Band 4: Die siebenfältige Konstitution des Menschen
Leonie L. Wriht
Die Monade
Damit wir die zusammengesetzte Natur des Menschen und seine sieben Prinzipien erklären können, muss als erstes eine kurze Skizze davon gegeben werden, was die Theosophie über die Evolution zu sagen hat.
Nach der Weisheitsreligion bedeutet Evolution ‘sich Entfalten’, ‘sich Entwickeln’; mit anderen Worten, es ist ein Prozess, in dem Qualitäten oder Eigenschaften, die latent und unsichtbar in der inneren Natur eines jeden Wesens verborgen liegen, in zunehmendem Maße zur Offenbarung kommen und tätig werden. Wenn ein Samen noch nicht gekeimt hat, sind seine Eigenschaften noch unsichtbar und nur latent vorhanden. Aber wenn die Zeit und die Umstände geeignet sind, beginnen die latenten Eigenschaften sich zu entwickeln und zu entfalten; und sie werden sichtbar. So bringt z. B. eine Eichel zuerst einen zarten Sprössling zum Vorschein und wird schließlich zu einer hoch gewachsenen, majestätischen Eiche.
Alle Organismen, das heißt alle Lebewesen – Pflanzen, Tiere, Menschen – wachsen aus einem Samen. Bei den Menschen und den meisten Tieren sind diese Samen so klein, dass man sie mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmen kann. Und trotzdem kann jede dieser äußerst kleinen vitalen Zellen zu einem 1,80 Meter großen Menschen mit all seinen komplexen Fähigkeiten oder zu einem riesigen Elefanten mit seinen hochspezialisierten Organen heranwachsen.
Wie ist es möglich, dass ein mit dem bloßen Auge nicht sichtbarer Same – auf magisch anmutende Weise – z. B. zu einem genialen Menschen, zu einem großen Musiker oder Erfinder heranwächst? Warum liegt dieses Gesetz der Entwicklung von innen nach außen, vom Unsichtbaren zum Sichtbaren, der Evolution zugrunde? Das rührt daher, dass dem Herzen eines jeden Samens ein Element oder Prinzip innewohnt, das wir die lebende ‘Geist-Seele’ nennen. Diese ‘Geist-Seele’ ist ein Funken der universalen Geist-Seele und wird in modernen theosophischen Schriften als ‘Ātman-Buddhi’ bezeichnet. Durch den Drang dieser unsichtbaren Geist-Seele nach Selbstausdruck beginnt der Kern eines Organismus sich auszudehnen und entfaltet seine eigenen Kräfte durch die Entwicklung von Fähigkeiten und Funktionen – von innen nach außen. Natürlich wird dieser Organismus durch den Einfluss der Umgebung und des Milieus genährt und unterstützt. Wäre jedoch dieser lebendige, spirituelle Drang nicht in dem Kern vorhanden, würde die Saat nicht aufgehen und keine Früchte tragen. Tote Saat wächst nicht, wie günstig die Lebensbedingungen und das Milieu auch sein mögen. Entdeckungen jüngeren Datums auf dem Gebiet der Archäologie und der Anthropologie haben dazu beigetragen, dass die ultramoderne Wissenschaft ihre Evolutionstheorien nicht länger auf die sichtbaren und äußeren Formen der Natur beschränkt. In diesem Zusammenhang kann man ohne weiteres davon ausgehen, dass weitere wissenschaftliche Untersuchungen auf dem Gebiet der Evolution und der Psychologie sowie der Parapsychologie allmählich zu einer Bestätigung der diesbezüglichen theosophischen Lehren führen werden. Denn nicht nur der Körper, sondern auch der Verstand und die Seele eines Wesens sind jeweils einem eigenen Evolutionsprozess unterworfen. Wenn die Evolution ein Naturgesetz ist, bleibt von der Wirksamkeit dieses Gesetzes nichts ausgeschlossen. In jedem Partikel der Materie ist ein Funke des einen, universalen, unvergänglichen LEBENS eingeschlossen. Dieser Funke wird in der Theosophie die Monade genannt. ‘Monade’ ist ein Wort, das dem Griechischen entlehnt wurde. Es bezeichnet eine Einheit, eine Unteilbarkeit. Diese Monade ist ein Punkt, ein Zentrum vollständigen, individualisierten, nicht zerstörbaren Bewusstseins, das, wie bereits gesagt, seinen Ursprung im zentralen universalen LEBEN hat. Solch eine Monade lebt im Kern eines jeden Organismus, vom Atom bis zum Stern.
Aber diese Monaden befinden sich auf sehr unterschiedlichen Stufen der Evolution. Beispielsweise ist die Monade eines Atoms aus dem Mineralreich weit weniger evolviert oder entfaltet als eine Monade, die auf ihrer aufsteigenden evolutionären Reise der Selbstentwicklung das Pflanzen- oder Tierreich erreicht hat. Die Monade im Zentrum eines Menschen ist unermesslich höher entwickelt als die beiden zuletzt genannten Reiche. Sie hat nach äonenlanger, immer weiter fortschreitender Selbstentwicklung sämtliche Stadien der Materie in den niederen Naturreichen durchwandert und ist schließlich an dem Punkt angelangt, wo sie ihre eigenen schlummernden intellektuellen und spirituellen Fähigkeiten bis zu einem so hohen Grade entwickelt hat, dass sie sich als ein menschliches Wesen offenbaren kann.1
Dem Kern eines jeden physischen Atoms wohnt eine Monade inne. Das physische Atom ist der äußere Körper oder das Vehikel, dessen sich die Monade bedient und mittels dessen sie sich zum Ausdruck bringt. Wenn die Monade ein chemisches Atom beseelt, beginnt sie ihre Reise am Fuße der evolutionären Leiter. Und sie wandert über unzählige Zeitalter hinweg von einem Naturreich zum nächsten und folgt dabei dem Pfad, der sie in immer höhere Stadien der Evolution führt.
Wir können diesen Prozess teilweise nachvollziehen, wenn wir das Wachstum einer Pflanze beobachen. Hinter, über oder in jeder Pflanze befindet sich das, was wir eine ‘Pflanzen-Monade’ nennen könnten, mit anderen Worten eine spirituelle Monade, die ihre evolutionäre Reise durch das Pflanzenreich unternimmt. Ein kleiner Same wird in die Erde gelegt. Sobald die richtigen Umstände eintreten, ‘erwacht’ die schlummernde oder latente Energie, die darin eingeschlossen liegt; und ein Prozess beginnt, in dem der Same aus der Erde heraus ein Pflanzen-Vehikel für sich selbst aufbaut. In ähnlicher Weise formt die Monade für sich selbst immer höhere Vehikel, während sie durch das Elemental-, Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich aufwärts schreitet, um schließlich in menschlichem Gewand zur Blüte zu kommen.
Es sind die Monaden, die durch ihre Tätigkeit nicht nur die Evolution hervorbringen, sondern auch selbst das Material der Evolution bilden. Die Monaden von hohem, mittlerem und niedrigem Entwicklungsgrad beseelen und erbauen alle für uns sichtbaren und unsichtbaren Manifestationen von Leben – spiritueller, intellektueller, psychischer und physischer Art. Sie folgen dabei dem spirituellen Drang, der im Herzen einer jeden Monade existiert, dem ursprünglich in der zentralen universalen Quelle des Lebens ausgelösten Drang.
Diese Monaden formen durch ihren inneren Lebensdrang, ihre Aktivitäten und die sich allmählich entfaltenden Wesensmerkmale die unsichtbaren Teile der Natur – die unsichtbare Welt, die von unvorstellbar größerem Umfang und Ausmaß ist, als die sichtbare. Hier, in diesen inneren Reichen, wirken die unzähligen Scharen unsichtbarer Monaden, die also die Ursache der sichtbaren Evolution sind.
Bevor wir zur Betrachtung des Menschen und seiner siebenfältigen Konstitution übergehen, müssen wir folgende Frage beantworten: ‘Worin liegt der Zweck dieser ganzen monadischen Evolution von einem Naturreich ins andere, von einer Ebene zur anderen?’ Die Antwort lautet wie folgt: Jede große solare Evolutionsperiode wird in den theosophischen Lehren als ein Manvantara bezeichnet. In dieser solaren Periode, oder dem Manvantara, tritt die Monade den Anfang ihrer Reise als ein nicht-selbstbewusster Gottesfunke an. Und das Ziel ihrer Reise durch alle Lebensformen in diesem solaren Manvatara ist, dass sie zu einem vollständig selbstbewussten, göttlichen Wesen heranreift. Wenn das Ende dieser solaren Periode kommt, wird eine Monade, die ihre Evolution erfolgreich vollendet hat, Kenntnisse aus eigener Erfahrung über sämtliche Lebensformen besitzen – sie wird in der Tat all diese Lebensformen in diesem Manvantara gewesen sein. Sie wird sich am Ende mit Hilfe von höher evolvierten Wesen die Fähigkeit angeeignet haben, selbstbewusst all diese Erfahrungen zu verstehen, zu assimilieren und zu benutzen. So wird sie in dem Manvantara, das sie gerade durchlief, ein selbstbewusster Gott, ein Meister der Weisheit und des Lebens. In einem nachfolgenden solaren Manvantara wird die Monade ihre Erfahrungen fortsetzen, um noch höhere Stufen der Evolution und des Wissens zu erreichen.
Die Monade im Innersten eines jeden von uns ist bereits weit auf ihrem Weg vorangekommen, ein solcher selbstbewusster Gott zu werden. Und das bedeutet natürlich, dass wir alle, die wir in Wirklichkeit – auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind – unsere eigene Monade sind, dazu bestimmt sind, am Ende des Sonnenmanvantaras, das wir jetzt durchlaufen, als herangereifte, alles verstehende Götter hervorzugehen.
Einer der schönsten Aspekte dieser Lehre ist, dass wir, indem wir diese evolutionäre Leiter des Seins hinaufsteigen, die evolutionären Möglichkeiten sämtlicher Atome und Wesen wachrufen und stimulieren, mit denen wir auf allen Erfahrungsebenen in Berührung kommen. Es ist ein Gesetz des Universums – mit anderen Worten, es ist im Wesen aller Dinge eingeschlossen –, dass wir selbst nicht höher steigen können, ohne alle anderen mehr oder weniger mitzuziehen.
Was das hinsichtlich unserer moralischen Verantwortung bedeutet, darüber sollten wir uns alle Gedanken machen.
Fußnoten
1. Dieser Vorgang ist deshalb spiritueller Art. Der Unterschied zwischen diesem Vorgang und den materialistischen, darwinistischen Evolutionstheorien wird in Man in Evolution von G. de Purucker umfassend erläutert. [back]