Band 4: Die siebenfältige Konstitution des Menschen
Leonie L. Wriht
Kāma-Manas – die Persönlichkeit
Unser alltägliches Selbst, mit dem wir leben und von dem wir glauben, dass wir es durch und durch kennen, nennt man die Persönlichkeit. Aber gerade von diesem Element der Persönlichkeit wissen wir so wenig. Und dies gilt nicht nur für den gewöhnlichen Menschen, sondern auch für viele Gelehrte. Denn einige der populärsten Erklärungen der psychologischen Natur des Menschen gründen auf den Untersuchungen der niederen physiologischen Seite der menschlichen Psyche oder Seele.
Das ganze Drama des menschlichen Lebens, das im Kampf der Kräfte des Guten und Bösen in uns zum Ausdruck kommt, rankt um die Persönlichkeit. Woher kommt das? Die Antwort zeigt sich in dem Diagramm auf Seite 25. Es rührt daher, dass die Persönlichkeit dual, zweifältig, ist. Sie ist eine Zusammensetzung, die sich aus der Tatsache ergibt, dass das Denkprinzip, das denkende Ego, sich mit Kāma vermischt, unseren Wünschen und Leidenschaften. Kāma ist oft egoistisch und leidenschaftlich beschaffen. Aber dennoch kommt im Leben fast eines jeden Menschen auch höheres Kāma zum Ausdruck, und zwar dann, wenn nicht nur die persönlichen Interessen für das Verhalten und Denken maßgebend sind, sondern der Wunsch nach Linderung der menschlichen Nöte anderer an erster Stelle steht.
Kāma-Manas oder die Persönlichkeit ist das Instrument, das Vehikel, mittels dessen die Monade mit ihren spirituellen, vorwärtstreibenden Einflüssen und Energien sozusagen eine Art von ‘Fernsteuerung’ zustandebringt. Jegliche Evolution wird von dem anspornenden Einfluss und den aus der Monade stammenden Energien, die sich durch unsere weniger spirituellen Prinzipien nach unten oder nach außen ausgießen, verursacht. Sollte die Monade sich zurückziehen, wie es beim Tod geschieht, dann zerfallen die niederen Prinzipien der Konstitution und der Mensch zieht sich von der irdischen Bühne zurück.
Die sich in unserer Persönlichkeit manifestierenden Wünsche und Leidenschaften –unser kāmisches Prinzip oder unsere tierische Natur – wurden auf unserer Reise oder Pilgerschaft durch die niederen Reiche der Natur gebildet und entwickelt. Wenn wir auf der Erde reinkarnieren, Leben auf Leben, bringt sich auch dieses kāmische Prinzip wieder zum Ausdruck. Auf der anderen Seite steht unser Denkvermögen, das sich durch Äonen hindurch entwickelte und schließlich von den Mānasaputras zur Tätigkeit erweckt wurde. Aus ihm entwickeln wir Fähigkeiten wie Intuition, Willenskraft, Vorstellungskraft, Vernunft, den schöpferischen Intellekt und dergleichen, während sich gleichzeitig auch die Instinkte und Begierden des tierischen oder kāmischen Selbstes weiter entfalten. Sie entwickeln sich gerade deshalb weiter, weil sie auf dynamische Weise mit Manas verbunden sind. So sind sie heute stark in uns, auf uns selbst gerichtet und erheben ihre eigenen Forderungen. Das ist die Wurzel des seit der Erweckung des Denkprinzips tobenden Krieges zwischen den spirituellen und den tierischen Kräften in unserer Natur, wie es in so treffender Weise in der Bhagavad-Gītā zum Ausdruck gebracht wird. Das niedere, kāma-manasische Selbst treibt immer zu Leidenschaft, Kampf und Egoismus an. Das höhere manasische Ego, inspiriert durch Ātman-Buddhi, strebt durch zahllose Inkarnationen hindurch allmählich eine spirituelle Herrschaft an.
Auf diese Weise werden die niederen und materiellen Prinzipien zur Selbstentfaltung inspiriert oder angespornt und allmählich von materiellen in spirituelle Energien transformiert und weiterentwickelt. Denn das Ziel des Lebens und das Bestreben der Evolution ist es, das Sterbliche zum Unsterblichen anzuheben.
So erkennen wir, dass in unserem gegenwärtigen Evolutionsstadium die Natur des Menschen sozusagen zwischen dem Nachgeben und dem Beherrschen des Selbstes schwankt, zwischen dem Tierischen und dem Göttlichen in der menschlichen Natur. Und dieser Zustand des Individuums spiegelt sich selbstverständlich in der großen Masse wider. Der gegenwärtige Zustand unserer Welt veranschaulicht diese Situation deutlich. Einerseits werden die Völker durch Ideale des Friedens, internationale Bruderschaft und Zusammenarbeit getrieben und andererseits spielen Habgier, Unwissenheit und die laute Stimme selbstsüchtiger nationaler Interessen eine große Rolle. Gerade diese Umstände wurden von den großen Lehrern vorhergesehen, den Mahātmas, die mit Hilfe von H. P. Blavatsky die Theosophische Gesellschaft gründeten. Zur gleichen Zeit schenkten sie uns aufs Neue das Wissen, das die Geist-Seele befähigen wird, durch die höhere Natur des Menschen zu wirken, um den letztendlichen Sieg über Selbstsucht und Hass zu erringen. Die unpersönliche Liebe bringt die Genesung von allem Übel, sowohl im persönlichen Leben als auch in jeder Gemeinschaft. Mit ‘unpersönlich’ ist die selbst-vergessende Liebe gemeint.
Aber sie ist noch mehr, denn sie bedeutet Liebe für alle Wesen, wie niedrig oder wie erhaben sie auch sein mögen, ob sie uns feindselig gesinnt sind oder ob sie unseren Herzen nahestehen. Indem wir Kāma-Manas überwinden und zum Schweigen bringen – die auf uns selbst gerichtete, anspruchsvolle Persönlichkeit – entwickeln wir Verständnis, Liebe und Wissen, was uns Glück und Frieden bringt. Durch eine liebevolle Haltung werden wir besser verstehen und verzeihen und Irritation, Kritik und Verbitterung werden von uns abfallen. Was auch immer geschehen mag, wir werden einen anderen niemals belästigen oder uns herzlos benehmen, sondern stets versuchen zu helfen. Schließlich werden wir beginnen, unsere Feinde zu verstehen und ihnen zu verzeihen – was das höchste Glück bedeutet. Indem wir unsere Sympathien allmählich ausbreiten, reicht unsere Liebe weiter und umfasst nicht nur unser eigenes Land, sondern alle Völker, und so werden wir schließlich zu einer Kraft des Guten in der Welt.
In der höheren Natur des Menschen liegen tatsächlich wunderbare Kräfte verborgen – schöpferische Kräfte, wovon wir auch heute schon einen schwachen Schimmer in der intuitiven Vorstellungskraft und einem beherrschten Willen wahrnehmen. Wir erkennen sie auch in den selbstlosen Impulsen im Inneren unseres Herzens – Impulse, die uns zu großartigen humanitären Aufgaben anspornen – sowie in all den Träumen, den Visionen und dem Drang zum Spirituellen, der jetzt schon beginnt, sich in der menschlichen Rasse zu entfalten. Aber diese Samen, die zu wunderbaren Fähigkeiten heranwachsen müssen, werden und können nicht keimen, solange unsere ganze Aufmerksamkeit und all unsere Wünsche ausschließlich sachlichen Interessen, egoistischem Vergnügen und dem Versuch gewidmet sind, alle anderen zu übertrumpfen oder jemanden auszustechen. Selbstverständlich erwartet keiner, dass wir die notwendigen materiellen Interessen vernachlässigen oder ihnen entsagen; aber durch unsere innere Einstellung, etwas ändern zu wollen, können wir jede Chance nutzen, um denjenigen Aspekt Kāmas zu fördern, den wir als göttliche Begierde bezeichnen.
Der Wunsch, unsere Familie oder unsere Freunde selbstlos zu unterstützen, das Allgemeinwohl zu fördern und jenen zu helfen, die sich in Schwierigkeiten befinden oder in Not geraten sind – dieser Wunsch entspringt der spirituellen Monade im Menschen, Ātman-Buddhi. Ihr Licht wird allmählich die dunkle Seite des kāmischen Prinzips erhellen; das göttliche Kāma wird aktiv werden und das niedere Manas wird sich dereinst mit ihm vereinigen. Die Dualität wird überwunden und die zwei werden zu einem perfekten Vehikel verschmelzen, einer leuchtenden Persönlichkeit, durch die die spirituelle Monade, unser innerer Gott, seine Energien in unser menschliches Herz ausschütten kann.