Tausend Lichter entzünden
Grace F. Knoche
11 – Psychismus
Aus dem spirituellen Erwachen, das gerade stattfindet, ergibt sich die zwingende Notwendigkeit, die tieferen und gewöhnlich unbewussten Ebenen der menschlichen Psyche zu prüfen. Am einen Ende des Spektrums treffen wir in jeder Fachrichtung der Wissenschaft großartige Denker an, welche die Barriere der Materie niederreißen und neue Bewusstseinsdimensionen der Wechselwirkung von Seele/Denkvermögen/Körper untersuchen. Ihr Ziel ist die Entwicklung eines neuen Modells für den Menschen als ein planetarisches Wesen in einem Universum, das als seine angeborene Heimat erkannt wird. Gemeinsam damit wird allgemein der Ruf danach laut, die Erde als unsere Mutter anzuerkennen, nach einer Ökologie von Denken, Geist und Körper, nach der Akzeptanz eines holistischen Zugangs zu Heilung und Medizin zusammen mit einer aufgeklärten Fürsorge für Alte, Kranke und Sterbende und ebenso für mental und emotional Behinderte. Am anderen Ende des Spektrums locken Verkäufer mit psychischem Nippes Tausende Menschen mit schillernden Angeboten für „einen direkten Weg zu letztendlicher Macht“ und Ähnlichem.
In der Mitte steht die rasch wachsende Zahl an Individuen und Organisationen, die alle Arten von Retreats, Seminaren und Workshops für psycho-physiologische Praktiken unterstützen: ein Zurückziehen der Sinne, Maßnahmen zur Selbstregulierung, Reinigung von psychischen Blockaden, Energieerweckungs-Techniken, Traumdeutung und -kontrolle, Stress- und Spannungsbehandlungen und alle Arten von „Therapien“ als Erfahrungshilfen, um an alternativen Bewusstseinsebenen teilzuhaben. Viele werden verwirrt und sind nicht fähig, das zu erkennen, was von bleibendem Wert ist.
Vorgewarnt zu sein, bedeutet, gewappnet zu sein: Solange wir wachsam und verantwortlich sind und mittels unseres inneren Prüfsteins die Wahrheit oder Falschheit dessen, was uns zustößt, überprüfen, gibt es keinen wirklichen Grund zur Angst. Aber es ist erforderlich, dass wir die Zügel der Entscheidung in unseren Händen behalten und selbst entdecken, in welche Richtung uns dieser oder jener ‘Pfad’, dieses ‘Versprechen’ oder jene ‘Initiation’ führt: zur Emanzipation der Seele oder zur Eitelkeit und einer noch größeren Unsicherheit über unsere Ziele. Gewiss lauern an jeder Grenze Gefahren, und wo die Grenzen der astralen Ebenen unserer Konstitution und des Globus liegen, ist eine größere Wachsamkeit umso dringlicher. Da wir es hier hauptsächlich mit nicht physischen Dimensionen zu tun haben, ist ein größeres Maß an Unterscheidungsvermögen notwendig.
Das erste Erfordernis besteht darin zu wissen, womit wir es zu tun haben. Was meinen wir mit ‘astral’? Ursprünglich aus dem Griechischen – astron, „Stern“ –, wurde der Begriff von den Philosophen, Alchimisten und Hermetikern des Mittelalters und der Renaissance für die feine, unsichtbare Substanz gebraucht, die unsere physische Erde einhüllt und durchdringt. Paracelsus bezieht sich darauf als das Siderische Licht, und Éliphas Lévi nannte es die Schlange oder den Drachen, dessen Emanationen oft die Menschheit plagen. Die Upanishaden Indiens gebrauchen den Begriff Ākāśa, „strahlend“, für die leuchtende Substanz, welche den gesamten Raum, die Sonne und den Mond, Blitze und Sterne und ebenso das Selbst (Ātman) des Menschen durchdringt. Die Stoiker hatten ihre Quintessenz, die ‘fünfte Essenz’ oder den Äther, von dem die vier niedrigeren Elemente abstammen, und die Römer ihre Anima Mundi, „Weltseele“, die sie sich als alle Wesen umgebend und belebend vorstellten. Für die meisten Völker in früheren Zeiten waren die Himmelskörper, Sterne und Planeten ‘Tiere’ – Lebewesen, die vom ‘Atem’ (Anima, Spiritus) des Lebens erfüllt waren. Sie waren Götter, die Sternen- und Planetenkörper als Mittel benutzten, um Erfahrung zu gewinnen, und jeder hatte seinen Nous und seine Psyche (seine noetischen und psychischen Aspekte, seinen Geist und seine Seele). Es gab nie einen Zweifel im Denken jener Menschen, die in den Mysterien über den engen und fortdauernden Zusammenhang von Mensch und Natur geschult waren.
In der modernen Theosophie wird der Begriff „astral“ für das feine Modell gebraucht, nach dem sich die physischen Körper sowohl des Menschen als auch des Globus aufbauen. Heute findet man das Wort astral häufig in parapsychologischen Zeitschriften, obwohl verschiedene Begriffe – wie Energiekörper, Bioplasma und ähnliche – gleichermaßen angewendet werden.
Das Astrallicht – wie das edlere Gegenstück der Erde im theosophischen Sprachgebrauch bezeichnet wird – reicht vom Dichtesten bis zum Ätherischsten und Spirituellsten, seine niedersten Ebenen sind beschwert durch den Bodensatz menschlichen Denkens und menschlicher Emotionen, seine höchsten Ebenen verschmelzen mit dem Ākāśa, durch das die höheren Wesen in seltenen Intervallen mit jenen in Verbindung treten, welche ihre Belange befehligen. H. P. Blavatsky bezieht sich auf das Astrallicht als „die große Bildergalerie der Ewigkeit“, weil es „einen getreuen Bericht über jede Handlung und sogar jeden Gedanken des Menschen und all dessen enthält, was im phänomenalen Universum war, ist und immer sein wird“.1
Da sämtliche Erfahrungen in der Aura der Erde und in unserer eigenen ihren Eindruck hinterlassen, ist das Astrallicht der Behälter und damit der Reflektor sowohl der altruistischsten Gedanken und Bemühungen als auch der niedrigendsten menschlichen Impulse der unzähligen Männer und Frauen, die jemals auf unserem Planeten gelebt haben. Es gibt einen ununterbrochenen Austausch: Wir drücken dem Astrallicht unseren Stempel auf, und das Astrallicht seinerseits hinterlässt uns seinen – ein Fluss der in und durch die Erde und ihre Naturreiche zirkulierenden astralen Energien in zwei Richtungen. Tatsächlich werden wir von den astralen Strömungen aller Zeiten umspült: Unsere Gedanken sind astral, ebenso unsere Gefühle. Während wir miteinander sprechen, benutzen wir astrale Gedankensubstanz. Wenn wir uns in innerer Harmonie befinden, können wir unwissentlich Botschaften der Wahrheit und Schönheit entweder von unserem inneren Gott oder von den höheren Regionen des Astrallichts (Ākāśa) empfangen. Wenn wir hingegen deprimiert sind und negativen Gedanken und Emotionen Zugang zu unserem Bewusstsein gewähren, können wir unwissentlich das Tor für niedere astrale Einflüsse öffnen. Wenn wir keine Herrschaft über uns selbst haben, ist es oft ausgesprochen schwer, jenes Tor willentlich zu schließen, und sogar noch schwieriger, es geschlossen zu halten. Für die nicht Geschulten und nicht Geübten können sich die Strömungen des Astrallichts außerdem als äußerst trügerisch und deshalb gefährlich erweisen. Sich voreilig – in Unkenntnis der damit verbundenen Gefahren und vor allem ohne den Schutz einer völlig unbefleckten Seele – an astrale und psychische Experimente zu wagen, ist so tollkühn wie ein Sprung in Treibsand.
Trotz der Mahnungen vor dem potenziellen Missbrauch unserer latenten psychomentalen Kräfte haben die psychischen Manifestationen bei allen Arten von Menschen in den letzten Jahrzehnten bemerkenswert zugenommen. In der Folge wuchs das Interesse an außersinnlichen Wahrnehmungen – an Levitation, Wahrsagerei, Kristall- und Pyramidenkräften, Psychokinese und allen Arten von astralen Aktivitäten – so gewaltig, dass wir uns dazu gezwungen sehen, einige Fragen aufzuwerfen: Ist es in unserem gegenwärtigen Entwicklungsstadium klug, die Kultivierung paranormaler Fähigkeiten wie in einem Gewächshaus zu erzwingen, wo wir noch derart egozentrisch sind? Sind wir durch innere Reinheit und Selbstbeherrschung ausreichend vorbereitet, mit astralen Kräften umzugehen, die bisher durch die natürliche Abschirmung unserer physischen Sinne für Oktaven jenseits des normalen Bereichs in Schach gehalten werden?
Was ist mit Channeling – der viel besprochenen „Gabe“ der Mediumschaft? Es ist kaum eine Gabe, denn ein Medium für die Übertragung der Botschaften von Wesen vom ‘anderen Ufer’ zu sein, mag eine Weile lang als guter Dienst an uns erscheinen, aber es geschieht oft, dass der Empfänger mit der Zeit zur Beute äußerer Kräfte wird, die sich außerhalb seiner Kontrolle befinden. Unsere psychiatrischen Stationen in Krankenhäusern und Gefängnissen erzählen die qualvolle Geschichte vieler Tausender unglücklicher Opfer psychischer Besessenheit. Und doch ist es alltäglich, ein Kanal zu sein. Wir sind – jeder von uns – ständig der Kanal oder Empfänger von Gedanken und Atmosphären, die in uns oder in der Familie, unter Freunden, Nachbarn, in unserer Nation und der Menschheit als Ganzes vorherrschen. Das ist unvermeidlich. Könnten wir nicht gelegentlich – üblicherweise trotz unseres gewöhnlichen Denkens – als Kanal für eine Inspiration fungieren, die wir hören, sehen oder fühlen, wenn wir vorübergehend zum Übermittler von Licht und Inspiration aus den ākāśischen Höhen werden? Darin liegt nichts Besonderes; das geschieht seit Millionen von Jahren, in jedem Land unter allen Völkern. Aber das ist etwas ganz anderes als die Art von Channeling, das in den Schlagzeilen steht.
Was ist andererseits mit denjenigen, die schändliche Taten begehen? Viele wissen kaum, weshalb oder was sie dazu gebracht haben mag, zu morden oder zu rauben. Erlaubte die inhärente Willensschwäche das Eindringen böswilliger Kräfte aus den niedersten Teilen des Astrallichts in ihre Psyche? Während die Natur alle Dinge für das letztlich Gute benutzt und sich erweiterte Einsichten im Laufe der Zeit wohl einstellen werden, könnte das Channeln viele ernsthafte Sucher von ihrem wahren Ziel abbringen und sie im schlimmsten Fall in einen psychischen Strudel und möglicherweise in unbewusste Zauberei stürzen.
Wir können aus Macbeth lernen: Als er von den Hexen von Endor erfährt, dass er der Than von Cawdor wird, wird ihm fast unmittelbar bange. Wird wirklich alles so, wie sie es voraussagen? Während Banquo Macbeth in großer emotionaler Aufruhr, zwischen Gier und Angst schwankend, beobachtet, grübelt er:
Aber seltsam!
Oft, uns in eignes Elend zu verlocken,
Erzählen Wahrheit uns des Dunkels Schergen,
Gewinnen uns durch Ehrlichkeit im Kleinen,
Um uns im Größten zu verraten.
– Macbeth, Erster Aufzug, 3. Szene
Genau das passiert vielen Empfängern von ‘Botschaften’ der ‘Jenseitigen’. Astrale Wesenheiten, von Medien gechannelt, überzeugen uns zu Beginn oft mit wahren Details, die uns reizen, nur um uns später bei Angelegenheiten mit ernsthaften Folgen zu täuschen.
Dann gibt es Menschen, die an ‘astralem Reisen’ interessiert sind, indem sie aus dem Körper austreten und versuchen, ihr Ātman zu erreichen, oder um Menschen, andere Länder, Planeten oder Ebenen astral zu besuchen. Viele glauben ernsthaft, sie könnten auf diese Weise Freunden oder Verwandten helfen. Um zu verstehen, warum es kein weiser Weg ist, die Vereinigung mit dem eigenen Ātman oder göttlichen Selbst zu erlangen, müssen wir mehr über die siebenfältige Natur des menschlichen Bewusstseins wissen: über das göttliche, das spirituelle und das höhere Denkvermögen, das niedere Denkvermögen zusammen mit dem Wunschprinzip und das vitale, astrale und physische Bewusstsein. Der Wunsch/mentale Teil des Menschen bildet unser gewöhnliches persönliches Selbst, und wenn dieses durch das intuitive und höhere Denkvermögen erleuchtet ist, haben wir eine erwachte Seele. Seele ist ein recht weitläufiger Begriff, der für viele Aspekte unseres Wesens verwendet werden kann. Gewöhnlich sprachen die Griechen von Nous als dem höheren Denkvermögen, der höheren Intelligenz, und von Psyche, der Tochter von Nous, als der Seele.
Eine dogmatische Haltung anzunehmen und grundlos alle außergewöhnlichen Phänomene zu verurteilen, ist jedoch genauso kurzsichtig, wie alles als astral oder psychisch zu billigen. Urteilsvermögen ist vonnöten: Die Weisheit der Zeitalter hat gezeigt, dass das weite Öffnen des Eingangs zu astralen Reichen dem Öffnen von Pandoras Büchse voller elementaler, sowohl gutartiger als auch bösartiger Energien gleichkommt. Wir warnen davor, von altruistischer Absicht abzuweichen: Wie unschuldig das Motiv zu Beginn vielleicht auch sein mag – die Freude über schnelle Erfolge führt allzu oft zu einer Aushöhlung des moralischen Prinzips. Die menschliche Natur ist immer für Aufforderungen zum eigenen Nutzen empfänglich; je getarnter sie sind, umso mehr ist Vorsicht geboten, damit die Saat des Stolzes nicht unbemerkt keimt. Psychische Eitelkeit bildet in vielen und sonderbaren Formen eine überaus verlockende Falle, indem sie die Bemühungen auf der persönlichen Ebene bindet, statt sie frei zu machen, um auf den Ruf des eigenen tiefsten Wesens zu antworten.
Es gibt natürlich viele Arten psychischer und astraler Verwicklung. Wie vorher angemerkt, gebrauchen wir ständig nicht-physische Kräfte: Liebe, Hass, Denken und Emotion jeder Art sind Manifestationen psychischer oder spiritueller Fähigkeiten. Die meisten Menschen sind außerdem natürlich telepathisch veranlagt und erleben Gedankenübertragung häufiger, als es ihnen bewusst ist, besonders bei den ihnen nahe stehenden Menschen. Dann gibt es die sensitiven Menschen, die eine Art sechsten Sinn haben, der – wenn er sich unbeabsichtigt und auf eine völlig natürliche Weise manifestiert – oft ein Schutz für andere und für sich selbst ist. Werden diese Kräfte allerdings aus Eitelkeit, als eine Selbstgefälligkeit oder als ein Weglaufen vor der Disziplin täglicher Verantwortung gesucht, werden sie ohne weiteres zu einer Gefahr. Diejenigen, die einen ‘Geist-Führer’ haben, die davon schwafeln, dass sie ‘Glocken’ hören oder durch automatisches Schreiben die ‘wunderbarsten Lehren’ erhalten, sollten sich davor hüten, dass das, was sie ‘sehen’ oder ‘hören’, vielleicht keine Weisheit ist, „die von oben kommt, sondern eine irdische“ (Brief des Jakobus 3:15) – oder wie Kerzenlicht im Vergleich zum Glanz der Sonne.
Unter dem Risiko, zu sehr zu vereinfachen, wollen wir eine Parallele zwischen dem Schicksal des Alkoholikers und des psychisch Abhängigen ziehen. Bevor sie bemerken, was geschieht, werden sie von einer Kraft außerhalb ‘besessen’, und sie sind machtlos, diese zu kontrollieren. Geradeso wie Eisenspäne durch eine magnetische Kraft zu Linien angeordnet werden, so werden ‘Elementalwesen’ vom Astralkörper der Erde zu demjenigen hingezogen, der sich ihnen öffnet; und die niedersten Astralebenen sind mit den bösesten Gedanken der Menschheit überladen. Glücklich sind diejenigen, deren reine Güte ihnen Schutz bietet, denn sie werden nur auf das antworten, was ihnen verwandt ist.
In buddhistischen Schriften finden wir Warnungen vor dem unangebrachten Gebrauch unserer psychischen Fähigkeiten. In einem der Texte des Pāli Kanons2 wird von einer Episode mit einem Kaufmann aus Rājagaha berichtet, der einen Block aus Sandelholz erwarb und daraus eine wunderschöne Schale machen ließ. Er forderte alle, die behaupteten, Iddhi3 – „Kraft, Handwerkskunst, Geschicklichkeit“ – zu besitzen, dazu auf, diese Schale von der Spitze eines sehr hohen Bambus zu holen; dem Erfolgreichen sollte die Schale gehören. Viele spielten mit der Idee, aber gingen nicht weiter. Schließlich trat der ehrenwerte Mönch Bhāradvāja vor, „erhob sich in die Luft, nahm die Schale und ging drei Mal“ um Rājagaha herum. Die Dorfbewohner waren in Ekstase und begannen zu schreien und ihm nachzulaufen. Als Buddha vom Grund dieses unsinnigen Benehmens erfuhr, rief er die Mönche zusammen. Als Bhāradvāja erklärte, dass er tatsächlich die Schale durch den Gebrauch von Iddhi geholt hatte, sprach der Buddha zu ihm und den versammelten Mönchen:
Das ist unrichtig, Bhāradvāja, nicht der Regel entsprechend, unpassend, unwürdig eines Samaṇa [Einsiedlers], unschicklich und sollte nicht getan werden. Wie kannst du, Bhāradvāja, um einer armseligen hölzernen Schale willen für den Laien die übermenschliche Eigenschaft der wunderbaren Kraft von Iddhi zur Schau stellen?
– Ebenda, S. 80
Nach diesem Tadel sprach der Buddha über spirituelle Themen und sagte dann zu den versammelten Mönchen:
O Bhikkus, ihr sollt nicht vor den Laien die übermenschliche Kraft von Iddhi zur Schau stellen. Wer auch immer das tut, soll einer Dukkaṭa [einer Beleidigung] schuldig sein. Brich jene hölzerne Schale entzwei, o Bhikku; und wenn du sie zu Pulver zermalen hast, gib sie den Bhikkus als Parfum für ihre Augensalbe.
– Ebenda, S. 81
Selbst wenn wir gewissenhaft an der alten Vorschrift gegen den unrichtigen Gebrauch von paranormalen Kräften festhalten, treten tiefgreifende innere Veränderungen sowohl im Charakter als auch in der Konstitution auf, wenn die Pāramitās („transzendentale Tugenden“ – siehe Kapitel 13) über längere Zeit mit Fleiß ausgeübt werden. Das Individuum wird besonders bei der Übung von Dhyāna, „Meditation, Konzentration“, entdecken, dass bestimmte Iddhis aktiviert werden. Das geht nicht in die falsche Richtung, vorausgesetzt man bewahrt Stillschweigen, inneres Gleichgewicht, ein reines Motiv und Wachsamkeit gegenüber psychischer Eitelkeit.
All das verdeutlichte HPB zur Genüge in den Vorbemerkungen und Regeln, die sie Bewerbern schickte, welche der neu gegründeten Esoterischen Sektion (1888) beitreten wollten:
Dem Schüler wird – außer in Ausnahmefällen – nicht gelehrt, wie physische Phänomene hervorgebracht werden, ebenso ist ihm keinerlei Entwicklung magischer Kräfte in sich gestattet; wenn er solche Kräfte natürlich besitzt, wird ihm auch nicht gestattet, sie auszuüben, bevor er nicht die Kenntnis des SELBST gründlich gemeistert hat … bis er all seine niederen Kräfte und sein PERSÖNLICHES SELBST außer Kraft gesetzt hat.
9. Kein Mitglied soll vorgeben, im Besitz von psychischen Kräften zu sein, die er nicht hat, noch sich jener rühmen, die er vielleicht entwickelt hat. Neid, Eifersucht und Eitelkeit sind heimtückische und mächtige Feinde des Fortschritts, und aufgrund langer Erfahrung ist bekannt, dass vor allem unter Anfängern das Prahlen mit oder das Lenken der Aufmerksamkeit auf ihre psychischen Kräfte beinahe unweigerlich die Entwicklung dieser Fehler bewirkt und sie verstärkt, wenn sie da sind. Daher –
10. Kein Mitglied soll irgendjemandem, außer einem anderen Mitglied, erzählen, wie weit er vorangekommen ist oder welche Erkenntnis er gewonnen hat, auch soll er diese nicht durch Hinweise bekannt machen.4
Obgleich außergewöhnliche Phänomene unter bestimmten Umständen eine Funktion haben, sind sie nur der äußere Ausdruck eines edleren Zustands. Glücklicherweise hat die große Mehrheit sowohl in früheren Zeiten als auch heute ein angeborenes Warnsignal gegen das Zulassen von irgendetwas Psychischem in ihrem Leben: entweder aus einer natürlichen Angst vor dem Unbekannten oder weil sie diesen Weg im gegenwärtigen oder in einem früheren Leben schon gegangen sind und ihn als eine Sackgasse erkannt haben. Bei manchen Menschen ist der Ausbruch von Hypersensitivität spontan; bei anderen wird er durch Programme zur Kontrolle des Denkvermögens oder durch Drogen herbeigeführt. Zweifellos nehmen bei diesem Aufeinandertreffen der Zyklen – wenn das Fischezeitalter zu Ende geht und das Wassermannzeitalter global zum beherrschenden Einfluss wird – die psychischen Manifestationen gemeinsam mit einem intensivierten Interesse an und einer Kultivierung von einst latenten Fähigkeiten zu. Wenn ein Mensch mit seiner mehr oder weniger entwickelten psychischen Natur geboren wird, sollten wir sie als das erkennen, was sie ist, aber ihre Bedeutung nicht übertreiben. Teilweise zeigen aufgrund der dünner werdenden Barriere zwischen dem Physischen und dem Astralen heute viel mehr Menschen, sogar sehr kleine Kinder, psychische Neigungen.
H. P. Blavatsky sah voraus, dass die Menschheit rasch in einen „neuen Zyklus eintritt, [in dem] die latenten psychischen und okkulten Kräfte im Menschen zu keimen und zu wachsen beginnen“. Sie fügte jedoch hinzu: „Begreifen Sie ein für alle Mal, dass in keiner einzigen dieser Manifestationen irgendetwas ‘Spirituelles’ oder ‘Göttliches’ ist.“5 In ihrem vierten Brief an die amerikanischen Theosophen, geschrieben im April 1891 kurz vor ihrem Tod, legte sie eindringlich nahe, „deshalb sorgfältig diese Entwicklung, die in Ihrer Rasse und Evolutions-Periode unvermeidlich ist, zu beobachten, so dass sie letztendlich zum Guten und nicht zum Bösen wirkt“. Ihre Warnung war deutlich:
Das Psychische mit all seinen Verlockungen und Gefahren entwickelt sich notwendigerweise unter Ihnen, und Sie müssen sich davor hüten, dass die psychische nicht der manasischen [mentalen] und spirituellen Entwicklung vorauseilt. Vollkommen unter Kontrolle gehaltene psychische Fähigkeiten, die vom Manas-Prinzip überprüft und geleitet werden, sind wertvolle Hilfen in der Entwicklung. Wenn aber diese Fähigkeiten wild wuchern und die Herrschaft übernehmen, statt kontrolliert zu werden, und wenn sie uns benutzen, statt benutzt zu werden, dann führen sie den Schüler in die gefährlichste Verblendung und in den sicheren moralischen Untergang.
– Ebenda, S. 44
Bemerkenswert ist jedenfalls der Unterschied zwischen der heutigen Betonung des psychischen Interesses und jenem der letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. In jener Zeit fühlten sich – abgesehen von denen, die wie in allen Zeiten vom Glanz der Phänomene gefangen waren – nur verhältnismäßig wenige der unerschrockeneren Denker angezogen, denn die wissenschaftliche und kultivierte Welt rümpfte über solche Vorgänge zum größten Teil die Nase. Im 20. Jahrhundert und besonders während seiner letzten Jahrzehnte wurde das Potenzial des menschlichen Bewusstseins im Besonderen und paranormaler Phänomene im Allgemeinen zum Gegenstand kontrollierter Versuche. Experimente auf diesem und ähnlichen Gebieten werden von Neurologen und anderen in dem Bemühen durchgeführt, in die inneren Schichten des menschlichen Bewusstseins vorzudringen. Gleichzeitig findet eine sehr gefährliche Forschungsarbeit statt. Wir müssen nur einen Blick auf gängige ‘metaphysische’ Zeitschriften werfen, um zu sehen, wie unheilverkündend der Trend bei manchen dieser Forschungsarbeiten und den sich daraus ergebenden Praktiken weltweit ist.
Glücklicherweise ist sich eine Anzahl von Forschern auf diesem Gebiet der inhärenten Risiken, besonders für mental und psychisch labile Menschen, bewusst. Einige von ihnen sprechen sich offen gegen ‘hypnotisches Programmieren’ aus und warnen vor psychischer Verschmutzung, für die sich hypnotisierte Opfer selbst öffnen. Wir können die Gefahr, sich selbst dem Willen oder der Aura eines anderen zu unterwerfen, nicht genug betonen. Es ist nicht zu empfehlen, es ist nicht ratsam. Wir müssen jederzeit Herr über uns selbst sein; und uns selbst auch nur unbewusst der Herrschaft eines anderen auszusetzen, bedeutet die Schwächung unserer innewohnenden Kraft, mit unserem Leben fertig zu werden, in eben diesem Maß.
Wir Menschen sind hier mit einem riesigen Potenzial an Kraft, die wir während vieler Leben hervorgebracht haben und die wir entlang jener uns rechtmäßig zustehenden Schicksals-Pfade zu lenken lernen. Während wir uns gegenseitig beeinflussen und dabei in einem gewissen Grad auf das Karma der anderen einwirken, hat niemand – kein Gott im Himmel, kein Dämon in der Hölle, kein Meister oder Adept – das Recht, sich in das innere Leben irgendeines Menschen einzumischen. Würde einer dem anderen gestatten, ihm seinen Willen aufzudrängen und in die Zitadelle der Selbstheit einzudringen, würden wir unser Menschsein herabsetzen und die Absicht unseres höheren Selbst prostituieren.
Vor allem junge Menschen sollten sich des potenziellen Risikos bewusst sein, denn sie werden im Laufe der Jahre dieser Art des Eindringens mehr und mehr begegnen. Physischer Krieg ist nicht annähernd so gefährlich wie die Kontrolle des Willens und des Denkvermögens, die zunehmend subtilere Formen annimmt. Eines Tages in diesem Jahrhundert wird der Krieg auf dem Schlachtfeld hoffentlich ein Alptraum der Vergangenheit sein. Wir müssen jedoch wachsam bleiben, denn der Kampf wird sich hauptsächlich auf die mentalen und psychischen Ebenen konzentrieren. Dann werden so wie heute Mut und Unterscheidungsvermögen notwendig sein, um die unterschwelligen Pfeile abzuwehren, die das innere Gewebe unseres Wesens durchbohren könnten.
Wie können wir uns gegen psychische Invasion schützen? Ein sicherer Schutz besteht darin, sich der Gefahren bewusst zu sein, jedoch ohne Angst. Sobald sich Angst, wirkliche Angst, in uns festzusetzen droht, werden wir – wenn wir unserem tiefsten Wesen innen völlig vertrauen – wissen, dass uns nichts berühren, keine Wesenheit und kein Ding unser wahres Selbst verletzen kann. „Vollkommene Liebe vertreibt die Angst.“ Die Liebe muss aufrichtig sein, selbstvergessen, bedingungslos. Unser Bewusstsein beharrlich in eine selbstlose Richtung zu lenken, mit reinem Motiv, ist ein natürlicher Schutz.
Während wir in die Zukunft steuern, wäre es am besten, uns über die raschen Veränderungen in unserem Bewusstseinsfeld klar zu werden. Es obliegt uns, die Natur unserer vielschichtigen Konstitution vom Physischen bis zum Spirituellen zu verstehen und so die dringende Notwendigkeit für jeden von uns zu erkennen, nämlich Herr über unsere eigenen Entscheidungen zu sein. Indem wir zuerst unsere moralischen und spirituellen Fähigkeiten stärken, werden sich unsere mentalen und psychischen Kräfte proportional dazu entwickeln; wir werden in einer besseren Position sein, sie weise und zum Nutzen aller einzusetzen. Die Weisheit der Zeitalter wird in den Worten Jesu zum Ausdruck gebracht: „Sucht erst das Himmelreich Gottes [des Geistes] … und alle diese Dinge werden euch zusätzlich gegeben werden.“
Die gegenwärtig vor uns liegende Herausforderung besteht nicht in der Frage, wie wir die Flutwelle des psychischen Experimentierens stoppen können, sondern wie wir helfen können, ihr die notwendige Aufwärtsrichtung zu geben, damit sie „schließlich zum Guten und nicht zum Bösen arbeitet“. Die Zukunft steht offen, mit riesigen Möglichkeiten sowohl für Fortschritt als auch für Rückschritt. Was auf die künftigen Generationen zukommt, können wir nicht vorhersagen. Ihr Dilemma und ihre Gelegenheit mögen sich ebenso wie unsere heute darauf konzentrieren, wie man sich innerlich darauf vorbereitet, die nötige moralische Reinheit und Charakterstärke zu erlangen, um dem andauernden Eindringen astraler und psychischer Einflüsse – aus sich selbst, von anderen und vom Astrallicht der Erde – in die Gedankenatmosphäre unseres Planeten zu begegnen.
Wir fragen noch einmal: Warum sind so viele daran interessiert, außersinnliche Kräfte zu erlangen? Welchen Nutzen wird das für irgendjemanden haben? Angenommen, wir lernen Gedanken zu lesen, in unserem Astralkörper zu reisen, die Zukunft vorherzusagen – wäre irgendetwas von spirituellem Wert gewonnen? Mehr auf den Punkt gebracht und vielleicht die einzig entscheidende Frage: Was ist unsere wahre Motivation im Leben? Wenn wir das ehrlich beantworten können, zur Zufriedenheit sowohl des Intellekts als auch der Intuition, erkennen wir vielleicht, dass wir unser Interesse auf die Geistseele konzentrieren müssen, wo ich und Sie eins sind – nicht auf das Psychische und Physische, die am wenigsten dauerhaften Teile unserer Konstitution.
Die Gestaltung des Charakters ist eine ständige Herausforderung: die Verwandlung von Selbstsucht in Altruismus, von persönlichen Interessen in die Wärme des Mitleids – eine langsame, geduldige Alchemie.
Fußnoten
1. The Secret Doctrine 1:104, GL 1:130. [back]
2. Cullavagga, V, 8:1-2, Sacred Books of the East, 20:78-81. [back]
3. Pāli-Form des Sanskrit-Wortes Siddhi. Diese sind von zweierlei Art: Die eine „umfasst die niederen, einfachen psychischen und mentalen Energien; die andere … erfordert die höchste Schulung spiritueller Kräfte“. – H. P. Blavatsky, Die Stimme der Stille, S. 97. [back]
4. E.S. Instructions III:4-5, S 21-2; Wiedergabe in H. P. Blavatsky, Collected Writings, 12:488, 495. [back]
5. H. P. Blavatsky an die Amerikanischen Konvente. 1888-1891, S. 38, 39. [back]