Die niedere Vierheit

Die bisherigen Ausführungen betrafen die Prinzipien Ātman und Buddhi, sowie Manas, das Ego. Es folgt eine nähere Betrachtung der Seite der menschlichen Natur, mit der wir vertrauter sind – den Prinzipien, aus denen unsere niedere Vierheit zusammengesetzt ist. Diese ‘Niedere Vierheit’ besteht aus den vier Prinzipien Kāma (Wunschprinzip), Prāṇa (Lebenskraft), Linga-Śarīra (Astralkörper) und Sthūla-Śarīra (Physischer Körper). Diese vier bilden zusammen das Vehikel, worin das Ego, überschattet und geführt von Ātman-Buddhi, sich auf der Erde wiederverkörpert – oder reinkarniert.1

 

 

Kāma (Wunschprinzip)

 

Das Sanskritwort Kāma bedeutet Verlangen. Der erste Eindruck könnte sein, dass Kāma zu den niedersten menschlichen Eigenschaften gehört, aber das ist nicht notwendigerweise der Fall.

Kāma ist die antreibende Kraft in der Konstitution des Menschen. An sich ist sie farblos, weder gut noch schlecht. Erst der Gebrauch, den das Denkprinzip und die Seele davon machen, bestimmen die Qualität. Kāma ist der Sitz der lebendigen elektrischen Impulse, Wünsche und Bestrebungen von ihrer Energieseite aus gesehen. Gewöhnlich jedoch, obwohl es göttliches und infernalisches Kāma gibt, wird dieses Wort fast ausschließlich und zu Unrecht oft nur auf üble Begierden beschränkt.

– G. DE PURUCKER: Okkultes Wörterbuch, S. 76

In der Bhagavad-Gītā sagt Krishna, der das personifizierte Selbst des Kosmos ist, zu seinem Schüler Arjuna:

… in allen Geschöpfen bin ich das durch Moral gelenkte Verlangen …

– VII:11

Beim Durchschnittsmenschen beschränkt sich die Begierde üblicherweise auf rein persönliche Interessen, und sie ist dann auch nicht von besonders erhabener Art. Wir können die Reichweite dieses Prinzips einigermaßen verstehen, wenn wir einen Vergleich zwischen dem Verlangen von Jesus oder Buddha anstellen, die sich den Nöten der Welt in Mitleid widmeten, und den Begierden eines ‘Gangsters’. Diese Beispiele stellen selbstverständlich extreme Aspekte des menschlichen kāmischen Prinzips dar.

Beim Durchschnittsmenschen sind die Begierden weder besonders hoch, noch sehr niedrig entwickelt. Es ist das Werk der Evolution, die uns durch viele Zyklen der Erfahrung lehrt, die Qualität unserer Begierden anzuheben, denn diese Begierden haben selbstverständlich großen Einfluss auf die Entwicklung des Charakters und dadurch auch auf die Evolution. Leider nutzen wir aus Unwissenheit und Selbstsucht die vitalen Kräfte der Begierde und des Willens zu oft zugunsten des eigenen Vorteils, ohne die Rechte und das Wohlergehen anderer zu beachten. Damit schaffen wir Disharmonie, und früher oder später müssen wir die Folgen daraus erleiden. Da unser Universum auf dem Fundament der Ethik basiert, lernen wir meistens durch Leiden.

 

 

Prāṇa (Lebenskraft)

 

Prāṇa bedeutet Lebensprinzip – Vitalität. Es bildet das psycho-elektrische Feld, das sozusagen vom Organismus begrenzt wird, so wie die Luft in der Lunge. Prāṇa erhält die astral-physischen Organismen aller Wesen am Leben und lässt sie wachsen. Es durchdringt den Astralkörper und den physischen Körper – von der Geburt an bis zum Tod – fortwährend mit neuen Strömen vital-magnetischer Energien.

Der Tod eines Organismus wird an erster Stelle durch den andauernden Verschleiß durch die prāṇischen Energien verursacht, die ihn durchströmen und am Ende seine Zerstörung bewirken. Sowohl der Tod als auch der Schlaf werden nicht durch einen Mangel an Lebenskraft, sondern durch deren Überschuss verursacht.

Tatsächlich ist es so, dass nicht ein Mangel an Vitalität den physischen Tod und seinen Zwillingsbruder, den Schlaf, verursacht, sondern vielmehr ein Überschuss an prāṇischer Aktivität. …

Es wurde oft gesagt, dass jedes Individuum einen bestimmten begrenzten Vorrat an Vitalität besitzt, und dass, wenn dieser erschöpft ist, der Mensch sterben muss. Gemeint ist, dass der vital-astral-physische Organismus als eine zusammengesetzte Wesenheit nicht nur eine gewisse Widerstandskraft gegenüber den Strömen des prāṇischen Lebens, die durch ihn fließen, besitzt, sondern er hat auch seine eigene kohäsive Kraft, die aus den Prāṇas der einzelnen Moleküle und Atome stammt, die in ihrer Vereinigung den Körper bilden. …

… In der Tat beruht der Tod, der durch ein Übermaß an Vitalität verursacht wird, und ebenso das In-den-Schlaf-fallen des Menschen auf der Tatsache, dass die Lebensatome des Körpers einen Punkt erreicht haben, wo deren Widerstand dahinschwindet oder abnimmt wie im Schlaf. Daher kommt es, dass die Lebensatome in einem Moment als Erbauer oder Erhalter und in einem anderen als Zerstörer – in einem gewissen Sinn sogar als Erneuerer – funktionieren.

– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, III: S. 92, 93

 

 

Linga Śarīra (Astralkörper)

 

Der Astralkörper ist der Modellkörper oder das Muster, nach dem der materielle Körper gebildet wird. Er ist eine Art Matrize oder Gussform aus ätherischem Stoff, worin die Atome des materiellen Körpers ihren Platz finden. Üblicherweise wird er heute Astralkörper genannt.

Dies ist der allgemein gebräuchliche Ausdruck für den ‘Modellkörper’, den Linga-Śarīra. Er ist nur wenig feinstofflicher als der physische Körper und bildet in der Tat das Modell oder Gerüst, um das herum der physische Körper aufgebaut ist und aus dem der physische Körper in gewissem Sinn hervorgeht, entsprechend dem Wachstumsprozess. Er ist der Träger des Prāṇa oder der Lebenskraft und enthält daher auch alle Kräfte, die mittels des prāṇischen Stroms von den höheren Teilen der menschlichen Konstitution herabfließen. Der Astralkörper geht zeitlich dem physischen Körper voraus und bildet das Muster, nach dem der physische Körper aufs genaueste, Atom für Atom, geformt wird. In einer Hinsicht kann man den physischen Körper eine Ausscheidung, Ablagerung oder einen Niederschlag des Astralkörpers nennen. Der Astralkörper ist in gleicher Weise seinerseits nur ein Niederschlag des Aurischen Eies.

– G. DE PURUCKER, Okkultes Wörterbuch , S. 17

Dieses astrale Modell, das sozusagen von Prāṇa durchströmt wird, erhält unsere physische Identität. Die Wissenschaft hat erkannt, dass die den physischen Körper bildende Materie etwa alle sieben Jahre völlig ausgetauscht wird. Jeden Tag verlieren wir Atome, die durch andere ersetzt werden. Deshalb sind wir heute in materiellem Sinne andere Wesen als vor etwa zehn Jahren. Woher kommt es, dass ein Körper trotz dieses niemals versiegenden, ein Leben lang andauernden Stroms von aus- und eingehenden Atomen dennoch seine eigenen charakteristischen Strukturen behält? Dieses Wunder geht auf die Funktionen des Modellkörpers zurück, der innerhalb des materiellen Körpers existiert und der – Molekül um Molekül und Zelle um Zelle – seine Form bewahrt, wodurch sogar Narben, Missbildungen oder Falten bestehen bleiben. Er steuert die physische Materie, indem er die Zellen und Nervensysteme kontrolliert und jedem Element den ihm entsprechenden Platz zuweist. Er ist ein feinstofflicheres Ebenbild des physischen Körpers, zumindest von seiner äußeren Form her.

Einen weiteren Aspekt hebt W. Q. Judge hervor:

Der Astralkörper trägt die wirklichen Organe der äußeren Sinneswerkzeuge in sich. In ihm liegen die Kräfte des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und der Tastsinn. …

Das Meer der Theosophie, S. 61

… Bei einem Menschen jedoch, der immer noch sein Bein fühlt, das ihm chirurgisch entfernt wurde, oder seine amputierten Finger noch spürt, liegt dies daran, dass die Astralglieder durch die Operation nicht betroffen wurden. Der Betroffene hat daher das Gefühl, diese Glieder befänden sich noch immer am Körper. Messer und Säuren können das Astralmodell nicht verletzen. In den ersten Stadien seines Wachstums können Gedanken und Vorstellungen jedoch wie Säuren und geschliffener Stahl wirken.

– Ebenda, S. 60

Der Astralkörper oder Linga-Śarīra besteht aus astraler Materie oder Substanz, die zum Astrallicht – oder zu Ākāśa gehört, dem dafür in der Theosphie verwendeten technischen Ausdruck. Ākāśa ist, wie alles andere auch, von siebenfältiger Natur. Seine höchsten oder innersten Ebenen sind die Heimat unserer höheren Prinzipien. Seine niederen und gröberen Bereiche umgeben und durchdringen unsere Erde, und wir nennen diesen Bereich das Astrallicht. Wir können das Astrallicht nicht sehen, weil wir die dazu notwendigen astralen Sinnesorgane nicht entwickelt haben.

Medien oder Hellseher können einen schwachen Schimmer davon wahrnehmen. Dieser sternenhaften Lichtausstrahlung verdankt es seinen Namen ‘astral’. Sensitive Menschen haben die astralen Sinne teilweise entwickelt. Aber die sogenannten Visionen der Hellseher stellen nur selten mehr dar als einen flüchtigen Blick in die niederen Bereiche des Astrallichtes. Diese Bereiche sind der Erde am nächsten und umgeben sie. Sie enthalten ein Chaos von Bildern und Einflüssen, die durch unbeherrschte und oft negative Emotionen, Gedanken und Begierden der Menschen auf und in der astralen Materie erregt werden. Daher sind diese ‘Visionen’ nicht nur trügerisch, sondern im Allgemeinen auch gefährlich.

Im Augenblick des Todes, wenn die Geist-Seele alle niederen Prinzipien ‘loslässt’, beginnen diese zu zerfallen. Der Astralkörper trennt sich dann vom physischen Körper, aber er verlässt ihn nicht, weil beide zusammen gehören. Und in dem Maße, wie der physische Körper zerfällt, geht auch der Astralkörper langsam in Auflösung über.

Das menschliche Leben auf Erden ist nur eine Station auf der Reise eines sich ständig entfaltenden bewussten Ego, des sich wiederverkörpernden Ego durch die physische Sphäre, und der Tod ist lediglich die Fortsetzung dieser Reise aus der Sphäre des irdischen Daseins in eine andere. Der physische Tod wird zu einem sehr großen Teil dadurch herbeigeführt, dass das sich entfaltende Feld des menschlichen Bewusstseins sich über das Fassungsvermögen des Körpers hinaus ausbreitet, der dieses Bewusstsein enthält. Der Körper fühlt dann die dieserart auf ihn ausgeübte Beanspruchung und altert allmählich, um schließlich wie ein abgetragenes Gewand beiseite gelegt zu werden. Kurze Zeit bevor das Ende eintritt, fangen die inneren Prinzipien der niederen Vierheit an, sich auf ihren eigenen Ebenen zu trennen, und der Körper antwortet automatisch auf diese beginnende Trennung. Dadurch tritt der physische Verfall des Alters ein. Dieser Punkt ist von großer Bedeutung, denn er zeigt, dass nicht der physische Tod die Auflösung der Verbindung der niederen Element-Prinzipien verursacht. Im Gegenteil, der Körper stirbt, weil diese niederen unsichtbaren Kräfte, Substanzen und Energien – insgesamt gesehen, das innere und kausale Leben der menschlichen Vierheit – bereits begonnen haben, sich zu trennen, und der physische Körper sich mit der Zeit natürlich und unvermeidlich anschließt.

– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, III:91

 

 

Sthūla-Śarīra (Physischer Körper)

 

Hinsichtlich des physischen Körpers, oder Sthūla-Śarīra, gibt es einige interessante Tatsachen, welche von der Theosophie immer gelehrt wurden, die aber auch der Wissenschaft nicht verborgen blieben. Eine dieser Tatsachen besteht darin, dass die physische Materie größtenteils aus ‘Löchern’ besteht. Würden wir die gesamte unseren scheinbar festen Körper aufbauende Materie zu einer kompakten Masse komprimieren, wäre er nicht größer als ein Stecknadelkopf!

Der Körper ist also, obschon er richtig Sthūla-Śarīra oder der ‘grobe Körper’ genannt wird, in Wirklichkeit schaumartig – leerer Raum, ungefähr wie ein Schwamm. Dies ist eines der vielen Paradoxa oder scheinbaren Gegensätze, denen wir überall in der Natur begegnen und die das Studium ihrer Prozesse so interessant machen. Je gröber eine Substanz scheint, desto schaumartiger ist sie in Wirklichkeit, und deshalb ist sie um so illusorischer.

Daraus folgt, dass die wirklichen Dinge, die unvergänglichen Dinge, für unsere Sinne nicht wahrnehmbar sind. Wir sehen nicht einmal die physische Materie, sondern nur den Teil des Lichtspektrums, das die Körper nicht absorbieren sondern reflektieren und sie so unserem physischen Auge sichtbar machen.

Der physische Körper illustriert noch eine andere fundamentale spirituelle Tatsache im Kosmos. Er ist ein geeignetes Beispiel für das Gesetz der Analogie: „Wie oben – so unten“. Mit anderen Worten, der materielle Körper, der – was seine Substanz, seinen Bau und seine Wirkungen anbelangt – dem universalen, kosmischen Leben entspringt, ist selbst ein Miniatur-Universum. Darum kann die Kenntnis der in den physischen Körpern stattfindenden Prozesse die unsichtbaren, spirituellen Welten im Lichte der archaischen Lehren der Theosophie entschleiern und illustrieren. H. P. Blavatsky sagt darüber:

Analogie ist das leitende Gesetz in der Natur, der einzig wahre Ariadnefaden, welcher uns durch die unentwirrbaren Pfade ihres Reiches zu ihren ersten und letzten Geheimnissen führen kann.

The Secret Doctrine, II:153

Wenn wir die Funktion des Nervensystems und des Blutkreislaufes betrachten, den atomaren Aufbau der Zellen und viele andere Tatsachen, verschafft uns das Gesetz der Analogie einen wundervollen Schlüssel zum besseren Verständnis der tieferen Lehren über den Bau und die Wirkungen der unsichtbaren und ursächlichen Welten. Es mag so scheinen, als ob der Körper ein großes Hemmnis für spirituelle Erfahrung wäre, aber wenn er den Platz bekommt, der ihm zusteht, und wenn er in intelligenter Weise beherrscht und gebraucht wird, kann er seine fundamentale Rolle in unserer Evolution wahrnehmen. Der Körper passt genau zum gegenwärtigen Evolutionsstadium und verschafft uns die Gelegenheit, im menschlichen Leben täglich wichtige Lektionen der Erfahrung und Entwicklung durchzumachen. Die Beziehung zwischen physischem Körper und unserer Evolution kann man von zwei Seiten betrachten:

1) Er ist der Mittler zwischen den geistig-spirituellen Prinzipien und der physischen Ebene der Natur, in deren Bereichen wir die notwendigen Erfahrungen machen können und die daraus resultierende Entwicklung schöpfen. Ohne die vollständige Kenntnis der Natur in göttlicher, spiritueller, mentaler, emotionaler, vitaler, astraler und physischer Hinsicht könnte der Mensch niemals die vollständige Evolution all seiner Fähigkeiten erreichen.

2) Der physische Körper ermöglicht es dem eigentlichen Menschen, der menschlichen Monade, sich mit der ganzen Welt, mit allen anderen auf ihr befindlichen Geschöpfen, physisch, psychisch und mental auszutauschen. Dabei beeinflusst der eigentliche Mensch natürlich auch unmittelbar die physischen Atome des eigenen Körpers. Und dieser dynamische Einfluss unterstützt oder behindert unbewusst die Evolution der gesamten Schöpfung, und ganz besonders die der Lebensatome seines eigenen Körpers. Wir dürfen nicht vergessen, dass im Herzen eines jeden Atoms eine Geist-Seele oder Monade wohnt, die ihren Drang zur Entfaltung und zum Wachstum durch dieses Atom zum Ausdruck bringt. Die Auswirkungen des Willens und des Verlangens des Menschen auf diese sich entwickelnden Lebensatome sind ungeheuer groß und gerade darum haben wir eine besondere Verantwortung für unseren physischen Körper.

Fußnoten

1. Siehe Band 2 dieser Reihe: Reinkarnation. [back]