Band 2: Reinkarnation
Leonie L. Wriht
Einige Einwände und Missverständnisse
Einer der verbreitetsten Irrtümer ist der Gedanke, daß der Mensch im Körper eines Tieres wiedergeboren werden könnte. Einige östliche Religionen lehren, daß eine solche Inkarnation in einem Tierkörper die Bestrafung für gewisse Sünden sei. Diese Behauptung ist die Entstellung einer ursprünglichen Lehre, die im Laufe der Jahrhunderte entstand; sie wird später erklärt werden.
Die Theosophie bestreitet diese Ansicht energisch. Sie sagt: „Einmal ein Mensch, immer ein Mensch.“ Dies ist eines der großen Axiome der archaischen Wissenschaft. Die Feststellung basiert auf der Tatsache, daß das Universum ein lebender Organismus ist, von dem wir ein Teil sind, und die Gesetze, die unser Leben regieren, haben daher in der Natur dieses Organismus ihren Ursprung. Wenn wir verstehen, was in der physischen Welt geschieht, können wir eine Vorstellung von den entsprechenden Vorgängen in anderen Sphären oder Ebenen innerhalb der Grenzen unseres eigenen Universums erhalten. Betrachten wir den Menschen von diesem Standpunkt aus, dann können wir erkennen, daß ebenso wie der Blutkreislauf und das Nervensystem das Wachstum ermöglichen, so auch die universalen Kreisläufe, die vitalen und spirituellen, die Evolution möglich machen. Im Menschen fließen die Lebenskräfte durch bestimmte Kanäle, die Venen, Arterien und Nerven. Im Universum bewegen sich die Lebenskräfte ebenso entlang bestimmter Kanäle und werden Kreisläufe des Kosmos genannt.
… Manas, der Denker, … tritt nicht in niedere Formen zurück; erstens, weil er dies nicht will, und zweitens, weil er es nicht kann. Denn genauso wie die Herzklappen in unserem Körper verhindern, daß das Blut zurückströmt und das Herz überflutet, so ist auch im größeren universalen Zirkulationssystem das Tor hinter dem Denker verschlossen und sein Rückgang blockiert. Die Reinkarnation, die sich als Lehre auf den wirklichen Menschen bezieht, lehrt keine Transmigration in Naturreiche, die unter der menschlichen Ebene liegen.
– W. Q. JUDGE, Das Meer der Theosophie, S. 91/93
Diese Entstellung des Reinkarnationsgesetzes, das als ‘Transmigration der Seele’ bezeichnet wird, ist die Mißdeutung einer Tatsache, die im Altertum bekannt war und nun wieder vorgebracht wird, nämlich die Transmigration der Lebensatome. Sie wurde folgendermaßen von Dr. G. de Purucker erläutert:
Angewandt auf die Lebensatome … bedeutet dieser Ausdruck, daß die Lebensatome, die zusammen die niederen Prinzipien des Menschen bilden, während und nach der Veränderung, die wir Menschen den Tod nennen, in andere Körper wandern oder übergehen, von denen diese Lebensatome psycho-magnetisch angezogen werden, seien diese Anziehungskräfte nun hoch oder niedrig. . . .
– The Esoteric Tradition, S. 598
Die Art und Qualität des Lebens, das jemand führt, prägt die Lebensatome, woraus die Zellen seines Körpers aufgebaut sind. Nach dem Tod werden diese durch die Anziehung in solche Organismen und Substanzen übergehen, die einen übereinstimmenden Charakter aufweisen und dadurch den geeigneten Kanal für solche Energien bereitstellen, die in den Lebensatomen aufgebaut werden.
Kommt die Zeit der Wiedergeburt und kehren die Lebensatome erneut durch die psycho-magnetische Anziehung zum reinkarnierenden Wesen, zu dem sie gehören, zurück, dann bringen sie durch ihre Transmigration die Einflüsse, die ihnen während des vergangenen Lebens eingeprägt wurden, verstärkt mit. Hieraus können wir ersehen, wie diese Lehre der Transmigration der Lebensatome ihrer wahren und ursprünglichen Bedeutung beraubt wurde.
Einige Menschen lehnen die Idee von der Reinkarnation ab, weil ihnen die Vorstellung unangenehm ist, wieder zu dieser Erde zurückzukommen. Sie sind der Ansicht, genug von den Leiden und Mühen des menschlichen Lebens gehabt zu haben und möchten nicht dorthin zurückkehren. Wie verständlich ein solches Denken über sich selbst auch erscheinen mag, ist es dennoch offensichtlich, daß die Gesetze der Natur sich nicht durch seinen oder ihren Wunsch zur Seite drängen lassen, sollten der Mensch in einem bestimmten Abschnitt seiner Existenz die Richtigkeit und Notwendigkeit der Gesetze nicht einsehen.
Man kann einwenden, daß die Wahrheit der Reinkarnation nicht bewiesen werden kann. Dies wird zum einen häufig von jenen behauptet, die meinen, daß der Tod das Ende von allem ist, und zum anderen von jenen, die glauben, daß das Leben in einem Himmel oder einer Hölle fortgesetzt wird. Man vergißt aber, daß diese beiden Theorien ebensowenig ‘bewiesen’ werden können. Einen ‘Beweis’ für Dinge wie diese kann nur in jedem Menschen persönlich gefunden werden. Es ist klar, daß viele Tatsachen für die Reinkarnation sprechen. Man muß nur an die vielen Zyklen in der Natur denken, wie den Wechsel der Jahreszeiten, Wachen und Schlafen, das Aufkommen und den Verfall von Kulturen usw. Dies sind keine ‘Beweise’ im gewöhnlichen Sinne des Wortes, aber trotzdem weisen diese Vorbilder auf die universalen Prozesse der Periodizität in der Natur hin. Es ist offensichtlich, daß wir durch das Reinkarnieren die Möglichkeit erhalten, die Folgen von Ursachen, die in vergangenen Leben gelegt wurden, zu überwinden und den Prozeß der Entwicklung fortzusetzen. Diese Folgen von Taten oder Gedanken aus der Vergangenheit sind weder Strafe noch Belohnung, sondern eine Gelegenheit zu weiterem Wachstum. Wir begegnen diesen Folgen hier auf der Erde, so daß wir an dem Platz ernten können, wo wir gesät haben.
Jede Tat, die wir ausführen, jede gute und jede schlechte Tat, jeder gute Gedanke, den wir denken, und jeder böse Gedanke, dem wir in unserem Denken Raum geben und der dadurch unsere Handlung beeinflußt: jeder muß seine unvermeidliche nachfolgende Wirkung haben. … Wo soll die Kraft oder Energie sich als Resultat zum Ausdruck bringen? Nur nach dem Tode oder in zukünftigen Leben? Die Antwort lautet: beides, aber hauptsächlich letzteres, in zukünftigen Leben auf der Erde, weil die irdische Kraft sich nicht wirksam in Sphären manifestieren kann, die nicht irdisch sind.
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 660
Wir sollten aber daran denken, daß diese Lehren nichts mit Fatalismus zu tun haben. Wir sind in der Tat in den Fesseln unserer gegenwärtigen Verhältnisse gefangen, womit wir durch unsere frühere Taten verwoben sind. Wir können uns daraus nur befreien, indem wir dem entgegengesetzt handeln. In dem Augenblick, in dem wir dies begreifen, können wir durch den Gebrauch unseres Willens diese Zustände beherrschen lernen und sie dazu benützen, genau entgegengesetzte Ergebnisse zu erzeugen als die, welche daraus hervorgegangen wären, wenn wir uns ihnen willenlos unterworfen hätten. Der Mensch, der sein Wissen und seinen freien Willen gebraucht, wird in zunehmendem Maße Meister seiner selbst und daher seines Schicksals.
Weiterhin fragt man sich häufig: „Wie sollen wir unsere Freunde und Verwandten erkennen, wenn wir in dem folgenden Leben in einem neuen Körper geboren werden?“ Ist Wiedererkennen wirklich notwendig? Wir sind mit unserer Familie und mit unseren Freunden durch Liebe, Sympathie und gemeinsame Erfahrungen verbunden. Wir müssen einander nicht suchen. Familien werden gemeinsam wiedergeboren, damit sie die Fäden wiederaufnehmen können, die sie nun vereinigen. Wir und unsere Freunde werden unvermeidlich voneinander angezogen und zusammengeführt, so ähnlich wie ein Magnet die Eisenspäne aus einem Berg von Sägespänen herausfinden kann. Wir können unseren Freunden und unseren Feinden nicht entrinnen.
Es gibt weiter einige Menschen, die sich gegen die Idee wenden, als Kind wiedergeboren zu werden und von neuem die rein physische Seite des Daseins erlernen zu müssen. Wiederholung ist eine Gewohnheit der Natur, die einen wesentlichen Teil der Evolution ausmacht. Jede Wiederholung kann jedoch, durch die Erfahrung der vorhergehenden, kürzer sein und weniger Anstrengung beinhalten. Über diese Frage schreibt Dr. G. de Purucker folgendes:
… die Zukunft wird Menschen hervorbringen, für die die Kinderjahre und das Säuglingsalter viel kürzer sein werden. Diese Verkürzung ist das Resultat der Evolution. In ferner Zukunft wird die Zeit kommen, in der die Kinder beinahe als fertige Menschen geboren werden – praktisch erwachsen, wenn es auch nicht bedeutet, daß sie in voller Erwachsenengröße zur Welt kommen.
– Questions We All Ask, Serie I, S. 549f.
Das, worauf es uns hauptsächlich ankommt, ist die spirituelle Entwicklung. Wir fühlen die Last physischer Schwächen, weil wir uns in der Vergangenheit unter ihre Herrschaft begeben haben, indem wir überwiegend an materielle und persönliche Befriedigung gedacht und danach gestrebt haben. Dies schuf Hindernisse für das spirituelle Ego, dessen Aktivitäten in der Welt dadurch geschwächt wurden. Das hat auf unseren Körper zurückgewirkt und seine Evolution verlangsamt. Wenn wir in unserem Leben mehr Nachdruck auf das Spirituelle und Unpersönliche legen, werden alle Begrenzungen und Schwächen allmählich verschwinden. Dann wird das Ego frei sein, um seine Vehikel, die es benützt, in Harmonie mit seiner eigenen göttlichen Natur und ihren Zielen zu entwickeln.
Einwände gegen die Reinkarnation kommen gewöhnlich daher, daß man mit der Lehre und wie sie auf die unzähligen im Leben auftauchenden Probleme und wechselnden Situationen anzuwenden ist nicht vertraut ist. Auf Geheiß von anderen kann man natürlich niemanden dazu veranlassen, an Reinkarnation zu glauben. Aber wir können darüber nachdenken und den Gedanken der Reinkarnation als einen möglichen Schlüssel sehen, um unsere Lebensprobleme zu lösen. In diesem Prozeß, in dem uns unsere Intuition häufig zur Hilfe kommt, treten oftmals Argumente zum Vorschein, die (uns) auf die Dauer den ‘Beweis’ für die Wahrheit der Reinkarnation liefern, die für uns die Grundlage menschlicher Gerechtigkeit, des Glücks und des spirituellen Wachstums bilden kann.