Reinkarnation und Schicksal

Die Haltung, die wir gegenwärtig gegenüber jedem neuen Gedanken, mit dem wir konfrontiert werden, einnehmen, können wir vielleicht mit der oft gehörten Frage umschreiben: „Was habe ich damit zu tun?“ Und es ist nicht mehr als natürlich, daß jeder Fragesteller wissen möchte, zu welchem Ziel uns diese Entwicklung des Charakters viele Leben hindurch führt.

Eine der ersten Veränderungen, welche unsere Lebensauffassung durch das Studium der Theosophie annimmt, besteht darin, daß es weder in der Evolution noch für uns selbst keinen absoluten Anfang und kein endgültiges Ende gibt. Es kann nur von einem relativen Anfang und einem vorläufigen Ende die Rede sein. Alles entwickelt sich stufenweise, und nur die Formen, durch welche diese Stufen zum Ausdruck kommen, gehen vorbei. Die Evolution selbst verläuft, wie schon öfters festgestellt wurde, periodisch. Einer Zeit der Aktivität folgt eine Zeit der Ruhe, dann erfolgt eine neue Periode der Aktivität mit ihrer nachfolgenden Ruhepause, und das geht beständig so weiter – immer weiter aufwärts.

Am Beginn unserer Evolution als Menschen auf diesem Planeten kamen zuerst die tierische Seele und unser stofflicher Körper, gebildet von den niederen, instinktmäßigen Kräften der Natur, die den karmischen Linien unseres planetarischen Organismus folgten. Zu einem bestimmten Zeitpunkt in diesem Prozeß der frühen Entwicklung, als das tierische Vehikel schließlich fertig war, wurde das darin wohnende latente Feuer des Geistes von jenen höheren Wesen erweckt, die in einer früheren großen Entwicklungsperiode Menschen gewesen waren.

So wie mit einer Kerzenflamme viele andere Kerzen angezündet werden können, ohne daß der ersten Flamme etwas verloren geht, so wird das Denkvermögen des Menschen auf mystische Weise durch unsere weiter fortgeschrittenen, göttlichen Brüder entfacht. Symbolisch gesehen kann das vorbereitete tierisch-stoffliche Vehikel des Menschen als eine Kerze und die gesamte Schar der höheren Wesen als eine große spirituelle Flamme betrachtet werden. Diese Schar göttlicher Wesen, die einst Menschen waren, stieg zur Erde herab und brachte den wartenden Vehikeln auf mystische Weise die Flamme des Göttlichen Geistes. So wurden die schlummernden Fähigkeiten des animalischen Menschen zum ersten schwachen intellektuellen Funken entzündet. Dadurch wurde die Rasse wirklich menschlich, zu einer Rasse denkender und selbstbewußter Menschen. Erst dann wurde es ihnen möglich, sich selbstbewußt mit ihrer Umgebung auseinanderzusetzen. In jedem einzelnen erwachte das besondere Gefühl der Selbsterkenntnis, das sagt: „Ich bin ich und niemand anderer.“ Von dieser Zeit an wurde der Mensch für sich selbst moralisch verantwortlich, und die Leitung seiner Evolution ging in seine eigenen Hände über. Künftig hing das, was aus seinem Körper wurde und in welche Richtung seine Evolution fortschritt, von seiner eigenen Anstrengung ab. Aber diese eben erwachten Menschen, die eigentlich erst jetzt ihre Evolution als wirkliche menschliche Wesen begannen, wurden nicht ihrem eigenen Schicksal überlassen. Zeitalterlang wurden sie von denselben Großen Wesen geleitet und beschützt, die den Anstoß für ihre Menschwerdung gaben, wie es H. P. Blavatsky ausführlich im 3. Band der Geheimlehre erläutert.

Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß dies alles nicht zufällig und planlos geschah. Unsere Erde ist, nach ihrer eigenen angemessenen Ruheperiode, die direkte Wiederverkörperung von einer Welt, die ihr vorausging und von der sie die exakte Folge oder das karmische Resultat ist. Alle diese Prozesse von Aufbau und geistigem Erwachen vollziehen sich auf eine Art, die eine unvermeidliche Folge der vorangegangenen Evolutionsperioden darstellt.

So begannen wir unsere evolutionäre Reise entlang des Weges der Reinkarnation, durch den Zyklus der Notwendigkeit. Der ‘Zyklus der Notwendigkeit’ ist ein dichterischer, aber nicht minder anschaulicher Name für den evolutionären Kreislauf, den jede Bewußtseinseinheit im Universum durchlaufen muß. Der noch nicht selbstbewußte Gottesfunke tritt mit dem Beginn eines Manvantaras oder einer großen evolutionären Zeitperiode in diesen Zyklus ein und bewegt sich darin durch die Wiederverkörperung in stets weiter entwickelten Formen durch immer erhabenere Bewußtseinsphasen hindurch, bis schließlich das selbstbewußt Göttliche erreicht ist. Die Reinkarnation des Menschen stellt eine der Säulen dieser großen Spirale der Evolution dar.

Nachdem der Mensch zu einem selbstbewußten Denker herangereift war und mit der Entwicklung seiner latenten Kräfte begonnen hatte, wurde er zum Erbauer von Zivilisationen. Und dann inkarnierten einzelne der großen Wesen – wir können sie wirklich Götter nennen –, die in früheren Welten Menschen waren und zurückblieben, um die junge Menschheit zu leiten. Sie waren die göttlichen Lehrer in den grundlegenden Prinzipien der Religion, der Kunst, des Gesetzes, der Philosophie und der Lebensführung. Ihrem zyklischen Lauf folgend, verstrickte sich die menschliche Rasse immer tiefer in Zustände größerer Stofflichkeit. Angespornt durch das sich entwickelnde egoische Bewußtsein, gewann die Persönlichkeit an Bedeutung. Sie entwickelte ein Gefühl der Abgrenzung und Trennung von allen anderen Wesen, dazu Leidenschaft, selbstsüchtiges Verlangen, Gewinnsucht und Willenskraft, die gegen andere gerichtet waren. Dann entstand eine Disharmonie mit den großen, universalen, evolutionären Zielen. Der Mensch setzte seinen selbstsüchtigen Willen gegen die spirituellen Gesetze des Universums. Somit wurde die ‘Sünde’ geboren. Die Natur, die in ihrer Essenz Ausgleich und unpersönliche Harmonie ist, reagierte darauf. Leid, Kampf und Schmerz waren die unvermeidlichen Folgen. Krieg und Verbrechen kamen in die Welt und die moralische Atmosphäre von unserem Globus wurde derartig vergiftet, daß die wohltätigen Götter nicht länger dieselbe Luft mit uns einatmen konnten. Sie gaben ihren karmischen Auftrag jedoch nicht auf. Eine Rasse von Halb-Göttern und Helden folgte ihnen, Wesen, die halbgöttlich und teilweise aus den niedrigeren Elementen gebildet waren, welche die Erde entwickelte. Sie führten weiterhin die verschiedenen Rassen, solange diese auf sie hörten und ihnen folgten. Später, als unser Weg uns auf die nach unten gerichteten Windung der karmischen Spirale führte, auf den sogenannten ‘schattenhaften Bogen’ der Evolution, wurden diese halbgöttlichen Führer von den Mysterienschulen abgelöst, welche sie selbst einrichteten. Es waren Stätten von großer okkulter Gelehrsamkeit, wo die immer geringer werdende Zahl spiritueller Aspiranten noch unterrichtet und in die Göttliche Weisheit des Universums eingeweiht werden konnte.

Schließlich wurde die Religion materialistisch, korrupt und intolerant, und selbst die Mysterienschulen entarteten und wurden schließlich geschlossen. Aber nichts desto trotz gibt es auch heute noch an bestimmten reinen und unzugänglichen Orten unserer Erde Zentren des Wissens, wo die Mahatmas, unsere Älteren Brüder und die Nachfolger der früheren spirituellen Führer der Menschheit, das Feuer der Weisheit am Brennen erhalten und die göttlichen Lehren der Alten Weisheit bewahren. Dieser kurze Rückblick in die Geschichte unserer Vergangenheit bereitet uns auf einen mit ihr in Übereinstimmung stehenden Ausblick auf die Zukunft vor. Denn das Ziel unserer Evolution ist nichts Geringeres als die Göttlichkeit. Unter der Voraussetzung, daß wir die begonnene spirituelle Reise zu einem guten Ende bringen, werden wir, die Menschen von heute, in ferner Zukunft selbst einmal große Wesen – Götter – sein und zu unserem wiederverkörperten Planeten zurückkehren, um unseren Brüdern der niedrigeren Reiche zu helfen und sie zu leiten, Brüder, die jetzt nach uns die evolutionäre Stufenleiter zur Menschheit emporsteigen. Wir sind gegenwärtig dabei, uns für die wichtigste Aufgabe vorzubereiten, nicht nur dadurch, daß wir Selbstbeherrschung lernen, sondern dadurch, daß wir auf bescheidene Weise dasselbe hinsichtlich unserer eigenen Atome und aller anderen Wesen tun. Und was könnte, wenn wir darüber nachdenken, natürlicher und inspirierender sein als eine solche Schicksalsbestimmung?

Der folgende Abschnitt aus Quelle des Okkultismus von Dr. G. de Purucker, vermittelt uns einen kurzen Einblick in das, was die Zukunft für uns bereithält:

Der Mensch ist auf vielen Ebenen zu Hause. Er ist tatsächlich überall zu Hause. Unser Erdenleben ist nur ein kurzer Bogen auf dem Kreise des Daseins. Wie absurd wäre es, zu sagen, daß irgendein besonderer Ort, wie unsere Erde, das Richtmaß sei, nach dem die ganze Wanderung des Menschen beurteilt wird. Genauso ist es bei der Verkörperung und dem Wachstum eines Universums. Es hat ebenfalls seinen Höhepunkt und seinen Verfall, dem dann der Tod folgt. Verursacht wird die Verkörperung dadurch, daß die kosmische Wesenheit aus den unsichtbaren Sphären in die materiellen Bereiche heraustritt, sich in den Substanzen dieser Bereiche verkörpert, aus ihnen ein materielles Universum aufbaut und dann wieder verschwindet. Wenn dieses Dahinschwinden dem Ende entgegengeht, befindet sich das Universum in den Stadien seiner Auflösung.

So ist es auch bei einem Stern oder bei einer Sonne oder deren Heimat-Universum. So ist es bei jeder Wesenheit. Leben ist endlos, es hat weder Anfang noch Ende; und ein Universum unterscheidet sich im wesentlichen keineswegs von einem Menschen. …

Betrachtet die Sterne und die Planeten: Jeder von ihnen ist ein Lebensatom im kosmischen Körper, jeder von ihnen ist der organisierte Wohnort einer Vielzahl kleinerer Lebensatome, welche die leuchtenden Körper, die wir sehen, aufbauen. Überdies, jede funkelnde Sonne, die den Himmel schmückt, war zu irgendeiner Zeit ein Mensch oder ein dem Menschen gleichwertiges Wesen, das in gewissem Grade Selbstbewußtsein, intellektuelle Kraft, Bewußtsein, spirituelle Vision und einen Körper besitzt. Die Planeten und die Myriaden von Wesenheiten auf diesen Planeten, die solch einen kosmischen Gott, einen Stern oder eine Sonne umkreisen, sind jetzt die gleichen Wesenheiten, die in längst vergangenen kosmischen Manvataras (Zyklen der Offenbarung) die Lebensatome dieser Wesenheit waren. . . .

Ja, jeder einzelne von uns wird in weit entfernten Äonen der Zukunft eine Sonne sein, die in den Räumen des Raumes leuchtet. Das wird dann sein, wenn wir die Gottheit im Innersten unseres Wesens evolviert haben, und wenn diese Gottheit ihrerseits zu noch größeren Höhen fortgeschritten sein wird. Jenseits der Sonne gibt es andere Sonnen, die so hoch stehen, daß sie für uns unsichtbar sind, Sonnen, deren göttlicher Begleiter unsere Sonne ist.

Die Frage, die sich uns nach diesen Worten stellt ist: „Was versuchen wir gegenwärtig aus uns zu machen? Sind wir wirklich dabei, wenn auch unbewußt, unsere göttliche Bestimmung zu verwirklichen?“ Die Antwort auf diese Frage muß sich jedermann selbst geben. In uns liegen leuchtende Zentren des Bewußtseins, der Erinnerung und der spirituellen Vision, die gegenwärtig noch nicht erwacht sind. Nach Tausenden von Inkarnationen umrunden wir nun den Anfang des aufwärtsführenden Abschnitts der Evolutionsspirale, den ‘leuchtenden Bogen’.

Das menschliche Leben, wie wir es seit Jahrhunderten gelebt haben, bot jedermann zahllose Gelegenheiten zum Wachstum. Jedesmal wiederholten wir dieselben Fehler, die aus Selbstsucht, Leidenschaft und beschränkter persönlicher Sicht entstehen. Leben um Leben landeten wir als Sklaven in der gleichen Tretmühle von Schmerz, Leiden, Krankheit und Tod. Wir müssen aber keine Sklaven bleiben, sondern wir können unser Schicksal selbst in die Hand nehmen. Der Mensch

… ist gezwungen, dem sich ständig drehenden Rad des Lebens von Wiedergeburt zu Wiedergeburt zu folgen, bis er gelernt hat, die Einheit von allen sichtbaren und unsichtbaren Dingen dadurch zu erkennen, indem sein inneres Selbst ein intellektuelles Verständnis entwickelt … Wenn er dann die Einsicht entwickelt hat, ist er vom Rad des sich drehenden Schicksals befreit. Er hat Weisheit und Freiheit erreicht: Er ist ein Meister von und in dem Leben geworden und ist nicht mehr länger ein Sklave des Rades.

– G. DE PURUCKER, Man in Evolution, S. 60

Es gibt überall Männer und Frauen, Pioniere auf der Suche nach größeren, umfassenderen spirituellen Einsichten, die nicht mehr in irgendeiner Form des modernen Lebens oder mit einer seiner ungewissen Versprechungen zufrieden sind. In jedem Land findet man Menschen, welche die Wahrheit suchen.

Es gibt einen Weg, der schneller zum angestrebten Ziel führt, und dieser Weg wird Initiation genannt. Es ist der Pfad der Selbstvergessenheit jener, die sich in den Dienst ihrer Mitmenschen stellen.

Das Wort ‘Initiation’ stammt aus der lateinischen Wurzel mit der Bedeutung ‘beginnen’. Esoterisch bedeutet es zugleich ein Neuwerden, der Beginn einer Lern- und Lebensrichtung, die schließlich alle spirituelle und intellektuelle Größe, die der einzelne in sich birgt, hervorbringt. Der evolutionäre Prozeß wird tatsächlich beschleunigt, nicht in dem Sinne, daß eine Stufe ausgelassen oder übersprungen wird, sondern daß innerhalb einer kurzen Zeit alles zusammengefaßt wird, was im natürlichen Ablauf Äonen des Strebens in Anspruch nehmen würde, um es zu erreichen. . . .

– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, Bd. I, S. 65

Es sollte klar verstanden werden, daß diese Schulung, die aus Lernen und Selbstdisziplin besteht, aus den spirituellen und intellektuellen Regungen der eigenen Seele des Schülers kommt. Niemals waren und werden damit die familiären Rechte und Pflichten beeinträchtigt oder verletzt. Chelaschaft ist nichts Überirdisches, Exzentrisches oder Sonderbares. Wenn es sich so verhielte, dann wäre es keine Chelaschaft. Sie ist der natürlichste Pfad für uns, und wir sollten uns bemühen, ihm zu folgen, denn, indem wir uns mit dem Edelsten in uns verbinden, verbinden wir uns mit den spirituellen Kräften, die das Universum lenken und regieren. Bereits in diesem Gedanken liegt Inspiration.

Das Leben eines Neophyten ist wirklich schön und wird immer schöner, je mehr die Selbstvergessenheit in seinem Leben zunimmt. Zuweilen kann es aber auch sehr traurig sein; das kommt daher, weil es ihm unmöglich ist, sich selbst zu vergessen. Er sieht seine große Einsamkeit, und sein Herz sehnt sich nach Gefährten. Anders ausgedrückt, seine menschliche Natur sucht nach einem Rückhalt. Doch gerade durch die Überwindung dieser Schwächen wird er zum Meister des Lebens, mit der Fähigkeit, in jeder Situation aufrecht, stark und allein zu stehen. Man darf jedoch keinesfalls annehmen, die Mahatmas seien ausgetrocknete menschliche Exemplare ohne menschliche Gefühle und ohne menschliches Mitleid.

Im Gegenteil: In ihrem Inneren sind sie weitaus lebendiger als wir. In ihnen fließt ein weitaus kräftigerer und stärker pulsierender vitaler Strom. Ihr Mitgefühl ist so weitherzig, daß wir sie noch nicht verstehen können, doch eines Tages werden wir sie verstehen. Ihre Liebe schließt alles ein; sie sind unpersönlich, und daher werden sie universal.

Chelaschaft bedeutet: zu versuchen, den in uns wohnenden Meister hervorzubringen, denn er ist bereits dort gegenwärtig.

Wenn man jedoch weit genug voranschreitet, dann kommt einmal der Zeitpunkt, an dem sogar die Pflichten gegenüber der Familie aufgegeben werden müssen. Die Umstände werden dann aber so sein, daß dieses Aufgeben der Pflichten sowohl dem Betroffenen als auch seinen Angehörigen zum Segen gereichen wird. Es sollte sich jedoch niemand von der gefährlichen Theorie täuschen lassen, daß sich ein Mensch, je höher er steigt, um so weniger an das Gesetz der Moral zu halten brauche. Genau das Gegenteil ist wahr. Einem anderen Unrecht zuzufügen, ist niemals recht.

Bei keinem einzigen Schritt auf diesem erhabenen Pfad gibt es jemals irgendeinen äußeren Zwang. Es gibt nur das edle Begehren, das aus der sehnsuchtsvollen Seele des Aspiranten kommt, immer weiter und weiter nach innen und nach oben vorwärts zu schreiten. Am Anfang wird jeder Schritt dadurch gekennzeichnet, daß man etwas überwunden hat, daß man einen Teil der persönlichen Fesseln und Unvollkommenheiten, die uns an diese materiellen Bereiche ketten, fallengelassen hat. Immer wieder wird uns mit Nachdruck gesagt, daß die erhabenste Lebensregel darin besteht, in uns selbst unsterbliches Mitleid mit allem, was lebt, zu hegen. Dadurch wird man selbstlos, und die wandernde Monade ist schließlich imstande, das Selbst des kosmischen Geistes zu werden, ohne daß die Monade ihre Individualität verliert.

In dem soeben dargestellten liegt das Geheimnis des Fortschritts: Um größer zu sein, muß man größer werden; um größer zu werden, muß man das Geringere aufgeben; um ein Sonnensystem im eigenen Denken und Leben zu erfassen, muß man die Grenzen der Persönlichkeit, das, was nur menschlich ist, aufgeben, was bedeutet, sie zu überwinden und darüber hinauszuwachsen. Indem wir die Bereiche des niederen Selbst aufgeben, gehen wir in die Bereiche des größeren Selbst, in die Selbstlosigkeit ein. Niemand wird einen einzigen Schritt dem größeren Selbst, das bereits seine eigene höhere Natur ist, entgegengehen, ehe er nicht lernt, daß „für sich selbst zu leben“ das Hinabgehen in noch dichtere und begrenztere Sphären bedeutet, und daß „zu leben für alles, was ist“, bedeutet, daß sich die eigene Seele für dieses Leben erweitert. Alle Mysterien des Universums liegen latent in uns, alle seine Geheimnisse sind dort zu finden, und jeder Fortschritt in esoterischer Erkenntnis und Weisheit ist nur ein Entfalten dessen, was schon im Inneren vorhanden ist.

Wie unbedeutend erscheinen uns die menschlichen Probleme, die uns so sehr quälen, diese große Sorgenlast, wenn wir gelegentlich über diese unendlich trostvollen Tatsachen nachdenken. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn der christliche Schreiber erklärt, daß nicht einmal ein Sperling vom Himmel fällt, ohne daß der HERR es weiß; daß es kein einziges Haar auf unserem Haupte gibt, das nicht gezählt und für das nicht gesorgt würde. Und weitaus mehr noch wird für uns getan. Auch diese Welt der Wahngebilde und der Schatten ist ein wirklicher und untrennbarer Bestandteil des Grenzenlosen, aus dem wir hervorgegangen sind, und zu dessen göttlichem Herzen wir eines Tages auf den Schwingen unserer gesammelten Erfahrungen zurückkehren werden, auf Flügeln, die uns über die Täler hinweg zu den fernen Berggipfeln des Geistes tragen werden.