Band 2: Reinkarnation
Leonie L. Wriht
Welcher Teil des Menschen reinkarniert?
Aus dem bereits Gesagten erkennen wir, daß der Mensch ein zusammengesetztes Wesen ist. Wir haben in seiner Konstitution alle drei Elemente wahrgenommen, nämlich eine Persönlichkeit, die unter dem einen oder anderen Namen bekannt ist, und hinter der Persönlichkeit ein tieferes Reservoir an Bewußtsein, das in den höheren Wünschen seines Wesens zum Ausdruck kommt. Das dritte und niederste von allen ist das animalische Bewußtsein, wozu auch der Körper gehört, das Vehikel der beiden höheren Aspekte im Menschen.
Diese drei Elemente können noch weiter unterteilt werden, so daß sich der Mensch uns als ein siebenfältiges Wesen darstellt. Da wir unser Studium hier aber auf die Reinkarnation beschränken, ist es notwendig, den Menschen als Dreiheit zu betrachten. Das deckt sich mit der Beschreibung des Menschen durch den Apostel Paulus als Körper, Seele und Geist. Diese Einteilung wurde meist vernachlässigt, weil der Mensch nicht genau wußte, was er unter ‘Geist’ verstehen sollte. Paulus lieferte mit dieser dreifachen Einteilung den Beweis dafür, daß er mit den Lehren der Alten Weisheit, nun Theosophie genannt, vertraut war.
Es ist die höhere Natur, auf die bereits hingewiesen wurde, das spirituelle Ego, das reinkarniert. Der technische Ausdruck, den die Theosophie für diesen höheren Teil unseres Bewußtseins verwendet, ist Manas. Dies ist ein Sanskritwort und bedeutet ‘der Denker’, daher können wir das reinkarnierende Ego den Denker im Menschen nennen. Es ist der Ursprung unseres Selbstbewußtseins, von unserer Fähigkeit der Selbstbetrachtung und der Selbstverwirklichung. Durch es treten wir mit dem Leben in Beziehung, verstehen, was wir lernen und fügen so in Form von Charakter und Neigungen die aus der Evolution gewonnenen Erfahrungen in uns ein. Ohne dieses Zentrum des überdauernden individuellen Bewußtseins, in welchem die Ergebnisse der Evolution aufbewahrt werden, würden die Früchte der Erfahrung sich beim Tode auflösen und keine fortschreitende Entwicklung wäre möglich. Es kommt auch durch die Stimme unseres Gewissens zum Ausdruck. Durch es beziehen wir hohe Inspiration und selbstlose Liebe, wir empfangen Eingebungen und Intuitionen aus dem Göttlichen und alle Impulse für unpersönliches und großmütiges Denken und Handeln.
So existieren in uns zwei Selbste: Das Selbst des Egos oder des Denkers, das durch alle unsere Reinkarnationen bestehen bleibt, und das Selbst der Persönlichkeit, das sterblich ist und beim Tode auseinanderfällt. Das Schwanken des Bewußtseins zwischen diesen beiden Selbsten ist das große Mysterium des Lebens. Diese beiden Selbste, die bis jetzt noch so gegensätzlich in ihrem Verlangen und Ziel sind, machen uns zu dem, was wir sind. Wie vertraut sind wir doch alle mit dem Zweikampf zwischen diesen beiden, der immer wieder in uns ausgetragen wird. Die Stimme der selbstsüchtigen Versuchung und der Ruf des unbestechlichen Gewissens – jede Seite kämpft um die Herrschaft Wir vermuten meist nicht, wie tiefgehend und komplex der Kampf ist, bis wir ernsthaft damit beginnen, irgendeinen gewohnheitsmäßigen Fehler zu überwinden, wie schlechte Laune oder irgendeine Schwäche oder tief verwurzelte Selbstsucht. Wir merken dann, daß all unsere inneren und äußeren Kräfte sogleich Partei ergreifen und sich gegeneinander aufreihen. In einem solchen tiefgreifenden, wesentlichen Kampf, wie er zwischen den beiden Naturen des Menschen stattfindet, hat der Sieg zu viele Seiten und unterliegt zu vielen Einflüssen, als daß er in einem kurzen Leben mit eingeschränkter Erfahrung gewonnen werden könnte. Der Kampf muß unter unzähligen Umständen ausgetragen und das Ziel muß durch viele Erfahrungen in einem Leben nach dem anderen erreicht werden, bis schließlich die höhere Natur der einzige Herr und Meister geworden ist.
Woraus entsteht diese Dualität in uns? Warum muß der Mensch sowohl gut als auch schlecht sein? In längst vergangenen Zeiten der Evolution auf unserem Globus wurde das äußerliche, animalische Vehikel des Menschen durch die niederen instinktmäßigen Kräfte aufgebaut. Unter der Wirkung des Evolutionsgesetzes formte es sich langsam zu einem Vehikel für das reinkarnierende Ego. Als dieses Vehikel, bestehend aus Körper und tierischem Bewußtsein, fertig war, nahm das spirituelle Ego es unter seine Obhut und inkarnierte dort, um die weitere Entwicklung zu leiten. Unter dem Einfluß dieses Egos fand nun eine bedeutende Veränderung des Vehikels statt, um es für die Erfahrungen im menschlichen Leben tauglich zu machen. Das spirituelle Feuer des Denkers durch Leben auf Leben stimulierte und entwickelte das Wachstum des bis dahin tierischen Menschen, so daß sich gradweise unter diesem kreativen Einfluß allmählich ein persönliches, halb unabhängiges Bewußtsein entfaltete. Dieses persönliche Bewußtsein, das sich unter der Inspiration seines überschattenden Egos in vielen Inkarnationen langsam ausbreitete, wurde zu der menschlichen Persönlichkeit. Und jetzt ist die Persönlichkeit nicht allein ein Instrument, wodurch das Ego seine eigenen göttlichen Kräfte offenbaren kann, sondern durch ihr eigenes Ringen und Siegen, wozu sie durch ihr Gewissen angespornt wird, beginnt die Persönlichkeit selbst zu evolvieren. Sie entwickelt sich und wächst, sie erhebt sich aus diesem begrenzten persönlichen Bewußtsein und erreicht dabei die eigene Unsterblichkeit. Indem wir unsere niedrigere selbstsüchtige Natur dem Einfluß und der Leitung der höheren unterordnen, machen wir es dem Ego möglich, sein Licht auf dieser Ebene zu offenbaren und daher seine eigenen göttlichen Kräfte auszuüben und zu erweitern. Wenn wir unser persönliches Bewußtsein allmählich veredeln, erheben wir es schließlich auf die Ebene des spirituellen Egos und dadurch wird der Mensch zum unsterblichen Menschen umgewandelt. Auf diese Weise schreitet die gesamte Natur des Menschen in allen ihren Elementen aufwärts in einen höheren Bewußtseinszustand, wozu Dr. de Purucker in Fundamentals of the Esoteric Philosophy (S. 287) erläutert:
Das Werk der Evolution besteht in . . . dem Erheben des Persönlichen zum Unpersönlichen, dem Erheben des Sterblichen, damit es sich in das Gewand der Unsterblichkeit hüllt, dem Erheben des Tieres, um ein Mensch zu werden, dem Erheben eines Menschen, um ein Gott zu werden, dem Erheben eines Gottes zu einem noch erhabenerem Gott.
Es ist jedoch so, daß der persönliche Teil unseres Wesens sich noch immer auf dem Pfad zu einer solchen Vollkommenheit befindet. Wir sind noch weit von dem Ziel entfernt. Die gesamte Rasse ist noch in der Unwissenheit über das Spirituelle gefangen; Leiden und Verwirrung von Geist und Herz haben es im Griff, weil wir noch nicht gelernt haben, unser Bewußtsein in dem überdauernden und wahren Teil in uns zu verankern, dem spirituellen Ego. Wir sind fast gänzlich von den persönlichen Interessen unserer Natur überflutet. Diese Persönlichkeit ist gemischt aus einer Mentalität, die mit Leidenschaften, mit emotionalen Eigenschaften und mit physischen Neigungen und Begierden verbunden ist. In dem einen Augenblick ist die Persönlichkeit von scharfsinnigem Verstand in Beschlag genommen, in dem anderen Moment wird sie durch einen Sturm von heftigem Zorn aus ihrer Verankerung gerissen, dann wieder machen physischer Schmerz oder Krankheit sie zu einem hilflosen, ohnmächtigen Geschöpf. Selten aber bleibt jemand lange Zeit derselbe. Wir fallen von einer Stimmung in die andere, und unsere Ansicht vom Leben wandelt sich fortwährend. Wie alle zusammengesetzten Dinge muß die unbeständige Persönlichkeit sich auflösen, wenn die Zeit kommt, in der sich die verschiedenen Energien und Klassen von Lebensatomen trennen, aus welchen sie zusammengesetzt ist. Denn nur homogene Dinge sind unsterblich. Wird dieses Bündel persönlicher Energien aufgelöst, weil das spirituelle Ego in seine eigene Sphäre zurückgezogen wird, mit anderen Worten beim Tode, läßt es die sogenannten Skandhas zurück. Wenn eine Pflanze welkt und stirbt, dann läßt sie ihre Samen in die Erde fallen, welche die Früchte ihrer kleinen Runde des Wachstums und der Entwicklung sind. Sobald jedoch der Kreislauf der Jahreszeiten die zum Keimen erforderlichen Bedingungen wieder zurückgebracht hat, werden aus diesen Samen neue Pflanzen wachsen. Die Saat eines duftenden Veilchens wird wieder seine Artgenossen hervorbringen, die Saat von Unkraut wird wieder Unkraut zum Vorschein bringen. Mit dem psychologisch-tierischen Organismus des Menschen verhält es sich nicht anders. Wenn er stirbt und vergeht, dann läßt er in dem psychologischen Boden der Natur die unsichtbaren Energie-Samen zurück, die sein eigenes Wachstum hervorgebracht haben. Diese Samen oder Wirkungen werden mit dem Sanskritausdruck Skandhas bezeichnet, weil es im Deutschen keinen Ausdruck gibt, der diese inneren Folgen der Lebenserfahrung genau beschreibt. Diese Skandhas sind es, welche die neue Persönlichkeit formen, wenn das Ego zur Inkarnation zurückkehrt. Sie machen den Menschen zum exakten Resultat dessen, was er im letzten Leben dachte, tat und an Charaktereigenschaften aufbaute.
Das, was sich im Menschen reinkarniert, ist das spirituelle Ego, die göttliche Individualität. Die folgenden Worte von Dr. de Purucker werden uns helfen, das Ego und seine Beziehung zu uns selbst besser zu verstehen:
Zwischen der göttlich-spirituellen Monade und dem physischen Körper gibt es aber eine Anzahl Zwischenteile oder -ebenen der menschlichen Konstitution, und jeder derselben hat seine eigene besondere Art und seine charakteristischen Eigenschaften und Kräfte. Jede Zwischenschicht ist ein Feld, auf dem sich eines der Bewußtseinszentren oder der monadischen ‘Prinzipien’ des Menschen offenbart. Diese Kräfte, Energien und Fähigkeiten manifestieren sich als Denken, Intuition, Inspiration, Emotion, Liebe, Haß, Stolz, selbstsüchtige Impulse, Wünsche und vieles mehr, und sie alle unterscheiden sich voneinander als edel oder unedel, je nachdem, ob sie hoch oder niedrig sind, oder besser, ob sie aus spirituellen oder den astral-physischen und niederen Zwischennatur hervorgehen.
Es ist, um genau zu sein, ein bestimmter Teil dieser Zwischennatur, die ebenfalls zusammengesetzt ist und die wir kurz die psychologische Natur nennen können, der reinkarniert oder sich Leben um Leben im menschlichen Fleische wiederverkörpert.
– G. DE PURUCKER, The Esoteric Tradition, S. 679