Tausend Lichter entzünden
Grace F. Knoche
12 – Die zwei Pfade
Niemand hat einen so tiefgreifenden Einfluss auf das Schicksal der menschlichen Rasse ausgeübt wie die Erleuchteten – diejenigen, die nach dem Erlangen von Allwissenheit, der Glückseligkeit Nirvanas, von den Höhen zurückkehren, um mit ihren jüngeren Brüdern, die sich noch in Unwissenheit und Verwirrung abmühen, in den Tälern zu leben. Als Beispiele der Liebe, die sie die Äonen hindurch für alle Lebewesen hervorgebracht haben, gehören sie zu der heiligen Hierarchie des Lichts, und ihr Opfer bleibt ein Signalfeuer in der Finsternis unseres Lebens.
Das Mitleid spricht: „Kann Seligkeit bestehen, wenn alles, was da lebt, leiden muss? Sollst du errettet sein und den Schmerzensschrei der ganzen Welt hören?“
Der PFAD ist einer nur, o Schüler, doch er gabelt sich am Ende. Seine Teilstrecken sind durch vier und sieben Tore gekennzeichnet. Am einen Ende steht unmittelbare Seligkeit, am anderen ist sie noch hinausgeschoben. Beide sind des Lohnes wert. Die Wahl jedoch musst du selbst treffen.
– Die Stimme der Stille, S. 94, 60-1
In diesen Fragmenten aus dem „Buch der Goldenen Vorschriften“ überliefert HPB für den „täglichen Gebrauch“ des modernen Schülers die uralte Lehre, dass wir vom ersten bis zum letzten Schritt wählen und dabei unseren Charakter und das Karma, welches zu dieser erhabensten Wahl führt, gestalten. Sie widmet ihre Stimme der Stille der Wahl zwischen den zwei Pfaden der spirituellen Disziplin, welchen der „Kandidat der Weisheit“ gegenübertritt: Der eine ist der Pfad der Befreiung, Erleuchtung für sich selbst und endet in Nirvana ohne weitere Rückkehr zur Erde; der andere, jener der Entsagung, ist ein langsamerer und herausfordernder Pfad, der von jenen gewählt wird, die dem von Buddha und Christus aufgezeigten Pfad des Mitleids folgen möchten. Sie erinnern sich beim Erlangen des Lichts und Friedens der nirvanischen Weisheit an ihre Mitmenschen und kehren zurück, um jene zu inspirieren, die auf sie hören, um zu erwachen und die heilige Suche fortzusetzen.
Dieser zweifache Pfad spirituellen Strebens wird anschaulich in der Tradition des Mahāyāna-Buddhismus dargestellt. Der eine Pfad, Pratyeka-Yāna, „der Pfad für sich selbst“, hat als sein Ziel Nirvana, Befreiung von allem, was nicht spirituell und irdisch ist. Das ist der Weg, dem jene Schüler, Mönche und Aspiranten folgen, die Erleuchtung nur für sich selbst, die eigene Erlösung und Befreiung aus dem endlosen Zyklus von Geburt und Wiedergeburt suchen. Die frühen Orientalisten beziehen sich auf den Pratyeka als einen „eigenen Buddha“, weil sie das Ziel allein anstreben und keine „lehrenden“ Buddhas sind. Es ist ein „Für-sich-Selbst“ oder eigenes Streben nach Nirvana, welches Beharrlichkeit bei der Konzentration auf die eigene Aspiration und das Bemühen um Selbstbemeisterung durch Reinigung des Motivs und Kontrolle von Körper, Sprache und Denkvermögen erfordert. Und doch ist dieser Pfad aufgrund seiner Selbstzentriertheit selbstsüchtig für das eigene Selbst. Wie die Stimme der Stille sagt: Der Pratyeka-Buddha „huldigt nur seinem Selbst … kümmert sich nicht um das Leid der Menschheit und seine Linderung“ (S. 63, 116) und tritt in den Glanz und die Weisheit und das Licht Nirvanas ein.
In der Pāli-Schrift The Questions of King Milinda1 werden „sieben Klassen des Denkens“ beschrieben, wobei der Pratyeka-Buddha zur sechsten gehört, der keinen Lehrer sucht und allein „wie das einzige Horn des Rhinozeros“2 lebt. Seine Weisheit ist nur so wie die, die in „einem seichten Bach auf seinem eigenen Grund und Boden“ enthalten ist, wogegen die Weisheit eines vollkommenen und vollständigen Buddhas jener „des mächtigen Ozeans“ gleicht.
Eine andere Schrift bezeichnet das Wissen eines Pratyeka-Buddhas als „begrenzt“, obwohl er angeblich alles über seine früheren Geburten und Tode weiß. Dagegen sind die vollständigen und vollkommenen Buddhas des Mitleids allwissend, weil sie – wenn erforderlich – über die gesamten Ressourcen des Wissens verfügen und sich direkt auf „jeden Punkt ausrichten können, an den sie sich zu erinnern wollen – über viele Male 10 Millionen Weltzyklen“, und so erkennen sie sofort die exakte Wahrheit jeder Situation, jedes Menschen oder Ereignisses.3
Im Tibet des 14. Jahrhunderts war Tsong-kha-pa ein Übermittler der Buddha-Weisheit. Er sprach über die Pratyeka-Buddhas als Allein-Erkennende von „mittelmäßigem“ Vermögen: Obwohl sie in ihrer Entschlossenheit ausharren, sind ihr Verdienst und ihre Weisheit begrenzt, weil sie ihre Bemühungen „nur um derentwillen“ erbringen – im Gegensatz zu dem Buddha, der zum Bodhisattva wird, welcher „das altruistische Denken der Erleuchtung vom ersten Moment an“ in sich trägt.4
Der Amṛita-Yāna, der ‘todlose Pfad’, ist – wenn auch langsamer und anstrengender – unendlich wunderbarer, denn er unterscheidet sich durch das edle Ideal des Tathāgata, die Nachfolge der Mitleidsvollen, die „so gegangen und so gekommen“ sind. Von dieser Art war der Bodhisattva-Gautama, der das Nirvana der vollständigen und vollkommenen Weisheit zurückwies, um unter den Menschen zu leben und zu arbeiten und so dem Rad des Gesetzes (Dharma) einen neuen Anstoß zu verleihen. „Welchen Grund sollte ich haben, mich ständig zu manifestieren?“ – außer in der Absicht, empfängliche Seelen zu aktiver Teilnahme an der uralten Suche zu erwecken. Der Buddha fährt fort:
Wenn die Menschen ungläubig, unweise, unwissend, sorglos, sinnlichen Vergnügungen zugetan sind und durch Gedankenlosigkeit ins Unglück stürzen,
Dann erkläre ich, der ich den Lauf der Welt kenne: Ich bin so und so [Tathāgata], (und bedenke): Wie kann ich sie für die Erleuchtung geneigt machen? Wie können sie zu Teilhabern an den Buddha-Gesetzen (Buddhadharmāṇa) werden?5
Buddhistische Texte sprechen über eine Reihe von Buddhas, von denen Gautama der 7. war. Sein 45 Jahre dauerndes geistliches Amt stellte den Höhepunkt von Entscheidungen dar, die unentwegt viele Leben hindurch „zum Wohl von Göttern und Menschen“, Tieren und allen Lebewesen getroffen worden waren. Während seiner letzten Inkarnation als Prinz Siddhārta hatte ihn sein Vater, der König, von allem, was hässlich und schmerzlich war, abgeschirmt. Aber im Alter von 29 Jahren konnte der Ruf, nach der Wahrheit der Dinge selbst zu suchen, nicht mehr unterdrückt werden. Einer Legende nach verließ der verkleidete Gautama den Palast mit seinem Wagenlenker und war in drei aufeinander folgenden Nächten drei „erweckenden Anblicken“ ausgesetzt: einem alten Mann, einem Leprakranken und einer Leiche; und schließlich einem Einsiedler, der der Welt entsagt hatte. Er war zutiefst erschüttert. Tiefes Mitleid erfüllte sein Wesen, er wollte nach der Ursache und der Heilung für menschliches Leid suchen. Er verließ sein Zuhause, seine wunderschöne Frau und einen kleinen Sohn und allen materiellen Komfort für eine Bettelschale und das Kleid eines Mönchs. Sechs Jahre lang experimentierte er unklug und unterzog sich den strengsten Entbehrungen, bis ihm – durch Schwäche und Hunger dem Tod nahe – seine innere Stimme sagte, dass das nicht der Pfad zur Wahrheit sei, dass eine Misshandlung des Körpers nichts nutzen würde. Von da an folgte er einem mittleren Weg zwischen den Extremen.
Schließlich, nach vielen Prüfungen seines Entschlusses gelobte er in einer Vollmond-Nacht im Mai, sich nicht mehr von der Stelle zu bewegen, bis er Bodhi, „Weisheit, Erleuchtung“, erlangt hätte. Unter einem Baum sitzend – seither der Bo oder Bodhi-Baum genannt –, zog er sich in die innerste Essenz seines Wesens zurück. Mara, die Personifizierung der Zerstörung, versuchte wiederholt ihn abzulenken, aber Gautama war fest entschlossen und wehrte jeden Angriff ab. Als der Augenblick höchster Erleuchtung für ihn gekommen war, sammelte Mara seine Ergebenen zu einem letzten furchtbaren Angriff, aber Gautama verharrte regungslos. Triumphierend wurde er zum Buddha, „erleuchtet“.
Er erfreute sich 49 Tage lang an der Fülle der Befreiung: Allwissenheit und höchstes Glück beseelten ihn. Aber anstatt in Nirvana einzutreten, blickte sein Herz zurück auf die leidende Menschheit, und als er ganz klar die Ursache für die Verwirrung des Menschen und den Weg erkannte, um sie zu vertreiben, wusste er, dass er zurückkehren musste. Er würde die Vier Edlen Wahrheiten und den Edlen Achtfachen Pfad lehren. Dann stahl sich ein flüchtiger Zweifel in seine Seele. Warum sollte er diese unschätzbaren Wahrheiten, die er schwer errungen hatte, der Menschheit darlegen, die sie kaum beachten würde? Welchem Zweck würde das dienen?
Die Geschichte sagt, dass Brahmā, der Herr und Schöpfer des Universums, einen Gedanken in das Gehirn Gautamas schoss: Die Welt wird gänzlich verloren sein, wenn sich der Bodhisattva-Tathāgata entschließt, der Menschheit das Dharma nicht weiterzugeben. Sei mitleidsvoll mit denen, die kämpfen; habe Erbarmen mit den Menschen im Netz des Leidens. Wenn nur einige wenige zuhören, wird das Opfer nicht umsonst sein. Darauf mischte sich Gautama nach seiner einsamen Wache unter die Menschen und begann sein geistliches Amt. Und was war seine Botschaft? Als der Tod nahte, fasste er den Zweck seines Lebens zusammen:
O Ānanda, seid euch eure eigenen Lichter.6 Seid euch selbst Zuflucht. Suchet nicht nach einer äußerlichen Zuflucht. Haltet an der Wahrheit als Licht fest. Haltet an der Wahrheit als Zuflucht fest. Suchet nach keiner Zuflucht bei irgendjemandem außer euch selbst.7
Wie in der Legende und der Wirklichkeit berichtet, sind das Leben und die Lehre Buddhas ein edles Zeugnis für den mitleidsvollen Pfad. Sein Appell – alle Wesen zu lieben und sich um das Wohlergehen sowohl der Tiere als auch der Mitmenschen zu sorgen, fleißig und lernbegierig zu sein und achtsam im Denken und Sprechen – ist in unserer Zeit genauso relevant wie vor 2.500 Jahren, als er mit den Brüdern über diese Themen sprach, während sie von Dorf zu Dorf zogen.
Viele Menschen streben heute ernsthaft danach, diesen Vorschriften entsprechend zu leben, während viele andere fragen: Kann das Wissen um die Entsagung eines Buddhas oder das Opfer eines Christus wirklich die menschliche Natur verwandeln und die Weltsituation, die mit jedem Jahrzehnt schlimmer wird, wirksam verändern? Wir glauben, dass das möglich ist, wenn auch nicht sofort. Wo der Wille die Absicht des Herzens antreibt, ist nichts unmöglich. Gerade die tiefe Reflexion darüber, was das Kommen eines Christus oder eines Buddhas auf Erden für eine strebende Seele, ja für die gesamte Menschheit, bedeuten kann, übt einen veredelnden und reinigenden Einfluss auf alle Facetten der eigenen Natur aus.
Was noch mehr zählt: Wir können uns mit Gautama identifizieren, weil ihm Erleuchtung nicht geschenkt wurde; er verdiente seinen Buddha-Status Schritt für Schritt über viele Leben. Und doch brauchte er selbst während seiner letzten Inkarnation – nachdem er sich entschlossen hatte, die verborgenen Ursachen von Leid und Tod zu durchdringen – mehrere Jahre des Versuchs und Irrtums, bevor er, beinahe um den Preis des Lebens, lernte, dass der ‘mittlere Weg’ der beste ist; dass uns die Natur mit einem wunderbar eingestimmten physischen Instrument ausgestattet hat, das – wenn gepflegt und respektiert – als Werkzeug zur Ausführung vieler guter Taten dienen kann.
In einem tiefen Sinn ist der Pfad des Mitleids, der Entsagung ein Pfad des Leidens, weil dies bedeutet, in der und für die Welt zu leben, wenngleich man schon vor langer Zeit die Prüfungen des irdischen Lebens abgeschlossen hat. Trotzdem kehrt ein Boddhisattva zurück – teils durch Karma und teils von einer tiefen Liebe zu seinen Mitmenschen angetrieben. Jedem von uns ist diese Wahlmöglichkeit gegeben, ob wir für uns selbst voranschreiten und schließlich in das Meer unendlicher Glückseligkeit gleiten und dabei die Welt vergessen oder ob wir, wenn die Erleuchtung kommt, entscheiden: „Ich kann diese Weisheit nicht für mich behalten; ich muss umkehren und meinen Brüdern helfen, die das Licht brauchen, das ich besitze. Sie sind leiderfüllt, verwirrt, rufen in der Wüste mit brennenden Herzen, sich nach Wahrheit sehnend.“ Alle großen Lehrer haben diesen Weg gewählt. Sie sind zurückgekehrt, um zu lehren, um uns an unsere göttliche Abstammung zu erinnern und das Gedächtnis an unser angeborenes Wissen wieder zu erwecken, so dass wir unserem Schicksal mit Mut und Hoffnung begegnen können. Dieser ‘todlose’ Pfad wendet sich an den Altruismus in uns, im Gegensatz zu dem Pfad ‘für sich selbst’. Zwischen Geist und Materie zu wählen, ist eine ständige Notwendigkeit, wenn wir evolvieren; zwischen der Wahrheit für sich selbst und der Wahrheit für andere zu wählen, ist eine weitaus größere Herausforderung.
Der Entschluss, dem Bodhisattva-Beispiel zu folgen, wird nicht nebenbei getroffen oder nur für dieses eine Leben, sondern für alle Zukunft: Die Vollendung des göttlichen Erwachens dauert Zeitalter. Die ganze Zeit während des langen und aufwärtsführenden Weges vertieft und reift die Absicht der Seele – nämlich jedes Partikel des Lebens mit der Ausstrahlung dieser Liebe, wenigstens flüchtig, zu berühren.
Fußnoten
1. Siehe IV, 1 §§ 20-27, Übers. T. W. Rhys Davids, Sacred Books of the East 35:155-62 [Deutsch: Die Fragen des König Milinda, Ansata Verlag, 135-136]. [back]
2. Ebenda, S. 158. [back]
3. Visuddhi Magga (Way of Purity) von Buddhaghosa; zitiert in World of the Buddha: A Reader, Herausg. Lucien Stryk, S. 159 ff. [back]
4. Siehe Compassion in Tibetan Buddhism von Tsong-kha-pa, Herausg. und Übers. Jeffrey Hopkins, S. 102-9. [back]
5. Saddharma-Puṇḍarīka (The Lotus of the True Law), xv, §§ 22-3, Übers. H. Kern, Sacred Books of the East 21:310. [back]
6. Der Pāli-Text ist knapp attadīpa attasaraṇa – atta (Sanskrit ātman) bedeutet „Selbst“, dīpa, „Laterne“; „Licht“; saraṇa (Skt. śaraṇa), „Zuflucht“. [back]
7. Mahā-Parinibbāna-Sutta, ii, § 33, Übers. T. W. Rhys Davids; Sacred Books of the East 11:38. [back]