11 – Die Linie der okkulten Nachfolge

Die Griechen wendeten geschickt die Sprache der Bilder an, um tiefe esoterische Wahrheiten zu vermitteln, oft unter Verwendung des Sports; beispielsweise gaben sie den Wettbewerben im Stadion eine innere Bedeutung. Eines der bekanntesten Beispiele dafür war ihre Darstellung der mystischen Linie der Nachfolge großer Lehrer durch den Lauf des Fackelträgers.

Beim Fackellauf liefen Fackelträger von Posten zu Posten. Wenn einer das Ende seiner Etappe erreicht hatte, brachte er die brennende Fackel dem dort Wartenden und händigte sie ihm aus, dieser setzte den Lauf sogleich fort und übergab seinerseits die Fackel dem auf ihn Wartenden. Dieser Lauf in der Arena oder im Stadion wurde von vielen griechischen und lateinischen Schriftstellern als ein Symbol für das Weiterreichen des Lichts von Zeitalter zu Zeitalter betrachtet und als ein Hinweis auf die spirituellen Fackelträger, die über endlose Zeiten die Fackel der Wahrheit von Hand zu Hand weiterreichen.

ET II: 1071

Diese Weitergabe des Lichts der Wahrheit „über endlose Zeiten“ bildete das Thema vieler Parabeln der Mysterien. Die Griechen bezogen sich auch mit der Goldenen Kette des Hermes auf diese spirituelle Nachfolge, von der sie glaubten, sie würde sich bis weit in die Reiche des Olymp erstrecken, von „Vater Zeus über eine Reihe oder Linie spiritueller Wesen abwärts, dann über bestimmte auserwählte und hochherzige Menschen bis hin zu den gewöhnlichen Menschen“ (ET II: 1070-1).

Purucker beschrieb diese mystische Nachfolge als die Guruparamparā. Das ist ein zusammengesetztes Sanskritwort, das buchstäblich „Lehrer jenseits des Jenseitigen“ bedeutet. Der Begriff bedeutet eine Linie von Lehrern, die über das Jenseitige des Jenseitigen hinausreichen – durch die Vergangenheit, die Gegenwart und in die ferne Zukunft, deren edle Absicht immer dieselbe ist: das Werk der Spiritualisierung.

Die alten Mysterienschulen sämtlicher Länder des Globus und jeder Epoche weisen alle eine Aufeinanderfolge von Lehrern auf, die geschult und durch ihre Schulung bevollmächtigt waren, ihrerseits zu lehren. Solange nun in einem beliebigen Land diese Weitergabe des Lichts der Wahrheit tatsächlich stattfand, war sie in jedem Sinne eine wahrhaft spirituelle Institution.

ET II: 1071

Ein herausragendes Beispiel für diese alte Übermittlung ist die Aufeinanderfolge von „lebendigen Buddhas“ in Tibet, die „zwar tatsächlich existiert, aber von besonderer Art ist. Keinesfalls ist sie jedoch das, wofür abendländische Gelehrte sie irrtümlicherweise halten oder als was sie sie häufig missverstanden haben“ (ET II: 1071).

Weiter wurden in den eleusinischen Mysterien der Griechen

die Hierophanten von der Familie der Eumolpidä gestellt, die in Athen lebte. Eine andere Familie, die ebenfalls in Athen wohnenden Lycomidä, stellten die Fackelträger. Und wir haben Grund anzunehmen, dass die Mysterien von Samothrake, welche der Sitz eines älteren Ritus und – ebenso wie die Mysterien von Eleusis – eine staatliche Einrichtung waren, in derselben Weise daran festhielten, die heilig gehaltenen Traditionen weiterzugeben, jedoch nicht an Außenstehende. Das vereinigende Band zwischen den Initiierten dieser sogenannten Mysterien wurde als unlösbar, eine Auflösung als unmöglich betrachtet, denn der Tod stärkte dieses Band lediglich.

FEP, S. 287

In Persien, wie auch in Ägypten, finden wir diese Linie der Nachfolge in einer anderen Form manifestiert. Es gab zum Beispiel die dreizehn oder mehr Zoroaster, deren esoterischer Beitrag zur Geschichte Persiens die Inspiration dieser einst mächtigen Zivilisation war:

Die Zahl von Zoroastern, die von Zeit zu Zeit erschienen, ist verwirrend, solange wir annehmen – fälschlicherweise –, dass diese Zoroaster Wiederverkörperungen eines einzigen Egos gewesen seien statt verschiedener Egos, die das verkörperten, was wir nach den okkulten Aufzeichnungen als den ‘Zoroaster-Geist’ interpretieren können. Die Wahrheit in dieser Angelegenheit ist folgende: In dem Schema und der Terminologie des Zoroastertums hat jede Wurzelrasse, Unterrasse und noch kleinere Rasse ihren eigenen Zoroaster oder ihre Zoroaster. Der Ausdruck Zoroaster bedeutet im Zoroastertum soviel wie der Ausdruck Buddha im Buddhismus oder Avatāra im Brahmanismus. Darum gab es große Zoroaster und geringere Zoroaster – das qualifizierende Adjektiv hängt von dem Werk ab, das jeder Zoroaster vollbrachte, und von der Sphäre, in der er wirkte. Aus diesem Grund können wir, von einem bestimmten Standpunkt aus betachtet, von dreizehn Zoroastern sprechen und von einem anderen Standpunkt aus von vierzehn; oder wir können jeden von ihnen, wie die Manus im Brahmanismus oder die Buddhas im Buddhismus, mit sieben oder sogar vierzehn multiplizieren, wenn wir jede kleine Zweigrasse mit ihrem leitenden Zoroaster-Geist einbeziehen.

SOP, S. 636

In Ägypten ragt Hermes Trismegistus („Hermes der dreimal Große“) aus der langen hermetischen Reihe heraus; seine Schriften und Lehren gründeten auf der alten Mysterienlehre. Ebenso finden wir in Griechenland die orphischen Mysterien, aus deren Hallen der esoterischen Schulung viele hervorgingen, die den Namen Orpheus trugen.

Was trieb diese Schüler dazu, die Namen ihrer Lehrer anzunehmen? Warum unterzeichneten sie ihr Werk oder gaben ihre mündlichen Unterweisungen im Namen von Orpheus, Hermes oder Zoroaster? War es eine Art spirituelles Plagiat oder war es eher wegen einer unwiderstehlichen Dankbarkeit gegenüber dem Lehrer, der ihnen ALLES gegeben hatte, der die Flamme des esoterischen Feuers in ihren Herzen entzündet hatte? Sicherlich Letzteres, denn welche Botschaft der Inspiration und des Lichtes sie auch immer hatten – sie erachteten sie nicht als ihre, sondern als die „dessen, der mich sandte“: „Wie wir es empfangen haben, so geben wir es weiter.“ Diese Praxis ist schmerzlich für die späteren Historiker, die immer darum kämpfen, die Dinge mit korrekten Etiketten zu versehen; und doch kann man nicht anders, als diese alten Schüler für ihre Seelentreue zu lieben, die jeden Gedanken an individuelle Größe vertreibt.

Die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer ist ein sehr heiliges Band spiritueller Intimität. Dankbarkeit entspringt in dem Schüler im Einklang mit Seelengröße: Die Kleinherzigen empfinden nur Unmut, wenn Führung und Schutz angeboten werden; aber die Großherzigen brennen mit der Flamme der liebenden und unauslöschlichen Dankbarkeit. Die Glieder in dieser Goldenen Kette des Hermes sind durch Dankbarkeit verbunden; so wie jedes Kettenglied mit seinem Bruder-Kettenglied verknüpft ist, Herz mit Herz, Lehrer mit Schüler, Schüler mit Lehrer – jeder Lehrer ein Schüler des oberhalb von ihm Stehenden, jeder Schüler ein Lehrer für den darunter Stehenden – alle durch unzerbrechliche Kettenglieder der Liebe, Treue und Dankbarkeit gegenüber dem Lehrer, der Bruderschaft, der eosterischen Weisheit verbunden:

Signalfeuern der alten Zeiten gleich, welche – der Reihe nach von Hügelspitze zu Hügelspitze entzündet und ausgelöscht – einem ganzen Land die Intelligenz überbrachten, sehen wir, wie eine lange Reihe ‘weiser’ Menschen vom Beginn der Geschichte an bis in unsere Zeiten das Wort der Weisheit ihren direkten Nachfolgern übermittelt. Von Seher zu Seher weitergegeben, leuchtet das ‘Wort’ wie ein Blitz auf, und während es den Initiator dem Blick der Menschen für immer entführt, rückt es den neuen Initianden ins Blickfeld.

Isis II: 571

Diese „lange Reihe ‘weiser’ Menschen“ wurde seit der Mitte der dritten Wurzelrasse auf zwei Arten ungebrochen erhalten: (a) die tatsächliche Reinkarnation von Adepten und (b) die Geburt des Initiierten aus dem Schüler. Auf diese Weise belebt die Bruderschaft ihre Mitglieder durch die erneute Wiedergeburt von Hierophanten und die ‘zweite Geburt’ von neuen Anwärtern aus den Reihen der Mysterienkammern (siehe ET II: 1070). Die ‘Weitergabe des Worts’ war der abschließende Ritus der Sonneninitiation: Ohne ihn konnte keine Übermittlung der okkulten Autorität vom Initiator auf den Schüler ausgeführt werden.

Die Reihe der esoterischen Autorität und Weisheit baut sich daher in einer fortlaufenden, gradweisen Ordnung von der Schülerschaft bis zu den Adepten auf; von den Adepten zu höheren Mahatmas; von den höheren Mahatmas zu Buddhas; von den Buddhas zu Dhyāni-Buddhas; von den Dhyāni-Buddhas zur sprituellen Leitung und dem spirituellen Schutz des Planetengeistes auf Erden; vom Planetengeist der Erde zum Herzen der Sonne. Wahrlich eine Reihe von strahlender Herrlichkeit, der den einfachsten Schüler der Weisheit mit dem solaren Logos verbindet.