teuer war, verließen, um in einem fremden, weitentfernten und unbekannten Land gegen Andersgläubige zu kämpfen? Zehntausende von Menschen aus ganz Europa strömten zur Verwirklichung einer Idee zusammen. Noch bewerkenswerter war, daß diese merkwürdige und das Denken lähmende Idee sich sogar der Gedanken und der Einbildungskraft kleiner Kinder bemächtigte. Erinnern Sie sich an den Kinderkreuzzug? Kinder aus Deutschland, aus dem jetzigen Belgien, aus Holland, Frankreich, der Schweiz, machten sich plötzlich auf den Weg nach Südfrankreich und Italien, Jungen und Mädchen, von den tapsigen Kleinsten bis hin zu Dreizehn- und Vierzehnjährigen, rannten auf die Straßen und rotteten sich zu Tausenden zusammen, bis die Heerstraßen von ihren trippelnden Füßen schwarz waren. Sie wanderten Hunderte von Meilen, starben unterwegs zu Tausenden oder wurden von menschlichen Ungeheuern, die sich an ihnen bereicherten, aufs schrecklichste mißhandelt. Niemand weiß, wie diese Idee entstand. Plötzlich setzten es sich die Kinder dieser verschiedenen Länder in den Kopf: „Wir wollen kämpfen und das Heilige Grab befreien.“ Stellen Sie sich Kinder vor, die solche Reden führen! Natürlich übernahmen sie diese von ihren Eltern. Aber beachten Sie auch das psychologische Moment. Es erfaßte jedes Heim und entführte mindestens ein oder mehrere Kinder aus jeder Familie. Die Mütter und Väter konnten sie nicht aufhalten. Sie stahlen sich einfach in der Nacht davon. Sie benützten Nebenwege und abgelegene Pfade, um die großen Heerstraßen zu erreichen und dann gingen diese Banden hilfloser Kinder einfach südwärts, immer weiter nach Süden! Und das alles wegen einer Idee, eines Gedankens!

Welche Rolle spielte weiterhin die Idee, die der bemerkenswerten Tarantella zu Grunde liegt und so hervorragend von spanischen und italienischen Historikern, besonders von letzteren, beschrieben wurde? Plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, überkam Männer und Frauen die Idee, daß sie tanzen müßten. Und so tanzten sie, tanzten und tanzten, bis sie am Ende bewußtlos, vollkommen erschöpft, zu Boden stürzten. Sie konnten einfach mit dem Singen und Tanzen nicht aufhören, weder der einzelne, die Gruppe, noch die Bevölkerung ganzer Landstriche und Distrikte. Die Ursache dafür war ein psychologisches Element, ein Gedanke, eine Idee.

Das gleiche ungesunde psychologische Element beherrscht heutzutage das Gedankenleben der Menschen. Die Menschen haben sich in die Idee verrannt, daß es unmöglich ist, einen neuen großen Krieg zu verhindern. Sie glauben es allen Ernstes. Das ist einer der Gründe, warum er auch ausbrechen wird, es sei denn, wir befleißigen uns eines gesünderen Gedankenlebens. Wodurch entsteht ein Krieg, wovon lebt er? Von Gedanken. Was verhindert einen Krieg? Unsere Gedanken, das heißt eine Änderung im Gedankenleben der Menschen. Indem man ihrem Gedankenleben eine andere Richtung gibt, würde man ihre Herzen, ihr Leben, ja, ihre Zivilisation verändern. Sollte ein Krieg kommen, dann allein nur deshalb, weil ihn die Menschen durch ihr Denken heraufbeschworen haben. Ihr Denken beeinflußt ihre Gefühle. Diese wiederum wecken ihr Mißtrauen und ihre Furcht. Aus bösem Denken entstehen weitere böse Gedanken. Aber Feuer läßt sich nicht mit Feuer löschen. Genausowenig können Sie einen Krieg durch Krieg verhindern. Dies ist so einfach wie das ABC. Dennoch erlauben wir solchen Gedanken, unsere Köpfe zu umschwirren. Wir haben uns bereits so an sie gewöhnt, daß wir ihnen keine Aufmerksamkeit mehr schenken, und doch liegt in ihnen das Geheimnis von allem Guten und allem Schlechten. Das Leben eines Menschen kann sich durch seine Gedanken zu Erhabenem verändern, aber genauso sicher kann der Mensch durch sein Denken zur Hölle fahren oder am Galgen enden. Die Gedanken bestimmen, ob ein Mensch ein Gentleman oder ein Flegel ist. Die Gedanken sind es, die den Mutigen oder den Feigling machen. Aus Gedanken werden Vergebung oder fortdauernder Haß geboren.

Aus diesen Gründen wurde die Theosophische Gesellschaft ins Leben gerufen, um zu versuchen, das Denken der Menschen auf bessere und höhere Dinge auszurichten und in ihren Seelen inspirierende und wohlwollende Ideen zu wecken. Warum gehen nicht alle Theosophen mit ihrem Essenskorb zu den Hungernden? Warum sitzen sie nicht an den Betten der Kranken und Sterbenden? Viele von uns tun dies und haben es getan. Aber unsere Hauptaufgabe im Leben ist der Versuch, die Armut zu beseitigen, anstatt an den Nöten der Armen Flickwerk zu leisten. Das wird nach und nach erreicht werden durch eine Veränderung der Gedanken der Menschen, so daß unsere Zivilisation erleuchtet wird. Danach streben wir unter anderen edlen Zielen. Keine andere Aufgabe ist weitreichender als diese. Sie geht mehr an die Wurzeln der Dinge als nur Pflaster und Salben auf eiternde Wunden aufzutragen. Auf einer noch höheren Ebene besteht unsere Aufgabe darin, den Menschen zu zeigen, welche Kräfte, welche Möglichkeiten und welche Fähigkeiten in ihnen liegen, von denen sich der heutige Durchschnittsmensch keine Vorstellung macht. Aber sie sind da. Die titanischen Intellekte, die größten Menschen, die jemals lebten, haben gezeigt, wozu der menschliche Geist fähig ist. Jeder normale Mensch trägt dieselben Möglichkeiten in sich. Ein Teil der Tätigkeit der Theosophischen Gesellschaft besteht darin, den Glauben daran wiederzuerwecken, denn als Folge davon werden die Menschen sich danach sehnen, sich von innen her zu veredeln; das, was innen ist, zu wecken und zu versuchen, größer und erhabener zu werden. In was für einer Welt würden wir dann leben! Bewirken kann dies allein ein entsprechendes Denken und ein daraus resultierendes Empfinden. Dann wird wahrlich der Christus, der in uns an jedem Tag unseres Lebens gekreuzigt wird, von seinem Kreuz, unserem Körper, herabsteigen, in unseren Verstand Einzug halten und nicht nur unser Leben erleuchten, sondern auch unser Verhalten gegenüber unseren Brüdern reformieren. Wenn man die Menschen bewegen könnte, allein diesen einzigen Gedanken zu erfassen und innerlich als wahr zu begreifen, würde eine universale „Bekehrung“ – „eine Kehrtwendung“, ein Verändern – unserer Gemüter und Herzen zum inneren, lebenden Christus, zum lebenden Buddha hin, bewirkt werden!

Das Gebot des Pythagoras

Denken Sie an die Regel, die Pythagoras aufstellte. Sie wurde immer wieder zitiert, aber sie verliert durch die Wiederholung nichts von ihrer Schönheit und ihrer Tiefe. Sie lautet ungefähr so:

„Lasse die Sonne nicht den westlichen Horizont erreichen, noch schließe Deine Augen zum Schlaf, ehe Du nicht alle Ereignisse des eben vergangenen Tages überdacht und Dir folgende Fragen gestellt hast: Was habe ich heute getan, das gut war? Was habe ich heute getan, das schlecht war? Habe ich jemanden verletzt? Habe ich meine Pflicht versäumt? Lasse die untergehende Sonne nicht den westlichen Horizont erreichen, noch schließe die Augen zum Schlaf, ehe Du Dir nicht diese Fragen gestellt hast.“

Wenn die Menschen nur diese einfache Regel bewußt befolgten, würden neunundneunzig Prozent der Sorgen der Welt, des Leidens der Herzen, der Sünde und Angst nicht existieren, sie würden gar nicht erst entstehen. Der Grund dafür ist einfach. Die Kümmernisse der Welt entstehen aus unserer Schwäche, nicht aus unserer Stärke; und wenn wir unsere Stärke vergrößern und unsere Schwächen beseitigen würden, dann würde danach jeder Mensch, entsprechend seiner inneren Entwicklung, zu einer Kraft des Guten in der Welt werden. Und Sie erkennen, was dies bedeuten würde. Die meisten Gedanken, Gefühle und Handlungen, die uns das Elend bringen, würden dadurch direkt an ihrer Pfahlwurzel abgeschnitten.

Universalität und die Esoterische Tradition

H. P. Blavatsky schrieb in großartiger Weise über die Geheimlehre der Zeitalter und sie zeigte uns, daß diese Geheimlehre zu uns herunterkam, seit undenklichen Zeiten unter der Obhut der großen Lehrer verschiedener Grade. Sie führte aus, daß diese Weisheit der Götter ursprünglich den ersten menschlichen Protoplasten von spirituellen Wesen aus anderen Sphären übermittelt wurde, von anderen Ebenen. Bei aller Größe der Lehren und der hohen Gedankenebene, auf die uns H. P. Blavatsky führte, scheint es mir jedoch notwendig darauf hinzuweisen, daß noch etwas darüber gesagt werden müßte, wie der Schüler davor bewahrt werden kann, falschen Ideen, falschen Unterweisungen Einlaß in sein Denken zu gewähren; Lehren, die ihn vom zentralen Feuer hinwegführen. Anders formuliert, die Menschen bedürfen eines Maßstabes, eines Prüfsteins, der sie befähigt, eine ihnen vorgetragene Lehre darauf zu untersuchen, ob sie pures Gold oder nur Messing enthält.

Worin besteht dieser unfehlbare Prüfstein? Was ist dieses Instrument, das man benützen kann, wenn man es als solches erkennt? Es ist Universalität. Jede Ihnen vorgelegte Lehre, die diesem Test nicht standhalten kann, die sich nur als eine angebliche Mitteilung aus anderen Sphären erweist und keine Basis in den großen Philosophien, Religionen und Wissenschaften hat, die der Menschheit in der Vergangenheit von den Meistern der Weisheit gegeben wurden, wurde in betrügerischer Absicht ausgegeben. Sie hat kein Recht, keinen Platz vor dem Tribunal unseres Gewissens. Die Götter belehrten, führten und erzogen den Menschen in seiner Kindheit. Sie erleuchteten seinen Verstand, um ihn zu befähigen, die archaische Weisheit der Götter, die göttlichen Lehren, die geheime Lehre in geheimer wie auch in öffentlicher Tradition zu empfangen, zu verstehen und weitergeben zu können.

Indem Sie die Idee, die Auffassung akzeptieren, daß die Menschheit über die Wahrheit, über die Wirklichkeit belehrt wurde, und daß heute auf Erden das Wissen für uns vorhanden ist, wenn wir dafür bereit sind und uns dessen würdig erweisen, dann verstehen wir, daß dieses Wissen Zeitalter auf Zeitalter, im größeren oder kleineren Maße, je nach den Umständen, durch die am weitesten fortgeschrittenen Menschen und durch die gewaltigsten Intellekte der menschlichen Rasse überliefert worden sein muß. Das ist der Grund, warum diese Tradition, diese Kabbala, diese Brahma-Vidyā, in jeder großen Religion und Philosophie der Zeitalter gefunden werden kann.

Wenn Sie diese Auffassung akzeptieren, werden Sie den Blick nicht mehr allein auf den Autor richten, ganz gleich welches Buch in Ihren Händen sein mag. Sie vergessen die Persönlichkeit, die Individualität des Lehrers und schauen allein auf das, was er vermittelt. Ist er ein echter Lehrer, dann finden Sie keine verschwommenen Grenzbereiche, auf denen Gedanken von Unrichtigkeiten von ränkevollen Geistern errichtet sein mögen, sondern Sie verstehen, daß hier eine erhabene machtvolle Tradition vom Universum, aus dem Herzen der Göttlichkeit zu uns herabgekommen ist.

Es ist diese Tradition, diese Geheimlehre, die H. P. Blavatskys Meisterwerk den Titel gab, und aus dem gleichen Grund wählte ich die bedeutsamen Worte als Titel für mein letztes Buch: „Die Esoterische Tradition“. Die in ihm enthaltenen Lehren sind esoterischen Charakters, weil sie bis jetzt nur von wenigen verstanden wurden. Sie knüpfen an die Tradition an, weil sie aus unvorstellbar weit zurückliegenden Zeitaltern an uns weitergereicht wurden. Die Esoterische Tradition ist darum ein Versuch, ein schwacher vielleicht, aber ein ehrlicher und aufrichtiger, das zu tun, was unsere Lehrer mit uns zu tun versuchen: in unsere Herzen und Seelen Achtung und Verehrung für die vor uns liegende Wahrheit einzupflanzen und das göttliche Feuer der Liebe zu allem, was ist, zu entfachen. Wird diese Wahrheit jedoch einzig und allein an eine als Lehrer angenommene Person gebunden, dann wird die Wahrheit eingeengt, beschränkt und herabgewürdigt.

Der Titel des Buches regt dazu an, einem Lehrer Ehrerbietung entgegenzubringen, jedoch nur insoweit, als er wirklich die Wahrheit lehrt. Vergessen Sie die Person, und Sie werden die Botschaft erkennen. Bedarf die heutige Theosophische Bewegung nicht vor allem dieses Prüfsteins? Ist das nicht mit allem, was uns H. P. Blavatsky lehrte, in vollkommener Übereinstimmung: nach innen zu blicken, aufzuschauen, nicht zu vergessen, die gebende Hand zu verehren und die Botschaft anzunehmen? Prüfen Sie; entnehmen Sie ihr, was Ihnen gut erscheint; verwerfen Sie den Rest, wenn Sie wollen. Es mag sein, daß Sie damit einen Fehler machen, aber Sie müssen von Ihrem Vorrecht Gebrauch machen, selbst wählen und unterscheiden zu können und Ihre Intuition anzuwenden. Wenn Sie das tun, gewinnen Sie dadurch Stärke. Mit der Zeit wird sie zu einer mächtigen Kraft werden. Sie werden schließlich den Eckstein, den Sie verworfen haben, wieder zurückholen und damit den Lehrer bekommen, der in Ihrem Herzen wohnt und Sie in der richtigen Weise belehrt.

Eine Lektion habe ich gelernt: Was zählt, ist die Lehre und ihre magische Wirkung auf mich. Wenn die Lehre in mein Herz dringt, wächst meine Verehrung für den, der sie mir mitteilt. Verehren Sie die Meister nicht noch viel mehr, wenn es Ihnen bewußt wird, daß sie in uns das Edelste und Beste erwecken? Und eben dieses Edelste und Beste in uns befähigt uns, wenn es erwacht ist, zu erkennen. Das ist es, was sie wünschen: es liegt ihnen nicht daran, von uns gesehen zu werden, sondern daß wir wach geworden sind, daß unsere Herzen mit dem Herzschlag des universalen Herzens im gleichen Rhythmus schlagen und daß unser Denken von der Wahrheit, die sie uns mitteilen, entflammt wurde und die wir in gleichem Maße wertschätzen wie sie unpersönlich ist.

Ich glaube, daß die Theosophische Bewegung jetzt und zukünftig unter keinen Betrügern und falschen Lehrern zu leiden haben wird. Wir müssen uns nur daran erinnern, daß der Prüfstein für alles, was uns als Lehre angeboten wird, Universalität ist und ob an unser inneres Bewußtsein, an die innere Stimme appelliert wird.

Wo die Meister arbeiten

Helfen und inspirieren die Meister außer den Theosophen und der Theosophischen Gesellschaft auch andere? Ich wäre außerordentlich betroffen, wenn ein Theosoph diese Frage nicht sofort beantworten könnte. Die Antwort ist natürlich ein klares Ja! Ein Grundgedanke, eine Grundlehre von uns ist, daß die Meister überall dort, wo sie ein offenes Tor finden, unterstützen, helfen und inspirieren. Anders gesagt, sie helfen überall dort, wo sich die Seele nicht mit unüberwindlichen, jedes Licht abhaltenden und jede Hilfe verhindernden Schranken umgeben hat. Nun, natürlich! Und wenn sich der Einfluß der Meister außerhalb der T. G., in der er tatsächlich wahrgenommen werden kann, in anderen Organisationen nicht bemerkbar macht, dann dürfte dies seinen Grund darin haben, daß diese ihre Verbindung mit ihnen entweder verloren oder sich in ihrem Denken und Fühlen mit unüberwindlichen Schranken umgeben haben. In Wahrheit sind die Meister überall dort tätig, wo man für sie die Tore öffnet und wo für ihre Tätigkeit geeignete Verhältnisse existieren.

Folgen Sie einem Gedanken, der ein Traum meines Lebens seit Kindestagen war. Wenn es die christlichen Kirchen fertig brächten, zu den ursprünglichen Lehren ihres großen Meisters, zum wahren Urchristentum zurückzukehren, dann würden die Meister auch heute durch sie als einen der größten Kanäle in der westlichen Welt arbeiten, um den Menschen zu helfen. Wenn sie in ihnen nicht tätig sind, dann deshalb, weil die Hilfe durch Schranken des Denkens und Fühlens versperrt ist.

Was die T. G. betrifft – ich habe oft darauf aufmerksam gemacht, es hängt gänzlich von uns ab, ob die Meister diese weiterhin als ein Instrument benützen, was jetzt geschieht, oder sie sich selbst überlassen. Sie werden letzteres nicht tun, solange wir unsere Herzen und unseren Verstand offenhalten. Sollten wir aber damit anfangen, um unser Bewußtsein Mauern aufzurichten, dann schließen wir uns selbst aus, nicht sie. Die Götter, so sagten die alten Griechen, besuchen die Häuser jener, die ihnen die Türen öffnen. Bedenken Sie, was das bedeutet! Warum sollten Sie nicht versuchen, göttliche und gottähnliche menschliche Gäste gastfreundlich aufzunehmen?

Unser ganzes Problem und das unserer Zivilisation besteht darin, daß wir diese Schranken um uns aufgebaut haben. Von Natur aus bestehen sie nicht. Sie wurden von uns errichtet, Schranken der Ausgrenzung im Denken, im Fühlen, im Brauchtum, in allem. Was passiert mit dem Menschen, der sich in eine Zelle zurückzieht und dort lebt? Wer verliert? Die Welt oder der törichte Mensch? Eine solche Zelle begrenzt das Bewußtsein. Und der Mensch (oder die Zivilisation) ist genauso groß, wie es ihm (oder ihr) gelingt, die durch Gewöhnung und Gewohnheit selbst errichteten Schranken und Begrenzungen niederzureißen, und sich in immer herrlichere Wohnungen des Bewußtseins zu begeben.

Wodurch wird eine Religion erfolgreich? Indem sie sich mit Gedankenmauern umgibt, sich selbst Grenzen setzt und ausgrenzende Schranken errichtet? Natürlich nicht! Die Antwort ist klar. Reißt die Schranken nieder, das Tor ist für alle offen.

Gebet und Streben

Wenn wir gefragt werden: „Beten Theosophen?“ so antworte ich: „Ja und Nein.“ Es hängt davon ab, was der Fragesteller unter Gebet versteht. Wenn er damit meint, daß man niederkniet und eine Bitte an einen Gott richtet, der außerhalb von uns ist, rein imaginär, von dem sich der Verstand nur sehr mühsam eine Vorstellung bilden kann, und der deshalb vom menschlichen Herzen instinktiv nicht als wirklich empfunden wird, dann müssen wir antworten: „Nein, ein Gebet dieser Art nicht.“ Das wäre eine Absage an den Gott im Innern des Menschen, der damit auf seine eigenen Rechte verzichten und sich nach außen um Hilfe wenden würde. Es wäre nur ein Bittstellen, bloßes Fordern, ein Betteln um Vorteile. Es wäre rein äußerlich.

Wahres Gebet ist die herrliche, tiefe, geistige Demut des menschlichen Selbst im Erahnen des unaussprechlich Erhabenen. Es ist das Streben, dem himmlischen Vater gleich zu werden oder wie es Jesus formulierte: das Streben, ein Sohn des Göttlichen zu werden. Es ist fast ein an sich selbst gerichteter Befehl des Menschen, sich zu erheben und zu höheren Dingen fortzuschreiten, empor zum Göttlichen, von dem in jeder menschlichen Seele ein Funke pulsiert. Wenn wir zu diesem inneren Herzschlag, zu dieser Schwingung des Göttlichen eine gleichgestimmte Beziehung identischer Schwingungsfrequenzen herstellen, dann wird unser Leben erneuert; wir werden völlig umgewandelt; wir werden zu Menschen, die nicht länger um Vergünstigungen bitten und sich dadurch schwächen. Wir erkennen allmählich unsere Identität mit dem Göttlichen. In aller Stille legt sich Würde um uns und umhüllt uns wie ein Gewand. Und welches Gebet ist edler als dies: daß der Sohn danach verlangt, seinem göttlichen Elter gleich zu werden?

Soweit es mich betrifft, schlafe ich abends nie ein und stehe morgens nie von meinem Bett auf, ehe ich mich nicht zumindest einmal aufgerichtet und diese Erfahrung gemacht habe. Ein derartiges Gebet ist nicht bloß eine geistige Einstellung. Es ist ein Weg des Lebens, eine Verhaltensweise, die denjenigen, der sie liebt und ihr folgt, mit Würde bekleidet, seinen Geist mit Verständnis bereichert und ihn für alles andere, was lebt, mitfühlend macht.

Derjenige betet am besten, der am besten liebt,
Alle Dinge, groß und klein.

Ja, denn dies ist ein Einswerden mit allem, was um uns ist. Es bedeutet einfach, sein Bewußtsein Schritt für Schritt zu erweitern, sich jeden Tag ein wenig mehr zu entfalten, ein wenig mehr von der Welt um uns aufzunehmen, zu erfassen, anzunehmen. Mit dieser Art von Beten breitet sich unser Bewußtsein des Lebens, Denkens und Fühlens immer weiter aus, bis uns schließlich eines Tages unsere Gedanken und Empfindungen befähigen werden, das Universum zu umfassen. Dann werden wir nicht länger nur Menschen sein, wir werden Gottmenschen sein, und nach unserem Tod werden wir unseren Platz neben den Göttern einnehmen, bei den kosmischen Geistern, Erzengeln, Engeln, Mächten – wenn Sie die christliche Ausrucksweise lieben.

Was ist der Unterschied zwischen einem gewöhnlichen und einem genialen Menschen? Der gewöhnliche Mensch lebt in der kleinen, festbegrenzten Schale seines persönlichen Bewußtseins; er kann nicht darüber hinausgehen. Er hat keine Intuitionen, keine Inspirationen. Ein genialer Mensch hingegen ist jener, der diese Schale durchbrochen hat. Er durchwandert mit seinem Bewußtsein und seinem Gefühl das Universum, das ihn umgibt. Er schwingt in gleichgestimmten Frequenzen mit dem Universum, und dann erlangt er Inspirationen und wunderbare Ideen. Er sieht, er fühlt – und die Menschen sagen: „Ein Genie ist erschienen.“

Dies ist also das Gebet, das uns mit allen Dingen in Berührung bringt. Es erweckt Qualitäten in uns, die schon vorher in uns latent vorhanden waren, die aber jetzt eine Gelegenheit haben zu evolvieren, sich zu entfalten und auszuweiten. Unter einem wahren Gebet verstehen wir nicht nur die auf die Einswerdung mit dem universalen Bewußtsein gerichtete Erweiterung des persönlichen Bewußtseins, sondern die Anwendung dieser Erfahrung in der Praxis. Und dies ist eine ebenso großartige Freude: zu praktizieren, was wir predigen. Sonst gleichen wir nur klingenden Zimbals und dem dröhnenden Bauch hohler Trommeln – Vox et praeterea nihil, eine Stimme und weiter nichts. Wenn man aber das Gebet praktiziert, dann verstärkt man die eigenen Kräfte durch Übung. Was Sie selbst empfunden haben, beginnen Sie anzuwenden. Sie sehen das Licht des Verstehens in den Augen anderer Menschen aufleuchten und es entsteht eine neue und verborgene Sympathie zwischen Mensch und Mensch. Es ist eine neue Lebenskraft. Diese Art von Gebet ist auch ein Weg des Lebens; es ist gleicherweise Wissenschaft; es ist Philosophie; es ist Religion.

Wir sind Kinder des Unendlichen, des Göttlichen. Unsere Gottheit ist intrakosmisch und doch transzendent, genau in der gleichen Weise wie ein Mensch nicht nur sein physischer Körper und nicht nur sein Gemüt oder sein Geist ist. Er ist Körper und Empfindungen und Gefühle und Denken und Seele; aber über diese hinaus ist er transzendent; es ist etwas Größeres in ihm als all das. Es ist der Funke des Göttlichen, der Funke, durch den der Mensch mit dem Unsichtbaren, mit der Göttlichkeit verbunden ist. Dieser Funke ist das wichtigste, das mächtigste Element in uns. Er ist der vorherrschende und leitende Faktor in unserer Bestimmung, und wenn wir immer größer und besser, edler und spiritueller werden wollen, müssen wir uns zu jenem Funken erheben, dann müssen wir uns dazu entschließen, unserem Wissen entsprechend zu leben. Dann wird unser Leben groß werden. Und schließlich, wenn die Praxis relativ vollkommen geworden ist, wird sich die Vision des Genius in das Bewußtsein einschleichen. Denn Genius ist kosmische Weisheit. Mit dem Genius wächst das Verständnis mehr und mehr, und schließlich beginnen wir zu erkennen, daß wir nicht nur ein Mensch sind, der nach dem Tode vielleicht im Himmel oder in der Hölle lebt, sondern daß unser Schicksal das Schicksal des grenzenlosen Alls ist: daß wir endlos sind, gleichermaßen ewig mit der Dauer, mit der kosmischen Zeit, daß das grenzenlose Universum unsere Heimat ist; daß wir hier auf Erden nur für eine Tag-Nacht-Periode sind; daß dies lediglich eine Phase in unserer evolutionären Reise aufwärts und vorwärts ist.

Danach streben wir, darum beten wir: um ein sich stetig erweiterndes Bewußtsein durch Streben, durch Studium, indem wir das Leben führen, das wir lehren – ein sich ständig erweiterndes Bewußtsein zu jenem Letzten hin, zu einer Einheit mit dem Göttlichen. Wir durchlaufen alle Bereiche der Natur, wir wachsen über den Menschen hinaus, um ein Übermensch zu werden; wir werden von einem Übermenschen zu einem Halbgott; von der Halbgöttlichkeit wachsen wir zur Göttlichkeit, zur Übergottheit, und so weiter und weiter und aufwärts auf den endlosen Lebensleitern. Welch ein Wunder! Welch ein Gedanke!

Der göttliche Geist, von dem wir so ungezwungen sprechen – weil er eine Intuition darstellt, eine Antwort auf jenes Streben, auf jenen unaussprechlichen Hunger in jedem normalen Menschen – von dieser Göttlichkeit erkennen wir, daß sie nur unsere menschliche Vorstellung von etwas immer noch Wunderbarerem, Umfassenderen ist, von dem wir nie ein Ende erreichen können, daß es Wachsen und Fortschreiten, ein sich erweiterndes geniales Bewußtsein für immer und alle Zeit ist.

Beten Theosophen? In der Weise, daß wir versuchen, unser alltägliches Leben zu einem angewandten Gebet zu machen. Wir haben den Ariadnefaden, wir haben den Schlüssel und wir versuchen ihn zu benützen. Und wissen Sie, was dieser Schlüssel ist? Er ist die Gottesweisheit. Und wissen Sie, was das Schloß ist? Wir selbst sind es, die diesen Schlüssel ergreifen. Wer ihn in sein eigenes Bewußtsein hineinsteckt und umdreht, und sei es auch nur ganz sanft, dann strömt etwas Wundervolles aus dem leicht geöffneten Tor, von den unaussprechlichen im Inneren verborgenen Geheimnissen, die dem kosmischen Brunnen entquellen. Kein Mensch kann es je benennen. Es ist namenlos. Namen würdigen es nur herab. Immer und ewig danach zu streben – das ist Gebet. Indem wir es leben, wachsen wir. Welche Hoffnung und welcher Friede! Welche Zunahme an Verständnis gewinnt der Mensch, der in seinem Inneren, aus seinem eigenen Bewußtsein, das Ende des Ariadnefadens gefunden hat. Diese ständig fortschreitenden Stufen der Erfahrung und Entwicklung nennen wir Initiation.

Der einzige Ausweg

Die heutigen Männer und Frauen, die älteren und jüngeren, bilden eine Generation, die wir, wie ich glaube, treffend als eine verlorene Generation bezeichnen können. Die Ursache, der Grund für unsere geistige Ziellosigkeit und unser gestörtes Gefühlsleben liegt darin, daß wir unser Verständnis für eine allgemeine oder universal anerkannte ethische und intellektuelle Norm verloren haben und nicht mehr daran festhalten. Das zeigt sich in dem Stimmenbabel, das uns überall umgibt, an den hungernden Menschenherzen und auch an den begierig nach Wahrheit suchenden menschlichen Seelen, die nicht wissen, wo diese und eine Anleitung für sie zu finden ist: die Menschen suchen nach einem wirksamen und befriedigenden inneren Licht, nach etwas, das uns bei der Lösung der anstehenden Probleme als Richtschnur dienen kann. Wir sind tatsächlich eine verlorene Generation, und es ist nicht nur die Jugend, die ‘verloren’ ist. Tatsächlich sind es sogar die Älteren, die noch verwirrter sind als die Jugend von heute. Unsere ganze Generation ist blind, wandert in der Dunkelheit und weiß nicht, wo sie nach dem ersehnten Licht suchen soll; und das Stimmenbabel, das sich aus der gewaltigen Menschenmenge erhebt, ist mit seinen lauten und verworrenen Forderungen nach Allheilmitteln und Patentrezepten aller Art – politischen und anderen – etwas Beängstigendes und Bezeichnendes.

Wenn man diesem turbulenten Babel – oft nur bloßem Geschwätz – sein Ohr leiht, lauscht man vergeblich auf konstruktive Vorschläge, die allgemein anwendbar sind. Selten nur kann man Stimmen vernehmen, die mit der Autorität des Wissens sprechen. Ich will es wagen, die Ursachen für diese Zustände zu nennen.

Wenn ein allgemeiner Streit oder Kampf anhebt und man sich mit der Absicht in die Arena begibt, jene zu bekämpfen und zu überschreien, die bereits dort streiten, dann sind die Chancen gering, daß das, was man sagen will, Gehör findet; viel eher kommt man dabei selbst zu Schaden. Das passiert, weil die Möchtegernreformer sich einfach auf die Ebene der schreienden Streithammel begeben. Auf diese Weise kommt nichts zustande, das von der Idee her universal und definitiv konstruktiv oder attraktiv, neu und hilfreich ist oder das die Probleme erklärt und löst, welche allgemein Störung verursachen. Man begibt sich lediglich selbst in die Schlacht, versucht Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen, Stärke mit Stärke, und dieses Vorgehen hat noch nie Erfolg gehabt, und es wird nie welchen haben.

Das soll nicht heißen, daß Stärke in menschlichen Beziehungen immer ignoriert werden soll. Manchmal ist es notwendig, in weiser, aber dennoch sanfter Form Stärke anzuwenden, aber stets ohne Gewalt und nur, um Böses zu verhüten. Solche Anwendung von Stärke und Macht sollte stets nur ein zeitlich begrenztes Ereignis oder Vorgehen sein, sie sollte nur in unpersönlicher und redlicher Weise angewandt werden, für einen guten Zweck und für das Allgemeinwohl. Gerechtigkeit für alle wird niemals erreicht, indem man in die Kampfarena hinabsteigt und sie dort ‘erkämpft’. Gerechtigkeit wird selten in Säcken gesammelt, wie man so sagt, und nur sehr selten findet man sie tatsächlich vollständig auf einer Seite einer strittigen Sache.

Unsere Generation ist intellektuell und moralisch verloren, weil sie ihre Vision verloren hat. „Wo keine Vision herrscht, geht das Volk unter“ – sagt ein alter hebräischer Spruch, der auf einer umfassenden Kenntnis der menschlichen Psychologie beruht, wie die Geschichte beweist – ein sehr wahres Wort daher. Es ist stets eine Vision oder eine Idee oder eine Reihe von Ideen, die die Menschen zur Höhe emporführt oder hinab in den Abgrund. Plato hatte völlig recht: Ideen sind für den Aufstieg oder den Untergang einer Zivilisation verantwortlich; bestehende Institutionen werden durch sie aufgebaut oder vernichtet. Und es sind einfach große universale Ideen und der Wille, ihnen zu folgen – Ideen und Ideale, die alle Menschen als Wahrheit erkennen –, die den Menschen heute fehlen. Nur weil den Menschen heute die Vision fehlt, d. h. ein inneres Wissen über das Richtige, das zu tun ist, über einen klaren Weg aus den Schwierigkeiten heraus, stehen die Nationen heute da, wo wir jetzt stehen.

Wir stehen jetzt am Ende einer Zivilisationsform, die, wie seinerzeit das Römische Reich, ihr Ende erreicht hat, ihren Zusammenbruch, und wir stehen vor den einleitenden Auftakten des kosmischen Dramas, das jetzt seinen Anfang nimmt. Es wird von der inneren Weisheit und von dem hohen Gerechtigkeitssinn abhängen, der den Menschen innewohnt, ob unsere gegenwärtige Zivilisation in Blut und Verzweiflung untergeht oder ob sie Atem holt und sich die Zeit nimmt, wieder zu gesunden; oder ob sie mit dem Heraufziehen einer neuen intellektuellen und moralischen Auffassung von Gerechtigkeit und Vernunft ihren Abstieg an dem Abhang beendet und anfängt, neue Höhen zu erklimmen, die noch über das Beste hinausragen, was wir als menschliche Rasse bisher erreicht haben. Letzteres kann erreicht werden; es ist nur die höhere Natur des Menschen, seine Intuition und sein Sinn für Gerechtigkeit und Vernunft, nichts anderes, die das mit Sicherheit herbeiführen können: der innewohnende Gerechtigkeitssinn, das eingeborene Rechtsgefühl und die allgemeine Erkenntnis, daß Vernunft und nicht Gewalt den Ausweg bildet – und zu Sicherheit, Frieden und Fortschritt führt.

Die Geschichte zeigt uns mit ihrer stillen, aber ungeheuer mächtigen Stimme, daß es für uns absolut keinen anderen Ausweg gibt, daß es keine andere vollständige Lösung gibt, oder eine solche, die für alle verschiedenen Arten menschlicher Gemüter, für alle Arten menschlicher Charaktere, befriedigend ist. Freiheit für alle; jedes Volk sucht sein eigenes Heil entsprechend seinen eigenen Vorstellungen, jedoch in ethischer Richtung, begleitet von Vernunft und dem Wunsch, gerecht zu sein. Selbst ein vorurteilsfreies Eigeninteresse, das den individuellen Vorteil immer sofort erkennt, muß die allgemeinen Vorteile und Sicherheiten eines solchen Plans erkennen. Alle stabilen menschlichen Institutionen sind auf diese Intuitionen und Instinkte gegründet, und auf nichts sonst; wäre es anders, dann wäre unser Sinn für Ordnung und Recht, unser hoher Respekt vor nationalen und internationalen Gerichten eine gewaltige kollektive Täuschung und eine schändliche und elende Farce. Doch alle vernünftigen Menschen wissen, daß unsere Gesetze auf der Grundlage von Gerechtigkeit und unparteiischem Urteil, gepaart mit unpersönlichem Mitleid, errichtet sind.

Ich gehöre nicht zu den düsteren Pessimisten, die behaupten, der Mensch sei nur ein armer Wurm mit Instinkten, die aus seiner Verbindung mit dem Staube stammen, und mit Intuitionen, die jeder Grundlage entbehren, so daß er seine Probleme nicht befriedigend lösen könne. Er kann sie absolut lösen, wenn er nur den Willen dazu hat, es zu tun. Wir nähern uns tatsächlich dem Ende unserer Zivilisation und sind fasziniert und halten unseren Atem an, während wir die Auflösungserscheinungen beobachten; doch wir vergessen allzuoft, daß es eine fast gänzlich materielle Zivilisation war, in der die materiellen Dinge oft als die einzigen Dinge von dauerhaftem Wert zählten. Es gibt keine neuen Länder mehr, in die wir unsere jungen Leute zur Kolonisierung senden können, denn diese Länder sind alle aufgeteilt oder besetzt. Die Herrschaft der Gewalt und der materiellen Werte hat sich anstelle der Regeln internationaler Gerechtigkeit und allgemeiner Menschenrechte allgemein breitgemacht. Seit ungefähr 1800 Jahren gilt mehr oder weniger die Regel: laßt jeden an sich reißen, was er will; laßt jeden festhalten, was er kann. Das Verhalten der Völker der Erde beruhte zum großen Teil auf dieser rein materialistischen und egoistischen Grundlage. Wir säten den Wind, und wir ernten jetzt als eine Gruppe spirituell bankrotter Völker den Wirbelsturm.

Ist es nicht an der Zeit, daß die vorausblickenderen und intelligenteren Köpfe der Welt danach trachten sollten, daß Ruhe, Vernunft und unparteiische Gerechtigkeit fortan vorherrschen? Gibt es einen anderen und besseren Weg aus unseren Problemen und Schwierigkeiten, als sie weise zu lösen? Wenn die Menschen absichtlich nicht auf die Stimme der Vernunft hören, wenn die Menschen Gerechtigkeit bewußt nicht wünschen oder anwenden wollen, dann scheint es sicher, daß wir abwärtsgehen; und unsere Zivilisation, unsere großen Städte und die zahlreichen, im Laufe der Zeit ausgeführten Werke und Taten von Millionen Menschen, werden sich in Staub und Trümmerhaufen verwandeln. Kein Gott wird die Arena menschlichen Leids und absichtlicher Ignoranz betreten und uns unglückliche Sterbliche aus dem Weltelend herausziehen, das wir uns größtenteils durch fanatischen Eigennutz und durch unser willentliches Verlassen der Wege der Gerechtigkeit und des Friedens selbst geschaffen haben. Wir müssen uns selbst retten, und wenn wir dies in einer Weise tun, die den höheren Mächten gefällt, dann werden wir damit einen unabweisbaren Appell um ihre Hilfe und ihre Führung an sie richten, und wir werden diese empfangen. Herkules hilft dem Fuhrmann wirklich, aber nur, wenn der Fuhrmann sich selbst hilft, und zwar in der rechten Weise.

Es ist reinste Torheit und blanker ethischer und intellektueller Unsinn anzunehmen, die Menschheit sei mit ihrem Schicksal jetzt am Ende, nachdem das letzte Fleckchen Erde besetzt ist; daß es keine Zukunft für diejenigen mehr gäbe, die nicht von Anfang an da waren. Eine solche Annahme steht im Widerspruch zu allen Aufzeichnungen in den Annalen der Weltgeschichte. Wir müssen uns daran erinnern, daß nichts, keine Einrichtung, unveränderlich ist, auf ewig gleich bleibt, und daß die veränderlichen und ständig wechselnden Szenen der vergangenen Menschheitsgeschichte – und das ist die sichere Wahrheit – versprechen, daß die Zukunft ebenso reich an wechselnder kosmischer Szenerie und Veränderung der menschlichen Interessen und Tätigkeitsfelder sein wird wie die Vergangenheit. Die größten Völker der Erde waren nicht jene, die territorial die größten Gebiete besaßen, sondern eben jene, die an vorderster Stelle standen bei der Aufnahme von Ideen und bei der Anwendung progressiver Ideen zum Aufbau menschlicher Einrichtungen, die auf den Idealen unpersönlicher Gerechtigkeit und geschulter Vernunft beruhten; Ideale, die sie für gewöhnlich proklamierten, denen sie jedoch – leider – nicht immer folgten. Denn diese Ideale sind spirituelle Qualitäten, die in der Tat universal sind.

Lassen Sie uns unsere Herzen mit ewiger Dankbarkeit gegenüber den wachenden, wenn auch stillen, kosmischen Mächten erfüllen, so daß die Horizonte, die jetzt vor uns liegen, für die Menschen aus allen Erdteilen, ohne Rassen- oder Glaubensunterschiede, spirituelle und intellektuelle Horizonte sind, hinter welchen sich uns unbekannte Regionen von unendlich großer Ausdehnung erstrecken, die auf die Eroberung durch den menschlichen Genius warten, wenn wir den Empfindungen und Intuitionen der Seele die Zügel überlassen. Dann können Sie sehen, was vor uns liegt, wenn wir Gerechtigkeit herstellen werden, die nicht von Eigennutz motiviert ist, und wenn wir Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe unter uns wirken lassen!

Eine der Hauptursachen und vielleicht der Hauptgrund unserer Schwierigkeiten nationaler und internationaler Art liegt darin, daß die Menschen im allgemeinen – mit vielen großen Ausnahmen – immer noch an Macht und Gewalt glauben und sie für den Weg zur Lösung unserer Probleme sehen. Solche Methoden haben nie dauerhaften Erfolg gebracht – und sie werden es nie tun. Gewalt gebiert Gewalt. Gewalt wächst durch Gewalt. Haß erzeugt Haß, Selbstsucht gebiert weitere Selbstsucht.

Es ist eines der Ziele, lassen Sie mich sagen, eine der Pflichten der Theosophischen Bewegung, den Menschen die einfachen Regeln der Vernunft zu zeigen; daß das Leben von den großen ethischen Instinkten der menschlichen Seele beherrscht sein sollte, die nicht auf menschlichen Konventionen gegründet sind, sondern auf die Ordnung der Struktur und Arbeitsweise der Natur selbst. Aus diesen ethischen Empfindungen entstehen die wegweisenden Regeln der Vernunft und unser Wille, Gerechtigkeit zu üben. Sie lehren uns, daß der ‘Ausweg’ in uns selbst liegt: nicht in unseren Armeen, noch in unseren Flotten, oder in den schrecklichen Methoden gegenseitiger Vernichtung, die vom bösen Geist des Menschen ersonnen wurden. Letztere sind nicht einmal zeitweilige Heilmittel, sie bringen keine befriedigende Lösung der Probleme. Bestenfalls sollte die Verteidigungsmaschinerie als Polizeimacht verwendet werden. Dann würde ihre Anwendung gerechtfertigt, weil sie dann für die Sache der Gerechtigkeit und nur mit Vernunft eingesetzt würde.

Unsere Probleme werden nie durch unser wahnsinniges Wettrüsten gelöst, das mit allgemeinem Mißtrauen, mit Furcht und Angst verbunden ist und mit einer Steuerüberlastung der Völker, die ihre Kräfte übersteigt und sie die Zustände beinahe hassen läßt, unter welchen sie leben müssen. Es ist die alte Torheit, die jetzt von allen erkannt wird, zu behaupten, daß durch die Anhäufung von Waffen und durch die Erfindung neuer entsetzlicher Zerstörungsinstrumente und durch zunehmende Anwendung zerstörerischer Gewalt der Krieg nach und nach so schrecklich würde, daß die Menschen aus furchtbarer Angst davor zurückschrecken. Von allen Torheiten und dummen Argumenten ist dies das Schlimmste, das die leidenden Menschen befallen hat.

Man wird Kriege auch nie aufhalten, indem man sich zu Vereinigungen oder Gesellschaften zusammenschließt und sich verpflichtet, den Kriegsdienst abzulehnen und ihn im Krieg zu verweigern. Diese Haltung ist meiner Ansicht nach völlig falsch. Wir mögen den idealistischen Mut und die idealen Gedanken der jungen Männer und Frauen bewundern, die dies, wie es scheint, tun. Aber sie übersehen, daß sie mit ihrer Ankündigung selbst eine Art Kriegserklärung an ihre eigene Regierung und Heimat abgeben, und wenn es Krieg geben sollte, verursachen sie dadurch Unordnung und innere Streitigkeiten untereinander.

Lassen wir die Jugend der verschiedenen Völker aller Länder das Beispiel für Treue und Loyalität geben, jede Jugend ihrer eigenen Regierung, womit sie die Stärke und den Wert des moralischen Ideals der Staatsbürgerschaft beweist. Lassen wir jedoch andererseits die Jugend den ihr innewohnenden Idealismus und die Ritterlichkeit, die die Welt dringend benötigt, zum Ausdruck bringen, indem sie laut und eindringlich ihre Stimme erhebt und sich machtvoll für die allgemeine Gerechtigkeit und Vernunft entscheidet auf dem Boden der bestehenden Gesetze. Auf diese Weise wird die Stimme der Jugend überall gehört, öffentlich und nichtöffentlich, denn das Pochen auf ihre Rechte als zukünftige Generation, die alsbald die Last der älteren Generation übernehmen muß, wird viele aufgeschlossene Ohren berühren, mehr als gezählt werden können. Novus ordo saeclorum! [Neuordnung der Zeiten! (der Übersetzer)]

Ich würde eine vollständige Abrüstung der Völker begrüßen, herbeigeführt durch gegenseitige Verhandlungen und Verträge, ersetzt durch eine internationale Flotte, deren Offiziere und Mannschaften turnusmäßig von Seeleuten und auch von Menschen vom Land der verschiedenen Völker gestellt und für diese Arbeit geschult werden. Ich würde gerne sehen, daß die Armeen der Welt auf relativ kleine nationale Polizeieinheiten reduziert würden. Die Aufgabe der internationalen Flotte bestünde in der polizeilichen Beaufsichtigung der Meere, in der Unterbindung von Piraterie und der Sicherung der Meere und der Wasserwege an den Küsten für den Handel der Völker der Erde. Es gibt nichts, was diese doppelte Errungenschaft des aufbauenden Geistes verhindern könnte – höchstens eine Psychologie, die jeder verabscheut und die alle fürchten: eine Psychologie, die sich lediglich dazu ausgebildet hat, eine Gewohnheit menschlichen Denkens zu sein.

Man kann nur hoffen und bitten, daß die führenden Menschen in der heutigen Welt, die die Schicksale der Völker mehr oder weniger in ihren Händen halten, aufhorchen und auf den Herzschlag und den nicht zum Ausdruck gebrachten wachsenden Willen der Völker nach einer dauerhaften Lösung ihrer Probleme hören. Wenn sie das tun, werden die Namen dieser Menschen in die Geschichte eingehen; sie werden weniger durch Standbilder und steinerne Denkmäler in Erinnerung bleiben, ihre Namen werden vielmehr bleibend im immerwährenden Gefüge der menschlichen Herzen verewigt. Ihr Andenken wird in künftigen Jahrhunderten weiterbestehen wie das Feuer der Liebe und Dankbarkeit, das in den Menschenherzen brennt.

Ich wiederhole noch einmal: eine Bruderschaft der Menschen, gegründet auf Vernunft und Gerechtigkeit und tätig für das Allgemeinwohl, für den Fortschritt aller, ist nicht nur durchführbar, sondern auch praktisch, und eines Tages wird sie unumgänglich sein. Warum also nicht JETZT die Fundamente dafür legen!

Wo zwei oder drei versammelt sind …

Es gibt einen alten Ausspruch, daß dort, wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, d. h. in der Gesellschaft des Geistes, der Geist mitten unter ihnen ist.

In diesem Ausspruch liegt eine große okkulte Wahrheit. Wenn Sie die zwei oder drei fünfzig- oder hundertfach multiplizieren und erkennen oder zu erkennen versuchen, daß die Kraft eines vereinten spirituellen Willens und Verstehens sehr viel Gutes in der Welt bewirken kann, und wenn Sie sich dies als ein hilfreiches und ermutigendes Ideal vor Augen halten, dann, so glaube ich, werden Sie mit mir fühlen, daß wir in den theosophischen Zusammenkünften nicht nur unsertwegen zusammenkommen, um Trost, Ermutigung und inneres Licht zu erhalten, sondern, daß wir uns, wo immer diese Versammlungen stattfinden, als Kandidaten versammeln, die sich vorbereiten, um sich den höchsten Vertretern der menschlichen Rasse anzuschließen.

In diesen Worten liegt vielleicht mehr, als es an der Oberfläche erscheint.