Die Mysterienschulen
Grace F. Knoche
Vorwort
Eine Mysterienschule ist eine Universität der Seele, eine Schule zum Studium der Mysterien der inneren Natur des Menschen und der umgebenden Natur. Wenn der Schüler diese Mysterien versteht, erkennt er seine innige Beziehung mit dem Göttlichen und strebt danach, durch Selbstdisziplin und Hingabe mit seinem inneren Gott eins zu werden.
Dieses Buch versucht, bestimmte fundamentale Züge der Lehre vorzustellen, die hoffentlich ein mehr oder weniger klares Bild davon geben werden, was eine Mysterienschule wirklich ist. Ein vollständiges und spezifisches Wissen um die Mysterienschulen – wo sie sich befanden, wo sie heute tätig sind, was ihre Hauptmerkmale sind – wurde nicht veröffentlicht. Moderne Historiker der griechischen Mysterienzentren wundern sich beispielsweise darüber, wie gut die den Kandidaten auferlegte Regel der Geheimhaltung befolgt wurde. Das betrifft nicht die öffentlichen Aspekte, wie die 14 Meilen lange Prozession entlang der Heiligen Straße von Athen nach Eleusis, an der Männer, Frauen und Kinder teilnahmen. Aber „die Riten der Großen Mysterien … die wahren Geheimnisse der Teletai [der eigentlichen Einweihung] und die Epopteia [die erlangte Vision] wurden niemals preisgegeben.“ 1
Der Schüler kann dennoch eine reiche Fülle von Informationen finden – hier und dort in der Literatur der Vergangenheit verstreut – und sich ein umfassendes Bild von den Festspielen der Mysterienschulen machen, ein Bild, das nur dann zu einer Erfahrungs-Wirklichkeit wird, wenn er durch eine viele Leben anhaltende Hingabe, durch Studium und die Ausübung der alten Weisheit innerlich vorbereitet wird.
Was vom Schüler durch ernsthaftes Studium entdeckt werden kann, ist mit unserem Wissen über das Atom vergleichbar. Wer hat zum Beispiel jemals das wirkliche Atom gesehen? Welches Mikroskop ist in das Geheimnis seiner Existenz vorgedrungen? Und doch wissen wir heute mehr über das Atom mit seinen Elektronen, als über Jahrhunderte hinweg enthüllt worden war. Obwohl für die Linse wie auch für das Auge unsichtbar, haben Wissenschaftler seine Leuchtspur entdeckt, seinen ‘Lichtweg’; durch emsiges und gewissenhaftes Arbeiten haben sie diesen Lichtweg studiert, bis durch Schlussfolgerung und Beweis die Struktur des Atoms und seiner Komponenten, sein beinahe spiritueller Ursprung, enthüllt wurde.
So ist es mit den Mysterien: Wenn wir die Aufzeichnungen der Geschichte betrachten und weiter in den Nebel der nicht aufgezeichneten Zeit hineinschauen, so können wir die Schulen selbst nicht erkennen, aber durch Studium und Hingabe können wir ihre Leuchtspur, den Weg ihres Lichtes, erahnen. Auf Grund von Schlussfolgerung und spirituellem Zeugnis können wir das Leuchten der Lichtträger verfolgen, wie sie von Zeitalter zu Zeitalter weiterschritten und dabei die großen Religionen und Philosophien der Menschenrasse einleiteten. Manche dieser Lichter strahlen mit ungeheurem Glanz, andere mit geringerer Stärke, während wieder andere nur unbeständige Schimmer halbverstandener Wahrheit sind.
Der Physiker kann das physische Atom nicht zeigen, und doch weiß er, dass es als Basis, als Grundlage aller Materie existiert; der Schüler der Theosophie kann den Menschen keine Mysterienschule zeigen, und doch weiß er, dass sie als Herz oder atomares Zentrum des spirituellen und intellektuellen Lebens des Planeten existiert. Wer könnte also wagen zu behaupten, dass die Mysterien, diese mächtigen Atome der Esoterik, nicht existieren, wenn die Leuchtspuren der spirituellen Kraft überall auf der Welt verstreut erkannt werden? Wenn unsere physischen Körper in unsichtbarem, feurigem Leben wurzeln, warum sollten dann nicht auch unsere menschlichen spirituellen, intellektuellen und moralischen Körper ihren Ursprung in dem spirituellen und intellektuellen Feuernebel des Planeten haben?
Heute steht uns keine ununterbrochene Geschichte eines okkulten Netzwerks zur Verfügung, da solche Aufzeichnungen die Belohnung für angenommene Schüler sind. Mit der kraftvollen Linse der alten Weisheit können wir aber dennoch den Weg des Lichts studieren, das die Jahrhunderte hindurch jeder der Lichtträger erstrahlen ließ; wir können die Atmosphäre der alten Tempel wieder einfangen; wir können den Zweck der Schulen, ihre Lehrmethoden wahrnehmen; und nicht zuletzt können wir etwas über die strenge Schulung lernen, die den Kandidaten auferlegt war, welche die Initiation in das Wissen über ihren geheimen Ursprung und ihr noch geheimeres Schicksal suchten.
Die Schuld der Autorin gegenüber der Theosophie, wie sie von H. P. Blavatsky dargeboten wurde, ist unermesslich. Man kann nur hoffen, dass die vorliegende Studie jene, denen ihre Schriften neu sind, dazu ermutigen wird, tief aus den Quellen ihres Ursprungs zu trinken.
– G. F. K.
Pasadena, Kalifornien
2. Oktober 1999