8 – Die Größeren Mysterien

In den Größeren Mysterien, in welche der Neophyt nach dem erfolgreichen Abschluss der vorbereitenden Grade eingetreten ist, wird er zu dem – durch individuelle Erfahrung –, was er in den Kleineren Mysterien gelernt hat. In diesem höheren Bereich esoterischer Schulung gibt es keine Schonung. Der Neophyt muss sich selbst gegenübertreten und siegen – oder sterben. Alle Ebenen seiner komplexen Natur – von der göttlich inspirierten bis zur grob materiellen – müssen erforscht und beherrscht werden. Zu diesem Zeitpunkt muss der Aspirant genügend spirituelle Vitalität entwickelt haben, um der Wirklichkeit Stand halten zu können. Er muss die Natur in ihren niederen und höheren Bereichen werden, die höchste Prüfung der Selbst-Erkenntnis bestehen und doch die Integrität seiner Seele bewahren.

Noch im zweiten Jahrhundert wurden die Riten der ägyptischen Mysterien, wie stark sie auch immer durch griechischen Einfluss modifiziert waren, mit entsprechender und angemessener Verehrung weitergeführt. Schüler aus den umliegenden Ländern suchten dort als eine geeignete Förderung nach einer Form der Initiation, welche ihren eigenen Zeremonien entsprach. Apuleius, ein römischer, platonischer Philosoph, beschrieb in seinen Metamorphosen oder Der Goldene Esel die Initiation in die Isis-Mysterien eines gewissen Lucius Patras, von dem man nun allgemein annimmt, er wäre Apuleius selbst:

Höre, nun, und glaube, denn was ich erzähle ist wahr. Ich bin den Grenzen des Todes nahe gekommen, ich betrat die Schwelle von Proserpine [Hades], ich wurde durch alle Elemente geboren und kehrte wieder zur Erde zurück. Ich sah im Tode der Nacht die Sonne leuchten mit strahlendem Glanz, ich näherte mich den Göttern oben und den Göttern unten und huldigte ihnen von Angesicht zu Angesicht. Höre, ich habe dir von Dingen erzählt, von denen du – obwohl du sie gehört hast – noch nichts wissen darfst.

Ich werde deshalb nur das erzählen, was ohne Sünde dem Verständnis des nicht Eingeweihten verkündet werden kann. Sobald der Morgen anbrach und die Riten ausgeführt waren, trat ich hervor, gekleidet in zwölf Mäntel, die der Initiierte trägt, ein heiliges Gewand. … Das kostbare Gewand hing von meinen Schultern, meinen Rücken hinunter, gar bis zu den Fersen, und ich war geschmückt, wohin auch immer du deine Augen wenden magst, mit den Bildern von Tieren, rundum bestickt in verschiedenen Farben. 1… Diesen Mantel nennen die Initiierten den Mantel des Olymp. In meiner rechten Hand trug ich eine Fackel mit flammendem Feuer, und mein Kopf war umschlungen mit einer makellosen Siegeskrone, deren Blätter wie Strahlen herausragten … geschmückt wie die Sonne und aufgestellt wie das Bild eines Gottes.

– Zitiert von Lewis Spence, The Mysteries of Egypt, S. 70-1

In den Größeren Mysterien ist der Übergang in die Unterwelt kein bloßes Ritual der Kleineren Mysterien mehr, an welchem der Kandidat teilnimmt. Er muss sich nun in vollem Wissen „den Grenzen des Todes“ nähern und im Gewand des Seelen-Bewusstseins jenseits des Schleiers der sichtbaren Natur in die Arena der unsichtbaren Welten übergehen:

Es ist eine der grundlegenden Lehren des Okkultismus, dass nichts wirklich gewusst werden kann, das nicht erfahren, durchlebt wird. … verschiedene Stadien oder Grade der Initiation sind tatsächlich eine Art von Schmiede-Prozess für bestimmte auserwählte Geister, bestimmte auserwählte Seelen, die sich als würdig erwiesen haben: … Diese verschiedenen Stadien oder Grade der Initiation werden zuerst durch vorbereitende Reinigungen gekennzeichnet. Dann folgt der ‘Tod’, ein mystischer Tod. Der Körper und die niederen Prinzipien werden sozusagen gelähmt, und die Seele vorübergehend befreit. In einem gewissen Grad wird der befreite innere Mensch geleitet und geführt und durch die Initiatoren unterstützt, während er in andere Sphären und Ebenen übergeht und deren Natur lernt, indem er zu ihnen wird; das ist der einzige Weg, durch den das Wissen darüber in der Seele, in dem Ego, Wurzel schlägt: indem man dasjenige wird.

FEP, S. 258-9

Dieser mystische Tod bildet die vierte Initiation, die nicht nur in der Fähigkeit besteht, das spirituelle Licht zu empfangen, sondern ebenso in der Kraft, der Dunkelheit des Bösen mit Gleichmut und erwachter Moral gegenüberzutreten. Etwas zu werden bedeutet tatsächlich, seine erkennende Intelligenz mit der Essenz dieses Wesens oder dieser Sache zu vereinen; mit anderen Worten, die Natur einer solchen Wesenheit für einen Zeitraum anzunehmen. Daher bedeutet das Verschweißen des eigenen Bewusstseins mit einem Wesen niedererer Sphären als der menschlichen hauptsächlich eine Prüfung der Widerstandskraft des Individuums: Werden die bösartigen Dünste der niederen Sphären die zarten Blütenblätter des keimenden Adepten ersticken? Werden die sinnlichen Vergnügungen der niederen Hölle irgendeine Anziehung auf den Neophyten haben, der in seinem Entschluss unnachgiebig ist? Die Natur von Wesen aus höheren als der menschlichen Sphäre anzunehmen, verlangt umgekehrt nach einer gleichermaßen ausgewogenen Konstitution: Werden das Leuchten und der Glanz von ungetrübter Wahrheit die Seele blenden? Wird die Vision der Wirklichkeit das erwachende Auge der Weisheit zerstören?

Dieser vierte Grad kann als ein Vorspiel, eine geringere Reflexion, für den letzten und siebten Grad der Initiation betrachtet werden, in welchem das Individuum die Prüfung der Einswerdung mit allen Sphären des Seins durchmachen muss. Um den vollständigen Initiationszyklus zu vollenden, bedarf es also des Erweckens und Stärkens aller sieben menschlichen Prinzipien. Der Kandidat muss seine siebensaitige Lyra so eingestimmt haben, so mit spiritueller Harmonie belebt haben, dass sie mit der spirituellen Essenz der sieben Prinzipien oder den sieben Sphären des Kosmos vollkommen synchron schwingt. Wie der Meister KH im indischen Simla 1882 an Allan O. Hume schrieb: „Die Grade der Initiation eines Adepten kennzeichnen die sieben Stadien, in denen er das Geheimnis der siebenfältigen Prinzipien in der Natur und im Menschen entdeckt und seine schlummernden Kräfte erweckt“ (ML, Brief xv, S. 99).

Über diese höheren Grade wissen wir kaum etwas. Das ist natürlich und wirklich angemessen; denn wie könnten Worte das beschreiben, was nur der Initiierte verstehen kann? Wie könnte das, was essenziell esoterisch ist, offenbart werden und doch seine mystische Integrität behalten? Jedenfalls sind bezüglich des fünften, sechsten und siebten Grades wichtige Hinweise gegeben worden.

Bei der fünften Initiation „begegnet der Initiand seinem eigenen Gott-Selbst von Angesicht zu Angesicht, und für eine längere oder kürzere Zeit wird er eins mit ihm“ (FEP, S. 283). Diesen Grad nannten die Griechen Theophanie, ein Wort mit der Bedeutung ‘göttliche Erscheinung’ oder ‘die Offenbarung einer Göttlichkeit’, die Erscheinung oder Manifestation von

des Menschen eigenem höheren Selbst für ihn selbst. Und obwohl beim Durchschnittskandidaten dieser erhabene Augenblick intellektueller Extase und hoher Vision nur eine kurze Zeit andauerte, wurde die theophanische beim weiteren spirituellen Fortschritt des Kandidaten dauerhafter und anhaltender, bis sich schließlich zuletzt der Mensch selbst erkannte – nicht nur spirituell als das Kind seines eigenen inneren Gottes, sondern als der innere Gott selbst in seinem essenziellen Wesen.

FEP, S. 447

Die sechste Initiation war die unvermeidliche Vollendung des Laufs der Dinge, die einer erfolgreichen Spiritualisierung der gesamten Natur folgten. Das wurde von den Griechen als Theopneustie bezeichnet – ein Wort, das buchstäblich ‘Gott atmend’ oder ‘göttliche Inspiration’ bedeutet –, wobei der Schüler

das Einatmen seines eigenen inneren Gottes verspürte und so inspiriert wurde – das Wort Inspiration bedeutet ‘einatmen’. Im Laufe der Zeit und mit der umfassenderen Reinigung des Seelen-Vehikels, welches der Mensch selbst ist, wurde dieses Einatmen oder diese Inspiration dauerhaft.

– ebenda

In diesem Grad „atmet der innere Gott des Kandidaten – für kürzere oder längere Zeit – die Weisheit und das Wissen des gesamten Universums in ihn hinein …“; und „im sechsten Grad begegnet der Initiand anstatt seinem eigenen Höheren Selbst einem anderen, …“ (FEP, S. 284, 260). 2

Dann kommt der siebte oder letzte Grad der Initiation, bevor die Meisterschaft erlangt wird. Diese Initiation ereignete sich gewöhnlich während der Wintersonnenwende. Die alten heidnischen Initiierten betrachteten die vier Punkte des Jahres – die Winter- und Sommersonnenwende und die Frühlings- und Herbst-Tag-und-Nachtgleiche – als Stellvertreter heiliger Vorgänge im Kosmos. Die Geburt der Sonne am Beginn des Jahres symbolisierte für sie die mystische Geburt des Initiierten, und es ist bedeutsam, dass fast alle großen Weltretter – wie Jesus, der Christus, Krishna, der Avatāra, Apollonius von Tyana und andere – ihre ‘Geburtstage’ zu dieser heiligen Zeit feiern: die Wiedergeburt der solaren Gottheit.

Der siebte Grad, der Theopathie genannt wird – ein griechisches Wort mit der Bedeutung ‘Gott-leidend’ oder ‘göttliches Erdulden’ –, ist das

erhabenste aller Mysterien, … der Initiand, der Kandidat, litt selbst, um zu werden, gab sich vollständig auf, um ein wahrhaft selbstloser Kanal der Kommunikation seines eigenen inneren Gottes, seines eigenen höheren Selbst, zu sein; er verlor sich sozusagen im größeren Selbst seines eigenen höheren Selbst.

FEP, S. 447

Es sind wenige, deren Seelenstärke ausreicht, die Gegenwart des Göttlichen vollständig ertragen zu können. Das ist der Lohn der höchsten Adepten, deren Opfer und Weisheit die Menschheit mit einer diamantgleichen Schutzmauer aus Mitleid und Sicherheit umgeben.

Beim siebten Grad durchschreitet der Neophyt die Tore der Sonne: „Für einen flüchtigen Augenblick wird er zu dem Wunderbaren Wächter“ (FEP, S. 260). Die solare Initiation ist vollständig: Der Neophyt stirbt und der Hierophant ist geboren.

Fußnoten

1. Die Bezugnahme auf die zwölf Gewänder und die Gestalten der Tiere deutet auf die mystische Reise durch die zwölf Zeichen des Zodiak hin. [back]

2. Für den interessierten Leser hier das englische Original-Zitat: „We are further told that in the sixth degree, instead of one’s own higher self, the initiant meets another One, a matter which we will tonight pass over in silence.“ – FEP, Seite 260. D.Ü. [back]