Tausend Lichter entzünden
Grace F. Knoche
3 – Die Erweckung des Denkvermögens
Auf dem gesamten Globus beschreiben Überlieferungen ein Ereignis von titanischer Bedeutung, das sich vor Millionen von Jahren ereignete: die Erweckung des Denkvermögens in der kindlichen Menschheit. Als Rasse befanden wir uns in einem traumhaften Zustand und ohne Ziel, bis wir durch dieses Ereignis von der Kraft des selbstbewussten Denkens entfacht wurden, wählen konnten und den Willen besaßen zu evolvieren. Legende und Mythos, Schriften und Tempel bewahren den Bericht dieses wunderbaren Übergangs von Gemütlosigkeit zu Selbstbewusstsein, von der Unschuld Edens zu Wissen und Verantwortung – alles aufgrund des Eingreifens fortgeschrittener Wesen höherer Sphären, die in uns „ein lebendiges Denkvermögen … und eine neue Macht des Denkens“ bewirkten.1
In den indischen Puraṇas zum Beispiel, in der Bhagavad-Gītā und anderen Teilen des Mahābhārata gibt es eine Reihe von Hinweisen auf unsere göttlichen Ahnen, die von sieben oder zehn „aus dem Denken geborenen Söhnen Brahmās“ herabstiegen. Sie haben verschiedene Namen, aber alle sind aus dem Denken geboren, mānasa, „denkend“ (von Manas, „Denkvermögen“, aus dem Sanskrit-Verbum man, „denken, reflektieren“). Gelegentlich werden sie Mānasaputras, „Söhne des Denkens“, genannt; öfter jedoch Agnishvāttas, jene, die Agni, das „Feuer“, geschmeckt haben; auch Barhishads, die für meditative oder zeremonielle Zwecke auf Kuśa-Gras sitzen; oder man bezieht sich auf sie einfach als Pitṛis, „Väter“ – alles Begriffe, welche die Tradition bewahren, dass solare und lunare Väter, Vorfahren, der frühen Menschheit das Denkvermögen und die Kraft zu wählen brachten, so dass wir Menschen unserer weiteren Evolution mit bewusster Absicht nachgehen können.
Das Erwecken des Denkvermögens in einer Menschheit wäre nicht durch eine einzige heroische Tat zu schaffen gewesen; es muss Hunderte von Tausenden, wenn nicht einige Millionen Jahre gebraucht haben, um das zu erreichen. Und die Menschen jener Periode vor der Morgendämmerung waren zweifellos so unterschiedlich wie wir heute: Wahrscheinlich waren nur wenige erleuchtet, die große Mehrheit der Menschheit befand sich im mittleren Bereich der Verwirklichung, während einigen die Motivation zur Aktivierung ihres Potenzials fehlte. Das Kommen der Lichtbringer war in der Tat ein Akt des Mitleids, und doch war es auch auf Grund karmischer Verbindungen mit der Menschheit aus früheren Weltzyklen vorherbestimmt.
Verständlicherweise rief die Entfesselung dieser neuen Macht in einer Menschheit, die bislang im Gebrauch des Wissens ungeschult war, nach Leitern und Lehrern, die den Weg weisen. Legenden und Traditionen vieler Völker berichten, dass höhere Wesen zurückblieben, um zu lehren, zu inspirieren und sowohl die Aspiration als auch den Intellekt zu hegen. Sie vermittelten praktische Fertigkeiten: Navigation, Sternkunde, Metallurgie und Ackerbau, Kräutermedizin, Kardätschen und Spinnen sowie Hygiene und auch eine Liebe für die Schönheit durch die Künste. Aber wichtiger als alles andere war, was als innerer Talisman für die folgenden Zyklen diente – tief in das Seelengedächtnis jener frühen Menschen prägten sie bestimmte fundamentale Wahrheiten über sich selbst und über den Kosmos ein.
Im Westen feilten Poeten und Philosophen Jahrhunderte hindurch an Legenden rund um Prometheus, die der griechische Poet Hesiod (8. Jahrhundert v. Chr.) aus sehr alten Quellen aufgezeichnet hatte. Unter anderen machten Aeschylos, Plato, Vergil, Ovid und in jüngerer Zeit Milton, Shelley und andere verschiedene Facetten der Geschichte unsterblich. In seinen Dialogen weist Plato oft auf eine Weisheit jenseits seiner erzählten Mythen hin und in seinem Protagoras (§ 320 ff.) erzählt er von der Begegnung des Epimetheus (Nach-Denker) mit seinem älteren Bruder Prometheus (Vor-Denker). Als der Zyklus für die Gestaltung der „sterblichen Kreaturen“ gekommen war, bildeten sie die Götter aus den Elementen von Erde und Feuer „im Innern der Erde“, aber bevor sie ans Tageslicht gebracht wurden, beauftragten sie Epimetheus und Prometheus, jedem seine angemessenen Eigenschaften zuzuweisen. Epimetheus bot an, die Hauptarbeit zu leisten, und überließ Aufsicht und Zustimmung Prometheus.
Alles ging gut, was die Ausstattung der Tiere mit passenden Eigenschaften anlangte; aber, ach, Epimetheus entdeckte, dass er alle Eigenschaften aufgebraucht hatte, „und als er den Menschen erreichte, der noch nicht versorgt war, war er schrecklich verwirrt“. Prometheus hatte nur eine Zuflucht, und die bestand darin, sich heimlich aus dem gemeinsamen Arbeitsraum von Athene, der Göttin der Künste, und Hephaistos, dem Gott des Feuers und des Handwerks, das zu verschaffen, was nötig war, um „den Menschen seinerseits auszustatten, dass er ins Tageslicht hinausgehen konnte“. Prometheus eilte zur Schmiede der Götter, wo das immerwährende Feuer des Denkens brannte. Er stahl Glut aus dem heiligen Herd, stieg wieder zur Erde hinab und erweckte das latente Denkvermögen des Menschen mit dem Feuer des Himmels. Der denkende Mensch war geboren: Statt schlechter ausgestattet zu sein als die Tiere, die Epimetheus so gut versorgt hatte, stand er nun als potenzieller Gott da, sich seiner Macht bewusst und doch auf natürliche Weise wissend, dass er von jetzt an zwischen Gut und Böse wählen und sich der Gabe, welche Prometheus gebracht hatte, als würdig erweisen musste.
Zunächst lebten die jugendlichen Menschen (wir selbst) in Frieden, aber im Laufe der Zeit wendeten viele von uns ihre Gedankenkraft selbstsüchtigen Zielen zu und befanden sich in einem „Prozess der Zerstörung“. Zeus, der unsere verzweifelte Lage beobachtete, rief Hermes zu sich und ermächtigte ihn, sich schnell zur Erde zu begeben und jedem Mann und jeder Frau „Ehrfurcht und Gerechtigkeit“ einzuflößen, so dass alle und nicht nur wenige Begünstigte an den Tugenden teilhaben sollten. Kurz gesagt, wir Menschen sind – wie ungleich auch immer in Bezug auf Talent oder Möglichkeit – gleich an göttlichem Potenzial.
Plato überliefert die schöne Wahrheit in Form des Mythos, dass Zeus im Menschen nicht nur die Saat der Unsterblichkeit ausbrachte (siehe auch Timaios § 41), sondern zu gegebener Zeit auch die Glut des Feuers zur selbstbewussten Wahrnehmung seiner Göttlichkeit entfachte – das Werk des Prometheus, dessen Wagemut und Opfer um der Menschheit willen ihn zum edelsten Helden machen.
Richtig verstanden, erzählt das dritte Kapitel der Genesis dieselbe Geschichte. Gott warnt Adam und Eva, nicht von der Frucht des Baums der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, oder sie würden sterben. Aber die Schlange versichert Eva, dass sie „mitnichten des Todes sterben werden“, denn Gott – oder vielmehr die Götter, 'Elohīm, Plural – weiß (wissen), dass, sobald sie davon essen, „ihre Augen aufgehen; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“. Sie aßen und „starben“ – als eine Rasse unvernünftiger Kinder – und wurden wahrhaft menschlich, wurden wie Götter und kannten Gut und Böse. Und hier sind wir – Götter in unserem Innersten, obwohl wir uns zum größten Teil der Tatsache nicht bewusst sind, denn das Gedächtnis für diese bedeutungsvolle Wahrheit ist verblasst.
Wenn wir uns derselben Geschichte in den Stanzen des Dzyan der Geheimlehre zuwenden, entdecken wir:
Die großen Chohans riefen zu den Herren des Mondes, der luftigen Körper: „Bringet Menschen hervor, Menschen von eurer Natur. Gebt ihnen ihre Formen im Innern. Sie [Mutter Erde] wird Hüllen aufbauen außen. Männlich-weiblich werden sie sein. Herren der Flamme auch …“
Jeder Einzelne ging an seinen ihm zugeteilten Platz: Sieben von ihnen, jeder an seine Stelle. Die Herren der Flamme bleiben zurück. Sie wollten nicht gehen, sie wollten nicht schaffen.
– SD 2:16, GL 2:17-18
So geschah es, dass sieben mal sieben Geschöpfe gebildet wurden, schattenhaft und jedes nach seiner eigenen Art. Allerdings mussten die Wesen mit Denkvermögen erst noch geboren werden. Die Väter stellten jeder das, was sie besaßen, zur Verfügung, auch den Geist der Erde. Das war nicht genug: „Der Atem braucht ein Denkvermögen, um das Weltall zu umfassen; ‘Wir können es nicht geben’, sagten die Väter. ‘Ich hatte es nie!’, sagte der Geist der Erde.“ Der frühe Mensch blieb ein „leeres, unvernünftiges“ Wesen.
„Wie handelten die Mānasa, die Söhne der Weisheit?“ Sie wiesen die frühen Formen als ungeeignet zurück; aber als die dritte Rasse hervorgebracht wurde, „die Starken mit Knochen“, sagten sie: „Wir können wählen, wir haben Weisheit.“ Einige traten in die schattenhaften (astralen) Formen ein; andere „entsendeten Funken“; wieder andere „warteten bis zur vierten“ Rasse. Diejenigen, in die der Funke des Denkvermögens voll eintrat, wurden zu Erleuchteten, Weisen, Führern und Leitern der durchschnittlichen Menschheit, auf welche der Funke nur teilweise übertragen worden war. Diejenigen, auf die der Funke nicht übertragen worden war oder wo er nur schwach brannte, waren unverantwortlich; sie paarten sich mit Tieren und zeugten Monster. Die Söhne der Weisheit bereuten: „Das ist Karma“, sagten sie, weil sie sich geweigert hatten zu schaffen. „Lasst uns in den anderen wohnen. Lasst sie uns besser belehren, damit nicht Schlimmeres geschehe. Sie taten es … Da wurden alle Menschen mit Manas [Denkvermögen] begabt.“
So brachte die dritte Rasse die vierte hervor, deren Bewohner „voller Stolz in die Höhe wuchsen“. Als der Evolutionszyklus rasch auf seinen niedrigsten Punkt auf dem Bogen des materiellen Abstiegs zusteuerte, wurden die Versuchungen immer mehr. Es wird berichtet, dass eine schreckliche Schlacht zwischen den Söhnen des Lichts und den Söhnen der Finsternis tobte. „Die ersten großen Wasser kamen. Sie verschlangen die sieben großen Inseln.“ Die Söhne des Lichts wurden in der aufkommenden fünften Rasse geboren – unserer eigenen –, um ihr die nötige spirituelle Triebkraft zu geben, und „lehrten und unterwiesen sie“.2
Das Entzünden unserer intellektuellen Fähigkeiten war ein Höhepunkt in der menschlichen Evolution. Es erweckte unser Bewusstsein für alles. Wir wurden uns bewusst, wer und was wir sind – selbstbewusst. Das Wissen verlieh uns Macht: Macht zu wählen, zu denken und zu handeln – weise und unweise. Es verlieh uns die Fähigkeit, andere zu lieben und zu verstehen. Es regte die Sehnsucht an, unsere Fähigkeiten zu entwickeln und zu erweitern. Der Prozess stellte uns vor die größte aller Herausforderungen: das Erwachen unserer Kräfte sowohl zum Wohl als auch zum Verderben, was in einem Kampf zwischen dem Licht und den dunklen Kräften in uns seinen Höhepunkt fand. Wenn wir das mit mehreren Milliarden menschlicher Seelen multiplizieren, verstehen wir leicht, warum es einen andauernden Konflikt von Willenskräften gab und noch gibt.
Während des dritten großen Rassenzyklus oder der Wurzelrasse blieben die Mānasaputras, die ihre Denkessenz mit dem latenten Denkvermögen der frühen Menschen vereinten, als göttliche Unterweiser mitten unter uns. Aber unweigerlich kam eine Zeit, in der diese höheren Wesen sich zurückzogen, so dass die junge Menschheit sich selbstständig evolvieren und entwickeln konnte. Sie zogen sich aus unserer unmittelbaren Gegenwart zurück, aber niemals ihre Liebe und ihre schützende Fürsorge, genauso wie eine Mutter oder ein Vater niemals müde wird, die eigenen Kinder zu lieben. Die weisen Eltern lernen, dass die größte Gabe, die sie ihren Kindern geben können, ihr Vertrauen in sie ist, dass sie es alleine schaffen können. Das ist es, was die Mānasaputras für uns taten; und was unsere Gott-Essenz ununterbrochen für den menschlichen Teil von uns tut.
Tatsächlich sind wir Mānasaputras, obwohl das Denkvermögen in seinen höheren Bereichen noch nicht vollständig in uns manifestiert ist. Dennoch bleiben die Wahrheiten, welche die aus dem Denken geborenen Söhne in unser Seelengedächtnis eingepflanzt haben, ein wesentlicher Teil von uns. Damit wir mit diesem angeborenen Weisheits-Wissen unentwegt wieder in Kontakt treten, kommen wir wieder und wieder auf die Erde: um wiederzuentdecken, wer wir wirklich sind, Gefährten der Sterne, Galaxien und Mitmenschen ebenso gewiss wie Brüder von Feld, Ozean und Himmel – ein fließendes Bewusstsein von unserem Elternstern zu Kristall und Diamant und weiter bis zu den kleinsten Lebensformen, welche die Welt der Atome beleben. Auch die verschiedenen Klassen von elementalen oder ursprünglichen Wesen dürfen wir nicht übersehen, welche die Integrität der Elemente von Äther, Feuer, Luft, Wasser und Erde erhalten.
Es mag sonderbar erscheinen, sich uns als ein fließendes Bewusstsein vorzustellen, und doch sind wir genau das. Wir betrachten unser menschliches Selbst als eine getrennte Einheit, wenngleich es tatsächlich nur eine Zelle – so könnte man sagen – des erhabeneren Wesens ist, in dem die Menschheit lebt und ihre bewusste evolutionäre Erfahrung macht. Getrenntsein ist eine Illusion. Es gibt eine Wechselbeziehung zwischen allen Familien in der Natur – in dem Sinn, dass alle Wesen einen kleinen Teil von sich selbst zum Wohle der Reiche über und unter sich opfern. Es gibt einen ständigen Austausch an Hilfestellung, den wir öfter erahnen könnten, könnten wir unser Einssein mit allen verspüren. Mit einem stetigen Austausch der Lebensatome und vielerlei Arten von Energien findet ein karmisches Ineinandergreifen zwischen allen Naturreichen statt. Tatsächlich tragen wir das Mineral-, Pflanzen- und Tierreich in uns und ebenso die Elementalreiche; und wir haben auch die göttlichen Reiche in uns, weil wir Götter in Menschengestalt sind. Wir überbetonen allzu oft unser scheinbares Getrenntsein.
Heute bestätigt eine erstaunliche Reihe an Beweisen, dass das Bewusstsein eins ist und dass es – während es sich auf verschiedene Arten als Stein, Pflanze, Tier und Mensch manifestiert – ein fließender Lebensstrom ist. Experimente mit Pflanzen beispielsweise deuten auf die Empfänglichkeit der Pflanzen für menschliche Gedanken und Musik hin. Wenn es eine wechselseitige Beeinflussung der Schwingung – sowohl negativ als auch positiv – zwischen Menschen und Pflanzen gibt, existiert sie bestimmt ebenso unter unserer eigenen Art. Der fortwährende Austausch von Gedankenenergien, von Gedankenatomen, zwischen uns ist nicht auf das Menschenreich oder unseren Planeten begrenzt. Wenn wir über das lebendige Netzwerk der magnetischen und seelischen Kraft zwischen uns und jedem Aspekt des kosmischen Organismus, den wir als unser Universum bezeichnen, nachdenken, fühlen wir etwas von der Größe unserer Verantwortung. Wenn wir alles, was sich in unseren persönlichen Umständen, in unseren sozialen und gemeinschaftlichen Beziehungen ereignet, aus dieser Perspektive, mit dem Auge unseres unsterblichen Selbst betrachten könnten, würden wir jeden Aspekt des menschlichen Lebens verändern.