Woher kommen wir? Was ist der Sinn des Lebens? Gibt es eine endgültige Wahrheit? Wer bestimmt unser Schicksal? Wie verbaren sich Willensfreiheit und Vorbestimmung? Was bedeuten Karma, Reinkarnation und Nirvana? Was ist das Gewissen? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Was haben die Religionen gemeinsam? Was ist unsere Bestimmung? In der Form aufgezeichneter Gesprächsprotokolle gibt dieses Buch überraschende und tiefgründige Antworten auf die großen Lebensfragen auf der Grundlage der alten Weisheitslehren - der Theosophie.

Die hier vorgebrachten Themen sind Aufzeichnungen von öffentlichen Vorträgen und privaten Gesprächen. Eine Grundaussage des Buches ist die Einzigartigkeit des Menschen, er ist der individuelle Ausdruck seines eigenen, inneren Selbst; der Mensch wird selbst jenen Weg des Strebens finden, der zu ihm, und nur zu ihm allein, gehört. Der einzige Führer und Mentor ist das Leben selbst.

 

Einführung

In jedem Zeitalter haben Männer und Frauen über das Geheimnis des Daseins nachgedacht. Woher kommen wir? Warum sind wir hier? Und was ist letztlich unsere Bestimmung? Wo können wir uns hinwenden mit unserem Verlangen nach einer praktischen Lebensphilosophie, die sich als gültig erweist?

Wenn wir ernsthaft dem Guten in der Welt dienen wollen, führt die Kraft unseres Strebens unausweichlich die erforderlichen Gelegenheiten herbei, mit deren Hilfe wir unser Ziel erreichen. Vielleicht löst ein Buch, eine Zeitschrift oder ein anscheinend zufälliges Ereignis – irgendein Mensch oder eine Sache – in unserem Bewusstsein eine Kettenreaktion aus, die uns, ähnlich wie ein Magnet Eisenspäne ordnet, zu einem völlig neuen Denken und selbst in andere Verhältnisse führt, wodurch sich, wenn wir standhaft bleiben, der Lauf unseres Lebens ändert.

Die Wahrheit ist vorhanden, in dieser Tatsache liegt unsere größte Hoffnung. Wie ein Fluss, dessen Ursprung im Unbekannten liegt, kam sie durch die Jahrtausenden zu uns. Manchmal fließt ihr Strom stark und rein auf der Erde und bereichert die Menschenherzen. Zu anderen Zeiten, wenn keine aufnahmebereiten Seelen da sind, versickert sie und fließt still unterirdisch weiter, und das Land, das sie einst fruchtbar machte, liegt brach. Doch ihr Strom fließt unaufhörlich.

Wie wurde uns diese ‘Weisheit der Zeitalter’ bis heute übermittelt? Zweifellos durch das Leben und Wirken der großen Lehrer der Vergangenheit: durch Meister Jesus, Gautama Buddha, Kṛishṇa, Mohammed, Konfuzius, Laotse, Plato und andere. Jeder einzelne wirkte für dasselbe Ziel: die göttliche Veranlagung des Menschen erneut bewusst zu machen und die in den heiligen Überlieferungen des Altertums verankerten spirituellen Werte wieder darzulegen. Jeder half auf seine Weise, dass der Wahrheitsfluss abermals in die Felder menschlicher Bemühungen einströmte und die ausgedörrten Seelen all derer erquickte, deren Glaube schwach geworden war.

Warum gibt es immer wieder unfruchtbare Perioden, obwohl wir doch im Mittelpunkt aller großen Religionen und Philosophien dieselben Prinzipien rechten Denkens und Handelns, den völlig gleichen Kern der Inspiration vorfinden? Waren die Lehrer oder ihre Lehren daran schuld? Oder lag es an der Unfähigkeit ihrer Zeitgenossen, die Bedeutung der Botschaft richtig zu erfassen und unverfälscht weiterzugeben? Diese und viele andere dazugehörige Fragen werden in den nachstehenden Diskussionen behandelt.

Zuerst wollen wir jedoch über einige Vorfragen nachdenken, die uns auf der Suche nach einem größeren Einblick in die Lebensgeheimnisse entgegentreten. Es sei vorausgeschickt – und das ist paradox –, dass weder Christus noch Buddha noch einer der anderen Menschheitslehrer eine Weltreligion gründen wollte. Die ursprünglichen christlichen Lehren waren zum Beispiel, wie durch das Leben und Wirken Jesu bewiesen wird, eine Neudarstellung dieser zeitlosen Weisheit; nachdem sie jedoch schriftlich fixiert und durch die vielen inner- und außerkirchlichen Exponenten ‘erläutert’ worden war, geriet die von dem Meister gelehrte universale Synthese aus Ethik und Philosophie mehr und mehr aus dem Blickfeld.

Es waren stets die von der ‘neuen’ Offenbarung tief bewegten Jünger und Anhänger der Christusse und Buddhas, die aus eigenem Antrieb die formalen Religionen schufen und Kirchen und Tempel bauten, weil sie hofften, so die lebendige Botschaft ihrer Lehrer bewahren zu können. Als die Jahrhunderte vergingen und spätere Lehrsysteme ihre Interpretationen aufpfropften, wurde der Geist der ursprünglichen Lehre immer wieder in totem Buchstabendenken erstickt. Gerade das Bemühen, alles zu definieren und zum Bekenntnis zu machen, hat automatisch den freien Fluss der Wahrheit gehemmt, wodurch sie ihrer belebenden und aufklärenden Kraft beraubt wurde.

Welche Bezeichnung oder äußere Form diese archaische Überlieferung in den Ländern des Nordens oder Südens, des Ostens oder Westens in den vorchristlichen Zeitaltern auch hatte, vom dritten Jahrhundert n. Chr. an wurde sie bekannt als Theosophia – ‘Weisheit über göttliche Dinge’ – wie durch Ammonios Sakkas in Alexandrien gelehrt. Da sich das Denken der frühen Kirchenväter, deren theologische Streitigkeiten verbürgt sind, schon zunehmend in Schablonen bewegte, floss diese Weisheit der öffentlichen Kenntnis verborgen als stetiger Strom der Führung weiter. Er leitete nicht nur die Kabbalisten – die während der dunklen Perioden des Mittelalters insgeheim ihre ‘Theosophie der Engel’ studierten –, sondern er wirkte auch anregend auf die führenden Geister der Renaissance: auf Paracelsus, Pico della Mirandola, Leonardo da Vinci, Bruno, Kepler und auf zahlreiche andere Wissenschaftler, Philosophen, Dichter und Künstler.

War es ein Zufall, dass Saint-Martin durch die Schriften Jakob Böhmes, des ‘Teutonischen Theosophen’ des 16. Jahrhunderts, angeregt wurde, in den Jahren nach 1790 mit einem Schweizer Freund und Philosophen eine ‘theosophische Korrespondenz’ zu führen; und dass diese Briefe im Jahr 1863 in England neu aufgelegt wurden – in der Hoffnung, das Interesse für ‘die in diesen Ideen enthaltene theosophische und reine Evangelienwissenschaft’ wiederzuerwecken? Und ebenso, dass Emerson und andere, von den kosmischen Einsichten der Bhagavad-Gītā bewegt, die Bewegung der Transzendentalisten in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts in Amerika anführten?

Wie überliefert wurde, prophezeite der große tibetanische Reformer Tsong-kha-pa (1357?-1419), dass ab diesem Zeitpunkt besonders im Westen während des letzten Viertels eines jeden Jahrhunderts ein markanter spiritueller Impuls erkennbar würde. Dieser neu belebende Strom ist zwar in den unmittelbar darauf folgenden Jahrhunderten nicht so recht nachzuweisen, er ist jedoch, wie man annehmen darf, durch hochgebildete Persönlichkeiten wie auch in den geheimen Gemächern der Feuerphilosophen, Alchimisten und Kabbalisten zum Ausdruck gekommen. Im 18. und 19. Jahrhundert lässt sich der Impuls deutlicher verfolgen – nicht dass eine neue Religion gegründet worden wäre, aber es wurden Samen in den Boden der heraufziehenden Jahrhunderte gesät, die später in einem vertieften Bewusstsein für Moral zur Blüte kommen sollten.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts erfolgte gleichzeitig mit der amerikanischen und französischen Revolution der erste größere Einbruch in den in Europa herrschenden religiösen Isolationismus, als in den intellektuellen Zirkeln des Westens der reiche philosophische Inhalt der orientalischen Literatur bekannt wurde. Die belebende Kraft wurde jedoch erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, als sie urteilsfähige Menschen in aller Welt erreichte, so stark, dass sie sich in unser gegenwärtiges Jahrhundert fortsetzen konnte.

Der Höhepunkt dieses Impulses wurde erreicht, als H. P. Blavatsky im Jahr 1888 Die Geheimlehre 1 veröffentlichte. Ihre umfassende Untersuchung der heiligen Schriften der Welt (nicht nur der christlichen) erweist, dass die in ihnen vorkommenden Schlüsselideen sich wie Juwelen auf einen einzigen goldenen Faden reihen: den göttlichen Ursprung und die göttliche Bestimmung des Menschen. Sehr wesentlich war auch, dass die einst allgemein anerkannte Reinkarnationslehre – die Lehre, dass die Seele zwecks irdischer Erfahrung periodisch wiederkehrt – erneut in das westliche Gedankengut eingeführt wurde. Damit floss der alte Strom, der so lange durch den Treibsand dogmatischer Ablagerungen verdeckt gewesen war, wieder oberirdisch.

Jeder menschliche Fortschritt entstand aus der wiederholten Anstrengung der menschlichen Seele, jenen ursprünglichen spirituellen Ideen Ausdruck zu verleihen, die tief in das Menschheitsgedächtnis eingeprägt worden waren, als die Menschenrasse anfänglich auf diesem Globus ihre Heimstatt fand. Der lange Weg unserer Pilgerfahrt führte uns vom Zustand der Unbewusstheit zum Selbstbewusstsein und schließlich zur Erkenntnis unserer individuellen moralischen Verantwortlichkeit – eine Verantwortlichkeit, die sehr mannigfaltige Wandlungen erlebte.

In physisch-materieller Hinsicht näherte sich die Evolution sehr rasch einem zyklischen Höhepunkt; jetzt drängt jedoch ein neuer evolutionärer Impuls ans Licht, und er muss gerade durch das Medium zum Vorschein kommen, das ihn gerne zurückhalten möchte. Unser Blick richtet sich in dieser kritischen Zeit auf die Stärke des göttlichen Samens, der in der harten Schale des Materialismus heranreift und auf die Woge der spirituellen und moralischen Kraft in den menschlichen Beziehungen.

Wir haben wirklich einen Wendepunkt erreicht, der es nicht zulässt, dass wir uns weiterhin der Starrheit des Dogmas unterwerfen. Die zunehmende Zahl von Laien, die sich mit der religiösen und philosophischen Weltliteratur beschäftigt, weigert sich, einen einzelnen Glauben als die endgültige Wahrheit oder als die einzige Erlösungsmöglichkeit anzusehen. In den Schulen und Universitäten wird ebenfalls eine universalere Betrachtungsweise gefördert. In dem Bemühen, den einigenden Faden der Weisheit zu finden, werden ordentliche Vorlesungen in vergleichender Religionswissenschaft geboten.

So wie der Sonnenkörper verschiedene Phasen solarer Aktivität enthüllt, je nachdem welche der verschiedenen Wellenlängen zum Fotografieren verwendet wird, so enthält jede einzelne der heiligen Schriften verschiedene Inspirationsebenen. Wir können daher die Parabeln und Legenden, die einen Menschheitslehrer umgeben, wie einen historischen Bericht über seine Geburt, sein Werk und seine Lehren lesen; wir können den Lehrer aber auch bei Anwendung einer anderen Wellenlänge als Heiland sehen, der als ein Sonnengott den Horizont der menschlichen Erfahrungen erhellt und Licht und Hoffnung für Jahrtausende hinterlässt; fernen können wir, wieder anders, aus der einfachen Anwendung seiner Gebote Mut für das tägliche Leben schöpfen.

Es ist also offensichtlich, dass diese Weisheitsreligion sowohl die tiefgründigsten Wissensbereiche wie auch die reinste Ethik umschließt. Das ganze Gebäude wird getragen von der Idee, dass Göttlichkeit das Herz aller Dinge ist – innen, außen, oben, unten – Göttlichkeit, die aktiv werden will, damit sie die Umwelt erleuchten kann, in der sie ihren Einfluss verkörpert hat. Es ist eine Tragödie, dass wir seit vielen, vielen Jahrhunderten – nicht aus freiem Willen, sondern durch falsche Erziehung – zu der Ansicht gebracht wurden, wir seien nicht mehr als ein Wurm im Staub. Man hat uns nicht gelehrt, dass wir als potenzielle Götter selbst die Mittel und Wege wiederentdecken müssen, mit deren Hilfe wir allmählich bewusste Mitarbeiter der Natur werden. Es ist ein herrlicher und ermutigender Ausblick. Weil sich Ursache und Wirkung so genau und gerecht ausgleichen, ermöglichen die Zyklen der Tätigkeit und Ruhe sukzessiv die immerwährende Entwicklung der gottgleichen Eigenschaften in jedem einzelnen von uns.

Wir bauen aber auf Sand, wenn wir uns nur mit den Feinheiten der technischen Seite der Lehre befassen. Wir können überzeugt sein, dass die Hüter des Menschengeschlechts keine so großen Anstrengungen unternommen hätten, die Kenntnis dieser Tradition keimhaft in Mythos, Legende, Symbol und Stein zu erhalten, nur um den Intellekt zu faszinieren. Diese Weisheit wurde in allen Zeitaltern immer wieder vorgetragen, weil hinter jedem Aspekt der Lehre ein ethischer Begriff steht, der erkannt und angewandt werden muss. Die ganze Anstrengung entspringt dem mitleidsvollen Impuls, uns neue Hoffnung zu geben und die leuchtende Intuition des Menschen lebendig zu erhalten.

Wie das Glück kann die Wahrheit nicht erkauft werden. Sie muss verdient werden; und je ernsthafter wir sind, desto sorgfältiger müssen wir das Echte von der Nachahmung unterscheiden. Der Unterschied ist nicht immer offensichtlich, weil nicht jede Aktivität, die religiös oder metaphysisch genannt wird, auf einem selbstlosen spirituellen Fundament steht. Seit H. P. Blavatsky die alte universale Philosophie neu formulierte, wurde besonders der Westen von zahlreichen kleinen Propheten überschwemmt, die aus ein paar Halbwahrheiten, denen sie nachjagten, schillernde Fantasiegebäude konstruierten. Es ist nicht unsere Absicht, ihren Wert oder Unwert zu beurteilen – die Zeit wird den Weizen von der Spreu trennen.

Es muss aber eindeutig verstanden werden: Die heute überhand nehmenden pseudospirituellen Praktiken, wie Psychismus, Jagd nach Phänomenen, Entwicklung sogenannter okkulter Kräfte, Hatha-Yoga-Übungen und Einweihungen in besondere Mysterien – in den meisten Fällen gegen Bezahlung – können wir weder unterstützen noch entschuldigen. Unter welcher Maske sie auch auftreten mögen, sie appellieren ohne Ausnahme an die Selbstsucht in der menschlichen Natur. Wer an irgendeiner dieser Pseudoerscheinungen seine Finger verbrannte, musste unter schmerzlichen Schwierigkeiten lernen, dass der Weg zur Wahrheit in der Tat „eng und schmal“ (Matthäus 7, 14), dafür aber der einzige ist, der uns sicher zu unserem Ziel führt.

Im Laufe der vergangenen Jahre war es mir vergönnt, in verschiedenen Teilen der Welt mit einzelnen Menschen und mit Gruppen ‘laut zu denken’. Als ich mit ihnen sprach, stand eines absolut im Vordergrund: ihre Suche nach einer anwendbaren Lebensphilosophie, auf die sie sich innerlich fest verlassen können, und das einhergehende Bedürfnis nach einer Bestätigung ihres intuitiven Gefühls, dass es tatsächlich eine Erklärung für die vielen rätselhaften Lebensprobleme gibt. In der Erkenntnis, dass die Zivilisation nur das Wachstum und die Entwicklung des menschlichen Charakters widerspiegelt, befassten sich unsere Diskussionen mit jenen spirituellen Prinzipien, die man auf jede Lage anwenden kann, ganz gleich, welchen Glauben, welche politische Überzeugung, welche Erziehung oder welchen sozialen Hintergrund man hat, denn welchen Weg der Erfahrung der einzelne auch beschreiten mag, es wird immer eine gemeinsame Grundlage von Werten geben, auf der man sich begegnen kann.

Ein großer Teil des in diesem Buch verarbeiteten Materials, das die Ernte eines Gedankenaustausches mit Hunderten von Männern und Frauen darstellt, erschien in der Zeitschrift Sunrise. Trotz umfassender Bearbeitung haben wir versucht, die zwanglose Form der ursprünglichen Diskussion beizubehalten. Sollte aber jemand eine fixierte und fertige Lehrformel für seine Erleuchtung suchen, wird er enttäuscht sein. Jeder Mensch ist einzigartig, ein individueller Ausdruck seines eigenen inneren Selbst; jeder muss daher letztlich selbst den Weg des Strebens finden und beschreiten, der ihm und nur ihm allein zugehört.

Es gibt keine vorrätige Antwort, die die Bedürfnisse aller befriedigt – kein Buch, keinen Lehrer, keine außerhalb dem Menschen liegende Quelle – denn wer kann einem anderen sagen, was für sein Wachstum notwendig ist? Der einzige Führer und Mentor ist das Leben selbst. Sobald ein Mensch durch die natürlichen Prozesse seines erwachenden Bewusstseins den Prüfstein der Wahrheit in sich selbst findet, weiß er, dass die Autorität nicht von irgendeinem Menschen stammt, dessen Schriften oder Gespräche ihm vielleicht gefielen, sondern dass sie den Tiefen der eigenen Seele entspringt.

– J. A. L.

Der ruhelose Finger schreibt – und schreibend eilt er weiter:
Weder deine Frömmigkeit noch deine Klugheit können ihn zurücklocken,
auch nur eine halbe Zeile zu streichen,
noch können deine Tränen ein Wort davon auslöschen.

– Rubāijāt von OMAR CHAJJAM

Die Schrift des Schicksals

Wenn wir glauben, das in den Himmelssphären herrschende Gesetz der Harmonie und Ordnung spiegle sich in den Verhältnissen der Menschenwelt wider, dann muss uns klar sein, dass der Mensch die Samen, die er in das Feld seines Charakters sät, auch entsprechend ernten muss – sei es in diesem Leben oder in einem zukünftigen Erfahrungsbereich. Wenn wir unser Leben unter diesem Aspekt ernsthaft betrachten, erkennen wir, dass wir selbst irgendwann im Lauf unserer Entwicklung jeden Umstand geschaffen haben müssen, dem wir heute gegenüberstehen. Trifft das zu, dann ist gewiss kein Augenblick bedeutungslos: Ist es denn nicht wirklich so, dass wir uns auf einer Stufenleiter der Evolution bewegen, auf halbem Weg zwischen Atomen und Sternen – wobei sich alles entfaltet und wächst und dabei lernt, das jeweils eigene Maß der Göttlichkeit hervorzubringen?

Die Mühlen der Götter mahlen langsam, doch sie mahlen überaus fein. Was wir säen, müssen wir ernten – die Schriften des Ostens verwenden hierfür den Ausdruck Karma; dieser besagt, dass jeder Aktion die entsprechende Reaktion folgt. Dieses Wort, das jetzt auch in den westlichen Sprachschatz aufgenommen wurde, ist sehr nützlich, weil es nicht nur die gesamte Philosophie der Harmonie und Gerechtigkeit einschließt, sondern auch die mitleidsvollen Einrichtungen der Natur, die es dem Menschen ermöglichen, mit größter Gründlichkeit zu lernen, indem sie ihn den Ergebnissen seines Denkens und Tuns gegenüberstellt.

Lassen Sie uns im Licht der inneren und äußeren Eingebungen auf die tägliche Entfaltung der Ereignisse achten. In dem Labyrinth, das sich auf der objektiven Ebene aus Aktion und Reaktion, aus Saat und Ernte, aus Geben und Nehmen bildet, können wir dann einen ‘Ariadne’-Faden der Führung wahrnehmen. Wenn die Werke des Göttlichen in allem offenbar werden, gibt es keine Begegnung mit einem Menschen und kein Ereignis, das nicht eine Gelegenheit zur Entfaltung und zugleich einen positiven Hinweis für unsere Lebensführung böte. Das gleiche Gesetz, demzufolge man sich brennt, wenn man eine Flamme berührt, wirkt genauso auf den moralischen und spirituellen Ebenen; dieses Gesetz wird solange schmerzliche Erfahrungen aller Art bringen, bis wir uns der Tatsache bewusst werden, dass unser besseres Selbst manchmal ganz verzweifelt versucht, uns etwas mitzuteilen. Und wenn wir auf die Vorgänge in unserer Seele achten, erkennen wir, dass sich die Qualität oder der Schwerpunkt unserer Interessen allmählich von einer niedrigeren auf eine höhere Bewusstseinsebene verlagert.

Über die Frage, warum es Leiden gibt, haben wir alle verschiedene Vorstellungen; die Natur kennt jedoch keine wohltätigere Methode, uns auf unsere Begrenzungen aufmerksam zu machen, oder auf das Unrecht, das wir begehen, als dass sie uns ermöglicht, die genauen Wirkungen unserer törichten und selbstsüchtigen Handlungen zu erleiden – wie wir auch bis zum letzten Jota und i-Tüpfelchen aus den Resultaten jedes wirklich uneigennützigen Gedankens und jeder wirklich selbstlosen Tat Nutzen ziehen. Dieser ganze Regulierungsvorgang charakterisiert die selbstlose Seite der Natur, die ebenso unpersönlich handelt und reagiert wie Sonne und Regen.

Das unsterbliche Element in uns ist die Quelle unserer höchsten Inspiration und Stärke, denn es birgt in sich die Weisheit und Erkenntnis unserer gesamten Vergangenheit, die unzerstörbare Aufzeichnung unserer Leiden und Inspirationen, unserer Hoffnungen und Träume. Es registriert all unsere Gedanken und Handlungen – und diesen Ursachen, die heute, gestern und in vergangenen Leben erzeugt wurden, entspringen die Wirkungen.

Für das kosmische Buch des Schicksals existiert daher kein schriftführender Engel, der göttlichen Lohn oder höllische Bestrafung zuteilte. Der Mensch selbst ist es, der seine Vergangenheit eingeschrieben hat, der seine Gegenwart lesen und deuten muss und dabei seine Zukunft gestaltet. Wir dürfen nicht erwarten, dass wir die gesamte Aufzeichnung unserer Leben sofort entziffern können. Wir sollten jedoch versuchen, die Wegweiser zu verstehen, wie sie auftreten. Unser Haupthindernis entsteht, wenn wir von Karma eine zu rasche oder eine unseren Wünschen angepasste Wirkung erwarten. Sobald wir aber unser eigenes besonderes Kapitel in dem umfassenderen universalen Buch des Schicksals besser verstehen, werden wir beobachten, dass die Tag für Tag eintretenden Umstände und Ereignisse so systematisch, so exakt und so mitfühlend wirken, dass alle Menschen, welchen wir begegnen, notwendigerweise zu uns geführt wurden und wir zu ihnen, damit wir gegenseitig lernen und wachsen, nehmen und geben können. Es ist ein natürlicher und schöner Erfahrungsaustausch, und wenn wir still das Karma ‘erfühlen’ können, wie es sich von Augenblick zu Augenblick entfaltet, beginnen wir die inneren Orientierungshilfen wahrzunehmen. Wenn wir andererseits begierig nach Wegzeichen ausschauen, sehen wir sie nie. Es ist paradox: Wenn wir nach einer ganz bestimmten Form der Hilfe suchen, kommt sie nie; wenn wir aber im Vertrauen auf unsere innewohnende Stärke und Weisheit jedem Tag ohne Furcht begegnen, erhalten wir den Schutz und die Hilfe, die wir gebrauchen können.

Dessen ungeachtet sollten wir uns nicht selbst täuschen und uns einbilden, wir würden durch eine passive und abwartende Haltung wahres Wissen oder echte Inspiration erlangen. Jede Zunahme an Erkenntnis wird durch bewusste Erfüllung unserer vollen Pflicht auf allen Gebieten unserer Verantwortung erreicht. Wenn wir dieses Ideal im Hintergrund unseres Bewusstseins festhalten können, durchschauen wir instinktiv die äußeren Ereignisse und dringen zu dem verborgenen Prinzip und Kern vor. Dadurch wird der innere Wert, der Geist, und nicht nur der Buchstabe jeder Erfahrung, zu einem Bestandteil unseres Charakters gemacht und das Leben gewinnt eine neue Bedeutung.

Wenn wir in der Vergangenheit viele Leben lebten, werden wir uns zweifellos auch in der Zukunft wiederholt auf der Erde aufhalten; manche dieser Leben mögen nach äußeren Maßstäben gemessen angenehm und erfolgreich sein, andere wiederum ein wahrer Alptraum an Misserfolg und Plage. Der Autor unseres Lebens, kein anderer als wir selbst, hat die Lichter und Schatten unserer gegenwärtigen Erfahrung so gesetzt, dass wir mit Hilfe unseres freien Willens, mit der Reinheit unseres Strebens und mit der uns zur Verfügung stehenden Intelligenz feststellen können, welche Charaktereigenschaften einer Umformung bedürfen und auf welche Pfeiler der Stärke wir bauen können. Der größte Fehler ist der Versuch, die schwierigen Lebensabschnitte so rasch wie möglich hinter sich bringen zu wollen, wobei wir völlig übersehen, dass uns die höllischen Augenblicke auf die Hervorbringung ganz besonderer Werte vorbereiten, die sonst nicht gewonnen würden. Wie wenige von uns denken beim Herannahen glücklicher Augenblicke daran, die in der Feuerprobe des Leidens gewonnenen goldenen Werte mit den Mitmenschen zu teilen? Sobald bessere Zeiten anbrechen, genießen wir diese begierig, ohne an die aus dem Schmerz geborene Schönheit und Bereicherung zu denken. Darum können angenehme Erfahrungen die gefährlichsten Zeitabschnitte für uns sein und schwierige die fruchtbarsten.

Da das Universum von der schöpferischen Essenz durchdrungen ist, ist jedes winzige Teilchen im Kosmos bipolar. Deshalb kann die negativste Situation in eine positive umgewandelt und der materiellste Zustand vom spirituellen Pol der Erfahrung aus betrachtet werden. Durch die Überwindung von Schwierigkeiten gewinnen wir große Stärke; selbst die kleineren Hindernisse haben ihr Gutes, wenn wir alle Umstände für unseren Hort von Gelegenheiten willkommen heißen. Die auf dem Weg der natürlichen Pflicht auftretenden Hürden und Hindernisse sind das Ergebnis der langfristigen erzieherischen Verantwortlichkeit unseres höheren Selbst – denn der Fortschritt des einzelnen Menschen und in der Tat der des ganzen Menschengeschlechts beruht auf Selbstüberwindung.

Selbst das kleinste Ereignis bietet uns daher die Gelegenheit zur Korrektur unserer Einstellung und zur Erweiterung unseres Bewusstseins in Richtung einer größeren Einsicht und eines mitfühlenderen Verständnisses für andere. Wenn wir vor einem Problem stehen, müssen wir es anpacken und lösen; ist es ein Leid, sollten wir versuchen, die mitfühlende Tätigkeit des ∆GesetzES darin wahrzunehmen; bei einer Freude wiederum müssen wir beachten, wie und wo wir andere an ihrem Segen teilhaben lassen können. Dessen ungeachtet glaube ich nicht, dass jede Prüfung oder Schwierigkeit das Ergebnis falschen Handelns ist. Offensichtlich führen Irrtum und Schwäche Leiden in ihrem Gefolge, denn das ist die sicherste Lehrmethode der Natur. Es gibt jedoch auch ein höheres Karma, das uns magnetisch in die Täler des Schmerzes ziehen kann, um uns aus unseren altgewohnten Geleisen herauszustoßen, zu neuem, frischem Denken.

Hiermit kommen wir zum inneren Aspekt der sich entfaltenden Schrift unseres Lebens: Wenn ein Individuum ernstlich eine Bewusstseinserweiterung anstrebt, um seinem spirituellen Willen unpersönlich dienen zu können, aktiviert es allmählich das Christoselement in seinem Wesen. Als Folge leuchtet sein Bewusstsein etwas heller, und sein höheres Selbst oder sein Schutzengel, der die Intensität des Rufes erkennt, muss es beachten. Die Natur sorgt dann für die Bedingungen, mit welchen der Betreffende die Kraft und Ausdauer seines Strebens erproben kann. Das GESETZ lässt sich in seiner Tätigkeit durch unsere individuelle Schwäche oder Stärke nicht aufhalten. Was ein Mensch in den verborgensten Tiefen seiner Seele ist, wird dann sichtbar. Weder festgesetzte Regeln oder Gebote noch die Bibel oder die Veden oder eine andere heilige Schrift allein können ihm jetzt helfen. Er mag alle technischen Feinheiten vom Aufbau der Atome und Milchstraßen kennen und alles über die vielen Prinzipien der menschlichen Konstitution wissen – er kann jedoch erst dann die Tore zur Weisheit öffnen, wenn er die Erfordernisse der Pflicht in jedem Aspekt seiner Natur erfüllt hat. Dieser Pfad des Werdens mag einsam erscheinen, er ist jedoch ein Pfad der Freude. Sobald wir erst die edlen Prinzipien rechten Denkens in jede Handlung hineinlegen, wissen wir, dass das Göttliche, das Atom und Stern belebt, auch den Menschen erfüllt.

Volles Vertrauen in das GESETZ erweckt eine innere Kraft, die den Linien des geringsten Widerstands folgt und durch die gesamte Menschheit zirkuliert. Die reine Hingabe und die Rechtschaffenheit eines Menschen werden ohne Rücksicht auf Ort und Zeit wirksam, um das Gute zur rechten Zeit am rechten Platz zu bewirken, wie wir es weder wahrnehmen noch vorausplanen noch kontrollieren könnten. Wir brauchen nicht zu wissen, wie das vor sich geht; wenn aber die Natur bemüht ist, dass sich das Göttliche in jedem Teil des Universums reflektieren kann, dürfen wir sicher sein, dass – wo immer erleuchtete Herzen schlagen – Gutes folgen und insoweit die Last des Hässlichen und Bösen in der Welt vermindern wird.

Der ruhelose Finger schreibt – wenn wir die Schrift unseres Lebens im Licht dieser Überlegungen zu lesen versuchten, könnten wir uns unbewusst als natürliche Beschützer unserer Mitmenschen in dem göttlichen Schutzsystem wiederfinden, das um die Menschheit errichtet ist.

Karma: das Gesetz von Ursache und Wirkung

Frage – Ich möchte gern mehr über Karma erfahren, speziell über die Vorstellung, dass wir für unsere Lebensverhältnisse selbst verantwortlich sind. Können wir darüber diskutieren?

Stellungnahme – Dieses Thema verliert nie an Interesse. Sicher erinnern Sie sich, wie diese Idee im Neuen Testament zum Ausdruck kommt: „Was der Mensch sät, wird er ernten“ (Galater 6, 7). Genau das bedeutet Karma – es ist ein Sanskritwort, das in der hinduistischen und buddhistischen Philosophie verwendet wird zur Bezeichnung einer ‘Aktion’, der die Reaktion folgt. Jede Religion stellt die Lehre der moralischen Verantwortung in den Vordergrund. Die Islamiten nennen den individuellen Anteil oder das Los im menschlichen Leben Kismet. Die alten Griechen hatten ihre Nemesis, die Göttin der vergeltenden Gerechtigkeit; sie personifizierten auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in den drei Moiren oder Spinnerinnen des Schicksals. Die im jüdischen Glauben erzogenen Menschen kennen das mosaische Gebot: „Auge für Auge, Zahn für Zahn“ (Exodus 21, 24). Alles sind verschiedene Bezeichnungen für das universale Gesetz von Harmonie und Gleichgewicht, welches dafür sorgt, dass jede in Gang gesetzte Ursache irgendwann in der Zukunft eine entsprechende Wirkung zeitigt.

Beim Studium Karmas begeistert als Erstes die große Gedankenfülle, die sich in uns ausbreitet, besonders wenn wir Karma gedanklich mit der zugehörigen Zwillingslehre, der Wiederverkörperung, verbinden und auch an die Rolle denken, die wir in dem langen Lebensdrama spielen müssen. Man muss sich aber hüten, nur an sich selbst und an das eigene Karma zu denken; durch diesen Standpunkt verstrickt man sich möglicherweise so sehr in seine persönlichen Probleme, dass man das tägliche Geschehen nicht mehr sinnvoll und vernünftig in das Gesamtgeschehen einordnen kann.

Karma besitzt viele Aspekte: Die Welt, die Völker und Rassen und die Familien und Individuen haben ihr Karma. Wir können sogar vom Karma von Firmen, Gemeinden usw. sprechen. Mit anderen Worten in jedem Lebensbereich, von individuellen bis zu den internationalen, denken und handeln die Menschen und setzen dadurch bestimmte Ursachen in Bewegung, die notwendigerweise ihre entsprechenden Wirkungen nach sich ziehen müssen. Daher sind die Verzweigungen von Aktionen und Reaktionen endlos.

Frage – Wie hat eigentlich alles angefangen?

Stellungnahme – Will man Karma und seine Beziehung zur Gegenwart besser verstehen, muss man sich in die Zeit des Garten Eden zurückversetzen. Es wurde berichtet, der Mensch sei von dem Tag an, als er die Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse kostete, zu einem mit Selbstbewusstsein begabten Teil der Menschheitsfamilie geworden, moralisch für jeden seiner Gedanken und jede Handlung verantwortlich. Unter dieser Voraussetzung sind wir seit jenem Zeitpunkt für die Gestaltung unseres Charakters und für die Formung unseres Schicksals verantwortlich. Das göttliche Gesetz der Saat und Ernte bewirkte, dass wir uns exakt unsere heutigen Lebensverhältnisse schufen – gleich welcher Art.

Es ist jedoch bedauerlich, dass wir im Westen geschult werden, die Tätigkeit dieses Gesetzes mit inneren Furchtvorstellungen zu verbinden: „Wenn du nicht recht lebst, wird dich die Strafe Gottes treffen; wenn du falsch handelst, kommst du nicht in den Himmel.“ Man kann sich nur schwer einen Gott vorstellen, der jeden einzelnen Menschen beobachtet, bereit ihn zu bestrafen, sollte er irren, oder ihn mit speziell ausgedachten Erweisungen seiner Gunst zu belohnen, wenn er gut ist. Der Mensch mag zwar ‘furchtsam und wunderbar gemacht sein’, daraus folgt aber nicht, dass er gemacht wurde, damit er sich fürchte. Der Fluch des dogmatischen Glaubens, wir seien in Sünde geboren, hatte weitreichende und destruktive Folgen. Der Mensch ist wunderbar gemacht; er besitzt höchst entwicklungsfähige Eigenschaften, die auf göttliches Vertrauen und nicht auf göttliche Furcht gegründet sind. Die Allmächtige Intelligenz, die jedes winzige Atom unseres Universums durchdringt, hätte die Manifestation ihrer Essenz nicht zugelassen ohne die absolute Gewissheit, dass alle diese Atome mit der Zeit dem Ursprung gleich werden würden, aus dem sie hervorgegangen sind. Es wäre eine Herabwürdigung des wirklichen Lebenszwecks, wenn wir unseren Begriff auf eine Gottheit einschränken, die einerseits die gesamte evolutionäre Entwicklung, Individuum für Individuum, persönlich überwachen und uns andererseits mit einer ‘Erbsünde’ belasten würde.

Die Allegorie vom Gefallenen Engel enthält sehr viel verborgene Weisheit. Diese von der orthodoxen Auslegung so armselig gedeutete Erzählung ist bei vielen alten Völkern bekannt. In der hinduistischen Tradition wird sie symbolisiert durch das Herabsteigen der Mānasaputras, der ‘Söhne des Denkvermögens’ – gottähnliche Wesen, die das Feuer des menschlichen Geistes entzündeten, genau wie in der griechischen Mythologie Prometheus den Menschen das ‘Feuer’ der Götter brachte. In gleichem Sinn wird der Übergang der Menschheit aus einem kindgleichen Entwicklungszustand in einen Zustand bewusster individueller Verantwortlichkeit in der Bibel durch die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies symbolisch dargestellt.

Wenn wir verstehen, dass wir seit jenem Zeitpunkt in unserem evolutionären Zyklus selbständig sind, erfassen wir allmählich besser, was die Lehre von Karma alles einschließt. Es bedeutet, dass wir seinerzeit als Anfänger im Gebrauch unseres freien Willens zahlreiche Fehler machten. Und jedesmal wenn wir etwas falsch gemacht hatten, erhielten wir eine entsprechende Reaktion, die unser Denken dazu anhielt, nicht wieder den gleichen Fehler zu begehen. Auf der physischen Ebene lernen wir alle sehr rasch, doch kostet es uns sehr viel mehr Zeit, die Lektionen auf den moralischen und spirituellen Ebenen zu erlernen. Dennoch arbeitet das Naturgesetz der Harmonie dauernd an der Wiederherstellung des Gleichgewichts, manchmal mit großem Nachdruck, aber nur so erwerben wir nach und nach unser Unterscheidungsvermögen.

Es bleibt die einfache Tatsache übrig, dass wir im Laufe der Zeitalter aus früheren Handlungen eine große Zahl von Wirkungen angehäuft haben, weshalb wir jetzt einer Sammlung karmischer Verpflichtungen gegenüberstehen, die aus der fernen Vergangenheit datiert; aus dieser Sammlung hat das unsterbliche Element in uns einen bestimmten Teil für diese Lebenszeit ausgewählt. Diese Auswahl ist weder zu schwer noch zu leicht, da im gesamten Kosmos vollkommene Gerechtigkeit herrscht.

Die Leute sprechen manchmal von gutem und schlechtem, von angenehmem und unangenehmem Karma. Für mich gibt es so etwas wie gutes oder schlechtes Karma nicht, denn die Ergebnisse, die Auswirkungen unserer Gedanken und Handlungen, sind alle nur Gelegenheiten. Das ist der Schlüssel, Karma als Gelegenheit gibt jedermann die gleiche Entwicklungsmöglichkeit. Darin sehe ich keine schwer zu tragende Last. Wir müssen lediglich unsere Reaktionen auf unsere Umstände abstimmen und diesen mit der richtigen Einstellung begegnen. Wenn wir uns aber unklugerweise gegen die sogenannten unangenehmen Lebensereignisse auflehnen, dann verlängern wir die Wirkungen der falschen Handlungen immer weiter, bis wir schließlich aufwachen und erkennen, dass wir nur gegen uns selbst rebellieren.

Es ist unwichtig, wieviel Leiden wir in diesem Leben auf uns nehmen müssen – unser Karma wird nie schwerer sein, als wir tragen können. Suchet einen Menschen mit schwerer karmischer Bürde und ihr werdet eine starke Seele finden. Der Mensch, der wirklich Qualen erleidet, ist eine Seele, die sich kraft der Stärke ihres höher-spirituellen Strebens das Recht erwarb, ihr ‘Metall’ durch und durch prüfen zu lassen.

Frage – Könnten wir unsere gegenwärtigen Probleme nicht viel leichter verstehen, wenn uns die vergangenen Handlungen, aus welchen diese Probleme entstanden, bekannt wären? Ich weiß, dass ich für alles, was mir begegnet, verantwortlich bin, sowohl für die angenehmen wie auch für die unangenehmen Vorkommnisse. Wie kann ich das gesamte Karma richtig handhaben?

Stellungnahme – Wenn die Natur, im höchsten Sinn verstanden, harmonisch gütig und gerecht ist, dann stellt sie uns – wie mir scheint – niemals vor eine Aufgabe, ohne für einen Schlüssel oder eine Hilfe zu sorgen; und um so mehr trifft das für jemand zu, der bewusst nach dem Höheren strebt. Die Natur liefert tatsächlich diesen Schlüssel, obgleich wir ihn oft nicht so leicht finden. Wenn wir jedoch die Überzeugung haben, dass keine Ursache ohne Wirkung oder keine Wirkung ohne Ursache sein kann, dann müssen wir annehmen, dass nichts durch Zufall geschieht. Jede Situation, die uns begegnet, ist dann das Ergebnis eines gedachten Gedankens, einer begangenen Tat oder einer vergangenen Mitwirkung, woraus sich die Wirkungen herleiten, die sich in den uns jetzt vorliegenden Umständen zeigen. Muss uns die Ursache genau bekannt sein? Wir können sie nicht im Einzelnen erkennen, aber wir können und sollten versuchen, die innere Qualität der Erfahrung zu erfassen, welche die gegenwärtige Lage herbeigeführt hat.

Wer sich an diesem Punkt der Entwicklung aktiv um die Läuterung seines Charakters und um die eigene Lenkung seiner Entfaltung bemüht, wird die ersten schwachen Anzeichen einer erwachenden echten Intuition wahrnehmen. Wir sind von der Blütezeit unseres gegenwärtigen Rassenzyklus noch weit entfernt, dennoch sind wir schon jetzt aufgefordert, die ersten Regungen der noch ganz jungen Intuition in unserem Bewusstsein zu beachten. Wer einmal über die Lehren von Karma und Reinkarnation nachdenkt, muss früher oder später erkennen, dass er eine klare Verantwortung hat, seinem eigenen Karma einsichtig zu begegnen. Er wird lernen müssen, wie er ihm gerecht wird, wie er auf die Bitten seines unsterblichen Selbst hören muss, auf seine Intuitionen, wenn Sie wollen. Das unsterbliche Selbst hat das Drama dieser Inkarnation, in dem wir selbst der Darsteller sind, ausgewählt, und dieses höhere Element bemüht sich auch, uns mit Hilfe unserer Lebensereignisse anzuleiten, den täglichen Aufgaben in der richtigen inneren Einstellung nachzukommen.

Im Laufe unserer Bemühung um ein besseres Verständnis erkennen wir, dass wir die Fähigkeit entwickeln können, die sich entfaltende karmische Schrift unseres Lebens zu deuten. Wenn wir damit arbeiten, können wir die jeweils entstehenden Situationen besser beurteilen und verständnisvoller bewältigen. Wir können uns diese Schrift wie ein Buch vorstellen – das Buch der Aufzeichnungen, wie der Koran sagt –, in das unser individuelles Leben in seiner Gesamtheit eingetragen ist. Jeder Tag, sozusagen eine Seite im karmischen Soll und Haben, enthält die Wegweiser, die Antriebe und Rückschläge, die Gewissensregungen und auch die Intuitionen, die benützt werden sollen. Schon dann, wenn wir die tägliche Schrift unserer Erfahrungen nur unvollkommen deuten können, erkennen wir zusätzlich, dass zwischen dem Wesen einer Auswirkung und der ihr zugrunde liegenden Handlung ein direkter Zusammenhang besteht. Es wird zwar nichts vorbuchstabiert; wenn wir aber an unsere langfristige Hauptaufgabe denken – die volle Entfaltung der göttlichen Werte in uns –, dann wissen wir auch, dass die Umwandlung des niederen Selbst durch das höhere Selbst von der fortgesetzten Bemühung um eine bessere innere Einstellung in jeder Lage begleitet sein muss.

Frage – Sollten wir, wenn wir unsere Einstellung zu unserem eigenen Karma verbessern wollen, nicht auch das Karma unserer Mitmenschen berücksichtigen? Ich denke speziell an das Familien- und Volkskarma.

Stellungnahme – Wenn wir an das natürliche Wirken dieses Gesetzes glauben, begegnen wir allen, die wir jeden Tag treffen, durch Karma, und als Ergebnis der Begegnung erhalten wir etwas von den anderen oder sie etwas von uns. Keine Seite braucht diesen inneren Austausch bewusst wahrzunehmen. Er geschieht so einfach wie das Atmen und mag nur eine winzige Wirkung haben; aber die Zusammenfassung aller Vorgänge ergibt dann die karmische Bilanz, die karmische Gesamtsumme des Tages. Wenn wir die beste uns mögliche Geisteshaltung einnehmen, unseren persönlichen Willen als Diener einsetzen und dem spirituellen Willen oder der Intuition die größtmögliche Herrschaft überlassen, erkennen wir allmählich, was der andere Mensch zur Bewusstseinserweiterung beigetragen hat, die uns jederzeit möglich ist.

Frage – Ist es nicht anmaßend anzunehmen, wir könnten willentlich auf das Karma von Nationen einwirken? Ist es nicht schon ein Erfolg, wenn wir mit unserem eigenen Leben vernünftig fertig werden?

Stellungnahme – Die meisten von uns können für das Volks- oder Weltkarma keinen direkten Beitrag leisten. Dessen ungeachtet sind wir ein Teil der Menschheit; so wie wir unseren Charakter stärken, wird deshalb unser Volk und die Welt im Ganzen Nutzen daraus ziehen. Der grundlegende Schlüssel ist die Pflicht: Wir erfüllen unsere Bestimmung am besten, wenn wir die unmittelbar vor uns liegenden Pflichten ausführen. Sollte es sich ergeben, dass Sie oder ich durch natürliches Karma Mitglied des Kongresses oder des Parlaments werden, dann hätten wir die Gelegenheit, wirksamer und direkter für unsere entsprechenden Länder zu arbeiten. Am meisten kommt es jedoch darauf an, wo wir heute stehen und was wir hier tun, denn die innere Qualität dieser Gedanken und Taten ist es, die unseren Einfluss in der Zukunft bestimmt.

Sehen Sie nicht, welche großartige Gelegenheit sich uns bietet? Wenn wir schöpferisch handeln, bereit, vergangene Irrtümer zu korrigieren, dann prägen wir die innere Qualität unserer Bemühung unvermeidlich in das Bewusstsein unserer Mitmenschen ein und geben ihnen dadurch zusätzlichen Mut. Ohne Furcht, sondern voller Vertrauen können wir von unserem gegenwärtigen Standort ausgehen mit dem Bewusstsein, dass unsere rechten Gedanken und unsere rechten Handlungen mit der Zeit die angemessenen Wirkungen zeitigen. Jeder Augenblick bietet eine Gelegenheit – eine herausfordernde Gelegenheit zur Erfüllung der uns bestimmten Verantwortung – nicht nur gegenüber uns selbst, sondern gegenüber der ganzen Menschheit.

Das Vaterunser

Frage – Wenn wir erhalten, was wir verdienen, und für unsere Handlungen belohnt oder bestraft werden, was können wir dann vom Gebet erwarten?

Stellungnahme – Dieses Thema ist wichtig und vielschichtig. Ehe wir uns aber über das Gebet unterhalten, ist es ratsam, unser Denken von der Vorstellung zu befreien, ein anthropomorpher persönlicher Gott throne im Raum und messe nach seinen Grillen und Launen oder entsprechend unseren Wünschen Gutes und Böses zu. Diese Auffassung ist bestimmt falsch: Sie verneint die Gerechtigkeit und unterminiert den Glauben – den Glauben an die absolute Harmonie des universalen Gesetzes.

Die praktische Quintessenz des Gebets, wie sie der Meister Jesus sah, kommt in seiner Bitte Gethsemane zum Ausdruck. „Aber nicht mein, sondern Dein Wille soll geschehen“ (Lukas 22, 42) – nicht mein persönliches Wollen, sondern der Wille des Göttlichen. Mit anderen Worten, lasse das Gesetz der Gerechtigkeit seine harmonisierende und ausgleichende Wirkung ausüben, damit sich die früher geschaffenen Ursachen in unserem Leben auswirken können.

Frage – Wenn wir mit unserem persönlichen Willen jetzt eine besondere Hilfe suchen und durchsetzen würden, obwohl wir wissen, dass wir sie eigentlich gar nicht verdienen, dann würden wir doch sicher dadurch unser Guthaben überziehen und wir müssten dann später einen entsprechenden Betrag zurückzahlen?

Stellungnahme – Wenn auch vom persönlichen Willen geprägte intensive Gebete die Wirkungen bestimmter Ursachen zeitweilig verdrängen können, und nur in diesem Sinn könnte man sagen, dass ‘unser Guthaben überzogen würde’, können wir doch ganz sicher sein, dass die exakte Wirkung jeder Ursache uns im Laufe der Zeit einholt – und oft mit Zinseszins. Wir dürfen uns ja nicht vorstellen, dass Gebete – und seien es noch so viele – die Funktion des großen Gleichgewichtsgesetzes aufheben können. Es gibt keine ‘Vergebung der Sünde’ im gewöhnlich verstandenen Sinn. Weder Gebet noch ‘Vergebung’ können die Unbeugsamkeit des universalen Waltens der Natur beeinflussen, die Wirkung wird der Ursache folgen, ganz gleich, wie lang die dazwischenliegende Zeitspanne ist.

Frage – Wahrscheinlich betet jeder auf die eine oder andere Weise und wir wissen selbstverständlich, dass Jesus betete – schließlich wird ihm ja das Vaterunser zugeschrieben. Nun enthält dieses Gebet Teile, die anscheinend keinen Sinn haben, trotzdem habe ich sagen hören, dass die gesamte Lebensphilosophie darin zu finden sei.

Stellungnahme – Das Vaterunser enthält eine vollständige Philosophie vom rechten Leben. Das heute allgemein gebräuchliche Beten hat sich jedoch weit von den Geboten des Meisters Jesus entfernt, ja von den Geboten aller großen Weltlehrer. Das Gebet wird heute in zahlreichen Formen ausgeübt, die fast alle egoistischer Natur sind: Meistens werden mehr die eigenen Nöte in den Mittelpunkt gestellt als die der anderen; und schlimmstenfalls sind sie eine Ausbeutung des eigenen göttlichen Erbes. Damit meine ich jene Gebetsübungen, die jetzt immer populärer werden, mit denen man – wie gesagt wird – durch Konzentration auf eigene Wünsche ‘Macht, Wohlstand und Verstandeskräfte’ gewinnen würde. Diese Art Gebet ist voll konzentrierter Selbstsucht; sie ist daher äußerst gefährlich für den spirituellen Fortschritt des Ausübenden.

Richtig verstanden enthält das Vaterunser kein Jota Selbstsucht. Doch andererseits, wer von uns versteht wirklich, was der Meister Jesus meinte? Wir lernen das Gebet in der Kindheit und hören als Erwachsene, wie es in verschiedenen Frömmigkeitsvariationen vorgetragen und als Hymnus von Chören in aller Welt gesungen wird. Welchen Einfluss hatte es jedoch auf unser tägliches Verhalten?

Frage – Unsere Ansicht über das Beten hat sicher bei uns allen eine Reihe von Stadien durchlaufen. Wir lernten die üblichen Gebetsformen in Kirche und Sonntagsschule kennen; sie erschienen mir jedoch nie als brauchbar. Auch entsprachen sie dem, was das Gebet bewirken soll, insofern nicht, weil bei den meisten dieser Gebete etwas für die eigene Person herausspringen soll. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich kein Recht habe, um irgendetwas zu bitten, da ich im Vergleich zu anderen soviel besitze. Ich empfand vielmehr, dass ich anstatt um mehr zu bitten, für meine Habe danken müsse, um so wenigstens auf eine Art zu versuchen, gewissermaßen die Unkosten für meinen Aufenthalt hier zu bezahlen. Die Vorstellung, dass man zur Erreichung irgendeines besonderen weltlichen Zwecks direkt zu irgendeinem Wesen oder Gott betet, konnte ich nie billigen, sondern ich habe immer empfunden, dass die Natur, die im physikalischen Bereich alles gesetzmäßig abwickelt, auch im spirituellen Bereich diese Gesetze hat: Man wird immer in dem Maß empfangen, wie man gibt. Was kann uns dann das Gebet nützen?

Frage – Auch ich fühlte mich nie berechtigt, irgendwelche Dinge zu verlangen. Im Gebet sah ich immer eine Forderung, und da es für mich keinen persönlichen Gott gibt, den ich anerkennen kann, noch irgendein anthropomorphes Wesen, das ich um eine Gunst bitten könnte, so kann ich auch niemand finden, dem man danken müsste.

Stellungnahme – Ich verstehe genau, was Sie meinen. Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen der Vorstellung von einem Gott, der irgendwo außerhalb des Menschen im Raum wohnt und – wie man annimmt – für alles direkt verantwortlich ist, was nach unserer Erschaffung geschehen ist, und zwischen der Vorstellung von einer göttlichen Intelligenz im Herzen aller Dinge im Universum, vom Atom zur Sonne bis zu jedem von uns. Mit diesem letzteren Begriff sehen wir, soweit es das Gebet angeht, im Vaterunser (Matthäus 6, 9-13) nicht mehr ein Mittel zur Erfüllung unserer Bittgesuche, sondern vielmehr einen verbalen Ausdruck des edelsten Strebens, dessen der Mensch fähig ist.

Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name – Hier wendet sich der Meister an seinen inneren Vater, der nicht voll in uns inkarniert ist, weil wir den Punkt noch nicht erreicht haben, wo wir eins mit ihm geworden sind. Wenn wir an Paulus denken, der den Menschen in Körper, Seele und Geist einteilte, dann können wir den Vater in uns als einen Aspekt jener Göttlichen Intelligenz ansehen, der gleich zu werden unsere erhabene Aufgabe ist. Das wird äonenlange Zeitperioden beanspruchen, aber weil sich ein Funke des Göttlichen in jedem lebenden Organismus manifestiert, hat der Mensch die Möglichkeit dazu.

Dein Reich komme – Hier bitten wir, dass das Reich des Vaters, das im Himmel oder in den spirituellen Regionen und auch im Innern herrscht, ins Dasein treten möge. Das heißt, wir bitten oder streben nach der Fähigkeit, jenen Göttlichen Aspekt unserer Natur, ohne den wir nicht existieren würden, gerade hier auf der Erde in aktive Manifestation zu bringen.

Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden – Lasset die Werke der Göttlichen Intelligenz Eingang finden in alle Lebensangelegenheiten auf dieser Erde, wie sie im Himmel Ausdruck gefunden haben – Himmel als relatives Ideal verstanden, wie auch als mögliche innere Qualität, wie wir sie eines Tages entwickeln werden.

Unser tägliches Brot gib uns heute – Beachten Sie unser tägliches Brot heute. Wir werden nicht aufgefordert, die Bedürfnisse für die gesamte Zukunft zu sichern; auch sind mit ‘unserem täglichen Brot’ nicht nur die körperlichen Bedürfnisse gemeint, so wichtig sie auch sein mögen. Gib uns heute, was an Stärke, Weitblick und Weisheit benötigt wird, nicht nur für uns selbst, sondern für unsere Familie, unsere Nächsten, unsere Gemeinde, möglicherweise auch für unsere Nation und die ganze Menschheit. Diese Bedürfnisse mögen sich von den allereinfachsten bis zu den höchsten Charaktereigenschaften erstrecken, die wir zu entwickeln im Begriff sind und so den Vater in uns fügsam machen.

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern – Hier haben wir eine der brauchbarsten Regeln esoterischer Schulung vor uns, aber auch eine jener Regeln, die am meisten missverstanden wurden. Diese Bitte fordert vom inneren Vater nicht, uns unsere Fehltritte in dem Sinn zu vergeben, dass wir von der Verpflichtung ihrer Richtigstellung befreit werden. Auch sollen wir nicht um Vergebung bitten oder Charaktereigenschaften uns gegenüber verlangen, die wir unsererseits in unseren Beziehungen zu anderen nicht zum Ausdruck bringen. Genauso wie wir unseren Brüdern ihre Fehler nicht vorhalten, so bitten wir den Vater in uns, dessen Mitgefühl größer ist als unseres, uns die Irrtümer unseres Urteilsvermögens nicht vorzuhalten, die uns bei unserem Entwicklungsstreben unterlaufen. Das alte Gesetz des Ausgleichs, der Harmonie, das Gesetz des Karma wirkt hier. Was der Mensch sät, wird er ernten – Handlung, gefolgt von ihrer entsprechenden Auswirkung, gilt für alle Ewigkeit. Genau wie Karma die eine Seite der Münze ist, ist Mitleid oder Barmherzigkeit die andere Seite des gleichen universalen Gesetzes. Aber wir müssen aus unserem Herzen allen Groll und jedes Rachegefühl wegen Ungerechtigkeiten, die uns angetan wurden, entfernen, ehe wir den Vater in uns um ‘Gnade bitten’ für die Ungerechtigkeiten, die wir täglich an unserem wirklichen Selbst verüben.

Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen – Wörtlich genommen, handelt es sich hier um eine außergewöhnliche Äußerung, wenn dieses Gebet an Gott gerichtet ist, der angeblich der Vater alles Guten ist, dann wäre die Bitte, uns nicht in Versuchung zu führen, doch wirklich beleidigend, oder gibt es eine sinnvollere Deutung? „O Vater in uns, führe uns nicht von unseren Prüfungen und Schwierigkeiten hinweg, so dass wir, wenn wir sie tapfer annehmen, das Übel als solches erkennen und seine Macht über uns brechen können.“

Frage – Das gefällt mir viel besser. Ich konnte nie verstehen, warum wir den Vater bitten müssen, uns nicht auf schlechte Wege zu führen, und ich habe mich auch immer gefragt, warum das in einem Gebet enthalten ist, das angeblich von einem Erlöser stammt.

Stellungnahme – Sie sind nicht der einzige, der sich darüber wunderte. Wahrscheinlich hat jeder nachdenkliche Mensch nach einer Deutung gesucht, die seinen angeborenen ethischen Instinkt mehr befriedigt. Vor einigen Jahren hat ein Geistlicher der Anglikanischen Kirche auch tatsächlich eine Revision des Vaterunsers gefordert. Unser Satz müsste nach seinem Vorschlag wie folgt lauten: „Und lass uns nicht fallen, wenn wir versucht werden“, weil, wie er erklärte, „kein Christ annehmen kann, er würde von der Versuchung ausgenommen“. Deshalb sollte sich das Gebet auf ‘die Kraft, der Versuchung widerstehen zu können’, richten. Ganz bestimmt fördert diese Geisteshaltung unsere Charakterstärke mehr, als die schwächliche Bitte, jeder Versuchung ferngehalten zu werden. Wer ist letztlich stärker, mitfühlender und weiser: der Mensch, der von allen Verlockungen des Lebens abgeschirmt wird, oder der, der durch Versuchungen herausgefordert, diese als solche erkennt und sich seinen Weg auf sicheren Grund erkämpft? Bestimmt der letztere, denn auf diesen Menschen kann man sich verlassen; er hat die innere Struktur seiner Seele gestärkt.

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit – Ich weiß, dass einige Autoritäten diesen Satz für eine spätere Hinzufügung halten. Wie dem auch sei, wir können ihn in folgender Weise verstehen: Die Göttliche Intelligenz ist das wahre Reich und die einzige reale Kraft, und wenn ihre Werke auf dieser Erde in unserem eigenen Leben zur Manifestation gebracht werden, dann wird sie wahrhaftig für alle Ewigkeit als höchste Herrlichkeit gesehen werden.

Was ergibt sich dann aus dem Vaterunser in Verbindung mit Karma? Wir erkennen, dass das unzerstörbare Naturgesetz von Ursache und Wirkung nur ein Ziel hat: die Wiederherstellung von Gleichgewicht und Harmonie. Der Mensch hat daher die Pflicht, bewusst auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Bei diesem Tun entdecken wir: Gebet ist Pflichterfüllung im Licht unserer täglichen Verantwortung gegenüber unserem Schutzengel, der über jeden Aspekt unseres Lebens wacht. In dem Maß, wie wir mit dem göttlichen Inspirator zusammenarbeiten, bringen wir nicht unseren persönlichen Willen zum Ausdruck, sondern den spirituellen Willen des Vaters in uns.

Nach dem Tod: neues Leben

Frage – Bei unseren Diskussionen stießen wir auf den Begriff der Wiedergeburt. Zuerst erschien es mir unwahrscheinlich, dass ich nach meinem Tod wiederkehren soll. Aber je mehr ich mich damit befasse und je mehr mein Verstand alle möglichen Gegenargumente hervorbringt, desto mehr gewinne ich den Eindruck, dass doch etwas daran ist. Wann und wie entstand diese Reinkarnationsidee?

Stellungnahme – So wie ich Ihnen nicht sagen kann, wann die Sonne, der Mond und die Sterne ihre gesetzmäßigen und harmonischen Bewegungen aufnahmen, kann ich Ihnen auch nicht sagen, wann die Reinkarnation entstand. Ich kann lediglich feststellen, dass das Prinzip von Ebbe und Flut wohl eine der ‘ewigen’ Naturerscheinungen ist, denn das Gesetz der zyklischen Weiterentwicklung ist so alt wie die Welt. Es war bereits wirksam, als sich das Sonnensystem bildete, und noch ferner in Raum und Zeit war es auch schon in Funktion, als unser Heimatuniversum mit seinen zahllosen Milchstraßen und Sonnensystemen zuerst aus der Finsternis des Raumes hervorbrach. Die Ausdrucksformen dieses Gesetzes auf unserer Erde sind vielfältig: Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit, Tätigkeit und Ruhe – alle sind verschiedene und individuelle Arten der Ebbe und Flut des vorwärts drängenden Lebens. Die gesamte Natur unterliegt so diesem einen Gesetz der Formerneuerung: Geburt und Tod, Tod und Geburt, damit der innewohnende Geist neue Körper erhält. Reinkarnation bezieht sich auf die Wiedergeburt der Seele hier auf der Erde – sie ist eine spezielle Form des allgemeinen Gesetzes der Erneuerung oder der Wiederverkörperung.

Frage – Die Idee der Reinkarnation ist für viele von uns neu. Von meiner Schulzeit her erinnere ich mich natürlich, dass Shelley, Wordsworth und Tennyson und auch Goethe von anderen Welten sprachen, von denen sie gekommen sind, und dass sie „früher hier gewesen sind“. Ich hielt das lediglich für einen dichterischen Einfall. Mir gefiel die Anmut ihrer Werke, aber ich hätte nie gedacht, dass sie es wörtlich meinen könnten. Jetzt da ich älter werde, bin ich dessen nicht so sicher. War diese Anschauung zu anderen Zeiten bekannt?

Stellungnahme – Sie war es; wenn wir die Schriften des Orients, Kleinasiens, Griechenlands und Persiens überprüfen, finden wir in der Tat in der einen oder anderen Form klare Hinweise, dass dort die Idee der Wiedergeburt bekannt war. Die heilige Überlieferung behauptet, dass wir im innersten Kern Götter sind, potenzielle Gottheiten, in unaufhörlicher Aktivität darum bemüht, unseren Weg zu finden; und in dieser Bestrebung sind wir, ob es uns bewusst ist oder nicht, seit unzähligen Zeitaltern wieder und wieder als Menschen von und zu dieser Erde gegangen, weil die spiralförmige Entwicklung eine fundamentale Gewohnheit der Natur ist – Aktion gefolgt von Reaktion, Ursache gefolgt von Wirkung. Daher war die Idee der Wiedergeburt immer mit dem Begriff der Gerechtigkeit verbunden: Was ein Mensch heute sät, muss er später ernten, wenn die zyklische Runde von Ursache und Wirkung wiederkehrt, sei es in diesem Leben oder in einer zukünftigen Existenz. Ich möchte Sie jedoch darauf aufmerksam machen, dass es viele irrige Vorstellungen über die Reinkarnation gibt.

Einige der östlichen Anschauungen führen zum Beispiel zu der Annahme, man müsste nach einem schlechten Lebenswandel als Tier zurückkehren. Solche Anschauungen bildeten sich, weil diese östlichen Vorstellungen in gewisser Hinsicht ebenso zum Dogma wurden wie die unseren. Ich glaube nicht, dass in den ursprünglichen hinduistischen und buddhistischen Lehren die Transmigration der Seele Verstorbener in Tierkörper enthalten war, obgleich man in den Texten Abschnitte finden kann, die diese Ansicht anscheinend stützen. Diese Stellen haben jedoch lediglich Bezug auf die zeitweilige Transmigration bestimmter niedriger Elemente des ‘gewesenen Menschen’ in Körper der niederen Naturreiche. Das hat, wie gesagt, mit der reinkarnierenden Seele überhaupt nichts zu tun.

Frage – Sie glauben, es gibt keine Möglichkeit als Tier zurückzukehren, selbst nicht auf Grund eines Irrtums?

Stellungnahme – Überhaupt keine Möglichkeit, denn es widerspräche absolut den vorwärts drängenden Entwicklungsprozessen der Natur, wenn die menschliche Seele in einen Körper zurückgehen könnte, der entwicklungsmäßig unter dem menschlichen steht. Das ist nicht Reinkarnation oder Wiederverkörperung, wie sie von den Weisen aller Länder und Zeiten gelehrt wurde, sondern eine degenerierte Anschauung, die falsch ist und den Tatsachen absolut zuwiderläuft.

Die echte und ursprüngliche Lehre der Wiedergeburt oder Reinkarnation sagt eindeutig: „Einmal ein Mensch, immer ein Mensch“ (siehe Das Meer der Theosophie, S. 96) – solange bis er sich zu etwas Höherem entwickelt. Stellen Sie sich für einen Augenblick die ungeheure Ungerechtigkeit vor, die der Seele eines Menschen widerfahren würde, wäre es durch einen Akt schwarzer Magie möglich, sie zu einer Inkarnation in einen Tierkörper zu zwingen, in dem sie keine Ausdrucksmöglichkeit für die göttlich-menschlichen Eigenschaften hätte. Versuchen Sie einmal sich vorzustellen, Sie müssten mit Ihrer Intelligenz- und Bewusstseinsstufe einen großartigen Sonnenuntergang aus den Augen Ihres Hundes betrachten; fühlen Sie, was für eine Torheit und was für eine Qual des Beengtseins das für Sie wäre.

Nein! Sobald wir mit Unterstützung unseres göttlichen Funkens das Menschsein verdient haben, gehen wir nicht mehr zurück, außer – und das ist die einzige Ausnahme – die Seele bricht durch bewusste Missetaten über eine lange Reihe von Leben absichtlich die Verbindung mit ihrem inneren Vater ab. Dann wird aus ihr durch ihre selbstgewollte Rückwendung wirklich eine ‘verlorene Seele’, die ihr Recht auf die Teilnahme an dem voranschreitenden Strom der Entwicklung verloren hat. Glücklicherweise ist ein derartiger ‘Bruch’ des göttlichen Kontakts in der Tat äußerst selten; wenn er vorkommt, dann können die individuellen atomaren Elemente, die ehedem von der ‘verlorenen’ Seele beherrscht wurden, in unter dem Menschen stehende Lebensformen eintreten, in tierische oder in pflanzliche Körper, weil sie sehr stark mit submenschlichen Tendenzen durchtränkt worden waren. Das ist jedoch nicht das Schicksal der aufwärts strebenden menschlichen Seele, die, verbunden mit ihrer Gottheit, mit jeder neuen Wiedergeburt auf der Erde nach Erweiterung des Verstehens und des Bewusstseins strebt.

Frage – Diese Vorstellung ist großartig. Warum wird uns aber in der Kirche nichts über Reinkarnation gesagt?

Stellungnahme – Das ist eine lange Geschichte und ich möchte nicht versuchen, den Grund zu nennen, weshalb die frühen Kirchenväter bei der Behandlung der christlichen Schrifttexte gewisse diesbezügliche Lehren entweder ausgemerzt oder zumindest weggelassen haben – Lehren, die nicht nur den Begriff der Wiedergeburt zum Gegenstand hatten, sondern auch andere Dinge, die von der Beziehung der Seele zum gesamten Sonnensystem handeln. Diese Ideen hätten eine umfassendere und universalere Philosophie ergeben als die jetzt im Glaubensbekenntnis enthaltene. Tatsächlich wurde gerade die Lehre von der Notwendigkeit wiederholter Erdenleben der Seele bei einem der frühen Kirchenkonzile öffentlich mit dem Kirchenbann belegt. Mit anderen Worten, sie wurde formell aus dem vorgeschriebenen Glaubensbekenntnis der christlichen Kirche gestrichen – ein Ereignis, das eine der Stufen auf dem Weg zur Kristallisation markierte und damit den Niedergang des echten Christentums. Die Botschaft des Meisters Jesus war damit für die damalige Bevölkerung keine lebendige und wachsende Suche nach Wahrheit mehr, sondern sie verhärtete sich zu einem wohldefinierten und organisierten Glauben: Als Ermahner des Menschen trat an die Stelle der eigenen inneren Führung das Glaubensbekenntnis der Kirche. Trotzdem kann man in der Heiligen Schrift, selbst in ihrem heutigen Zustand, Hinweise auf die Idee der Wiedergeburt finden. Man muss danach graben, weil sie eher beiläufig als direkt vorkommen; dennoch zeigen sie die damals weitverbreitete Geltung der Wiedergeburt bei den Völkern Kleinasiens.

Frage – Wo können wir solche Stellen in der Bibel finden?

Stellungnahme – Die erste, die mir einfällt, steht wohl bei Matthäus, wo Jesus seine Jünger fragt: „Für wen halten die Leute den Menschensohn?“ Und sie erwiderten: „Die einen für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für Jeremia oder sonst einen Propheten“ (Matthäus 16, 13-14). Warum wohl würde Jesus seinen Jüngern eine derartige Frage stellen, wenn der Begriff der Wiedergeburt nicht eine allgemeine Vorstellung gewesen wäre? Er fragte nicht, ob die Menschen glaubten, dass er zuvor gelebt habe; sondern weil er das voraussetzte, fragte er einfach, wer er nach ihrer Ansicht gewesen sein könnte.

Und wie ist es bei der Geschichte des Blindgeborenen im Johannesevangelium? Wir kennen alle die Stelle, wo Jesus einem Mann begegnete, der von Geburt an blind war, und seine Jünger ihn fragten: „Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, so dass er blind geboren wurde?“ Und erinnern Sie sich der Antwort Jesu?: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden“ (Johannes 9, 2-3). Beachten Sie bitte, dass sich Jesus nicht darüber aufhielt, ob dieser Mensch schon früher gelebt hatte oder nicht – die von den Jüngern gestellte Frage setzt das voraus, denn dieser Mensch konnte in diesem Leben nicht gesündigt haben, wenn er von Geburt an blind war. Der wichtige Punkt ist hier, dass Jesus den ganzen Komplex von Aktion und Reaktion, von Ursache und Wirkung, von der ‘Auge-für-Auge’-Ebene emporhebt zu dem größeren und mitleidsvolleren Gesichtspunkt, dass Karma weder eine Strafe, noch notwendigerweise eine Vergeltung ist, sondern immer eine Entwicklungsmöglichkeit für die Seele. So zeigte er die Blindheit nicht als Strafe, sondern als einen Erfahrungsweg, durch den das ‘Wirken Gottes [unseres inneren Gottes] an ihm offenbar werden soll’, wodurch sich das GESETZ oder die Entfaltung des inhärenten Schicksals des Blinden vollziehen kann.

Frage – Natürlich ist uns allen der Ausspruch des Paulus bekannt: „Gott lässt keinen Spott mit sich treiben“ (Galater 6, 7); und was wir säen, müssen wir eines Tages ernten. Wie lassen sich aber die schrecklichen Ungerechtigkeiten im Leben mit einem allliebenden Gott vereinbaren?

Stellungnahme – Das ist gerade der springende Punkt. Wir können beides nicht zusammenbringen, wenn wir die Erfahrung der Seele auf eine kurze Spanne von etwas mehr als 70 Jahre begrenzen. Wie könnten wir sonst die Wirkungen unserer Aussaat ernten? Nein, die Idee der Wiedergeburt ist im Grund ein Begriff der Hoffnung, weil sie uns im Ablauf der Zeit die absolute Durchsetzung der Gerechtigkeit garantiert.

Frage – Ich möchte eine Frage stellen, die mich schon immer beschäftigt hat. Verlieren wir unsere Persönlichkeit, wenn wir sterben? Werde ich mich zum Beispiel wiedererkennen, wenn ich wieder zurückkehre?

Stellungnahme – Hatten Sie dieses Mal Schwierigkeiten Ihre Individualität wiederzuerkennen? Nein, Sie nehmen sich, wie Sie sind, mit allen Ihren Stärken und Schwächen – Sie sind sich so vertraut wie die Luft, die Sie atmen, weil Sie einfach durch die Zeitalter hindurch mit sich selbst gewachsen sind. Die Persönlichkeit ist jedoch nicht Ihr wirkliches Selbst, sie ist nur eine Maske, die Sie tragen, und diese Maske wurde viele tausendmal gewechselt, während Sie Ihre verschiedenen Rollen in dem langen Drama der Erfahrungen spielten. Daher verlieren wir beim Tod alles, was mit der speziellen Maske zusammenhängt, die wir gerade trugen; mit anderen Worten wir verlieren unser physisches Gehirn und unseren Körper, mit welchen wir als Frau Müller oder als Herr Schmidt auftraten. Das reinkarnierende Element, das sich in irgendeinem Leben als Frau Müller oder als Herr Schmidt äußert, kehrt jedoch wieder und wieder zurück und nimmt jedesmal eine neue Persönlichkeit an, ein neues Gehirn und einen jungen physischen Körper, erfrischt und mit neuem Leben erfüllt und durch Karma genau entsprechend abgestimmt, damit wir in ihm wachsen und die Lektionen des neuen Lebens lernen können. Warum wurde wohl gesagt: „Wir sind doch der Tempel des lebendigen Gottes“ (2 Korinther 6, 16) – eines lebendigen Gottes, der in unserer und durch unsere Persönlichkeit wirkt?

Frage – Was reinkarniert denn eigentlich? Ist es der göttliche Funke oder der lebendige Gott?

Stellungnahme – Der göttliche Funke selbst reinkarniert ebensowenig, wie die Sonne ihre Bahn der Pflicht verlässt. Dennoch – so wie die Wärme und das Licht der Sonne alle zwischen Sonne und Erde liegenden atmosphärischen Schichten durchdringt, so ist es auch beim Menschen. Der Funke der Gottheit verbleibt transzendent in seiner eigenen göttlichen Bahn, doch sein Licht oder seine vitale Essenz durchdringt unser ganzes Wesen, sammelt seine Energie in der spirituellen Seele, damit er das höchste mentale oder wirkliche Zentrum des Menschen, unser höheres Selbst, erleuchten kann. Es ist deshalb jenes alles überdauernde, unsterbliche Element in uns, das von Leben zu Leben weiterexistiert und sich mit jeder Geburt auf der Erde in einer neuen Persönlichkeit verkörpert. Das göttliche Wesen an sich muss jedoch Zwischenstufen oder ‘Transformationen’ in uns haben, die seine eigene höhere Spannung herabtransformieren; es reinkarniert daher nicht direkt. Dennoch könnte das reinkarnierende Element nicht getrennt von seinem göttlichen Ursprung existieren oder tätig sein, so wie der Sonnenstrahl nicht existieren oder tätig sein könnte, wenn er von seinem solaren Ursprung losgelöst wäre, von dem er ausgeht, um nicht nur der Erde und all ihren Geschöpfen Leben und Kraft zu spenden, sondern auch dem ganzen Herrschaftsbereich des Sonnensystems.

Frage – Der Gedanke, eine Vertrautheit mit dem inneren Vater zu entwickeln, scheint den meisten von uns sehr fern zu liegen. Wenn wir ernten, was wir säen – und persönlich halte ich das für richtig –, dann müssen wir logischerweise seit sehr langer Zeit gesät und geerntet haben. Das allein erscheint gleich einer Last, die kaum getragen werden kann: dass wir seit Tausenden von Zeitaltern allein kämpfen mussten, zahllose Fehler begingen, zahllose Äcker mit ‘Unkraut’ besäten, ohne die Kraft und Kenntnis uns richtig anzuleiten.

Stellungnahme – Aber wir waren nicht allein und wir sind auch jetzt nicht allein. Als unser göttlicher Funke uns aus dem Garten Eden hinausführte und dem Sinn nach sagte: Du hast bis zu diesem Punkt einen langen Weg hinter dir, nun hast du dir das Recht verdient, dein Schicksal selbst zu gestalten – da verließ uns jenes göttliche Wesen nicht. Es zog sich tief in unsere Seele zurück und ist dort auch heute. Jeden Tag unseres Lebens sagt es zu uns, wenn wir nur hören wollten: Du bist mein verlorener Sohn. Gehe deinen Weg, überwinde alles, ganz gleich, was du dir an Schmerz und Leid und Freude selbst geschaffen hast. Aber denke daran, von jetzt an musst du mit deinem eigenen freien Willen die Zyklen der Lebenserfahrungen durchwandern. Denn wenn du deinen Weg zu mir zurückerkämpft hast, wirst du stark und innerlich bereichert sein – du wirst in Wirklichkeit ein Gott sein gleich mir.

Dieser göttliche Funke ließ uns nie im Stich und er wird es auch nie tun; denn es entspricht geradezu seiner Natur, immerfort seinen Einfluss auszustrahlen, nicht nur bis wir seine Gegenwart erkennen, sondern bis wir uns entschließen, fortan mit ihm zusammenzuarbeiten und ihm gleichzuwerden.

Nein, wir waren nie allein, noch tragen wir die gesamte Last vergangenen Irrtums in einem Leben. Andererseits haben wir in unseren vielen tausend Leben im Garten unserer Seele doch auch herrliche Blumen gesät und nicht nur Unkraut! Wir brauchen nie das Gefühl zu haben, unsere Last nicht tragen zu können: „Gott bemisst die Bürde nach den Schultern“ – was nicht heißen soll, dass die Göttliche Intelligenz jeden mit einem Meterstab misst und uns gerade soviel Last auferlegt und nicht mehr, als wir heute und morgen und übermorgen tragen können: Das muss sie nicht, weil in jedem von uns sein individueller Vertreter ist, ein Funke jener allumfassenden Gottheit, der unser eigenes unsterbliches Selbst ist, mit dem wir schließlich voll vertraut werden. So ist es in aller Wahrheit unser Vater, der als unser Beschützer wirkt und der uns nur den Anteil unseres Karma zu handhaben gestattet, den wir entsprechend unserer Stärke und Reife tragen können.

Wenn unsere Schwierigkeiten anscheinend unerträglich sind, können wir Mut schöpfen in dem Bewusstsein, dass in uns jene Schutzmacht ist, die uns die Kraft und die Weisheit zur Bewältigung der Herausforderung sicher stellt. Allein die Tatsache, dass wir heute auf der Erde leben, ist ein Beweis, ein großartiger Beweis, dass wir die Fühlung mit unserem inneren Gott nicht verloren haben – sonst wären wir nicht hier als lernende, strebende Menschenseelen.

Vererbung und Umwelt

Frage – Meines Wissens sind Vererbung und Umwelt die beiden Hauptfaktoren in der Evolutionstheorie. Wenn die Reinkarnationslehre richtig ist, wie passt dann die Vererbung dazu? Wir wissen, dass bestimmte Gesetzmäßigkeiten gefunden wurden, welche die physische Vererbung beweisen, und dass auch die Umwelt eine bedeutende Rolle bei unserer Entwicklung spielt. Andererseits werden manchmal in ungebildeten Familien geniale Menschen geboren. Demnach scheinen diese Regeln nur für den physischen Bereich zu gelten. Kann man von der menschlichen Seele sagen, wenn man sie ebenfalls in den Untersuchungskomplex einbezieht, sie bekäme auch ihre emotionellen, intellektuellen und spirituellen Eigenschaften von den Eltern vererbt?

Stellungnahme – Denken Sie auch an den weiteren Faktor bei der Evolution, der nicht übergangen werden darf: an den Komplex, der sich aus der Ernte der Auswirkungen von Gedanken und Handlungen ergibt, die in früheren Leben ‘gesät’ worden sind. Wir beginnen das Leben mit einem großen Bestand nicht ausgeschöpften Karmas, das sich notwendigerweise irgendwann und irgendwo auf dieser Erde auswirken muss – in einer Umwelt, in der sich diese früher geschaffenen Charakterkeime entfalten können.

Frage – Es wurde nachgewiesen, dass das Gesetz von Ursache und Wirkung die physische Vererbung beherrscht; wenn man zum Beispiel ein schwarzes und ein weißes Kaninchen miteinander kreuzt, kann der Wissenschaftler genau sagen, was durch die Gene und Chromosomen in den nächsten zehn Generationen hervorgebracht wird. Und jetzt will man noch nachweisen, dass durch die Gene und Chromosomen der Eltern auch die psychischen und mentalen, ja alle Fähigkeiten, die man besitzt, vererbt werden. Aber sicher muss dieser letztere Punkt noch ernsthaft erforscht werden?

Stellungnahme – Die Natur folgt gewöhnlich einer allgemeinen Regel: ‘Wie unten, so oben; wie oben, so unten’, wie das hermetische Axiom sagt. Wenn wir nicht wissen, wie diese Regeln auf den höheren Ebenen unserer Konstitution Anwendung finden, bedeutet das noch lange nicht, dass sie sich im Prinzip ändern. Ihre Anwendung mag sich im Physischen anders auswirken als im Mentalen.

Wir wollen jetzt an das Vorhergehende anknüpfen und die Vererbung unter dem Gesichtspunkt mehrerer Leben überdenken. ‘A’ wird einem bestimmten Elternpaar geboren. Körperlich wird ‘A’ gewisse Merkmale aufweisen, wie sie bei Vater und Mutter oder in der Familienlinie auftreten. Aus welchem Grund wird aber ‘A’ in dieser Familie geboren und nicht in einer anderen? Ist es nur Zufall? Nein, ‘A’ kommt bei dem Vater und bei der Mutter, an dem bestimmten Ort und zu der bestimmten Zeit und unter den dort herrschenden Umweltbedingungen zur Welt, die dem Karma des reinkarnierenden Elements, das zur Welt kommen will, genau entsprechen. Nach meiner Ansicht könnte unmöglich ein Kind geboren werden, wenn nicht ein starker magnetischer Zug, eine aus Liebe oder Hass gebildete Anziehung diese Seele zu ihren Eltern gedrängt hätte.

Man könnte also sagen, dass ‘A’ aus seiner eigenen Vergangenheit gerade die Eigenschaften vererbt bekommt, die ihm seine Eltern durch das Medium der physischen Elemente, die Gene und Chromosomen usw., scheinbar übertragen. Aber das Warum wird dadurch nicht erklärt, wenn man nicht die Rolle sieht, die das reinkarnierende Element bei dem Prozess des Zurweltkommens durch Vater und Mutter spielt.

Die Regeln ändern sich an keinem Punkt der Linie, von Physischen aufwärts und umgekehrt – sie scheinen sich nur zu ändern, weil die Wissenschaft nur im physischen Bereich liegende Beobachtungen katalogisiert und gewisse Schlüsse daraus zieht. Sie ist aber nicht in der Lage, die feineren Aspekte des Denkvermögens und der Seele zu registrieren.

Frage – Obgleich man die Mutter und den Vater auswählt, die einem die Merkmale geben können, die den eigenen ähnlich sind, glauben Sie also, dass man in Wirklichkeit sich selbst vererbt?

Stellungnahme – Ja, genau das glaube ich: Jeder vererbt sich selbst aus seiner eigenen Vergangenheit. Bewusst oder unbewusst wählen wir unsere Eltern deshalb, weil die Charakteristika so ähnlich oder weil sie den unseren diametral entgegengesetzt sind. Sowohl Liebe wie Hass sind in ihrer Anziehungskraft magnetisch, daher werden manchmal Kinder bei Eltern geboren, wo zwischen dem Kind und einem oder beiden Elternteilen große Abneigung oder Feindschaft besteht.

Frage – Verstehe ich richtig, unsere Seele ist, was wir aus uns selbst in der Vergangenheit gemacht haben?

Stellungnahme – Ein Teil dessen, was wir in der Vergangenheit aus uns machten.

Frage – Ja kann man sagen, dass unsere Seele bei unserem Tod zu einer Art Ruhe geht und sich ungefähr so in sich selbst zurückzieht, wie eine Pflanze in ihren Samen übergeht? Ich versuche, unseren seelischen oder mentalen Teil mit dem physischen Körper zu verbinden, der das Leben als eine Keimzelle beginnt und Gene und Chromosome besitzt.

Stellungnahme – Ich verstehe und Sie sehen da etwas Wichtiges. Das erinnert mich an die Geschichte in den Upanishaden, wo ein alter Weiser seinem Schüler von dem innewohnenden Geist erzählt. Er bittet ihn um die Frucht eines großen Feigenbaums. „Brich sie auf und sage mir, was du siehst.“„Nur diese äußerst winzigen Samen“, antwortete der Junge. „Öffne nun einen der Samen und sage mir, was du siehst.“ „Gar nichts“, lautete die Antwort. Der Weise erläuterte dann, dieses „Nichts“ sei „das Wahre, das Selbst“, die unwahrnehmbare Essenz, die der Anlass sei, dass die Frucht oder der Baum und alle geoffenbarten Dinge ins Dasein träten; und dass alles andere, die Fruchtkörper, die Schale, das Fruchtfleisch usw. lediglich die Formen seien, die das Selbst annähme.

Das ist wohl der Schlüssel, mit dessen Hilfe man die geheimnisvolle verborgene Grundlage der Kontinuität des Lebens besser verstehen kann. Jeder einzelne ist wie der Feigenbaum das direkte Resultat der Tätigkeit jenes innewohnenden Geistes. Nennen Sie ihn, wie Sie wollen – Vater im Innern, Schutzengel, monadische Essenz des Seins oder jenes unbekannte Etwas, das sogar die Struktur des DNS Moleküls bestimmt – die Tatsache bleibt, dass wir, wenn wir diesen feinen Wesenskern nicht hätten, ohne Identität, ohne Kontinuität und ohne Leben umhertreiben würden.

Frage – Würden Sie also sagen, dass die Seele der Feige oder die eines Menschen beim Tod wirklich in das ‘Nichts’ eingeht – wenn wir unter dem ‘Nichts’ einen unmanifestierten oder latenten Zustand verstehen? Wenn die Gene und Chromosomen die Ausdrucksmittel der Keimzellen des physischen Körpers sind, könnte es dann nicht eine spirituelle Keimzelle geben, die sich als unsere Persönlichkeit oder als unser menschliches Ego zum Ausdruck bringt? Nach meiner Meinung sollte alles durchgehend zusammenhängend sein.

Stellungnahme – Es ist prinzipiell zusammenhängend, obgleich wir nicht immer erkennen können, wie es sich auswirkt. Was bleibt übrig, wenn man das Fruchtfleisch, die Schale und selbst den Kern entfernt? Nichts, rein gar nichts. Trotzdem wissen wir, dass ein Etwas vorhanden ist, eine ‘feine Essenz’, wie es die Upanishad nennt; sie muss vorhanden sein, sonst gäbe es weder die Frucht, den Baum, noch den Menschen. Was ist es? Es ist das Bewusstsein, die Keim-Essenz, wenn Sie wollen. Man könnte also sagen, das die Seele des Menschen, wenn er stirbt, wieder ein Keim-Bewusstsein wird. Es ist bestimmt nicht materieller Natur, man kann physische Materie überhaupt nicht damit in Verbindung bringen.

Frage – Sie sagen, keinesfalls ‘materieller Natur’. Meinen Sie das wörtlich? Ich dachte immer, dass Materie, wenn man weit genug geht, in Geist übergeht und Geist in Materie; oder ist es nur eine relative Sache?

Stellungnahme – Wiederum prinzipiell gesprochen, sind Materie und Geist eins – zwei Seiten einer Münze –, weil die auf ihrer Elemente zurückgeführte Materie Geist und manifestierter Geist Materie ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir zwischen Materiellem und Spirituellem nicht unterscheiden sollen. Um auf das Keim-Bewusstsein zurückzukommen, ob das eines Menschen oder das einer Pflanze: Wenn dieser Keim sich manifestieren will, nimmt er Substanzen verschiedener Ebenen oder Abstufungen an, so dass er sich zum Ausdruck bringen kann. Aber in seinem ‘Nichts’ oder in seiner Keim-Essenz, ist er Bewusstsein, Geist in verschiedenen Dichtegraden. Man kann natürlich nicht sagen, dass Bewusstsein ‘nichts’ ist – denn Bewusstsein ist das Allerlebendigste, ja in der Tat die Keim-Essenz der Gottheit, die nur vom materiellen Blickpunkt aus gesehen anscheinend ein ‘Nichts’ ist. Aber wir wollen nicht zu weit abschweifen.

Frage – Wo beginnt die Vererbung durch die Eltern und wo hört sie auf; wo treten andere Faktoren hinzu?

Frage – Können wir die mentalen und emotionellen Aspekte damit verbinden? Vorhin wurde behauptet, Vater und Mutter würden den physischen Körper beistellen. Nehmen wir einmal an, Vater und Mutter besäßen auch mentale und emotionelle Eigenschaften, die bestimmte Ergebnisse hervorbringen könnten, zum Beispiel ein Genie oder einen Idioten, einen beständigen oder einen unbeständigen Charakter. Könnte man dann sagen, dass das zur Welt kommende Kind seine Eltern nicht nur des physischen Körpers wegen auswählt, sondern auch wegen der seinem Karma entsprechenden emotionellen, mentalen und psychischen Fähigkeiten?

Stellungnahme – Allgemein gesehen haben Sie recht, aber beim Menschen müssen wir immer in Betracht ziehen, dass bei ihm hinter und über der physischen Übertragung durch Gene und Chromosomen sowohl der freie Wille wie auch der höhere Bewusstseinsgrad wirksam ist. Wir sollten auch die Tatsache im Auge behalten, dass wir unmöglich in einer einzigen Lebensspanne die Gesamtheit unserer karmischen Verpflichtungen bewältigen können. Wir können in der normalen Lebenszeit nur eine kleine Teilauslese handhaben.

Es spielt keine große Rolle, in welche Rasse, Familie oder Nation ein Kind hineingeboren wird. Wenn im Bewusstsein des zukünftigen Kindes der Durst nach Leben erwacht, beginnen sich die inneren Impulse zu regen und an ihrem Ruheplatz zu erwachen. Sie drängen die Seele aus ihrer Himmelswelt hinaus in eine weitere Erfahrungsperiode auf der Erde. Die Keim-Essenz, das spirituelle und das höhere mentale Bewusstsein ziehen durch Karma die notwendigen psychischen und physischen Elemente an, damit die spezifische Art der Verpflichtung für das neue Leben erfüllt werden kann.

Frage – Mit anderen Worten, die Seele wird zu jenen Eltern hingezogen, die ihr die notwendigen physischen, emotionellen und mentalen Charakterzüge vererben können?

Stellungnahme – Ich gebrauche das Wort ‘vererben’ mit seiner gegenwärtigen wissenschaftlichen Bedeutung nur ungern. Es ist zu einschränkend. Lassen Sie uns lieber sagen, die Seele wird zu den Eltern hingezogen, die als Mittler für die Bereitstellung von Körper und Umwelt dienen können. Sie statten den Körper nicht aus, aber sie sind entschieden das Medium, durch welches sich alle Aspekte, von den physischen bis hinauf zu den höheren mentalen und spirituellen, manifestieren können. Aber Sievererbten’ sich selbst, weil Sie selbst aus langen Zeitaltern der Erfahrung herkommen.

Nehmen wir das Geheimnis der Vereinigung von zwei winzigen Zellen bei der Empfängnis. Tausende von Samen werden vom Vater abgegeben, aber einer, nur ein einziger von zahllosen anderen verbindet sich mit einer Eizelle der Mutter und der großartige embryonale Entwicklungsprozess beginnt. Die Eltern formen den Embryo nicht, noch verursachen sie sein Wachstum. Der geheimnisvolle Wachstumsvorgang findet statt, weil die Seelen-Essenz des werden Kindes – das ‘Nichts’, das eine Feige zu einer Feige werden lässt – das embryonale Wachstum von der Empfängnis an leitet, bis genügend von den Lebensatomen, die ihm in vergangenen Zeiten zugehörten, zu ihm hingezogen wurden. Diese Lebensatome gehören ihm jetzt; die Eltern geben sie ihm nicht. Sie sind lediglich das Medium, durch das diese Lebensatome zu jener Kombination von Elementen vereinigt werden, die sich bei der Geburt auf dieser Erde als Mensch manifestiert.

Frage – Was meinen Sie mit Lebensatomen?

Stellungnahme – Genau was der Begriff aussagt – das Lebens-Prinzip oder die vitalisierende Essenz in den auf jeder Ebene existierenden atomaren Teilchen.

Frage – Was kann man über die Weitergabe von Eigenschaften sagen, die offensichtlich von Generation zu Generation übertragen werden?

Stellungnahme – Alles, was wir als Vererbung ansehen, ist nichts anderes als der Prozess eines sich wiederverkörpernden menschlichen Egos, das sich für eine Lebensspanne ins Dasein bringt durch die Vermittlung von Eltern, die selbst gewisse Eigenschaften haben, die mit seinen eigenen sympathisieren. Die einzelnen Kinder in einer großen Familie sind zum Beispiel ganz verschieden und doch besitzen alle Eigenschaften, die dem Familienstrom gemeinsam sind. Mit anderen Worten, die zur Welt kommende Seele verwendet das Familienkarma als Ausdrucksmöglichkeit; die Eltern erschaffen jedoch das Kind nicht, weder physisch noch mental noch spirituell. Sie sorgen für das umweltliche Bühnenbild. Jeder Mensch hat eine große Reserve karmischer Energie, die in einem Leben diesen und in einem anderen jenen Weg einschlägt. Es mag sein, dass wir im Gegensatz zu unseren jetzigen Lebenserfahrungen im nächsten Leben ganz andere Erfahrungen benötigen, um das Entwicklungsschema auszugleichen, das wir brauchen, damit wir das Ziel erreichen: die bewusste Zusammenarbeit mit unserem höheren Selbst.

Wir können zusammenfassen und sagen, die Vererbung ist, wie dargestellt wurde, nichts anderes als ein Teilaspekt aus dem größeren Lebensmuster, der bei wissenschaftlicher Klassifizierung anscheinend aus eigenen Gesetzen besteht, der jedoch in Wirklichkeit vom Standpunkt des Individuums aus gesehen nur ein kleiner Teil des Ganzen ist.

Über Vererbung zu sprechen, als sei sie das vollständige Bild, gleicht der Betrachtung einer prächtigen Landschaft durch einen schmalen Spalt. Wenn auch die göttliche Facette unserer Natur eine nur wenig erkennbare Rolle spielt, so ist sie dennoch die hervorbringende Ursache; in unserem gegenwärtigen Entwicklungsstadium ist das menschliche Ego der Träger der Verantwortung. Natürlich konzentrieren sich die Wissenschaftler auf die physischen Eigenschaften, die sie bis ins kleinste katalogisiert haben, sie vergessen jedoch, dass diese physischen und selbst die mentalen und emotionellen Eigenschaften keine Existenz hätten, wäre nicht der innewohnende Geist. Dieser ist es, die Keim-Essenz, die für den Start der ganzen Reaktionskette verantwortlich ist, durch die eine Seele ins irdische Dasein gebracht wird.

Das Leben baut seine fortdauernde Existenz nicht auf nichts auf. Es existiert aus sich selbst, gerade wie der Feigenbaum auf Grund der unsichtbaren Essenz in seinem Samen existiert. Und wer kann sagen, dass wir Menschen nicht einer ähnlichen Ordnung folgen: Geburt der Seele, Wachstum zur Reife, Tod, Assimilierung unserer Erfahrungen, Ruhe und Verjüngung, erneuter Durst nach Leben und in entsprechender Zeit, Schwangerschaft und Wiedergeburt – um erneut die Aufgabe der Kontinuität aufzunehmen, an der die ganze Natur teilnimmt.

Die Brücke der Verständigung

Bei der Darstellung der uralten kosmologischen Lehren und Menschheitsgesetze sollten wir uns bewusst sein, dass keiner der Weltlehrer die Gründung einer großen und mächtigen Organisation beabsichtigte. Die von ihnen dargebotenen Lehren stammten frisch aus der Quelle – und was aus dieser Quelle stammt, unterstützt die selbstlose Entwicklung. Sie boten keine vorgeschriebene Reihe von Dogmen an, sondern eine lebendige Lebensphilosophie für den einfachen Menschen zum Gebrauch im Alltag. Im Laufe von Jahrhunderten gerieten dann viele der grundlegenden Schlüssel in Vergessenheit, wenn sie nicht ganz verloren gingen. Wenn wir unvoreingenommen sind, können wir trotz alledem erkennen, dass die Schlüssel zu diesen universalen Lehren vorhanden sind – in den christlichen Schriften genauso wie in allen heiligen Büchern. Während die meisten Dogmen, die in den Tempeln und Kirchen gelehrt werden, von den Gläubigen buchstäblich aufgefasst werden, finden wir andererseits viele Menschen, die hinter den äußeren Formen suchen und nach dem Kern der ursprünglichen Wahrheit forschen.

Darum ist es so wichtig, ein vernünftiges vergleichendes Religionsstudium zu betreiben – nicht nur als intellektuelle Betätigung, sondern hauptsächlich zur Errichtung einer Brücke der Verständigung zwischen den Menschen aller religiösen Anschauungen. In verschiedenen Ländern bemüht man sich heute sehr um wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit und in gewissem Ausmaß auch um eine Erkenntnis der spirituellen Grundlagen. Wir können jedoch die Kluft erst dann überbrücken, wenn wir erkennen, dass unser Bruder, ungeachtet seiner Hautfarbe oder seiner Rasse oder seines Geburtslandes, den gleichen Anspruch auf Wahrheit hat wie wir und dass seine Religion im Kern genauso umfassend und universal sein kann wie unsere eigene.

Unser Interesse muss beim einzelnen Menschen einsetzen: Wir müssen ihm so zu helfen versuchen, dass er sich selbst helfen kann. Um die durch ein fremdes Bewusstsein zum Ausdruck kommenden Qualitäten erkennen zu können, müssen wir alle das Unterscheidungsvermögen entwickeln. Wenn wir die Grundlage seines Glaubens verstehen, können wir in seiner eigenen Sprache mit ihm sprechen. Das schafft sofort eine Brücke der Verständigung zwischen seinem und unserem Herzen. Mit dem Verstehen geht das Vertrauen einher, und sobald einmal gegenseitiges Vertrauen herrscht, entsteht daraus Zuversicht. Und mit dieser Zuversicht wird die Lösung unserer schwierigsten Probleme leicht gemacht.

Das geschieht nicht über Nacht. Der eine mag im kirchlichen Gottesdienst echte Erbauung gewinnen, der andere nicht. Ob wir jedoch in die Kirche gehen oder nicht, ob wir Christen, Buddhisten oder Islamisten sind oder ob wir uns eine eigene Lebensphilosophie geschaffen haben, die Tatsache bleibt, dass die Wahrheit zu finden ist. Je mehr wir die alten Religionen studieren und über sie nachdenken, desto mehr erweitern wir unser Bewusstsein und finden in ihnen die gleichen grundlegenden Wahrheiten, weil alle, wie gesagt, aus einer Quelle hervorgegangen sind und jede sowohl ihren esoterischen wie auch ihren exoterischen Hintergrund besitzt.

Wenn wir von der Kirche oder einer anderen spirituell-religiösen Bemühung sprechen, müssen wir sorgfältig zwischen der Institution und ihren Mitgliedern unterscheiden. Ungeachtet ihres Glaubens sind die meisten Menschen aufrichtig und ernsthaft; Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit allein machen aber eine Sache noch nicht spirituell. Man kann innerlich hundertprozentig voller Hingabe und Aufrichtigkeit sein und sich trotzdem auf einer falschen Spur befinden. Die Inquisition in der Geschichte Europas ist ein Zeugnis, wie Ergebenheit und Rechtschaffenheit als Fanatismus und Intrige erniedrigt wurden.

Was bildet also bei den spirituellen Fragen den gemeinsamen Nenner? Gewiss nicht die äußeren Formen, die Glaubensbekenntnisse oder Dogmen, die das Denken der Menschheit wie mit Flechten überwucherten. Ist dieser gemeinsame Nenner nicht vielmehr der Glaube in irgendeiner Form an Gott oder an eine göttliche Macht, der der Ursprung unseres Universums und all seiner Lebewesen ist? Ob wir Christus, Buddha oder Allah, Brahmā, Vishṇu oder Śiva, Tao, Elohim oder Jehova verehren – instinktiv erkennen wir die Gottheit als unseren Brunnquell und Ursprung und voller Hoffnung als unser höchstes Ziel.

Wenn wir uns das Wesen der Gottheit vorzustellen versuchen, dieser gewaltigen Gottheit, die nicht nur dieses Sonnensystem, sondern auch alle anderen Sonnenwelten durchdringt, die nach Aussage unserer Astronomen in unserem eigenen Milchstraßensystem und in den Millionen Milchstraßen vorhanden sind, dann ahnen wir, was dieser Begriff Gott bedeutet, wie undefinierbar und unbegrenzt er ist.

Bestimmt wohnt Gott im Herzen jedes Menschen. Zwar sind wir nicht Gott, aber in den allertiefsten Teilen der menschlichen Seele, die weit über den physischen Körper hinausreichen, lebt ein Gottesfunke, wie man sagen kann, ein Funke jener Gottheit, die den Kosmos regiert. Das uneingeschränkte Ziel der Evolution ist die Entfaltung dieses Gottesfunkens, damit er im natürlichen Verlauf von Zeit und Erfahrung unser gesamtes Wesen beeinflusst und verwandelt. „Suchet, dann werdet ihr finden; klopft an, dann wird euch geöffnet“ (Matthäus 7, 7). Es gibt auf dieser Erde keinen Menschen, der nicht die Antwort auf das Rätsel des Lebens finden könnte, wenn er es ernsthaft wünscht. Keiner kann das für einen anderen tun. Jeder echte Schritt vorwärts für die Menschheit muss bei uns selbst anfangen, an dem Punkt, an dem wir gerade stehen. Wir müssen nicht warten, bis wir vollkommen geworden sind, denn wir können unschwer erkennen, wo wir an uns selbst arbeiten müssen und wo wir eine natürliche Gelegenheit haben, anderen zu helfen. Wenn einer in seinem Innern Kraft und Führung sucht, werden sehr gute Früchte daraus entstehen.

Sobald wir erst erkannt haben, dass der Gottesbegriff jedes Menschen verschieden, das Wesen der Gottheit jedoch gleich ist und dass die göttliche Essenz im innersten Zentrum aller Lebewesen residiert, haben wir das Fundament gelegt, auf dem die Brücke der Bruderschaft errichtet werden kann, über die der Mensch aus der Nacht vergangener Zeitalter ins Licht der Zukunft schreiten kann.

Alle großen Religionen lehren den Vorrang
der spirituellen vor den materiellen Reichtümern.
Alle betonen die Bedeutung des Individuums
und seine Fähigkeit, Gott näher zu kommen.
Und sie stimmen alle dem Prinzip der Einheit zu,
der Einheit des Universums, der Einheit des Menschengeschlechts.
Alle Menschen wird gelehrt, dass sie zu dieser Einheit gehören.
Mitzuhelfen, diesem Ziel näher zu kommen, ist ein persönlicher Beitrag,
den jeder leisten muss.

– Edward R. Murrow

Die Goldene Regel

Die starken Seelen, die gegenwärtig geboren werden, stürmen die von der dogmatischen Theologie errichteten Barrieren. Viele von ihnen werden sich der großen Zahl derer zugesellen, die ‘außerhalb’ der Kirche stehen, die keiner namentlich bezeichneten Konfession angehören und dennoch nicht als ‘Atheisten’ eingestuft werden können, weil sie es vorziehen, Gott in der Stille ihrer eigenen Seele zu finden. Alle Lebensäußerungen stammen aus dem Herzen, und wenn sich die Männer und Frauen überall ernsthaft bemühen, zu den Ursprüngen der spirituellen Quellen vorzudringen, wird die bessere Qualität ihres Glaubens die formulierten ‘Bekenntnisse’ der Konfessionen überrunden. Trotz Verschiedenheiten besitzen wir alle ein gemeinsames Erbe, wie die allgemeine Verbreitung der Goldenen Regel beweist – sie ist eine spirituelle Verhaltensweise, deren Befolgung die Übel unserer Zivilisation größtenteils verringern könnte:

Indianer Amerikas: Großer Geist, gewähre, dass ich meinen Nächsten nicht kritisiere, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins zurückgelegt habe.√

Buddhismus: Auf fünffache Weise sollte ein Sippenangehöriger seinen Freunden und Verwandten dienen – durch Großzügigkeit, Höflichkeit, Wohlwollen, indem er sie so behandelt wie sich selbst und indem er treu zu seinem Wort steht.

Christentum: Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten (Matthäus 7, 12).

Konfuzianismus: „Gibt es ein einzelnes Wort“, fragte Tsu kung, „das für das ganze Leben als eine gültige Regel angenommen werden kann?“ Der Meister antwortete: „Heißt dieses Wort nicht Sympathie? Füge anderen nicht zu, was du selbst nicht lieben würdest.“

Griechische Philosophie: Füge ander nicht zu, was du selbst nicht erleiden möchtest (ISOCRATES). Behandle deine Freunde so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest (ARISTOTELES).

Hinduismus: Benimm dich gegen andere nicht in einer Weise, die dir selbst widerwärtig ist. Das ist die Essenz der Pflicht (Dharma). Alles andere entstammt egoistischem Verlangen.

Islam: Keiner von euch ist gläubig, ehe er nicht für seinen Bruder schätzt, was er für sich selbst schätzt.

Judentum: Du sollst in deinem Herzen keinen Hass gegen deinen Bruder tragen … Du sollst deinen nächsten lieben wie dich selbst (Levitikus 19, 17-18).

Zoroastrismus (Persien): Nur jenes Wesen ist gut, das einem anderen nichts zufügt, was ihm selbst schaden würde.

Wenn genügend viel unabhängig denkende Menschen ihre innersten Überzeugungen offen zum Ausdruck bringen, werden wir feststellen, dass die entstehende Bruderschaft des Denkens ein so starkes spirituelles Bollwerk bilden wird, dass die Stürme nationaler Unterschiede keine Gewalt mehr haben können, dadurch wird erreicht, dass alle trennenden Schranken überwunden werden.

Die drei Säulen der Alten Überlieferung

Frage – Schon seit einigen Jahren schenkt man den verschiedenen Weltreligionen in populären Büchern und Zeitschriften zunehmende Beachtung: Ihre Grundlehren werden oft beschrieben und mit unserer Heiligen Schrift verglichen. Trotzdem bin ich etwas verwirrt. Man kann zwar leicht die Ähnlichkeit der Ethik in den verschiedenen Religionen erkennen, die Goldene Regel, die Vaterschaft Gottes usw., aber bei dem Wirrwarr von Anschauungen, Gebräuchen und Legenden weiß ich kaum, was ich jetzt wirklich glauben soll.

Stellungnahme – Wollen Sie damit sagen: Gibt es einen Prüfstein, mit dem wir den inneren Wert eines Glaubens prüfen können, ganz gleich, woher er stammt?

Frage – Ja, wie können wir das Echte vom Falschen unterscheiden?

Stellungnahme – Der Wunsch, die religiösen Wurzeln anderer verstehen zu wollen, gehört zu den ermutigendsten Zeichen dieses Jahrhunderts; doch birgt gerade dieses starke Verlangen, jeden Begriff und jede Ideologie erreichen und sich aneignen zu wollen, nur weil sie sich von unseren eigenen unterscheiden, eine echte Gefahr in sich. Sie berühren damit wirklich den positiven und den negativen Aspekt des gegenwärtig erwachenden Interesses für die Anschauungen anderer, denn eines der größten Hindernisse für eine solide Entwicklung ist, irgendeinen Menschen oder irgendeine Darstellung als maßgeblich anzusehen. Das letzte Wort wurde noch nicht gesprochen, weder in der Philosophie noch in der Religion und bestimmt nicht in der Wissenschaft. Es könnte auch nicht gesprochen werden, sonst gäbe es keine Chance für den individuellen Fortschritt. Es gibt keine endgültige Äußerung über die Wahrheit. Das heißt aber nicht, dass die Wahrheit nicht existiert oder dass wir Menschen sie nicht finden können.

Was ist Wahrheit? Sie gleicht dem Horizont, der uns immer entschwindet und doch stets vor uns liegt. Wenn wir wissen wollen, was jenseits des Horizonts liegt, wandern wir der Straße nach, die zu ihm hinführt. Aber wenn wir dort ankommen, hat sich der Horizont fortbewegt und er wird immer zurückweichen. Genauso ist es mit der Wahrheit: Wir werden nie den ‘letzten Horizont’ erreichen, weil immer wieder noch ein weiterer da sein wird.

Seit der Mensch sein Selbstbewusstsein erlangte, sucht er ununterbrochen nach diesem Etwas, das ihm einen größeren Einblick in die Wirklichkeit vermitteln würde. Ob unter der Bezeichnung Heiliger Gral, Stein der Weisen oder als Goldenes Vlies – immer hat dieser Hunger seinen Forschungsdrang lebendig erhalten. Weil fast hinter jedem Dogma und Ritual ein Körnchen Wahrheit liegt, haben die großen Religionen, einige davon tausende von Jahren, Bestand gehabt, ungeachtet der Form, die sie angenommen haben. Je tiefer wir zu den Wurzeln der verschiedenen Religionen vordringen, desto genauer erkennen wir ihre gemeinsame Grundlage.

Warum ist das so? Je näher wir zu den Ursprüngen vordringen, desto einfacher und reiner werden die Lehren und desto mehr gleichen sie einander. Je weiter wir ins Prähistorische eindringen, desto unmittelbarer geraten wir an gewisse spirituelle Prinzipien, die als heilige Überlieferung durch die Jahrtausende hindurch weitergegeben wurden. Es gibt deshalb guten Grund zu der Annahme, dass in einer sehr weit zurückliegenden Zeit große Ideen in das Bewusstsein der kindhaften Menschheit eingepflanzt wurden, die später allgemein bei allen Völkern der Erde Verbreitung fanden. Die dogmatischen Verbrämungen sind jedoch so umfangreich, dass es schwierig ist, die ursprüngliche Alte Tradition freizulegen. Trotzdem hat jede große Religion ihren Inhalt und ihre Inspiration aus ihr geschöpft. Sie bildete auch die Grundlage für die Unterweisung und Ausbildung in den alten Mysterienschulen Griechenlands, Kleinasiens, Ägyptens und Indiens. Gleicherweise bezeichnete man sie als die Weisheitsreligion des Altertums.

Frage – Müssten wir nicht ungeheuer viel studieren und nachforschen, wenn wir die Einheit dieser vielen religiösen Anschauungen erkennen wollen?

Stellungnahme – Nicht unbedingt. Die Prinzipien dieser Tradition sind zwar äußerst tiefgründig und höchst philosophisch, wir können bei ihrer Analyse jedoch entdecken, dass sie unseren eigenen alltäglichen Erfahrungen sehr nahe stehen und deshalb ganz verständlich sind.

Wer hat zum Beispiel noch nicht über das Geheimnis Gottes nachgedacht, wieso sein Einfluss gleichzeitig überall wirksam sein kann? Ist die Milchstraße nicht das größte der Geheimnisse, wenn wir zu ihren Sternen, ihren dunklen Flecken und ihren funkelnden Sternenhaufen aufblicken? Unsere Wissenschaftler verlegen den Raum immer weiter und weiter in die Unendlichkeit hinaus, da sie mehr und mehr Universen entdecken, die unserem eigenen ähnlich sind. Unumgänglich ergibt sich die Frage: Was ist der Raum? Und die Antwort: Er ist endlos und er ist ohne Anfang. Wenn wir dann die von den Wissenschaftlern als Novae und Protosterne bezeichneten Gebilde betrachten – wobei sie mit ersteren Sterne bezeichnen, die anscheinend verschwinden und mit letzteren neue stellare Materie, aus der sich Sterne bilden –, dann müssen wir notwendigerweise erkennen, dass überall ewig Rhythmus und Bewegung herrschen.

Ich will jetzt in einfachen Umrissen die drei grundlegenden Prinzipien darlegen, wie sie von H. P. Blavatsky in ihrem Werk The Secret Doctrine (I: 14-17, Die Geheimlehre I: 42-45) beschrieben wurden, auf welchen diese alte Theosophia oder Weisheitsreligion beruht. Wir können anschließend darüber diskutieren. Das erste Prinzip sagt aus:

Im Universum steht hinter allem das Unerkennbare, der ungeheure Abgrund des Raumes, die Wirklichkeit. Jeder Beschreibung unzugänglich nennen wir es einfach Unendlichkeit, ohne Anfang, ohne Ende, weil es ohne Attribute oder endliche Eigenschaften ist. Bei dem Versuch, das Grenzenlose zu beschreiben, wurden ihm viele Namen gegeben, aber der Mensch kann das Undefinierbare nicht beschreiben. Die Verfasser des Alten Testaments sprachen von ihm als „wüst und wirr“ und die „Finsternis lag über der Urflut“ (Genesis 1, 2). Die Buddhisten nannten es ebenfalls die Leere oder Leerheit, weil nichts bis dahin Form angenommen hatte. In den isländischen Eddas nannten es die alten nordischen Barden die ‘Gähnende Tiefe’, während die Kabbalisten im Zohar den Ausdruck Ain Soph gebrauchten, was ‘ohne Grenzen’ oder ‘das Grenzenlose’ bedeutet.

Aus diesem anscheinenden Vakuum – das keineswegs ein Nichts ist, sondern ein Zustand der Latenz, erfüllt mit werdendem Leben, den Keimessenzen der Gottheit – ergibt sich der zweite grundlegende Begriff:

Bewegung, Rhythmus oder das periodische Insdaseintreten eines Universums aus der Finsternis des Grenzenlosen ins Licht ist die Aktivität der Gottheit beim Durchbruch zur Manifestation. Das Wort Manifestation bezeichnet eine Periode der Aktivität, die im Gegensatz steht zu dem Zustand der Inaktivität, in dem die Gottheit während ihrer Ruheperiode verharrte. Ein alter Text drückt das so aus: „Gleich der Ebbe und Flut der Gezeiten kommen und gehen, erscheinen und verschwinden zahllose ‘Funken der Ewigkeit’ genannte Universen mit ihrem ganzen Inhalt.“ Dieses Gesetz der Periodizität ist uns vertraut, denn der Rhythmus der Naturzyklen zeigt sich im Wechsel von Tag und Nacht, von Geburt und Tod, von Wachen und Schlafen, im Zu- und Abnehmen des Mondes und in dem Zyklus der vier Jahreszeiten.

Frage – Dann sind wir also als Menschen durch das Gesetz der Ebbe und Flut gebunden? Wo tritt der freie Wille hinzu? Es sieht so aus, als müssten wir zusammen mit dem Universum aus der Finsternis in das aktive Leben eintreten. Wenn das zutrifft, wie ordnet sich dann unsere eigene individuelle Evolution in das größere Schema ein?

Stellungnahme – Soweit unser allgemeines Wachstum und unser Fortschritt betroffen sind, sind wir glücklicherweise alle durch die Naturgesetze gebunden. Als Teile des Ganzen müssen wir natürlicherweise dem Gesamtplan dieses Ganzen folgen; für das Weben unseres individuellen Musters innerhalb des größeren Plans sind wir jedoch selbst verantwortlich. Doch möchte ich kurz das dritte Prinzip umreißen, ehe wir weitergehen, denn es berührt gerade die Punkte, die Sie aufgreifen.

Auf das erste und zweite Prinzip – das der Finsternis über dem Antlitz der Tiefe und das der Entstehung künftiger Universen – folgend, erklärt das dritte Prinzip „die fundamentale Identität aller Seelen mit der Universalen Oberseele“, um Emersons Ausdruck zu gebrauchen. Das bedeutet einfach, dass jeder Aspekt eines Universums, von den Milchstraßen bis zum Menschen und bis hinab in die niedrigeren Reiche, essenziell mit Gott oder der Universalen Göttlichen Intelligenz identisch ist.

Frage – Sie meinen, wir seien identisch, weil wir alle an Gott teilhaben?

Stellungnahme – Identisch in der Essenz, ja; aber nicht im Ausdruck, weil wir alle individuelle Gottesfunken der Einen Intelligenz sind. Aber das dritte Prinzip sagt noch mehr aus:

Wenn das Universum aus seinem latenten Zustand aus der Finsternis ‘ausgeatmet’ wird, dann spüren dieses Universum und alle seine potenziellen Lebenskeime die zwingende Kraft, einen weiteren aktiven Wachstumszyklus zu beginnen. Jede Wesenheit muss daher durch die Kraft des evolutionären Impulses getrieben durch jede Phase der Erfahrung hindurchgehen, einschließlich mineralischer, pflanzlicher und tierischer Formen, bis die menschliche Stufe erreicht ist. Von da an müssen diese Gottesfunken durch eigene Bemühungen ihre essenzielle Göttlichkeit entfalten, so dass sie im Laufe der Zeit das Recht erwerben, sich ihrer selbst bewusste Götter zu werden.

Es ist eine lange Pilgerreise, die manchmal als ‘Zyklus der Notwendigkeit’ bezeichnet wird, um anzudeuten, dass der gesamte Evolutionsprozess die Notwendigkeit zu wachsen, zu evolvieren einschließt, um aus allem Nutzen zu ziehen, was die Natur in all ihren Reichen zu bieten hat. Als ‘Funken der Ewigkeit’ mussten wir unseren Erfahrungsschatz bereichern, indem wir mineralische, pflanzliche und tierische Körper benützten – jedoch lediglich als temporäre Ausdrucksmedien. Gott wird nicht Stein oder Pflanze, sondern ein Aspekt des Göttlichen ist der Wesenskern jedes Steins, jeder Pflanze oder jedes Tiers. So wie wir nicht behaupten können, dass unser innerer Gott ein menschliches Wesen ist – er benützt ja unser menschliches Wesen nur als sein gegenwärtiges Instrument zur Selbstdarstellung – so können wir auch nicht sagen, dass wir als menschliche Wesen jemals Minerale, Pflanzen oder Tiere waren. Diese äußerst wichtige Unterscheidung muss beachtet werden.

Frage – Ich konnte Ihnen größtenteils folgen: Es wäre jedoch nützlich, wenn sie eine kurze Zusammenfassung geben könnten.

Stellungnahme – Dieses Gesamtbild ist gewaltig; wenn die Prinzipien in ihren wesentlichen Punkten auch einfach sind, können ihre Verzweigungen doch außerordentlich komplex sein. Lassen Sie es mich noch einmal versuchen.

Zuerst ist die große Leere da, Finsternis über der Tiefe, vor der ‘Erschaffung’ von Himmel und Erde – nur Unendlichkeit, ungebunden, grenzenlos, der Raum, das Unerkennbare, ohne Attribute oder Qualitäten. Dann gleich dem Wogen eines Großen Atems regt sich die Gottheit, der ‘Geist Gottes’ schwebt über den Wassern und ein Universum entsteht. Drittens sind die Lebewesen aller Lebensstufen im umfassenden Bereich eines Universums, vom entferntesten Stern bis zum niedrigsten Atom, individuelle Ausdrucksformen der Gottheit; und deshalb hat jetzt jede Facette dieses Universums, da sie den Stempel der Göttlichkeit trägt, nicht nur die Gelegenheit, sondern die Pflicht, im Lauf der Zeit bewusst gottgleich zu werden. So tritt jeder Gottesfunke seine lange Entwicklungsreise durch alle Naturreiche an, beendet schließlich mit dem Universum seine Periode der Aktivität als voll entwickelter Gott und wird zu einer Ruheperiode eingezogen.

Frage – Das ist großartig. Aber wo fügt sich hier Gott in dieses Bild ein?

Stellungnahme – Das hängt von Ihrem Gottesbegriff ab. Ich glaube nicht, dass selbst nur zwei Menschen eine identische Vorstellung von Gott haben.

Frage – Ich stelle mir Gott nicht als Person vor, die höchste totalitäre Macht besitzt und jeden Wunsch erfüllen kann. Ich weiß wirklich nicht, was ich über Gott denke. Es ist so schwierig, diese Gedanken zu äußern, weil wir von Kindheit an dauernd gelehrt wurden, uns Gott als eine Art Wesen vorzustellen; wie weitherzig unsere Vorstellung auch sein mag. Er bleibt immer noch mehr oder weniger Person. Mir gefällt die Idee, dass alle Dinge ein Aspekt Gottes sind, aber können Sie nicht Gott zu dem Gesagten in Beziehung bringen?

Stellungnahme – Wir sollten nicht zu angestrengt versuchen, alle diese Ideen in unserem Kopf in ein System zu bringen – Gott hier, der Raum dort und die Materie irgendwo anders. Diese Vorstellungen über Gott variieren in den verschiedenen Konfessionen und Philosophien so stark, dass es manchmal schwer ist, zwischen den verschiedenen Gottesbegriffen Verbindungen herzustellen.

Alles ist in Gott und Gott ist in allen Dingen, trotzdem ist er nichts Bestimmtes. Bei korrekter Interpretation finden wir nirgendwo in der Heiligen Schrift Gott in einem begrenzenden, persönlichen Sinn erwähnt. Die Bibel spricht von den Göttern, Elohim, aber nicht von Gott. Nie benannten die Autoren des Alten Testaments die Gottheit; sie erwähnen etwa 77 verschiedene Namen Gottes, die sie freimütig als 77 verschiedene Eigenschaften bezeichnen, aber sie definieren nie, was Gott ist. Sie umkreisen das Thema, um spirituelle Kraft aus dem zu ziehen, was sie als Gott empfanden, aber sie benennen ihn nie. Die Wahrheit liegt darin, dass sie es nicht wollten, weil sie wussten, dass sie den Geist des Unbegrenzten nie in der Begrenzung eines Namens erfassen könnten.

Andere Völker, deren spirituelle Entwicklung nicht die gleichen Wege beschritt, verwendeten eine andere Terminologie. In einem seiner populärsten Bücher, The Mysterious Universe, sieht Sir James Jeans Gott als großen Mathematiker und schließt daraus, dass die gesamte Erscheinungswelt die Manifestation eines großen Gedankens sei.

Eine unserer Schwierigkeiten ergibt sich aus der Verkennung unseres Geburtsrechts: Obwohl die Genesis besonders hervorhebt, dass Gott der Herr den Menschen nach seinem Bild gemacht hat, haben wir den Vorgang umgekehrt und Gott mit menschlichen Eigenschaften ausgestattet und lediglich versucht, ihnen göttliche Ausmaße zu geben!

All diese einengenden Begriffe sollten wir aufgeben und Gott als die Göttliche Intelligenz ansehen, als die Wurzel und den Ursprung von allem, was lebt und sich bewegt. Im Innersten eines Baumes ist Gott, aber Gott ist nicht der Baum. Im Innersten jedes kleinsten Atoms in allen Bereichen des Weltraums ist Gott, aber Gott ist nicht das Atom. Genauso beim Menschen. Gott ist kein menschliches Wesen, aber ein Mensch könnte nicht existieren, wäre er nicht in Gott verwurzelt. So sind wir alle als ‘Aspekte Gottes’, als Teile dieser Göttlichen Intelligenz wirklich Teile Gottes, und eines Tages werden wir das in vollem Umfang erkennen.

Frage – Welche Beziehung besteht zwischen Gott und dem Unerkennbaren oder diesem ersten Prinzip, das Sie auch als das Grenzenlose bezeichneten?

Stellungnahme – Wenn wir vom Unerkennbaren sprechen, müssen wir versuchen, mit unserer Vorstellungskraft ins Unendliche vorzustoßen, was natürlich unmöglich ist; dennoch kann uns nur ein solcher Versuch begreiflicher machen, was das Unerkennbare wirklich ist. Es ist die Leere, aber es ist ebenso, wie die alten Griechen sagten, das Pleroma, die ‘Fülle’ und das ganz wörtlich, weil sie schwanger ist mit den Keimen der zukünftigen Universen.

Frage – Sie verwendeten vorhin die Worte ‘erfüllt mit werdendem Leben’. Ist das hier gemeint?

Stellungnahme – Genau. Welche Beziehung besteht also zwischen Gott und dem Unerkennbaren? Wir können sagen, das Grenzenlose, das Unerkennbare ist Gott in ruhendem Zustand (wenigstens von unserem Standpunkt aus). Von dem Augenblick an, in dem Aktivität wahrgenommen wird, beginnt die Manifestation und die einst ruhenden Gottesfunken erwachen zum Leben. Sobald der erste Vitalitätsschauer empfunden wird, treten daher Trillionen dieser Gottesfunken wie aus der Gottheit herausgeatmet aus der Latenz hervor in die Aktivität, aus der Finsternis ins Licht. Danach beginnen die verschiedenen Arten von Gottesfunken ihre evolutionäre Reise, wobei sie, angetrieben durch Notwendigkeit oder Karma, die Naturreiche durchwandern. Sobald die menschliche Stufe erreicht und Selbstbewusstsein erlangt ist, müssen sich diese Gottesfunken langsam ihren Weg durch die Universität des Lebens erarbeiten und als Götter graduieren.

Frage – Es sieht so aus, als hätten wir noch einen schrecklich langen Weg vor uns, ehe wir auch nur annähernd gottgleich werden! Wieviel Willensfreiheit besitzen wir oder müssen wir einfach diesem ‘Zyklus der Notwendigkeit’ folgen?

Stellungnahme – Innerhalb der weiten Grenzen des universalen Gesetzes haben wir natürlich Wahlmöglichkeit und Willensfreiheit. Es ist richtig, dass die Gottesfunken in der Zeit, in der sie mineralische Körper und später pflanzliche oder tierische Formen benutzen, ihre Erfahrung mehr oder weniger automatisch gewannen, weil sie von dem großen Impuls des fortschreitenden Lebensstroms getragen wurden. Sobald sie sich jedoch in menschlichen Körpern manifestierten, trat ein weiterer Faktor in Erscheinung – das Feuer bewussten Denkens – das Feuer des Geistes wurde in der kindhaften Menschheit entzündet. Das zählt zu den herrlichsten Episoden in der spirituellen Menschheitsgeschichte. Welchen Namen wir jenen ‘Lichtbringern’ auch geben wollen, jede Weltschöpfungsliteratur beschreibt ihre heilige Funktion, die allerdings durch eine jahrhundertelange begrenzte und personifizierende Auslegung eine völlig falsche Bedeutung angenommen hat. Weit davon entfernt, eine Schlange des Bösen zu sein, war der Gefallene Engel oder Luzifer in Wahrheit ein ‘Lichtbringer’ – ein Prometheus, dessen Wagemut die flammende Fackel von den Göttern brachte, damit sich der Mensch durch den bewussten Kontakt mit seinem schlummernden Gottesfunken seiner angeborenen Göttlichkeit bewusst werde. Das ist die wahre Bedeutung des Berichts in der Genesis. Es steht alles da.

Wenn wir uns sonst an nichts erinnern, sollten wir doch diese eine großartige Idee nicht vergessen: dass selbst das winzigste Element eine Manifestation der Göttlichen Intelligenz ist, eine Differenzierung der Essenz des Unerkennbaren, und dass in langen Zyklen der Erfahrung jeder Gottesessenz die Gelegenheit geboten wird, wieder zu ihrem Vater zurückzukehren, bereichert durch ihr Verweilen in allen Naturreichen – sowohl der unter wie auch der über dem Menschen befindlichen. In einem sehr realen Sinn ist das die Parabel vom Verlorenen Sohn, der nach vielfältigen Erfahrungen in den materiellen Sphären sich schließlich nach den Dingen seines Vaters sehnt. Nach Rückkehr in seine wahre Heimat ist dann der Jubel groß, weil ein weiterer Gottesfunke den Sog der Materie überwunden und damit die bewusste Wiedervereinigung mit seiner beständigen Gottheit erworben hat.

Es ist ein großartiges Bild, und wenn wir diese drei Prinzipien oder Grundlagen der Weisheitsreligion einmal erfasst haben, erkennen wir, dass sie in der Tat einen Prüfstein bilden, mit dem wir die vielen sich widerstreitenden religiösen Begriffe der Völker prüfen können.

Aus einer Diskussion mit einer kirchlichen Jugendgruppe – I

Gott, Gottes Wille, Prädestination

Frage – Es gibt so viele Fragen, über die wir gerne mit Ihnen diskutieren möchten – über Gott, über Willensfreiheit, über Adams Sündenfall –,dass wir nicht wissen, wo anfangen. Wir können natürlich sagen, alles sei ‘der Wille Gottes’ und einigen in unserer Gruppe genügt das, weil sie vielleicht gläubiger sind als ich. Aber ich möchte gerne fragen, was Ihr Bekenntnis oder Ihre Glaubensformel ist?

Stellungnahme – Ehe ich mich dazu äußere, möchte ich eine Sache hervorheben: In meinen Augen sind Sie und ich und alle anderen Menschen Wahrheitssuchende. Es spielt keine Rolle, ob jemand zwanzig, fünfzig oder achtzig Jahre alt ist – wir suchen alle in eigener individueller Weise Wissen und Erkenntnis. Deshalb hat niemand das Recht, in Sachen Wahrheit ‘letzte Autorität’ zu beanspruchen oder Endgültiges über die Naturgesetze zu sagen.

Sie fragen nach meinem Bekenntnis oder meiner Glaubensformel? Ich habe kein Glaubensbekenntnis, keine zusammengestellte Glaubensformel, kein religiöses Dogma. So wie jeder Grashalm verschieden ist, so ist jeder Mensch verschieden. Die Prinzipien der Wahrheit ändern sich zwar nicht, ihre Darstellungsweise unterscheidet sich jedoch bei jedem Menschheitslehrer sehr beträchtlich. Das ist nicht nur natürlich, es ist unabdingbar für die Entwicklung, denn zu den vorherrschenden Tendenzen im menschlichen Wesen zählt die Neigung zur Kristallisation: Man gibt sich mit einer Reihe fein säuberlich geordneter Anschauungen zufrieden und denkt: „Nun habe ich endlich die Wahrheit gefunden. Ich muss mich jetzt nicht länger darum bemühen, sie zu suchen.“ Für den spirituellen Fortschritt eines Menschen, der sein Lebensverständnis ernsthaft erweitern will, ist diese Einstellung meiner Auffassung nach eines der größten Hindernisse.

Das Wort Glaubensbekenntnis gefällt mir überhaupt nicht, weil gewöhnlich auch eine autoritäre Zusammenfassung religiöser Lehren oder eine offizielle Glaubensformulierung darunter verstanden wird. Gerade das lehne ich ab – ganz gleich, wie großartig oder wahr eine derartige Formulierung sein mag. Das Wichtigste ist meiner Ansicht nach nicht der Erwerb der Wahrheit (oder eines Wahrheitsaspekts, denn wir können die Wahrheit an sich nie erreichen), sondern die Suche nach Wahrheit und das Bestreben, sie mehr und mehr zu erfassen. Müsste ich ein Glaubensbekenntnis haben, wäre es die absolute Überzeugung, dass die Seele innerhalb ihres eigenen Bewusstseinsbereichs völlig frei forschen können muss.

Frage – Aber Sie müssen doch an etwas glauben. Glauben Sie zum Beispiel an Jesus?

Stellungnahme – Gewiss glaube ich an Jesus, wenn auch nicht notwendigerweise so wie Sie. Ich glaube, dass Jesus eine Inkarnation einer Göttlichen Kraft war, Gottes, wenn Sie wollen. Ich glaube aber auch, dass Jesus darin kein Einzelfall war, weil potenziell jeder Mensch ein ‘Sohn Gottes’ ist, eine Inkarnation seiner eigenen inneren Göttlichkeit. Sagte uns Jesus nicht, was er tue, könnten auch wir tun und sogar größere Dinge? Er konnte uns damit doch wohl nur erinnern wollen, dass auch wir „Gottes Tempel“ (1 Korinther 3, 16) sind? Das waren nicht bloß trostreiche Worte; mit ihnen hinterließ er eine Botschaft, erfüllt mit gewaltiger Hoffnung und Zuversicht in das spirituelle Schicksal des Menschen.

Frage – Sie scheinen an Gott zu glauben, aber würden Sie uns genau erklären, wie Sie über Ihn denken?

Stellungnahme – Glaube ich an Gott? Das hängt ganz davon ab, was Sie unter Gott verstehen. Wenn Sie meinen, ob ich an einen persönlichen Gott glaube, an eine außerhalb des Menschen stehende Gottheit, dann müsste ich sagen, dass mein Glaube an Gott diese allgemeine orthodoxe Auffassung weit übersteigt. Gott ist für mich jene Göttliche Intelligenz, die der Hinter- und Vordergrund der gesamten Schöpfung ist. Mit anderen Worten, nach meiner Ansicht könnte nichts existieren, wäre es nicht ein Teil Gottes, eine Manifestation jener Göttlichen Kraft. Unter Verwendung der christlichen Ausdrucksweise erscheint mir Folgendes als richtig:

Erstens: Die Wasser des Raumes der Genesis sind nicht nur grenzenlos und unendlich, sondern sie sind auch der göttliche Ursprung aller manifestierten Wesen; zweitens: Die Leere wurde, als Gott oder die Elohim über die Wasser des Raumes hauchten, zu einer Fülle und Gott brach aus der Finsternis über dem Antlitz der Tiefe ins Licht hervor – und ein Universum trat mit seinen Scharen von Lebensformen ins Dasein. Und drittens: Jede Facette des Universums muss eine, wenn auch noch so winzige Manifestation Gottes sein, weil die Elohim (um wieder das hebräische Wort für den Plural Götter zu gebrauchen, nicht Gott in der Einzahl) jedes Atom des Raumes mit der göttlichen Essenz befruchtet haben – was ferner bedeutet, dass jedes Geschöpf im Himmel und auf der Erde die Gelegenheit hat, bewusst gottgleich zu werden. Es ist klar, dass solch bewusstes Einswerden mit Gott nicht an einem Tag erreicht wird, sondern lange Wanderungen durch Zeit und Raum benötigt, bis jeder Aspekt Gottes sich in allen Reichen manifestieren konnte. Wenn dann der Große Tag da ist, wird das aus der Finsternis der Leere Emanierte wieder einmal zu einer Ruheperiode in das Herz Gottes eingezogen.

Frage –Bei dieser Betrachtung wird alles so groß, so ehrfurchtgebietend. Es ängstigt mich beinahe, denn man kann kaum wieder zur orthodoxen Anschauung zurückkehren, wenn man diesen Gedankengängen wirklich folgt. Trotzdem haben Sie sehr deutlich erläutert, dass Ihr Lehrsystem nichts von dem, was gelehrt wurde, verdrängen will.

Stellungnahme – Ich freue mich, dass Sie das feststellen, denn es soll keineswegs der Glaube irgendeines Menschen verdrängt werden, vielmehr soll dem Einzelnen geholfen werden, den eigenen Glauben besser und umfassender deuten zu können. Ich beharre nur auf einem einzigen ‘Dogma’: Es darf keine Dogmatisierung des Denkens geben. Die Wahrheit steht allen offen und der Weg zu ihr ist eine streng individuelle Angelegenheit. Wir sollten etwas erst als wahr annehmen, wenn wir es tief im Innern als richtig empfinden. Schon morgen mag jeder die Dinge ganz anders sehen und mehr Verständnis haben als heute. Dann erscheint der heutige Glaube als begrenzt. Das gilt für die Entwicklung auf jedem Erfahrungssektor.

Frage – Das gefällt mir, denn ich kann absolut nicht ausstehen, wenn jemand sagt: „So und so sind die Dinge und mehr kann man nicht dazu sagen.“ Niemand hat wohl das Recht, so zu sprechen. Daher habe ich mich angestrengt und soviel wie möglich angenommen, hier ein Bisschen, da ein Bisschen. Jeder darf sicher seine eigenen Wahrheitsbegriffe haben. Ist es möglich, dass bestimmte Ideen unseres christlichen Glaubens in anderen Religionen ähnlich vorkommen?

Stellungnahme – Das ist nicht nur möglich, sondern Sie haben vollkommen recht; und wenn Sie die großen Religionen und Philosophien der Welt studieren, die westlichen wie auch die östlichen, werden Sie herausfinden, dass alle einer gemeinsamen Quelle entstammen. Die christlichen Schriften enthalten viele Lehren, die der Buddhismus und der Hinduismus ebenso lehren, wenn auch in anderer Ausdrucksweise; so können Sie in den Evangelien auch hebräische und griechische Einflüsse verfolgen. Alle Religionen postulieren einen göttlichen Ursprung, ganz gleich, ob er Jehova, Brahmā oder Allah genannt wird. Die spezielle Inkarnation Gottes oder der Gottheit in Christus entspricht direkt den hinduistischen Avatāras; und wie wir wissen, kann man die Goldene Regel vom moralischen und spirituellen Verhalten in aller Welt finden. Wie sich in unseren christlichen Glauben viel Dogmatismus eingeschlichen hat, geschah das auch bei den östlichen Religionen, und es ist nicht immer leicht, diese Entstellungen zu durchschauen.

Beim Vergleich der Literatur, Mythen und Traditionen anderer Länder entdecken wir, dass zum Beispiel der Schöpfungsbericht in der Genesis nur ein Aspekt einer universalen Geschichte ist, die von jedem Volk in der ganzen Welt, ob zivilisiert oder primitiv, in der einen oder anderen Form als heilige Überlieferung bewahrt wurde. Obwohl wissenschaftliche und archäologische Entdeckungen ohne den geringsten Schatten eines Zweifels bewiesen haben, dass unsere Erde Millionen Jahre alt ist und nicht erst 6 000 Jahre, sind die Schöpfungsberichte keineswegs bloße Fantasien oder kindliche Einbildungen. Wie soll man aber die Erschaffung von Himmel und Erde innerhalb von sechs Tagen – und die Ruhe Gottes am siebenten – verstehen? Wörtlich genommen wäre es absurd, aber so war es nie gemeint. Die Schöpfungstage, ob die in der christlichen Bibel oder die der Hindu-Purānen, die der indianischen oder die der persischen Legenden, symbolisieren die Tage der Manifestation oder der Aktivität, denen die Nächte der Einziehung oder Ruhe folgen – wobei jeder dieser Tage ein Lebenszyklus der Erderfahrung ist, der sich von einigen Tausend bis vielleicht über Hunderttausende von Jahren erstreckt.

Das führt uns zu dem Schluss, dass auch der Mensch sehr, sehr alt sein muss. Tatsächlich sprechen einige Schriften davon, dass mindestens schon 18 Millionen Jahre vergangen sind, seit der Mensch sein Selbstbewusstsein erlangte! Wie alt er auch sein mag, ob Millionen Jahre oder nur ein paar tausend, die Tatsache bleibt, dass sich alle großen spirituellen Reformatoren der Zeitalter unermüdlich darum bemühten, uns die göttlichen Möglichkeiten des Menschen näher zu bringen.

Frage – Wenn, wie Sie sagten, jeder Einzelne zumindest teilweise eine ‘Inkarnation Gottes’ ist und wenn wir alle ins Dasein traten, als Gott über die Wasser hauchte, müssen wir doch sicher alle möglichen Erfahrungen durchmachen, ehe wir uns wieder mit Gott verbinden können? Was geschieht nun zwischen dem ersten und dem letzten Schritt? Wie geht das vom Anfang bis zum Ende vor sich?

Stellungnahme – Soweit mir bekannt ist, gibt es nur einen Prozess, nur einen modus operandi, dem inneren Gott gleichzuwerden, und zwar durch wiederholte Erfahrungen, bis wir die Lektionen, die uns die Erde bieten kann, vollständig gelernt haben.

Frage – Beziehen Sie sich auf die Reinkarnation? Ich wurde in einer sehr orthodoxen Familie aufgezogen und es fällt mir schwer, diese Vorstellung zu akzeptieren. Ich kann sie aber nicht ganz ablehnen, deshalb wäre es mir lieb, wenn Sie etwas mehr darüber sagen würden.

Stellungnahme – Es besteht keine zwingende Notwendigkeit, an die Reinkarnation zu glauben. Andererseits gibt es keinen Grund, von einer neuen Idee zurückzuschrecken. Ich möchte Folgendes sagen: Die Idee der Wiedergeburt ist sehr alt; sie kann in jeder Religion gefunden werden, selbst in der christlichen, obwohl die Kirche in den ersten Jahrhunderten große Anstrengungen machte, sie als eine der Hauptlehren auszumerzen.

Lassen Sie uns zum Zweck der Diskussion annehmen, dass die Seele mehr als die ungefähr siebzig Jahre Zeit benötigt, die ihr gewöhnlich zugestanden werden. Wie könnte sie es schaffen, würde der Tod alles beenden? Wir geben sicher bereitwillig zu, dass wir kaum ein Zehntel unserer innersten Hoffnungen in solch kurzer Zeit erfüllen können. Lassen Sie uns jetzt weiter annehmen, Gott würde uns in seiner göttlichen Weisheit eine weitere Chance, eine weitere Gelegenheit zur Entwicklung gewähren. Wäre es dann sinnvoll, hierfür woanders hinzugehen als auf die Erde, wo wir mit diesem Planeten und seinen Gesetzen schon vertraut geworden sind? Dann ist da ein weiterer gleich wichtiger Gesichtspunkt: Wir haben doch bereits eine Reihe von Ursachen in Bewegung gesetzt. Glauben wir wirklich, wenn das zutrifft, wir könnten die Folgen unserer gesamten Gedanken und Handlungen ernten, ehe wir sterben?

Frage – Ich habe immer angenommen, dass alles in gewisser Weise geordnet ist, dass nichts durch Zufall geschieht. Ich habe aber auch den Eindruck, dass der Mensch Willensfreiheit besitzt. Alles in allem halte ich mich für einen Fatalisten, und dennoch möchte ich annehmen, dass wir auch eine gewisse Wahlmöglichkeit haben.

Stellungnahme – Ich glaube nicht, dass Sie wirklich ein Fatalist sind; ich möchte aber das Bild, wie ich es sehe, nochmals darstellen, ohne zu weit abzuschweifen. Wenn wir glauben, dass das Gesetz von Ursache und Wirkung nicht nur physikalisch wirksam ist, sondern auch in unseren moralischen und spirituellen Beziehungen, und dass wir alles, was wir auf dem Feld unserer Seele säen, irgendwo zu irgendeiner Zeit ernten müssen, sehen wir, dass nichts durch Zufall oder im Widerspruch zu den Naturgesetzen ‘einfach geschehen’ kann. Doch ist dieses Gesetz der Harmonie derart fein ausgewogen, dass seine Manifestation von jedem Menschen verschieden empfunden wird entsprechend seinem eigenen seelischen Hintergrund.

Frage – Was meinen Sie mit ‘seelischem Hintergrund’? Ist Seele dasselbe wie Geist?

Stellungnahme – Ehe ich weitergehe, ist es vielleicht besser, kurz das Thema Seele zu streifen. Sie kennen alle die paulinische Einteilung des Menschen in drei Bereiche: Körper, Seele und Geist. Nun ist es für viele Menschen schwer verständlich, dass Seele und Geist nicht dasselbe sind, aber sie sind es nicht. Sie und ich, wir sind menschliche Seelen, die hier in einem physischen Körper Erfahrungen sammeln, und wir werden durch den Geist, der in uns wohnt, zu dieser Erfahrung geleitet oder gedrängt. Ich bin sicher, dass keiner von Ihnen glaubt, dass Sie nur Körper sind; oder dass Sie lediglich aus Gefühlen und aus Verstand oder aus Seele bestehen. Was motiviert Ihre Bestrebungen, Ihre tiefsten Empfindungen, wenn nicht Ihr göttlicher Funke, jene Essenz Gottes, welche die Wurzel jedes lebenden Organismus ist? Wir wollen uns deshalb unseren ewigen Wesensteil als den Geist vorstellen, der die menschliche Seele zum Handeln drängt, die ihrerseits den physischen Körper als ihren Tempel hier auf der Erde benützt.

Jenes ewige Element in uns nun hat es zuwege gebracht, uns in die Lebenslagen zu führen, aus denen wir am meisten lernen können. Da jeder eine Facette der Göttlichen Intelligenz ist, mit einem eigenen Teil Willensfreiheit, liegt es an uns, unser Wahlrecht auszuüben, indem wir bestimmen, welche Wege beschritten, welche Gedanken gedacht und welche Handlungen ausgeführt werden sollen. Sie sehen, dass die Seele auf einem Schlachtfeld zwischen Geist und Körper steht, zwischen dem Streben zu Gott auf der einen Seite und materiellem Verlangen auf der anderen. Wir besitzen einen hochentwickelten tierischen Körper – dennoch entstammt er nur der materiellen Seite der Natur. Unsere Seele hat Anteil an der höheren Kraft, an dem Gott im Menschen, sie ist aber auch empfänglich für die Anziehungskraft, die von unserer physischen Natur ausgeht. An diesem Punkt können wir frei wählen, und hier lernen wir auch.

Frage – Ich sehe nicht, wie wir um den Begriff des Fatalismus oder der Prädestination herumkommen. Hat Gott mit unserem Leben nicht eine Absicht? Und wenn wir uns nicht danach richten, dann folgen wir nicht Seinem Willen, aber wir sollen ihn doch herausfinden oder etwa nicht?

Stellungnahme – In einem Sinn, und in einem sehr realen Sinn, sind wir alle durch den Willen Gottes gebunden, vorausgesetzt, dass wir uns Gott als jenen Teil der Gottheit vorstellen, der im Innersten jedes Menschen wohnt. Das bedeutet, dass in uns die Stärke und die Potenzialität des Göttlichen Willens ist, die im Lauf der Zeit zum Ausdruck gebracht werden kann. Aber, und das ist der entscheidende Punkt, sie manifestiert sich bei jedem Individuum auf verschiedene Weise, weil es der Wille unseres eigenen inneren Gottes ist, dessen göttliche Kraft auf unsere Seele einwirkt. In diesem Sinn kann man mit Recht davon sprechen, dass der Mensch von seinem eigenen inneren Gott ‘prädestiniert’ ist, ins Leben zu treten und die Freuden und Leiden des Erdendaseins an sich zu erfahren.

Wir sollten das aber nicht mit dem alten Dogma verwechseln, wonach dem Menschen schon vor seiner Geburt Strafe oder Belohnung bestimmt ist, je nach Stimmung oder Laune einer außerkosmischen Gottheit. Keines Menschen Schicksal wird von einem außenstehenden Gott im Voraus bestimmt oder festgesetzt. Auch kann er nur durch die Kraft seiner eigenen früheren Erfahrungen prädestiniert werden, durch die Energien, die er selbst in dem permanenten Teil seines Wesens aufgespeichert hat. Das heißt mit anderen Worten, dass der Mensch durch sich selbst, und nur durch sich selbst allein ‘vorherbestimmt’ ins Leben tritt, um alles, was sich in seinem Seelenleben angesammelt hat, zur Entfaltung und zur Entwicklung zu bringen; aufgespeichert ist dort auch die ihm eigentümliche Art des freien Willens, mit der er aus sich machen kann, was er selbst bestimmt. Wir werden leicht zu Fatalisten, weil wir seit Jahrhunderten das Leben und seine Begleitumstände durch das enge Blickfeld einer einzigen Lebenszeit zu betrachten pflegen. Sobald der Mensch jedoch sein Menschsein voll erkannt hat und sich seiner Verantwortlichkeit ganz bewusst geworden ist, verschwindet der Fatalismus.

Kann einer von Ihnen im Ernst glauben, wir seien buchstäblich ‘in Sünde geboren’ und es wäre uns vorausbestimmt fehlzugehen, wollte Gott nicht, dass wir dem Guten folgen? Wenn wir die Frage lediglich vom Standpunkt des Körpers aus betrachten, könnten wir sagen, dass der Mensch ‘in Sünde geboren ist’ – vorausgesetzt wir verstehen darunter, dass wir im Materiellen verkörpert sind, in einem materiellen, tierischen Körper. Aber es ist nicht der Körper, der uns zum Menschen macht. Die Seele ist frei, sie ist der Freiheit so nahe, wie sie ihrem eigenen innewohnenden göttlichen Wesen nahe ist. Darin liegt die große Herausforderung: Durch seine Willensfreiheit besitzt der Mensch in sich die Macht, sich zum bereitwilligen Helfer seines eigenen inneren Gottes zu machen.

Aus einer Diskussion mit einer kirchlichen Jugendgruppe – II

Gut und Böse

Frage – Wir sprachen über den Willen Gottes und über die Prädestination, aber ich bin noch immer nicht befriedigt. Wieviel Spielraum wird mir gelassen oder bin ich absolut durch den Willen Gottes gebunden?

Stellungnahme – In letzter Hinsicht stehen alle Wesenheiten des Alls im Bereich des göttlichen Willens, unter dem Antrieb der göttlichen Energien, die das Universum durchströmen und durchdringen. Wir sind nicht die Marionetten eines allmächtigen persönlichen Gottes, sondern willensfrei Handelnde, obgleich wir unser eigenes innewohnendes Potenzial kaum kennen. Obzwar jeder Mensch ein individuelles Schicksal hat, ist dennoch niemand eine von anderen getrennte und abgeschiedene Insel, sondern Teil eines großen Kontinents der Erfahrung und des Wachstums, der die gesamte Menschheit umschließt.

Wie weit Sie jedoch vom richtigen Kurs abweichen dürfen, wie groß der Grad Ihrer Abweichungsmöglichkeit ist – kann ich für Sie nicht beantworten. Keiner könnte es. Es gibt nur einen, der es beantworten kann: Sie selbst. Wir machen alle immer und immer wieder Fehler, aber das ist nicht der entscheidende Faktor. Entscheidend ist unser Lebensideal – die innere Qualität unseres Strebens, die unser gesamtes Denken und Handeln bestimmt. Wir spielen jedoch sofort mit dem Feuer, wenn wir herausfinden wollen, wie weit wir vom Kurs abweichen können, ohne ‘bestraft’ zu werden.

Frage – So habe ich das nicht gemeint. Ich dachte daran, dass gestern einige von uns zu einem Baseballspiel in Los Angeles waren, wonach wir eine ganze Weile auf den Omnibus zur Heimfahrt warten mussten. Wie Sie wissen, ist Skid Row nicht weit vom Busbahnhof entfernt. Dort sieht man alle möglichen Menschen und es stellt sich die Frage, wie sie soweit herunterkommen konnten. Dann denkt man im Stillen: „Ohne die Gnade Gottes könnte ich auch dort sein.“ Ich hatte immer gedacht, es würde nicht zugelassen, dass man soweit vom Weg abweicht – trotz unseres freien Willens – ich stellte mir vor, irgendetwas würde vorherbestimmen, dass wir bis an eine bestimmte Grenze gehen können und nicht weiter. Aber offensichtlich wurden diese Menschen durch nichts aufgehalten. Die Trennungslinie zwischen Fatalismus und freiem Willen ist hier schwer zu entdecken. Deshalb lautet meine Frage: Wie weit kann man gehen, ohne dass eine Art Bremse in Tätigkeit tritt?

Stellungnahme – Jeder kann ganz vom Kurs abweichen, wenn er das mehr als alles andere wünscht. Glücklicherweise ergeben sich auf diesem Weg im Allgemeinen viele Hindernisse, gewöhnlich innerer Natur. Wir besitzen nicht nur unser Gewissen, das sehr wach ist, wenn wir es erst einmal beachten, sondern wir genießen auch gleicherweise die ständige Gegenwart unseres Schutzengels, der uns viel öfter Schutz gewährt, als uns bekannt ist. Wie weit wir gehen können, ohne dass die Bremsen Halt gebieten? Genauso weit, wie unser Gewissen es zulässt. Wir spüren ganz genau, wenn wir gegen die warnende Stimme handeln, die uns nie sagt, was wir tun sollen, die aber immer bereit ist, uns einen ‘Nadelstich’ zu versetzen, selbst schon bei dem Gedanken an eine Handlung, die für uns persönlich eine Abweichung vom rechten Kurs wäre.

Frage – Halten Sie also das Gewissen für eine Einrichtung des göttlichen Willens?

Stellungnahme – Man könnte sagen, das Gewissen ist eine Einrichtung oder ein Instrument des inneren Gottes, denn wenn die Stimme des Gewissens in langen Zeitaltern der Prüfungen und Irrtümer entwickelt wurde, muss sie eng verbunden sein mit den unermüdlichen Anstrengungen unseres inneren Gottes, uns mit seinem göttlichen Willen in Einklang zu bringen. Darüber hinaus sind wir unserem Schutzengel so nahe wie unserer eigenen Haut – die Beziehung ist aber zweigleisig. Erst wenn wir uns diesen Schutz verdient haben, erhalten wir ihn. „Gott lässt keinen Spott mit sicher treiben; was der Mensch sät, wird er ernten“ (Gal. 6, 7). Gerade das Ernten von Kummer und Schmerz, von Frustration und Einsamkeit erzeugt die sicherste Bremswirkung, damit wir nicht so weit absinken. Wer seine Gewissensregungen jedoch absichtlich unterdrück, muss auf schwere und oft sehr harte Weise lernen.

Wir sollten deshalb andere nicht zu schnell verdammen. Ohne Unterstützung auf dem Weg oder aus anderen schwer erkennbaren Gründen könnte jeder von uns auf Skid Row zusteuern, denn außer der selbst angesetzten Bremse gibt es keine Bremse gegen den willentlichen Missbrauch des freien Willens, dieser göttlichen Eigenschaft des Menschen. Die meisten Menschen haben – wie tragisch ihr gegenwärtiges Leben auch aussehen mag – tief in ihrem Innern verborgene, unangetastete Kraftreserven und Seelenkräfte, die durch frühere Erfahrungen angesammelt wurden; und sobald der Wille zum Aufstieg erst einmal kräftig zum Ausdruck kommt, ist kein Gipfel zu hoch, den nicht auch der verkommenste Mensch erreichen könnte, wenn er will.

Frage – Bei manchen dieser Menschen sah es wirklich so aus, als wäre die Waagschale zu ihren Ungunsten belastet, als hätte Gott sie wirklich für den bösen Weg vorausbestimmt. Das glauben Sie wohl nicht?

Stellungnahme – Ganz bestimmt nicht. Es sieht vielleicht so aus, wenn man vom isolierten Kreis eines einmaligen Lebens ausgeht. Man darf aber nicht die Kontinuität des Bewusstseins vergessen, die über Geburt und Tod hinausreicht. Weil wir gelehrt wurden, dass wir nur einmal für eine kurze Lebensspanne auf der Erde existieren, verstehe ich sehr gut, wie schwer es uns fällt, die Idee der periodischen Wiedergeburt der Seele zu begrüßen. Ich verlange auch gar nicht, dass Sie diese Vorstellung akzeptieren, Sie sollten lediglich gut darüber nachdenken, ehe Sie diese Idee verwerfen.

Der Wachstumsvorgang ist keine Zufallsangelegenheit, er ist das unausbleibliche Ergebnis der ‘Initialzündung’ im göttlichen Keim im Herzen aller Geschöpfe des Universums. Deshalb ist es unmöglich, dass die Waagschalen zu Ungunsten des Menschen belastet sind. Im Gegenteil, wenn sie überhaupt belastet wären, dann zu seinen Gunsten, weil der Druck des evolutionären Stroms immer vorwärts gerichtet ist, wobei der Strom die gesamte Lebenswoge der Menschheit langsam und sicher mit sich führt. Nichts in der Natur ist statisch – wir gehen entweder vorwärts oder wir schreiten zurück; diese Tatsache stellt eine Gelegenheit dar: In den unter dem Menschen stehenden Entwicklungsbereichen ist der Impuls immer aufwärts zum Menschenreich hin gerichtet; die Entwicklung erfolgt dort automatisch und ohne selbstbewusste Steuerung. Im menschlichen Bereich müssen wir jedoch entscheiden, welche Richtung wir einschlagen wollen – denn es ist möglich innerlich abzugleiten, tief hinab; ebenso besteht die Möglichkeit, die Qualität unseres Bewusstseins mit großem Fortschritt zu verbessern.

Das Bewusstsein und was wir mit ihm anfangen, ist letzten Endes unser Kernproblem. Wir haben heute einen bestimmten Bewusstseinshorizont, der die Gesamtsumme dessen ist, was wir sind, der für uns in diesem Augenblick ein Ring-überschreite-mich-nicht, ein unüberschreitbarer Kreis ist, über den wir nicht hinauskönnen. Durch unseren inneren Vater werden wir, wie wenig wir auch von seinen Bemühungen wissen mögen, allezeit gedrängt und getrieben, diesen Horizont zu erweitern und über unseren Ring-überschreite-mich-nicht hinauszugehen zu einem ferneren Ziel der Erkenntnis und der Weisheit. Im Lauf des Entwicklungsprozesses machen wir natürlich Fehler, aber wir lernen mit der Zeit, was richtig und was falsch ist; es genügt völlig, wenn unser Streben zum Licht gerichtet ist. Wir können entweder mir der Lebenswoge der Menschheit unser Ziel erreichen oder, wenn uns das lieber ist, vorsätzlich abgleiten und unsere Verbindung mit dem Göttlichen abbrechen – aber das kommt so äußerst selten vor, dass wir es für die Menschheit im Allgemeinen außer Betracht lassen können.

Es ist uns nicht möglich, auf einer bestimmten Bewusstseinsstufe stillzustehen, weil wir hoffentlich in jedem Augenblick des Tages einer höheren Vision und größeren Erfahrungen entgegen gehen, und mit jedem Schritt nach vorn finden wir einen neuen Ring-überschreite-mich-nicht. Wenn der Moment des Todes kommt, erfährt der Mensch durch die Beschaffenheit der verborgensten Gedanken seines Lebens, ob er charakterlich stärker oder schwächer geworden ist.

Frage – Können Sie erläutern, wie der Teufel in Ihre Anschauung passt? Diese Frage ist nicht nur hypothetisch gestellt, sie ist für mich gerade jetzt sehr wesentlich. Sehen Sie, mein Vater war viele Jahre lang Geistlicher, und ich hielt ihn immer für sehr aufgeschlossen; und er ist auch ein großartiger Mann. Aber die Entwicklung der Kernwaffen hat ihn ganz wild gemacht. Er ist überzeugt, dass sie ein Teufelswerk sind. Nichts ändert seine Ansicht. Was denken Sie?

Stellungnahme – Ich verstehe Ihr Problem sehr gut, denn der innerste Glaubenskern eines Menschen wird davon berührt. Zuerst möchte ich sagen, dass ich mit der Abscheu Ihres Vaters sehr sympathisiere, die er über die Verwendung der Naturgeheimnisse zu destruktiven Zwecken empfindet. Meinerseits sehe ich jedoch in der Entstehung und Ausbreitung und der gegenwärtig rapiden Entwicklung der Kernphysik weder ein Werk des Teufels – wenn es einen gäbe – noch ein Werk seiner finsteren Scharen. Missbräuchliche Machtanwendung ist immer eine teuflische und bösartige Sache – sie ist aber kein Werk Satans.

Hier liegt ein großer Unterschied. Er mag trivial erscheinen, aber er trifft genau den Kern des theologischen Problems von Gut und Böse: das Gute, dargestellt als das Wirken Gottes und das Böse als Werk des Teufels. Nach meiner Ansicht gibt es keinen Teufel, der absichtlich Menschen auf böse Wege führt, es gibt aber auch keinen persönlichen Gott, der genauso absichtlich Menschen auf den rechten Weg führt. Gut und Böse sind jedoch immer mit uns, genau wie Hitze und Kälte, Tag und Nacht und alle anderen bipolaren Erscheinungen. Es handelt sich vielmehr um relative Bedingungen lebender Wesen und nicht um selbständige Wesenheiten an sich. Gut und Böse in den menschlichen Beziehungen sind daher als relative Bewusstseinszustände anzusehen. Wir können sagen, das Gute ist, was mit dem Aufwärtstrend des Fortschritts übereinstimmt, und das Böse, was die Tendenz zum Rückschritt, zur Zerstörung und Verzerrung des natürlichen Gleichgewichts hat. Was einigen Ureinwohnern in Australien und Afrika gut erscheinen mag, mag uns schrecklich böse erscheinen – und vielleicht auch umgekehrt!

Frage – Wenn es, wie Sie sagen, keinen Teufel gibt, glauben Sie dann, dass Gott dem Menschen die Entdeckung des Atomgeheimnisses gestattete?

Stellungnahme – Ich glaube nicht, dass Gott mit der Entdeckung des Atoms irgendetwas zu tun hatte, noch dass Gott uns an der Erforschung der Verwendungsmöglichkeiten hindern würde. Der Mensch selbst ist es, der gegen die destruktive Verwendung die Bremse einsetzen muss. Auch glaube ich so fest an das Gesetz von Ursache und Wirkung, dass ich die Entdeckungen der Kernphysik für einen Teil der größeren Gelegenheiten halte, die wir uns als Menschheit verdient haben. Ich glaube, wir brauchen nicht den Eintritt einer plötzlichen Vernichtung zu befürchten.

Frage – Sie glauben also, dass es der Mensch nicht bis zum freiwilligen Rassenselbstmord kommen lässt? Sie sagten vorhin, wenn jemand wirklich in die Irre gehen wolle und diesem niederen Pfad lange genug folge, er schließlich abwärts gehen und vielleicht sogar die Verbindung abreißen würde. Warum sollte sich nicht dasselbe mit der Menschheit ereignen, die doch letzten Endes nur die Summe von ein paar Milliarden Menschen ist?

Stellungnahme – Das könnte leicht der Fall sein, wenn ausreichend viele Menschen den starken Wunsch hätten, den Weg der Zerstörung und des Bösen zu beschreiten. Aber ich bin heute so davon überzeugt, wie überhaupt von einer Sache in der Welt, dass das Gewicht stark auf der Seite des Rechts liegt. Warum behaupte ich das? Nehmen wir den Bevölkerungsquerschnitt einer beliebigen Stadt, einer Gemeinde, einer Nation oder einer Gruppe von Nationen. Wir würden hervorragende Vertreter für die besten und edelsten menschlichen Eigenschaften finden, aber auch für die allerschlimmsten. Doch Seite an Seite mit diesen fänden wir eine große Zahl Männer und Frauen, die keiner je mit Namen kennt, die jedoch buchstäblich das „Salz der Erde“ (Matthäus 5, 13) sind. Auf ihre einfache Art zeigen sie vorbildliche Eigenschaften: Mut, gewissenhafte Erfüllung der jeweiligen Pflichten – wie bescheiden und anscheinend unwichtig diese auch aussehen mögen – und ein natürliches Verständnis für ihre Nachbarn. Das alles wird in den Waagschalen des Schicksals genauso sicher und exakt gewogen, wie die glänzenderen Tugenden und die hervorstechenderen Charaktereigenschaften, die von hervorragenderen Menschen ausgeübt werden. Dass die Waagschalen auch mit dem Gewicht der Trägheit, der Selbstsucht und der Habgier schwer belastet sind, darüber besteht wenig Zweifel.

Ich bin überzeugt, dass die Geschichte später dieses Zeitalter als eines der gefahrvollsten bezeichnen wird, aber auch als eines, das für den spirituellen wie auch den materiellen Fortschritt zu den bemerkenswertesten zählt, denn die Entdeckung der Kernspaltung hat auch zu einer intensiven und direkten Auseinandersetzung über essenzielle Werte geführt. Schon das führt, zusammen mit dem Vorherrschen einer allgemeinen Gefahr, zur Bildung eines feinen, aber greifbaren Bewusstseins unserer Einheit als Menschheit.

Frage – Ich stimme hier mit Ihnen völlig überein und die meisten jungen Menschen wohl auch. Mein Vater sieht aber die Sache noch von einem anderen Standpunkt aus. Er sagt, dieses Atomzeitalter sei nicht nur das Werk des Teufels, sondern es beweise, dass wir alle ‘in Sünde geboren’ sind. Diese Vorstellung ist für mich abscheulich. Können Sie zu diesem Begriff noch etwas sagen?

Stellungnahme – Wir wollen niemand kritisieren, der aufrichtig an die Erbsünde des Menschen glaubt, aber ich kann genauso wenig daran glauben wie Sie.

Nehmen wir uns die ersten drei Kapitel der Genesis vor, dann sehen wir, wie wenig sie befriedigen, wenn man sie wörtlich nimmt, wie sie aber andererseits eine echte Bedeutung gewinnen, wenn man sie als Allegorie für die Entstehung des Menschen ansieht. Nach der Erschaffung der Himmel und der Erde im ersten Kapitel wurde es für Gott oder Elohim – im Hebräischen wörtlich ‘Götter’ – Zeit, den Menschen zu bilden. So wurde gemäß dem zweiten Kapitel Adam aus dem Staub der Erde geformt. Die Elohim bliesen ihm darauf „in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen“ (Genesis 2, 7). Dann wurde in Eden ein Garten angelegt, in dessen Mitte der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse stand. Nachdem alle Tiere erschaffen worden waren, sah Gott der Herr, dass Adam keine Gefährtin hatte. Er versetzte ihn deshalb in einen tiefen Schlaf, nahm ihm eine ‘Rippe’ heraus und schuf daraus eine Frau. So haben wir jetzt Adam und Eva im Garten Eden, nackt, ohne Scham, versehen mit der Warnung, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen.

Nun das dritte Kapitel: Hier erscheint eine Schlange und überredet sie, von dem verbotenen Baum zu essen, denn „ihr werdet nicht sterben“, sondern „ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“ (Genesis 3, 4-5). Eva hört darauf und sieht, dass nicht nur gut von ihm zu essen wäre und er lieblich anzusehen sei, sondern dass er ein Baum ist, „der einen klug macht“, und so entschließt sie sich, ein Stück von der Frucht zu kosten und dann mit Adam zu teilen. Wir lesen ferner von dem schrecklichen Fluch, den Gott Eva auferlegte, weil sie Adam verführte und dass das ganze Leben fortan aus Kummer, Arbeit und Kampf bestünde. Hören wir nun den Schluss des dritten Kapitels mit Bezug auf den Baum des Lebens: „Dann sprach Gott, der Herr: Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt“ (Genesis 3, 22). Deshalb wurden Adam und Eva aus dem Garten vertrieben und deshalb stellte Gott der Herr die Cherubim und ein flammendes Schwert an den Eingang, um den Baum des Lebens vor dem Menschen zu schützen.

Das war in Kürze die hebräische Darstellungsweise der Genesis unserer evolutionären Entwicklung aus einem Zustand, der der Unschuld und Unverantwortlichkeit der Tiere glich, zu einer bewussten Erkenntnis unseres Menschseins. Adam, der ursprünglich androgyn war, das heißt, die Potenzialität des Männlichen und Weiblichen enthielt, verfiel in einen ‘tiefen Schlaf’, in dessen Verlauf die Elohim eine seiner Rippen entfernten – es ist bemerkenswert, dass im Hebräischen das Wort auch ‘Seite’ bedeutet –,was die natürliche Trennung der Geschlechter in zwei bewirkte, und die kindliche Menschheit erwachte dann geteilt in Männer und Frauen mit allen Merkmalen ihres jeweiligen Geschlechts. Mit dem Kosten der verbotenen Frucht wurde ihnen ihre „Nacktheit“ oder Verantwortlichkeit bewusst, und als Folge ihrer neu gewonnenen Erkenntnis entstand der Wunsch, dass sie „Feigenblätter zusammenhefteten“ (Genesis 3, 7).

Ferner war die Schlange in fast allen Ländern ursprünglich kein Symbol für List oder Täuschung, sondern vielmehr ein Weisheitssymbol, man sah in ihr symbolisch eine Vermittlerin von Licht und Erkenntnis. Wenn wir die Schlange der Genesis in der Rolle des ‘Lichtbringers’ sehen – das ist die Bedeutung des Wortes Luzifer – dann können wir erkennen, wie erstaunlich verschieden unsere Vorstellung vom Ursprung des Menschen ist.

Frage – Wie kamen wir dann überhaupt zu der Vorstellung, dass wir ‘in Sünde geboren’ sind?

Stellungnahme – Das ist eine der destruktiven Wirkungen der wörtlichen Auslegung des vermeintlichen Wortes Gottes – man nimmt eine Wahrheit und macht aus dem, was man davon versteht, ein Dogma, wobei das, was man ‘versteht’, völlig falsch sein kann. Sie sehen, Adam und Eva – Symbol der kindhaften Menschen – ‘fielen’ durch die Vertreibung aus dem Paradies buchstäblich aus ihrem vorhergehenden Zustand friedlicher und glückseliger Unbewusstheit in einen Zustand, in dem Mühsal und Qualen gelten und die zwiespältige Entscheidung zwischen Gut und Böse. Adams sogenannter Fall aus der Gnade war jedoch kein Rückschritt, sondern in Wirklichkeit ein Schritt vorwärts, zu größeren Erfahrungen. Der Mensch wurde ‘in Materie’ geboren, aber nicht in ‘Sünde’. Er ist zwar ‘verflucht’ zu Mühsal und Leid, doch mit dem Kampf und Schmerz jeder Geburt ist auch immer der herrliche Triumph der Schöpfung verbunden. Dieses Erbe hinterließ der Gefallene Engel, der in Gestalt einer Schlange jene glorreiche Tat weißer Magie vollbrachte, wodurch er das latente Denkvermögen zu dynamischer Aktivität entfachte und so unsere selbstbewusste Verbindung zu dem Odem der Göttlichkeit herstellte, als die Elohim diesem Lehmkloß ihren Odem einhauchten und den Menschen zu „einem lebendigen Wesen“ machten.

Frage – Ich habe wieder eine Frage über den Willen Gottes. Auf welche Weise kommt man mit dem Willen Gottes am besten in Einklang?

Stellungnahme – Das ist eine schöne Frage. Die vermutlich erhabenste Lebensregel beschreibt der Ausruf des Meisters in Getsemane: Nicht mein, sondern Dein Wille soll geschehen (Lukas 22, 42). Lass nicht den Willen des persönlichen Menschen zur Vorherrschaft kommen, sondern, o mein Vater, wirke durch mich und setze deinen göttlichen Willen in Tätigkeit. Wenn wir den Willen unseres Vaters anstreben, werden wir, ganz gleich wie oft wir versagen oder wie stark wir von unseren inneren Idealen abweichen, schließlich nicht den Willen des irrenden menschlichen Selbst, sondern wirklich den Willen Gottes ausführen, weil es der Wille unseres eigenen inneren Gottes ist. Gottes Wille ist für Sie nicht derselbe wie für mich oder für einen anderen. Nur der eigene innere Gott, unser eigener Teil der göttlichen Essenz, unser eigener individueller Vater kann uns den Willen verdeutlichen, dem jeder individuell folgen muss.

Sie fragen, wie wir uns am besten mit unserem göttlichen Willen in Einklang bringen können? Nicht mein Wille, sondern der Wille des Vaters geschehe – in dem Maß wie wir unsere Gebete und unser Streben auf den Vater abstimmen und seine Gebote halten können, werden wir in Hülle und Fülle Führung erhalten. Aber ich wiederhole: Niemand kann für einen anderen den Willen des Vaters vorausbestimmen. Jeder einzelne ist verpflichtet, ihn selbst herauszufinden. Seine Gebote werden auch nicht laut ausgesprochen. Aber sie sind trotzdem da.

So können Sie sehen, dass der Mensch sein eigener Mahner und Führer ist, und er braucht keine Furcht zu haben; wenn er auch aus dem Staub der Erde geformt ist, ist er doch vom Odem der Elohim durchdrungen und als „lebendiges Wesen“ kann er tatsächlich „über die Engel richten“ (1 Korinther 6, 3).

Auf Stärke vertrauen

An der Anstrengung der Menschheit, aus der Finsternis ins Licht zu gelangen, waren in allen Teilen der Welt und zu jeder Zeit zahllose entschlossene Menschen beteiligt. In jedem Jahrhundert wagten es Einzelne, die ‘Pforten des Himmels’ zu erstürmen und das menschliche Denken mit Mut und größerer Einsicht zu stärken. Seite an Seite mit diesen wenigen bewegt sich jedoch das Bleigewicht der Menschen, welche die durch das Menschsein auferlegte Verantwortung nicht einmal halbwegs erfüllen wollen.

Wegen der kritischen Situation sind heute jedoch nicht nur die wenigen zu einer Entscheidung herausgefordert, sondern alle, jeder Einzelne. Wie aber soll man dieser Herausforderung einsichtsvoll und weise begegnen?

Eine Vision einer erleuchteteren Sichtweise zu erhaschen ist eine Sache, ihre Umsetzung ist jedoch etwas ganz anderes. Es dauert Jahre und möglicherweise Jahrtausende, bis die uralten Tugenden wie Barmherzigkeit, Unterscheidungskraft, Mut und Verständnis im Charakter fest verankert sind. Überall fragen sich Menschen: Welche Bedeutung hat die Gewaltanwendung in unseren menschlichen Beziehungen, wenn der Kampf des Lichts gegen die Finsternis endlos weitergeht? Wenn wir sehen, dass die Natur in ihren Bereichen gewaltige Kräfte aufwendet, dann kann man vom Menschen doch nicht erwarten, dass er keine Gewalt anwenden soll, um seinen Willen durchzusetzen.

Im Wachstumsprozess gibt es natürlicherweise Kämpfe und Willenskonflikte. Es ist jedoch sehr fraglich, ob die Natur das Wachstum jemals forciert. Zwischen zwingender Gewalt und wohltätiger Anwendung von Stärke liegt ein Riesenunterschied. Auf technischem Gebiet ist Kraft zweifellos wirkungsvoll, denn es sind nur einige Planierraupen und Bagger erforderlich, um ‘einen Berg zu versetzen’. Was wird aber unvermeidlich erzeugt, wenn man auf den höheren Ebenen des Denkens und Handelns Gewalt anwendet? Widerstand und nochmals Widerstand, wobei Gewalt gegen Gewalt steht, ohne dass eine Lösung sichtbar wird. Ja, in allen menschlichen Beziehungen finden wir tatsächlich Gewalt, viel Gewalt: menschliche Willenskraft, mit der versucht wird, Veränderungen zu erzwingen und einen Weg durch Berge von Widerstand zu bahnen. Wenn es aber Berge gibt, die weder aus Fels noch aus Erde bestehen, sind dann nicht eher spirituelle denn materielle Werkzeuge erforderlich?

Die Natur arbeitet ruhig und doch kraftvoll. Der Mensch kann zwar eine Pflanze in ein Gewächshaus stellen und ihr Wachstum durch vermehrte Wärme fördern. Er verkürzt damit jedoch auch ihr Leben. Wir kennen alle die Stelle bei Matthäus, wo Jesus seine Zuhörer daran erinnert: „Seit den Tagen Johannes des Täufers bis heute wird dem Himmelreich Gewalt angetan; die Gewalttätigen reißen es an sich“ (Matthäus 11, 12). Sollten wir daraus schließen, Jesus meinte, wir müssten das Reich der spirituellen Dinge buchstäblich mit Gewalt an uns reißen? Bei der Betrachtung des Originaltextes bemerken wir, dass dieser Ausspruch mit gleicher Genauigkeit wie folgt übersetzt werden kann: „Das Himmelreich ist überwältigt und die Starken (im Denken) ergreifen es.“ Das Wort ‘überwältigen’, das von der Wurzel bia stammt, bedeutet im Altgriechischen nicht nur ‘körperliche Stärke oder Kraft’, sondern auch ‘Stärke des Denkens’. Warum sollte daher des Meisters Ermahnung nicht übersetzt werden mit „das Reich der spirituellen Dinge muss mit Stärke genommen werden und die Starken im Denken ergreifen es“.

Die jetzige Krise ist nicht neu – sie musste in vergangenen Zeitaltern unzählige Male bewältigt werden, aber noch nie war in der historischen Zeit vernunftgemäßes Handeln so ungeheuer wichtig wie heute. Mit den vielen Fähigkeiten, die uns spirituell, mental und physisch zur Verfügung stehen, müsste der Sieg leicht fallen. Aber der Mensch hat immer noch die natürliche Scheu, das Alte abzuwerfen und das Reich des Neuen mit Stärke zu nehmen. Es gibt noch immer Nikodemusse, die aus freiem Entschluss beiseite stehen, außerhalb des Kreises aktiver Verantwortung; und dazu gehören auch die reichen jungen Herrscher, die das Licht der Wahrheit sehen und dennoch den Scheuklappen ihrer althergebrachten Denkweise den Vorzug geben, wodurch sie sich des Privilegs berauben, der Vorhut anzugehören.

Die Hoffnung der Welt liegt weder in doktrinärer Theologie noch in philosophischer Spekulation noch im wissenschaftlichen Experiment. Sie liegt dort, wo sie immer ist: Im Mut und in der Vision jeder nachfolgenden Generation, sich von der Flut des Fortschritts tragen zu lassen, wenn sie sich von einem Zyklus zum nächsten fortbewegt. Wir müssen immer auf die im Herzen Jungen blicken, nicht immer die an Jahren Jungen, sondern jene, die geistig beweglich geblieben sind – die neue Wege der Erfüllung vorzeichnen, damit die nachfolgenden Generationen den nach oben gerichteten Fortschritt des Menschengeschlechts fortsetzen können.

Die Jugend von heute beweist, dass in ihrem Wesen eine große Fülle an Selbstlosigkeit vorhanden ist, gepaart mit dem Wunsch, mit ihrem Leben etwas Schöpferisches zu machen. Es ist richtig, dass manche ernsthafte Schwierigkeiten überwinden müssen, um die Umstellung zur Reife zu schaffen; diese bilden jedoch nur einen unbedeutenden Prozentsatz im Vergleich zu der pulsierenden Lebenswoge beherzter, entschlossener und hochintelligenter junger Menschen, die mit Eifer bemüht sind, sich auf die Herausforderung dieses Jahrhunderts vorzubereiten. Sie stellen bohrende Fragen. Darunter sehr wichtige über die Probleme von Geburt und Tod und über die Rolle, die sie als Individuen in dem größeren evolutionären Plan spielen. Sie besitzen ein Selbstvertrauen im Geist und im Denken, welches das müde Buchstabendenken religiöser Dogmen nicht länger duldet. Das Vermächtnis des ‘Himmelsreichs’ gehört ihnen – nicht dafür, dass es mit Gewalt eingenommen wird, sondern treu bewahrt für die ‘Starken im Denken’ – ein Vermächtnis der Freiheit von Denken und Handeln und, was am wichtigsten ist, ein Vermächtnis eines freien spirituellen Strebens.

Psychische versus spirituelle Entwicklung

Frage – Wir beide hier gehören zu einer Gruppe junger Menschen im Alter von 16 bis 22. Wir treffen uns regelmäßig, um über alle möglichen Fragen zu diskutieren, über soziale und kulturelle Dinge bis hin zur Religion und Philosophie, weil wir befriedigendere Antworten wollen, als sie bis jetzt von den religiösen Quellen geboten wurden. Wir haben uns mit den Vorstellungen über Reinkarnation und Karma und auch mit den Lehren über das Psychische befasst und möchten nun gerne Ihren Standpunkt zu diesen Dingen kennenlernen, insbesondere über die psychische Entwicklung.

Stellungnahme – Ich befürworte die psychische Entwicklung in keiner Weise. Man kann nicht verneinen, dass im Menschen solche verborgene Fähigkeiten und noch weitaus subtilere Kräfte vorhanden sind; sie werden aber auf ganz natürliche Weise in aktive Funktion treten, wenn das innere Bewusstsein des Individuums sie in angemessener Weise gebrauchen kann. Diese richtige und weise Anwendung wird jedoch erst möglich sein, wenn wir die Erfüllung unserer täglichen Aufgaben in den Vordergrund gestellt haben.

Frage – Wenn der Mensch diese inneren Kräfte besitzt, warum sollte dann deren Entwicklung falsch sein?

Stellungnahme – Lassen Sie mich Folgendes klarmachen: Ich selbst lehne zwar die forcierte Entwicklung der außergewöhnlichen Kräfte ganz entschieden ab, kritisiere aber keinen, der einer anders denkenden Gruppe angehört. Meine Kritik wendet sich gegen die falsche Deutung und Anwendung der alten spirituellen Prinzipien. Jahrtausendelang haben die Weisen vor einem unnatürlichen Eindringen in das Psychische gewarnt und die Entwicklung des Moralischen und Spirituellen zur Richtschnur des Strebens gemacht. Ich spreche nur prinzipiell und will Sie nicht beeinflussen. Wenn wir aber das, was wir von den von allen Weltlehrern verkündeten Wahrheiten erfasst haben, im Leben anwenden und das Schwergewicht nicht auf die psychischen Kräfte legen, werden wir uns durch Karma die für uns notwendigen Erfahrungen heranziehen.

Spirituelle Erleuchtung kann jederzeit erfolgen, zu jeder Stunde des Tages und nicht nur in festgesetzen Versammlungen oder an Sonntagen oder unter besonderen Umständen mit speziellen Zeremonien. Unsere Hauptverantwortung liegt in der vollen Erfüllung unserer Pflichten – nicht nur gegenüber unserer Familie und unserem Beruf, sondern auch gegenüber unserer Nation, unseren Mitmenschen und nicht zuletzt gegenüber unserem höheren Selbst. Wenn wir danach noch etwas Zeit und Energie übrig haben, können wir über die Ausführung bestimmter gymnastischer Übungen zur Entwicklung unserer spirituellen Muskeln nachdenken!

Frage – Einige von uns glauben an die Wiedergeburt der Seele; was reinkarniert eigentlich wirklich?

Stellungnahme – Was bildet die kontinuierliche innere Führung im Leben jedes Menschen? Es muss etwas sein, das direkt oder indirekt mit dem unsterblichen Selbst verbunden ist, das von Leben zu Leben geboren wird. Manche bezeichnen es als das reinkarnierende Ego oder als reinkarnierendes Element. Es ist jener fortdauernde innere Wesensteil, der einen Teil der assimilierten Lebenserfahrungen der Vergangenheit mit sich gebracht hat und auf diese Weise in jeder einzelnen Lebenszeit den Anstoß zur Tätigkeit gibt und die Bühne für die Aktionen und Reaktionen der Seele errichtet. Woher stammt diese Bühneneinrichtung? Das reinkarnierende Ego gestaltet sie nicht bewusst. Sie wird durch Karma erstellt, indem es aus dem großen Sammelbecken von Erfahrungen schöpft, das jeder selbst gefüllt hat. Dadurch kann unser höheres Selbst eine Persönlichkeit zur Geburt bringen, die den Wert und die spirituelle Qualität des reinkarnierenden Egos abrundet, stärkt und vermehrt. Die Familie und die Umwelt, in die man hineingeboren wird, ist in der Universität des Lebens das Klassenzimmer. Und der Lehrer? Jeder Einzelne ist sowohl Lehrer als auch Schüler. Wem wir von Geburt an bis zum Ende dieses Lebens auch begegnen mögen, jeder wird uns etwas lehren oder wir können ihm etwas geben, was er braucht – und sei es nur ein Lächeln oder Stirnrunzeln – es ist ein natürlicher Austausch, der unfehlbar in beiden Richtungen wirkt, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Unser Verhalten im Leben bestimmt unsere Zukunft; dieser Lebensprozess bietet unserem Bewusstsein die exakte Schulung, die es ermöglicht, ein umfassenderes Verständnis für alle Aufgaben und Pflichten zu gewinnen.

Jede große Weltreligion hat auf ihre Weise hervorgehoben, wie wichtig Ursache und Wirkung als moralische Richtlinie für das Leben ernsthafter Sucher ist. Ich sage absichtlich ‘ernsthafter Sucher’ – und ich möchte noch einen Schritt weitergehen: Jeder Lehrer auf dem Gebiet spirituellen Denkens hat auf die sich in unserem Leben entfaltende karmische Schrift hingewiesen, wie ich sie gerne nenne. Sie haben vermutlich einiges über die dreifache Natur des Menschen gelesen: das höhere Selbst, das mittlere Selbst und das niedere Selbst. In unserem gegenwärtigen Entwicklungsstadium liegt der Schwerpunkt unserer Erfahrungen in unserem mittleren Selbst, im Bereich der Seele oder des menschlichen Egos. Wir können unsere Gedanken und Interessen mit dem Höheren verbinden und Inspiration und Führung finden; wir können uns aber auch an unsere niedere Natur halten und depressiv und verwirrt werden.

Frage – Schlagen Sie für junge Menschen wie uns ein festgelegtes Programm vor?

Stellungnahme – Da meiner Ansicht nach jedes Programm notwendigerweise auf Menschen trifft, die in Anlage und Karma verschieden sind, geht man mit einem fixierten Aktionsprogramm sofort das Risiko ein, jedem gleiche Denkweise aufzuzwingen. Damit erzeugt man eine Kristallisation. Vom Standpunkt des reinkarnierenden Egos, das so hart mit der Ausarbeitung eines eigenen Wachstumsmusters beschäftigt ist, ist das falsch. Ich weiß, das klingt seltsam und sieht vielleicht oberflächlich gesehen auch so aus, ich bin aber von der grundsätzliche Richtigkeit überzeugt.

Besonders unter den jungen Menschen finden wir an diesem Punkt des Jahrhundertzyklus Egos, die bei ihrer Geburt eine größere Wellenlänge der Erfahrung mitbrachten, die sich durch eine formalistische religiöse Anschauung kaum zufrieden stellen lassen. Sie suchen die lebendige Wahrheit – keine Dogmen. Sobald man einen oder mehrere dieser aufgeschlossenen Menschen mit ihrem Tun, Denken und Streben in ein vorgeschriebenes Schema zwängen will, lehnen sie sich gegen solche einengenden Begrenzungen auf.

Das Klima des Weltdenkens kann außerdem nicht auf Dauer durch Knalleffekte und Zudringlichkeiten beeinflusst werden. Zu viele Organisationen arbeiten heute auf dieser Grundlage; ihre Bemühungen, wie ernsthaft sie auch gemeint sein mögen, führen jedoch zu nichts, weil nachdenkliche Männer und Frauen allmählich begreifen, dass man Wahrheit nicht ohne individuelle Opfer gewinnen kann. Es gab noch nie Abkürzungen für das spirituelle Wachstum, noch wird es je welche geben; es wäre ein Kardinalfehler, wollte man diesen Eindruck erwecken.

Wir dürfen auch nicht dem in unserer hochspezialisierten Gesellschaft so weit verbreiteten Irrtum verfallen und glauben, man käme mit einem Denkschema oder einem komplizierten Punkteprogramm zum Ziel, das man, in der Absicht Gutes zu erreichen, entwickelt. Wir müssten schließlich entdecken, dass diese gewollten ‘guten Ergebnisse’ für das dauerhafte Wohl der Menschheit null und nichtig wären. Gerade hier gilt das alte Gebot, dass man nicht an den ‘Ergebnissen der Handlung’ hängen darf. Wie oft tun wir etwas, sogar aus Mitleid wie wir meinen, und doch ist die Grundströmung unserer Handlung von dem selbstsüchtigen Wunsch gefärbt, die guten Ergebnisse sehen zu wollen, und von dem Gefühl getragen, dass wir an ihrem Zustandekommen mitgewirkt haben. Wenn wir wirklich dienen wollen, sollten wir nicht an Resultate denken, denn sie sind Sache des Großen Gesetzes, dessen Wirken weiser und gütiger ist, als der Mensch ersinnen könnte. Wir wollen deshalb von Formeln und Beschwörungen oder von einer Konzentration auf vorgegebene Gedanken für vorgegebene Ziele Abstand nehmen. Sie führen uns auf Nebenwege, die uns in den meisten Fällen von unserem Hauptziel weglocken.

Frage – Das weicht sehr von der Lehrweise ab, wie sie in den Kirchen und auch bei der Erziehung gefunden wird, wo es uns zur Gewohnheit gemacht wird, bestimmten Gedankengängen zu folgen.

Stellungnahme – Wir müssen alle auf unsere eigene Weise Erkenntnis gewinnen. Warum sollte jemand für seine Brüder, an deren Wohlergehen er angeblich interessiert ist, einen zementierten Gedankenkanal konstruieren, in den ihre spirituellen Energien einfließen? Das ist absurd. Das Werk der großen Lehrer, der Versuch, dem Gedankenleben der Welt den reinen Strom der Wahrheit zuzuführen, wird durch eben diese Methode zerstört.

Was geschieht bei unserem Zusammensein hier, bei unserem Gedankenaustausch? Ihnen selbst unbewusst ziehen Sie aus mir heraus, was Sie brauchen, und helfen Ihrerseits mir. Auf diese Weise wirkt Karma. Es ist nicht von Menschenhand; es ist ein Gesetz, das aus der göttlichen Intelligenz hervorgeht. Wenn wir im Inkreis der göttlichen Lebensgesetze handeln, ist uns das bewusst und wir ernten Segen; wenn wir gegen die Naturgesetze handeln, wissen wir es ebenfalls und ernten früher oder später Schwierigkeiten und Leid, bis wir unser Denken und unsere innere Einstellung berichtigen. Wir können das Karma eines anderen nicht einschätzen, weil wir nicht wissen, in welche Erfahrungsbereiche ihn sein höheres Selbst führen will, damit er seiner Seele die rechten Werte einprägen kann. Das Großartige dabei ist, dass gerade unsere Fehler oft unsere besten Lehrer sind, denn ohne die Überwindung von Fehlschlägen kommt niemand zu einem erfolgreichen Ergebnis. Deshalb sollten wir uns nie vor einem Fehler ängstigen, denn die Erkenntnis aus der Lehre, die wir aus dem Fehler ziehen, hilft uns auf dem Weg in unsere Zukunft. So lehrt jeder sich selbst; und wenn er strauchelt – und sein Motiv ist rein – dann fällt er, statt mit seinem Gesicht im Schatten und mit Finsternis vor sich, aufwärts, mit seinem Gesicht zur Sonne. Das ist Okkultismus in seinem reinsten Sinn. Der echte Okkultist – nicht der falsche Lehrer psychischer Kräfte oder sogenannter ‘okkulter Wissenschaften’, die voller Gefahren sind – zwingt keinem eine Lehre oder Vorschrift auf, sondern zeigt mit der aufklärenden Eigenschaft des Beispiels still den Weg.

Es ist überraschend, in welch hohem Maß diese grundlegenden Wahrheiten, die Zeitalter hindurch gelehrt worden sind, heute im Bewusstsein unserer Mitmenschen lebendig werden. Tausende und Abertausende suchen so wie Sie. Sie haben kein Interesse an spiritueller Gymnastik; sie wollen wissen, wie sie ihr Denken mit den fundamentalen spirituellen Prinzipien verbinden können, damit sie die Probleme, die ihr Bewusstsein dauernd beunruhigen, besser bewältigen können. Demonstrationen mit psychischen und übersinnlichen Kräften werden uns bestimmt nichts lehren. Nur in der Mühle der Lebensdisziplin kann man nach Abschluss jeder Erfahrung ein Maß an Weisheit finden.

Frage – Wir haben in unserer Gruppe kürzlich damit begonnen, leitende Persönlichkeiten verschiedener Geistesrichtungen einzuladen, um deren Ideen mit unseren eigenen vergleichen zu können. Es fiel uns auf, dass es so viele unterschiedliche Lehren gibt. Halten Sie es für möglich, dass eines Tages alle, die an höhere Dinge glauben, gemeinsam in einer Organisation arbeiten werden?

Stellungnahme – Ich glaube nicht, dass jemals ein formeller Zusammenschluss äußerer Organisationen zustande kommt. Spirituelle Einheit ist eine innere Angelegenheit, und kein noch so großes exoterisches Manöver wird sie jemals zustande bringen. Es ist aber möglich, dass in kommenden Jahrzehnten oder vielleicht in zukünftigen Jahrhunderten viel mehr Menschen und Gesellschaften den gemeinsamen Strom spiritueller Prinzipien finden und in ihrer Arbeit in die Praxis umsetzen werden. Wenn das eintritt, wird der äußere Rahmen voneinander getrennter Organisationen verschwinden, wodurch die echten Werte durch die innere Einheit des Denkens gefestigt werden. Nichts könnte diesen Prozess aufhalten, weil die spirituellen Einheiten im Herzorgan der Menschheit zusammenarbeiten würden und der Pulsschlag der Wahrheit das Lebensblut des evolutionären Fortschritts durch die ganze Menschheit zirkulieren ließe.

Frage – Aber glauben Sie nicht, dass eben dieser Versuch von allen Religionen, von allen Gruppen gemacht wurde, nur dass sie in unterschiedlicher Weise kristallisierten?

Stellungnahme – Selbstloses Bemühen wird, wo immer es zum Ausdruck kommt, stets die Anstrengungen des kleinen, jedoch mächtigen Kerns fördern, dessen Ziel es ist, dass mehr Bruderschaft unter den Menschen ausgeübt wird. Wenn die einzelnen Menschen ihre natürlichen Pflichten erfüllen, wird die durch diesen Prozess ausgelöste Verbreitung des Guten unbegrenzt sein. Sie macht bei den zwei oder drei Menschen, zwischen denen ein Austausch stattfindet, nicht halt, sondern geht weiter und weiter. Wie sich die Wellen in einem stillen See ins Unendliche ausbreiten, beeinflusst ein aufrichtiger Austausch guter Werke die Gesamtheit der Menschheit. Es entsteht auch eine echte Wohltat daraus, weil es sich um eine spontane Äußerung des Göttlichen handelt und nicht um ein künstliches Heilmittel gegen die Selbstsucht. Rechtes Handeln entspringt dem göttlichen Wesen, dem Brunnquell der Inspiration, der uns alle antreibt; und daher setzt sich die Wirkung einer selbstlosen Handlung ins Unendliche fort.

Haben Sie die Bhagavad-Gītā gelesen?

Frage – Nein, aber wir haben von ihr gehört. Würden Sie uns das Studium empfehlen?

Stellungnahme – Sie würden sicher von einem sorgfältigen Studium der Gītā profitieren. Es gibt von ihr viele Übersetzungen ins Englische und in andere moderne Sprachen. Ich selbst ziehe die Fassung von W. Q. Judge vor. Sie ist zwar nicht in Versform abgefasst, hat sich aber mit ihrer Prosaform eng an den Geist des Originals gehalten. Es ist ein herrliches kleines Buch, das unter der Oberfläche der exoterischen Erzählung tief esoterisch ist. Die Bhagavad-Gītā selbst ist nur eine kleine Episode aus dem großen indischen Epos Mahābhārata und berichtet von den Abenteuern zweier Armeen, die sich ‘in Kampfstellung’ begeben haben; mitten zwischen ihnen steht Arjuna, der in der feindlichen Armee seine alten ‘Lehrer und Freunde’ sieht und den Kampf ablehnt. Kṛishṇa, der Arjunas höheres Selbst repräsentiert, ermahnt ihn, sich zu ‘erheben’ und dem Feind – seinem früheren Selbst – ins Auge zu blicken. In dem sich anschließenden Zwiegespräch bringt Kṛishṇa – unter sehr wertvollen anderen – folgendes Prinzip zum Ausdruck: Von Hunderttausenden strebt nur einer nach Vollkommenheit und von all diesen Strebenden erkennt mich vielleicht nur ein Einziger so, wie ich bin.

Nun, das gleiche Prinzip gilt nicht nur für die Kirchen und alle spirituellen ‘Lehrer’, sondern für die gesamte Welt der Ideen: Unter allen sind vielleicht einer oder zwei, die eine relativ unbehinderte Wahrnehmung besitzen. Alle großen Religionen waren in ihren ersten Anfängen ein Ausdruck der Wahrheit. Aber leider, wie viele der Jünger, die dem ‘neuen’ Denken äußerst zugetan waren, begriffen wirklich mit den Augen der Seele? Nur ein Teil wurde erfasst; und durch seine schriftliche Fassung wurde er fixiert und damit schließlich zu einem Dogma. Ihre Vorstellungen mögen vom Ausgangspunkt ihres eigenen Bewusstseins aus genau gewesen sein, aber sie waren nicht notwendigerweise für jeden richtig. Nehmt irgendeine Menschengruppe, eine beliebige Stadt oder irgendeinen Ort in der Welt und zeigt allen genau das Gleiche und bittet dann um einen Bericht, was jeder gesehen hat. Jeder wird eine andere Geschichte erzählen. Genauso ist es mit der Wahrheit – jeder von uns sieht nur die Facette einer Facette der Wahrheit.

Frage – Würden Sie behaupten, dass die Menschen, die ihre psychischen Kräfte entwickeln wollen, bestimmt den falschen Weg gehen?

Stellungnahme – Wie könnten wir einem anderen sagen: „Dein Weg ist falsch; folge meinem Weg, weil ich weiß, dass er richtig ist.“ Nur sein inneres Motiv kann entscheiden, welcher Weg für ihn richtig oder falsch ist. Wenn aber einer die Entwicklung seiner psychischen Natur zu seinem Hauptziel macht, nehme ich an, dass ihn dieser Weg schließlich in eine Sackgasse führt.

Denken Sie an die Mediumschaft und an die Fähigkeit, Visionen und Gedankenformen zu sehen oder ans Gedankenlesen – all diese Dingen haben mit der spirituellen Natur nichts zu tun. Sie sind eher Hindernisse als Hilfen, weil sie die Seele von ihrem Ziel wegzulocken pflegen. Warum sage ich das, wo doch heutzutage soviel Interesse für diese übersinnlichen Kräfte vorhanden ist? Wie gesagt, nicht deshalb, weil sie nicht existieren; handelte es sich nur um erdichtete Einbildungen, läge offensichtlich nur wenig Gefahr in ihnen. Aber gerade wegen ihrer sehr realen Existenz bilden sie eine der größten Versuchungen. Sie erinnern sich, was der Meister Jesus sagte: Suchet zuerst nach dem Reich des Himmels, und all diese Dinge werden euch dazugegeben werden. Das hat jeder Weltlehrer gesagt: Suchet zuerst den Weg der spirituellen Erleuchtung, das Sonnenlicht der inneren Göttlichkeit, statt des Mondlichts der psychischen Natur; denn die Lichtstrahlen von oben werden dein ganzes Wesen von oben nach unten durchdringen und die täglichen Dinge deines Lebens erhellen. Wenn das geschieht, wird uns tatsächlich „alles andere dazugegeben“ (Matthäus 6, 33) zur rechtmäßigen Zeit. Dann, und nur dann, werden wir vorbereitet sein, weise und ohne Gefahr für uns und andere mit ihnen umzugehen.

Frage – Das ist aber ein ziemlich langsamer Prozess. Viele Menschen möchten nicht darauf warten und ziehen die Beschleunigung ihrer Entwicklung vor.

Stellungnahme – Einer psychischen Entwicklung nachzugehen, erscheint zwar als schnellerer und abwechslungsreicherer Weg, ist aber in Wirklichkeit ein viel längerer Erfahrungsweg, der zudem in die Sackgasse psychischer Gleichgewichtsstörungen führen kann, wobei sich die Seele, zumindest für eine Zeit, außerhalb der Sicherheitszone befindet, die zwischen dem spirituellen und dem psychischen Pol ihrer Natur vorhanden ist. Die unnatürliche Forcierung durch falsche Meditation, durch Atemübungen und andere fragwürdige Praktiken kann die psychischen Zentren im Menschen entwickeln. Wenn es jedoch vor ihrer natürlichen Blütezeit getan wird, mit der das Verständnis für ihre rechtmäßige Anwendung einherginge, besteht die große Gefahr, dass sich der Fortschritt der Seele um Lebenszeiten verzögert.

Wenn unsere Beweggründe aufrichtig sind und unser Streben stark und unpersönlich auf die Wahrheit gerichtet ist, werden wir schließlich den Weg finden, der für uns im Grunde richtig ist, ohne Rücksicht darauf, wie viel falsche Schritte wir getan haben um dorthin zu gelangen. Wie Kṛishṇa in der Gītā sagt: „Auf welche Weise sich die Menschen mir auch nähern, in der Weise unterstütze ich sie; welcher Weg auch immer von der Menschheit eingeschlagen wird, dieser Weg ist meiner“ (Bhagavad-Gītā, 4:11). Mit anderen Worten, ganz gleich, welchem Weg wir in dem ungeheueren Zeitraum folgen, die Göttlichkeit in uns wird schließlich die Verbindung mit ihrem Kind knüpfen. Die Aufgabe der Helfer der Menschheit – des größten wie auch des geringsten – liegt in der Beschleunigung dieses Prozesses, indem sie sich als Hebammen für die Seelen der Menschen betätigen. Das war die Mission des Sokrates: die Seelenqualitäten der Jugend Athens zur vollständigeren Geburt anzuregen.

Spirituelle Entfaltung gehört zu den bewegendsten Erfahrungen des Menschen. Wer jedoch nach einer hochgespannten Entwicklung sucht, wird bitter enttäuscht werden. Das einzige wirklich echte Drama ist die allmähliche Erweckung der eigenen Seele. Bei diesem Prozess wird seine Lebensschau und sein Verständnis über die Vorgänge, die sich in seinem Innern wie auch im Universum abspielen, durch die Fülle des Geistes intensiv erhellt werden. Das ist ein Drama im höchsten Sinn.

Wie die Kinder

In der Heiligen Schrift lesen wir, dass der Meister Jesus sagte: „Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelsreich kommen“ (Matthäus 18, 3). Eine so einfache Bemerkung, dass wir seit vielen Jahren versäumt haben, ihr die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.

Zu wem sprach er? Zu kleinen Kindern? Zu Buben und Mädchen? Keineswegs. Er sprach zu Erwachsenen, zu Menschen, die sowohl materielle wie auch spirituelle Probleme hatten und um Hilfe zu dem Meister gekommen waren. Er kannte ihre Kämpfe und er sah in ihren Gesichtern dasselbe, was heute jeder überall in den Gesichtern der Männer und Frauen lesen kann.

In kritischen Zeiten werden wir von der Strömung des Augenblicks so erfasst, dass wir die Tatsache übersehen, dass die augenblickliche Situation lediglich ein Glied in einer langen Situationskette ist, der Höhepunkt einer Jahre oder vielleicht Lebenszeiten dauernden Entwicklung. Weil wir das nicht beachten, gerät uns die Perspektive und der Wert dieser vergangenen Erfahrungen aus den Augen, die uns, wenn sie uns bewusst wären, bei der Lösung unseres Dilemmas helfen würden. Derart durch Verwirrung geblendet, fühlen wir uns betrogen – nicht nur von anderen, sondern auch vom Leben selbst. Infolgedessen beschuldigen wir alle anderen – unsere Nächsten, unsere Geschäftskollegen, vielleicht sogar unsere Familienangehörigen und nahen Freunde oder die Regierung, die Welt, alle – nur nicht uns selbst. Das muss Jesus in den Augen jener gelesen haben, zu denen er diese Worte sprach. Wie verdunkelt war ihr Bewusstsein, wieviele dichte Schleier hatten sie entstehen lassen zwischen der augenblicklichen Verfassung, in welcher der Meister sie sah, und ihrer Kindheitsverfassung.

Wir haben uns alle unser Leben über Gebühr erschwert. Seit Jahrtausenden haben wir uns mit unserer Gelehrsamkeit, mit unserer Bildung und mit unserem Wahrheitsverständnis gebrüstet. Und doch haben die Weltlehrer die Menschheit immer wieder daran erinnert, dass die Augen- von der Herzenslehre zu unterscheiden ist (siehe Die Stimme der Stille, S. 41): eine dem Herzen angeborene Gelehrsamkeit, die Intuition, der spirituelle Wille des Menschen, anstelle einer Gelehrsamkeit, die rein intellektuell ist und durch den menschlichen Willen motiviert wird. Können wir nicht begreifen, dass die Lebensrätsel nicht mir reinem Verstand, sondern mit Intuition, nicht mit Sentimentalität, sondern durch Einsicht gelöst werden?

Wer von uns Kinder liebt, staunt über ihre klare Intuition und wundert sich manchmal über ihre scharfe Beobachtungsgabe. Jedermann weiß, dass die von ganz kleinen Kindern gestellten Fragen oft am schwersten zu beantworten sind, weil sie unheimlich direkt den Kern der Hauptprobleme treffen, an denen Philosophen in aller Welt herumrätseln. Und wir werden unsere Kinder nie zufrieden stellen, wenn wir nur Verstand und Gefühl allein anwenden; wie aber funkeln ihre Augen, wenn wir an ihre innewohnende Intuition und Urteilskraft appellieren.

Warum also drängte der Meister seine Anhänger, wie die Kinder zu werden, wollten sie das Himmelreich erlangen? Wollte er von ihnen, dass sie zu kindlichen Streichen zurückkehren und buchstäblich wie Kinder denken und handeln sollten? Bestimmt nicht. Er appellierte an jene Eigenschaft, die einem Kind eigen ist. Sehen wir uns heute selbst an. Was geschah mit uns, als wir aufwuchsen. Wir durchliefen die Schule und wenn wir Glück hatten vielleicht eine Universität. Wir gewannen das Gefühl, eine Menge gelernt zu haben. Was machen wir aber mit den Wissensdaten, die wir in theoretischer oder praktischer, in religiöser oder wissenschaftlicher Hinsicht erwarben. Meistens speichern wir sie nur in unserem Kopf, zur eventuellen späteren Verwendung. Dieser Prozess läuft über Jahre. Und das Ergebnis? Was machen wir, wenn wir in den Strudel der Wechselfälle des Lebens geraten, wenn wir echten Entscheidungen gegenübergestellt werden? In unserem Angstzustand und selbst nach nüchterner Überlegung suchen wir aus unserem mentalen Ablageschrank die Dinge heraus, von denen wir uns die Lösung unserer Probleme versprechen, wobei wir lediglich feststellen, dass sie sie nicht im mindesten lösen, weder zu unserer noch zur Zufriedenheit anderer, die mitbeteiligt sein mögen.

Was jetzt? Hätten wir die aus jeder Erfahrung gewonnene Erkenntnis in unserem Herzen gespeichert, im permanenten Bereich unseres Bewusstseins, würden wir, sobald wir ernsten Problemen gegenüberstehen, entdecken, dass das Herz, wenn es die Führung übernommen hat, uns ganz natürlich zu den richtigen Lösungen führen würde, so dass wir nicht versuchen müssten, mit dem Verstand qualvoll nach Antworten zu suchen. Die Intuition wäre dann unsere Richtschnur und der Verstand ihr gehorsamer Diener, der Ausführende ihrer Direktiven – nicht ihr Meister.

Den Älteren unter uns, die viele und vielleicht auch schwer wiegende Fehler gemacht haben, könnte es äußerst beschwerlich erscheinen, in kurzer Zeit einem Kind gleich zu werden. Das ist aber nicht der Fall. Der Meister Jesus wusste, dass es nicht zu schwer ist, sonst hätte er die Menschen seinerzeit nicht dazu aufgefordert. Und es fällt ganz besonders leicht, wenn ein Mensch erst einmal den Entschluss gefasst hat, sein Leben dem Dienen zu weihen.

Wir wollen uns folgende einfache Frage stellen: Welche Basis im Bewusstsein des Kindes macht seine Intuition und Urteilskraft so wundervoll wirksam? Das Kind kommt frisch von der anderen Seite zu uns. In seinem zarten Alter ist es von der Kenntnis seiner Vergangenheit oder seiner Zukunft nicht beschwert. so dass es ein wahrhaft jungfräuliches Bewusstsein besitzt, mit dem es sich auf die bevorstehenden Erfahrungen vorbereiten kann. Es trat, ‘Wolken der Herrlichkeit mit sich ziehend’ ins Leben, wie Wordsworth so malerisch sagte.

Was bringt das Kind vor allem mit sich? Vertrauen – diese echte Grundlage, auf der das spirituelle Wachstum der Welt errichtet werden muss. Welcher Mensch, der auch nur ein wenig Liebe im Herzen hat, kann nicht das bedingungslose Vertrauen erkennen, das in den Augen des Kindes liegt, das neu in die Welt blickt und zu seinen Eltern aufsieht, an die es sich immer wenden wird? Aber im Laufe des Lebens findet es dann immer weniger und weniger Vertrauen in den Herzen derer, auf die es angewiesen ist. Infolgedessen wird es verwirrt, vielleicht sogar verbittert.

Zu werden wie die Kinder! Es gibt dazu einen einfachen Weg, der durch die ganzen Zeitalter hindurch immer der gleiche gewesen ist: Mensch erkenne dich selbst! Dieses Gebot war den Verehrern im Tempel des Apollon oder jenen, die auf die Orakel des alten Griechenland hörten und an sie glaubten, nicht neu. Das Gebot ist zeitlos und heute genauso wirksam wie damals, als es zuerst ausgesprochen wurde. Der einzige Weg zur Selbsterkenntnis liegt in der Erforschung unseres Bewusstseins. Wenn wir das ehrlich machen, geben wir nicht länger anderen die Schuld an unseren Prüfungen. Aber wir sind von unserem Ablagesystem intellektueller Fakten, auf das wir so stolz sind, so eingenommen, dass wir zu unserem Herzen, wo Intuition und Hilfe wohnen, keinen Zugang finden. Sobald wir uns entschließen, uns selbst gegenüberzutreten und die volle Verantwortung für unsere Verhältnisse zu übernehmen, beugen sich die Götter herab um uns zu helfen – zu unerwarteten Zeiten, durch unerwartete Personen und auf unerwartete Weise. Das ist ein unverletzbares Gesetz, das in der Tat die Grundlage bildet für die berühmte Äußerung des Herkules zu dem Wagenlenker: „Stemme deine Schulter an das Rad; die Götter helfen jenen, die sich selbst helfen.“ Ehe wir nicht wie Kinder werden, werden wir nie jenen Bewusstseinszustand erreichen, in dem wir den vollen Wert und die ganze Hilfe der spirituellen Mächte empfinden, welche die Menschheit beschützen.

Kurz vor Weihnachten traf der Brief eines zehnjährigen Mädchens ein, das einige Fragen stellte, die am besten in einem persönlichen Gespräch beantwortet werden konnten.

Wachsende Horizonte der Jugend

Sage mir jetzt in deinen eigenen Worten und auf deine eigene Art, über was ich mit dir sprechen soll.

Frage – Meine Mutter erzählte mir etwas über die vier besonderen Jahreszeiten. Ich möchte gerne etwas darüber wissen.

Stellungnahme – Die vier heiligen Jahreszeiten? Nun gut; seit Jahrhunderten wurde der Beginn jeder Jahreszeit als heilig angesehen, weil sich die Erde zu diesen Zeitpunkten in Bezug auf die Sonne an bestimmten Wendepunkten befindet – von einer Position zur nächsten. Um den 21. März herum haben wir zum Beispiel die sogenannten Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche und im Herbst, um den 21. September herum, die Herbst-Tag-und-Nacht-Gleiche. Das Wort bedeutet ‘gleiche Nacht’, weil dann die Tage und Nächte gleich lang sind, mit gleich viel Tageslicht wie Dunkelheit.

Wenn wir vom Frühjahr in den Sommer gehen, haben wir um den 21. Juni herum den längsten Tag und die kürzeste Nacht, da sich die Sonne am weitesten im Norden der nördlichen Hemisphäre befindet. Zu dieser Zeit, um Mittsommer, scheint die Sonne etwa einen Tag lang still zu stehen, ehe sie wieder ihre Reise nach Süden antritt. Darum nennt man das das Solstitium – das Wort bedeutet ‘Sonnenstillstand’. Zur Zeit haben wir Ende Dezember, wo der Herbst in den Winter übergeht, und wir haben gerade am oder um den 21. Dezember herum den kürzesten Tag und die längste Nacht des Jahres hinter uns gebracht. Das ist das Winter-Solstitium, weil die Sonne, die ihren entferntesten südlichen Punkt erreicht hat, wieder ‘still zu stehen’ scheint, ehe sie wieder einmal nach Norden aufbricht.

So siehts du, dass die zwei Äquinoktien und die beiden Solstitien die vier Punkte des Jahres sind, wo sich, wie die Vorfahren bereits wussten, die gesamte Welt etwas verändert fühlt: Daher nannten sie diese Jahreszeiten heilig. Du magst dich fragen, was diese Jahreszeiten heilig macht? Etwa nur, weil die Sonne im Norden, im Süden oder über dem Äquator steht?

Da die Erde ein Teil des Sonnensystems ist – und das gilt auch für die anderen Planeten – wussten in vergangenen Zeiten viele Menschen, dass die Erde ihr Leben der Sonne verdankt. Darum sprachen sie von ihr als Vater Sonne, denn ohne die Sonne gäbe es kein Leben. Die Wissenschaftler sagen heute das Gleiche. Sie gebrauchen lediglich wissenschaftliche Ausdrücke, denn sie erzählen uns, dass der größte Teil der aus dem Weltraum zur Erde kommenden Energie und Vitalität über die Sonne zu uns gelangt.

Ich möchte dir ein Beispiel geben: Man muss Samen in ganz bestimmten Monaten des Jahres aussäen, damit sie während der längeren Tage die Möglichkeit haben, durch die Hilfe der Sonne aus der Erde hervorzukommen und Frucht und Ernte zu bringen. Das mag hier nicht so sehr bedeutsam erscheinen, aber es gehört dazu, denn die Alten fühlten, dass beim Wechsel der Jahreszeiten eine bestimmte Eigenschaft der Sonnenenergie hinzukommt, welche die gesamte Konstitution des Menschen beeinflusst. Besonders an Weihnachten und zu Neujahr strahlt von Vater Sonne eine neue, frische Lebenskraft in die Welt und der Mensch kann daraus bewusst Nutzen und Hilfe für sein Wachstum ziehen, weil er das am höchsten entwickelte Wesen auf der Erde ist.

All das zusammengenommen ist sehr heilig. Du siehst, wir sind völlig von der Sonne abhängig; und je mehr wir über die Lebensströme wissen, die zur Erde fließen – erinnern wir uns, dass die Alten glaubten, dass die Sonne im Innersten genau wie wir nur in größerem Maß ein göttliches Wesen ist – desto mehr können wir unser Leben so zu führen versuchen, dass wir uns und unseren Mitmenschen in natürlicher Weise Gutes erweisen, indem wir aus der besonderen Hilfe der Sonne zu diesen Jahreszeiten Nutzen ziehen.

Nun, dein Brief erwähnte deine jüdische Freundin. Ja, sie feiern ebenso ihre eigenen heiligen Tage wie Rosch-haschanah, das ist ihr Neujahr und Chanukkā und das Passahfest und verschiedene andere – so wie wir unsere an Weihnachten und Ostern usw. feiern. Wenn wir andere Religionen studieren, dann entdecken wir, dass viele Traditionen und Legenden bei allen Völkern der Welt vorhanden sind, die mit den Ereignissen an diesen heiligen Zeiten des Jahres zusammenhängen.

Nimm die Geschichte Jesu: Die fast gleiche Geschichte gibt es in jeder Religion: Ein Kind, das zur Weihnachtszeit geboren wird, was bedeutet, dass zur Wintersonnenwende ein Heiland zur Welt kommt. Ob der Heiland wirklich genau an diesem Tag geboren wurde, ist unwichtig; die Tatsache bleibt, dass das Neue Testament symbolisch schildert, wie zu dieser Jahreszeit eine neue jungfräuliche Lebenskraft zur Menschheit durchbrach, und da das mit der Umkehr der Sonne zurück nach Norden zusammenfällt, hat es eine eigene besondere Bedeutung.

Nach der Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche kommt Ostern, die Zeit, in der Jesus, wie die Erzählung berichtet, ans Kreuz geschlagen wurde. Auch das ist symbolisch. In der damaligen Zeit, wie du später im Geschichtsunterricht hören wirst, pflegte man Verbrecher zu bestrafen, indem man sie an ein Kreuz nagelte und dem Tod überließ. Deshalb gebrauchten diejenigen, die als Autoren der Evangelien angesehen werden, die Kreuzigung als ein Symbol. Wie dem auch sei, viele Menschen glauben heute, der Meister Jesus sei wirklich physisch gekreuzigt worden. In den Mysteriengeschichten des Altertums wird uns jedoch gesagt, wir müssten beginnen, uns selbst zu kreuzigen – das heißt, uns von einigen der niederen Elemente in unserem Charakter und in unserem eigenen Leben befreien.

Im Herbst erleben wir die Zeit, in der die Bauern auf den Feldern die Ernte einfahren. Etwas Ähnliches geschieht bei uns. Wenn wir bis zur Erntezeit unsere Aufgaben im Leben befriedigend erfüllt haben, können wir jedes Jahr die Früchte des Guten, das wir vollbrachten, ernten. Wie der Same Frucht hervorbringt, so haben auch wir die Früchte unserer eigenen, lohnenden Anstrengungen erzeugt – vielleicht nichts Greifbares oder Sichtbares wie Geld oder Lebensmittel, sondern etwas spirituell Wertvolles. Dann, wenn die Wintersonnenwende naht, wiederholt sich alles mit der Geburt des neuen Jahres.

Das ist eine ganz einfache und auch nur bruchstückhafte Darstellung, da ich nicht auf einmal eine Vielzahl dazugehöriger Gedanken aufwerfen kann. Ich möchte dich nicht belasten. Aber warum sagst du mir nicht, ob es noch andere Aspekte gibt, über die ich sprechen soll; ich werde mich bemühen, sie dir so zu erklären, dass das gesamte Bild für dich deutlicher wird.

Frage – Etwas anderes, was ich gerne wissen möchte, ist Folgendes. Als Beispiel will ich das jüdische Volk heranziehen. Ihre Religion stammt aus Israel. Gibt es für diese alten Lehren, die Sie erwähnten, irgendeinen bestimmten Entstehungsort oder gab es sie überall?

Stellungnahme – Diese großen Wahrheiten gediehen in verschiedenen Zeitaltern unserer Weltgeschichte in verschiedenen Zentren auf dem gesamten Erdball – einmal war die Blüte in Indien und China, ein andermal in Ägypten, Persien und Griechenland, im alten Amerika, in Britannien und in Nordeuropa. Das ist schon seit sehr langen Zeiten so, denn das Alter der Erde und des Menschen ist weitaus höher als ein paar tausend Jahre. Die Christen nahmen an, die Erde sei nur ungefähr 6 000 Jahre alt; wenn in der Bibel steht, sie sei in sechs Tagen erschaffen worden, meinten sie, diese ‘Tage’ seien dasselbe, was wir damit meinen. Es ist klar, dass die alten Hebräer es anders sahen, denn sie wussten, dass ihre heiligen Bücher immer in Symbolform geschrieben wurden, die richtig verstanden werden mussten. Und wie du weißt, hat die Wissenschaft jetzt nachgewiesen, dass die Erde Millionen und Abermillionen Jahre alt ist und dass das Alter des Menschen ebenfalls viele Millionen Jahre beträgt. So kannst du sehen, dass wir als Menschen bereits eine sehr lange Zeit der Erfahrung auf unserem Globus erlebt haben.

Zeitweise existierten Zivilisationen, die sehr spirituell waren, und zu anderen Zeiten gab es solche, welche die Berührung mit diesen edlen Ideen verloren hatten und sehr materialistisch wurden. Aber immer, wenn die Menschheit als Ganzes mehr Verständnis und Hilfe benötigte, erschien zur rechten Zeit ein großer Lehrer, um erneut die uralten Wahrheiten zu erklären. Und im Prinzip waren diese Lehren immer gleich.

Es ist schon betrüblich, dass die Anhänger dieser großen Lehrer, weil die menschliche Natur nun einmal so ist, aus jeder neuen Inspiration wieder und wieder eine Religion machten. Die Buddhisten zum Beispiel bildeten kurz nach dem Tod Buddhas eine formelle Religion aus seinen Lehren; das Gleiche machten die Islamisten mit der Botschaft Mohammeds; aus dem inspirierenden Beispiel des Moses schuf das jüdische Volk festgesetzte religiöse Praktiken und Rituale, und die Christen formulierten aus den wundervollen Lehren Jesu ein formelles Glaubensbekenntnis. Doch nun, wo hatten diese alten Wahrheiten ihren Ursprung? Wir können nur sagen ‘überall in der Welt’ – jedesmal an einem anderen Ort. Hilft das etwas?

Frage – Ja sehr.

Stellungnahme – Du siehst, bei allen Religionen gibt es ein großes Problem. Wenn man etwas hört, woraus man ein neues Verständnis gewinnt, beginnt man zu sagen: „Das ist es“, und ziemlich bald verschließt man sein Denken einem weiteren Lichtblick der Wahrheit. Das ist eine unglückliche Sache, weil nichts im Universum für immer gleich bleibt. Alles wächst beständig, wird besser, auch der Mensch. Wenn aber die Anhänger eines Glaubens fortfahren, an ihren speziellen Wahrheitsbegriffen festzuhalten, verlieren diese nach einiger Zeit ihre Vitalität; sie verlieren die lebendige Inspiration und deshalb ihren Wert. Früher oder später muss daher ein weiterer Lehrer auftreten, um die gleiche ‘Gottesweisheit’ in einer neuen Form darzulegen.

Frage – Ich bin bestimmt froh darüber, dass ich ein eigenes Verhältnis zu diesen Dingen habe, denn ich ging, als ich noch sehr klein war – etwa sechs oder fünft – in die Kirche, wo man dauernd von diese schrecklichen Dingen sprach; wenn ich nicht brav bin, käme ich nach dem Tod in dieses Feuer und das alles. Ich hatte richtig Angst. Ich glaubte es nicht, Sie verstehen, wirklich …

Stellungnahme – Das ist die Schwierigkeit. Gerade der Umstand, dass die Ideen, welche die großen Lehrer in all den Jahrhunderten lehrten, falsch interpretiert wurden, brachte der Welt mehr Leiden und erzeugte im Leben der Menschen mehr Furcht als alles andere. Meine eigenen Studien führten mich zu der Überzeugung, dass Hölle und Himmel Gemütsverfassungen, Bewusstseinszustände sind. Es gibt keinen Ort, wo man in Feuer und Schwefel geworfen und verbrannt wird, wie sie behaupten. Und es gibt keinen Himmel als Ort mit Straßen aus Gold, wo man für alle Ewigkeit wohnt – wer hätte den Wunsch, immer auf goldenen Straßen auf und ab zu gehen!

Frage – Wenn ich für immer und ewig allezeit dort oben sein müsste, dann würde ich mich sicher schrecklich langweilen.

Stellungnahme – Natürlich würdest du das und jeder andere ebenso. Aber du weißt, dass die Alten, von denen wir sprachen, die Reinkarnationslehre voraussetzten und an sie glaubten. Tatsächlich gibt es heute sehr viele junge Menschen, die überzeugt sind, dass sie früher gelebt haben und erneut leben werden und dass sie jetzt hier auf der Erde sind, um mehr und mehr zu lernen. Hier hat das Studium der älteren Lehren seinen Platz, weil sie unsere Existenzgrundlage erläutern: Warum wir alle heute leben, was wir mit dem Leben beginnen sollen und wo wir nach unserem Tod hingehen. Nicht in eine als Himmel oder als Hölle bezeichnete Lokalität, sondern in eine Ruheperiode, in der wir aus allem Nutzen ziehen, was wir im Leben gelernt haben. Und dann, so wird uns gesagt, bietet uns jede Rückkehr auf die Erde die Gelegenheit, in der Schule des Lebens ein wenig höherzusteigen. Je mehr Erfahrung wir besitzen, desto vernünftiger werden wir und desto besser können wir unseren Charakter gestalten, so dass auch wir schließlich Helfer der Menschheit werden, die den Hilfesuchenden helfen.

Frage – Zum Thema Reinkarnation hatte ich im letzten Jahr ein Erlebnis, als ich in der vierten Klasse war. Meine Lehrerin – ich habe das Thema vergessen, mit dem sie anfing – erzählte uns, einige Menschen würden an die Reinkarnation glauben. Aber sie sah alles ganz falsch, denn sie sagte, sie glaubten, dass man nach dem Tod wieder in Tiergestalt auf die Erde zurückkäme oder als ein Geist oder etwas Ähnliches. Das sagte sie. Sie sah alles völlig falsch.

Stellungnahme – Ja, das ist sicher falsch, denn sobald wir einmal in der evolutionären Entwicklung der Lebewesen Menschen geworden sind, können wir nicht mehr zurückgehen. Wir werden immer Menschen sein, bis wir etwas Schöneres und Größeres werden, gleich einem Gott oder einer bestimmten Stufe von Göttlichkeit. Vielleicht zunächst eine kleine Stufe und dann eine höhere und eine noch höhere Stufe der Göttlichkeit, bis wir eines Tages in der weit, weit entfernten Zukunft wie eine Sonne werden, genauso nützlich wie unsere Sonne, weil, wie ich vorhin sagte, die uns sichtbare Sonne nur die äußere Erscheinung einer sehr hochentwickelten Wesenheit ist, eines erhabenen Wesens, dessen Ausdrucksform das gesamte Sonnensystem ist.

Du wirst natürlich feststellen, dass die Kinder, die mit dir in die Schule gehen, mit vielen dieser Vorstellungen nicht in Berührung kommen. Viele würden dich für verrückt halten, wenn du zum Beispiel von Reinkarnation sprechen würdest. Deine Lehrerin brachte sicher nur einen Teilaspekt zur Sprache! Wir kehren nicht als Tiere zurück, nein; sondern wir kommen auf jeden Fall als Menschen wieder und mit etwas mehr Erfahrung, so dass wir in jedem neuen Leben besser handeln können. Aber du als Persönlichkeit wirst nie wieder zurückkehren. Verstehst du das?

Frage – O ja.

Stellungnahme – Aber was jetzt in deinem Innern ist, von dem du weißt, dass es da ist und dich als seinen Tempel, als seine Wohnstätte für dieses Leben benutzt, das wird wiederkehren. Dieser Wesenskern hat vorher gelebt und hatte viele Persönlichkeiten und viele Namen gehabt. Es ist der unsterbliche Teil, das wirkliche Du, das um der Erfahrung willen kommt, das dich dieses Mal verwendet – genau wie mein wirklicher Wesenskern meine Persönlichkeit benötigt, um seine Arbeit tun zu können. Im nächsten Leben bist du vielleicht ein Junge, man kann es nicht wissen; wir sind alle Buben und Mädchen gewesen. Es ist möglich, dass wir sogar die Eltern unserer Eltern werden. Anders gesagt, sie können eines Tages unsere Kinder sein. Wir wissen es nicht, aber wir brauchen uns darüber keine Sorge zu machen. Karma, das gute Gesetz, nimmt sich all dieser Dinge in sehr positiver Weise an.

Frage – Bleibt eine Familie zusammen? Ich meine, könnte ich zum Beispiel meines Vaters Großmutter werden?

Stellungnahme – Eine Familie kann, muss aber nicht notwendigerweise zusammenbleiben. Es hängt viel davon ab, wegen welcher Lektionen wir in dieses Leben eingetreten sind und wie viele wir davon bis zu unserem Tod gelernt haben. Aber alle, die du jetzt lieb gewinnst, wirst du irgendwann wiedertreffen, aber sie müssen nicht ein Teil deiner Familie sein. Wir wissen es nicht. Wir können das Leben nicht mit einer Schere zerschneiden und analysieren, noch sollten wir das tun. Einer Sache können wir uns sicher sein: Jeder kommt mit einem bestimmten Erfahrungsschatz aus der Vergangenheit auf diese Welt. Wir werden in die Umwelt geboren, die uns die Umstände, die Probleme und die Schwierigkeiten bietet, die wir zur Förderung unserer Entwicklung benötigen. Wir werden zu der Familie gezogen, die uns qualitativ genau die Liebe geben und die Anforderungen stellen wird, die wir verdient haben, und die uns helfen wird, unser Ziel zu erreichen. Wir sollten nicht erwarten, dass wir die ganze Zeit mit denselben Menschen zusammen sind. Es mag sogar sein, dass wir eine oder zwei oder möglicherweise auch mehrere Lebenszeiten nicht dieselben Eltern oder Verwandten haben; aber später brauchen sie vielleicht eine bestimmte Art Erfahrung, die wir ihnen vermitteln können, und dann werden wir wieder zusammenfinden.

Nun siehst du, was geschehen kann: Nimm deine oder meine Eltern; obwohl ihre Persönlichkeiten oder ihre Namen vergehen, mögen wir das nächste Mal tatsächlich mit ihnen in Verbindung stehen, aber nicht notwendigerweise in einer Familienbeziehung. Es könnten enge Freunde sein. Es wird irgendeine Art Anziehung vorhanden sein, vielleicht kurz, vielleicht länger, denn wahre Liebe und echte Freundschaft gehören unserem höheren, realen Wesenskern an, und wir werden nie etwas von dem Guten verlieren, das wir uns in der Vergangenheit geschaffen haben. Praktisch möchte jedermann, ganz gleich wie wenig er weiß, etwas besser sein, als er heute ist. Das ist nur natürlich, denn im Herzen jedes Lebewesens ist jener Funke Gottes, jenes Licht von der Sonne, jenes kleine Teilchen der Göttlichen Intelligenz, die uns immer dazu bewegt, ihr mehr und mehr gleichzuwerden. Es ist der Beobachter, der Schutzengel eines jeden … Mach weiter, was wolltest du sagen?

Frage – Ich spiele manchmal mit einem Jungen. Alles scheint ihn immer irgendwie zu ängstigen. Wenn er etwas falsch macht, ist er wie versteinert, was jetzt wohl passieren wird. Und dann sprach meine Freundin mit mir. Sie war beunruhigt, weil sie unglücklich war. Aus Furcht, einen Fehler zu machen, wollte sie nicht tun, was sie gerne getan hätte, weil es ihre einzige Chance sei. Sie glauben, das sei ihr einziges Leben.

Stellungnahme – Das ist großartig gesagt und es ist sehr schade, dass nicht mehr junge Menschen diesen höheren Wirklichkeitsbegriff vom Leben haben, sondern nur das beklemmende und lähmende Angstgefühl, dass ein Fehler oder eine falsche Handlung das Ende von allem bedeute. Du brauchst kein Gespräch darüber anzufangen, wenn aber deine Freunde mit dir über solche Themen sprechen, sage einfach, dass du weder an Hölle und Feuer glaubst, noch dass man für immer und ewig leiden müsse. Du glaubtest vielmehr, dass wir mehrere Gelegenheiten hätten, etwas über das Leben zu lernen. Wenn wir versuchen, das Richtige zu tun, werden wir die rechten Antworten erhalten; wenn wir aber das Falsche tun, werden wir ebenfalls die Reaktion verspüren – wie man den Finger verbrennt, wenn man ihn ins Feuer hält. Wenn wir wirklich ernsthaft sind, spüren wir im Innern, wenn wir einen Fehler gemacht haben, und wenn er uns erst bewusst geworden ist, brauchen wir denselben Fehler nicht zu wiederholen. Nein, wir machen uns den Himmel und die Hölle selbst, und es gibt niemanden, der wirklich sagen könnte, dass wir wegen irgendeiner Handlung in den Himmel oder in die Hölle kämen.

Die Beseitigung der schrecklichen Furcht, die uns eingeimpft wurde, ist heute dringend notwendig. Ich verspürte sie in meiner Jugend und ich finde es grässlich, einem Kind diesen Glauben zu lehren. Natürlich war ich mit einer so grausamen Anschauung unzufrieden, stellte weiterhin Fragen und sah mich um, bis ich eine für mich annehmbare Lösung fand, genau wie du es machst. Du hast glücklicherweise Eltern, die nicht engstirnig sind, und du kennst andere Menschen mit denen du über diese Dinge sprechen kannst. Gibt es noch etwas anderes?

Frage – Ja, ich habe noch eine Frage. Wegen anderen Leben auf anderen Planeten wie Mars und Venus oder irgendwo. Das hat mich immer interessiert.

Stellungnahme – Nun … lass es mich mal so ausdrücken. Das gute Gesetz hat uns auf die Erde zurückgebracht, wo wir weiterhin wieder und wieder geboren werden, bis wir alles gelernt haben, was dieser Planet zu geben hat. Wenn wir hier abgeschlossen haben, werden wir woanders geboren werden, um alles zu lernen, was es auf einer höheren Erfahrungsebene zu lernen gibt, nenne sie einen Planeten, wenn du willst.

Frage – Das Schöne dabei ist, dass man weiß, dass man immer weitergeht und dass man nicht nur eine Gelegenheit hat und dann irgendwohin geht und dort für alle Ewigkeit bleibt.

Stellungnahme – Das ist das Schöne an der Wahrheit und das Großartige in der Natur und an unseren unendlichen Entwicklungsmöglichkeiten und nicht nur das. Nachdem wir den Punkt erreicht haben, wo wir, lass uns sagen, in ferner Zukunft eine Sonne geworden sind und unsere Aufgaben gut erfüllt und jede Erfahrung gemacht haben, die wir als Sonne erleben können, dann ist selbst das nicht das Ende, weil wir von dort noch weitergehen. Es wird uns gesagt, dass die Göttliche Intelligenz, die das wirkliche Zentrum unserer Sonne und in einem bestimmten Sinn der höhere Wesenskern unseres Sonnensystems ist, sich darin nur solange verkörpert, bis das Sonnenwesen alles gelernt hat, was es für unsere Sonne zu lernen gibt. Dann muss die Sonnenwesenheit noch höher steigen – es gibt für die Entwicklung kein Ende – um nach vielen Zeitaltern eine Rāja-Sonne zu werden, wie manche sagen, was ‘königliche Sonne’ bedeutet, die ihrerseits die Sonne für viele Sonnen ist.

Frage – Das gefällt mir!

Stellungnahme – Unser Sonnensystem ist nicht das einzige in unserer Galaxis oder Milchstraße; in Wirklichkeit gibt es zahlreiche Sonnen, verstehst du, die einer Rāja-Sonne zugeordnet sind. Und wenn unsere eigene Sonne alles erreicht hat, was sie in ihrer Planetenfamilie erreichen kann, kann sie die Sonne eines anderen, größeren, eines weiter fortgeschrittenen Systems werden, bis sie eine Rāja-Sonne wird, mit vielen Sonnenfamilien als Teile ihrer Konstitution.

Frage – Es geht einfach immer weiter – unsere Sonne gibt unserer Erde Licht und dann gibt es andere Sonnen, höhere als diese, die …

Stellungnahme – … unserer Sonne Leben geben. Das ist richtig, so geht es vor sich ad infinitum. Es ist eine endlose Kette der Weitergabe göttlicher Lebenskraft an alles Lebende im Weltraum.

Frage – Ich verstehe jetzt sehr viel mehr. Und die Bibel und Gott und Jesus – das klingt wie diese alten Lehren, nur dass es in einer Art Erzählform wiedergegeben ist. Gott gibt dieser Erde Leben und gibt den Menschen Leben.

Stellungnahme – Das ist richtig. Wir können natürlich alle Aussprüche der Bibel wörtlich nehmen; wenn wir das aber tun, müssten wir glauben, dass die Welt in sechs Tagen zu je 24 Stunden geschaffen wurde, und wir müssten auch annehmen, dass es einen Himmel und eine Hölle gibt, wobei wir hiervon wissen, dass es nicht stimmen kann. Wenn wir es aber spirituell deuten, verstehen wir die biblischen Geschichten als Symbole der echten Lehren über das Leben, als symbolische Ausdrücke der spirituellen Prinzipien, die in der Natur wirken, und dann erhalten wir die richtigen Antworten. Wenn du die Bibel und die heiligen Schriften anderer Völker ausführlicher studieren kannst, wozu du später die Möglichkeit hast, wirst du die Anwendung dieser Prinzipien besser verstehen.

Den Möglichkeiten und Gelegenheiten zur Entwicklung ist überhaupt kein Ende gesetzt. Der Raum ist unendlich, es ist Platz für Welten und Milchstraßen und noch mehr Welten und noch mehr Milchstraßen. Und alle diese Welten und Milchstraßen haben ihre Lebens- und Ruheperioden, genau wie wir Menschen. Unser Sonnensystem wird einmal eine Ruheperiode haben, in der sein ganzes Leben und Bewusstsein zurückgezogen sein wird. Dann wird es wiedergeboren werden, und vielleicht wird sich die Göttliche Intelligenz hinter der Sonne in einem von dem jetzt sichtbaren verschiedenen Aspekt verkörpern. Das kommt ganz drauf an. Die Periode, in der eine Sonne aktiv im Leben steht, wurde als Manvantara bezeichnet. Manvantara ist das Sanskritwort für einen solchen Aktivitätszyklus. Die Ruheperiode wurde Pralaya genannt. Wenn das Sonnensystem wiedergeboren wird, ist das ein weiteres Manvantara oder eine weitere Lebensperiode, genauso wie wir unsere Lebenszeiten haben. In einem begrenzten Sinn sind unsere Tage der Aktivität und unsere Nächte des Schlafs etwas sehr Ähnliches. Jemand hat gesagt: Der Schlaf ist ein kleiner Tod, und der Tod ist ein großer Schlaf. Und genauso ist es.

Frage – Glauben Sie nicht, dass die Bibel mit der Absicht geschrieben wurde, dass beim Lesen die innere Idee erfasst werden sollte? Natürlich wird sie von einigen Menschen buchstäblich gelesen und dann kommt man zu all den schwer begreiflichen Dingen. Es wird ganz von dem jeweiligen Menschen abhängen.

Stellungnahme – Die großen Lehrer selbst haben nie etwas geschrieben und deshalb ist alles so schwierig. Einige Menschen glauben, Gott habe die Bibel geschrieben, aber Gott schrieb sie nicht. Nimm das Alte Testament. Irgendein großer Lehrer brachte diese Lehren mündlich zum Ausdruck und später schrieb sie dann jemand nieder; und das Gleiche gilt für das Neue Testament. Es waren die Jünger oder womöglich sogar deren Anhänger, die niederschrieben, was Jesus angeblich gelehrt hatte. Deshalb besitzen wir, wenn die Lehren schließlich niedergeschrieben sind, nur die Interpretation oder den Begriff, den andere davon haben, was nicht notwendigerweise mit der wirklichen Meinung des Lehrers übereinstimmt. Wenn wir die Schriften irgendeiner Religion studieren, ist es daher wesentlich, dass wir den Geist zu erfassen versuchen, der zwischen den Zeilen steht.

Jeder Mensch erkennt eines Tages, dass es darauf ankommt, was er in seinem Innern ist, und dass die besten Antworten jene sind, die wir uns selbst erarbeitet haben. Es war nie beabsichtigt, dass irgendein Glaube oder irgendein Mensch zwischen dir und deinem inneren Vater stehen soll, zwischen dir und jenem göttlichen Funken der Intelligenz, weil das für dich heilig ist. Geradeso solltest du nicht glauben, was ich sage, wenn es dir nicht als wahr erscheint und etwas in dir sagt: Genauso denke ich auch. Wenn das nicht der Fall ist, dann glaube es nicht.

Deine Fragen haben mich wirklich sehr interessiert und ich hoffe, dass meine Antworten nützlich waren. Vielleicht können wir uns ein andermal wieder sehen.

Gewissen und Intuition

Frage – Ich habe versucht, die Vorstellung, dass man etwas wirklich erfahren muss, um es zu kennen, mit dem Problem von Gut und Böse zu versöhnen. Keiner von uns bewältigt das Leben, ohne Fehler zu machen, und die Erfahrung scheint uns schneller zu lehren als alles andere. Meine Frage lautet nun: Warum gehen wir nicht einfach los und tun alles Mögliche, um die entsprechenden Erfahrungen hinter uns zu bringen?

Stellungnahme – Sie meinen, man müsste die Prinzipien von Recht und Unrecht einfach beiseite schieben und jedem Impuls nachgeben, um Erfahrungen zu sammeln? Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, wie viele ernsthafte Menschen eben diesen Standpunkt einnehmen, besonders auf dem Interessengebiet, das man ‘okkult’ zu nennen pflegt. Diese Auffassung ist jedoch falsch, sie widerspricht jedem gesunden menschlichen Empfinden. Es ist zwar richtig, dass die allgemeinen Maßstäbe für Recht und Unrecht entsprechend den Gewohnheiten und Verhältnissen der verschiedenen Völker oft variieren, die uralten Prinzipien der Moral waren jedoch immer gültig; sie sind auch heute noch die Grundlage des Fortschritts.

Wenn wir nur einmal auf der Erde lebten, könnte man diesen Standpunkt vielleicht rechtfertigen. Wenn wir aber das größere Bild der Pilgerfahrt unserer Seele durch eine Reihe von Leben ins Auge fassen, begreifen wir, dass eine derartige Schlussfolgerung leicht zu Verhaltensweise führt, die dem Zweck der Evolution entgegengesetzt sind.

Viele Zeitalter hindurch übten wir alle unseren freien Willen aus, wodurch wir alle möglichen Ursachen schufen; von diesen haben wir einige schon als Wirkungen kennengelernt, während andere noch auf uns zukommen. In jedem Leben werden wir den Gelegenheiten gegenübergestellt, die wir zum Aufbau unseres Charakters benötigen, deshalb ist es nicht nötig, dass wir losstürmen und Erfahrungen zur Entwicklung der Seele suchen. Wir brauchen nie einer Erfahrung wegen eine Situation künstlich herbeizuführen. Die inneren Gesetze würden verkehrt herum arbeiten, wäre das der Fall. Jeder kennt im Innern den Unterschied zwischen Recht und Unrecht – ob man einem positiven Impuls folgt oder einem negativen. Da wir immer noch sehr unvollkommen sind, neigt dessen ungeachtet unser menschlicher Wesensteil zur Rechtfertigung unserer Handlungen, wenn wir von der vernünftigen ethischen Grundlage abweichen.

In früheren Tagen fiel es unseren Vorfahren nicht schwer, den Unterschied zu erkennen zwischen dem, was gut und daher von Gott war, wie sie sagten, und dem, was schlecht und daher vom Teufel war. In gewissem Sinn lag in ihrem Standpunkt eine solide Einfachheit, der wir im Prinzip durchaus nacheifern können, denn er ließ mit dem, was man als falsch erkannte, keinen Kompromiss zu.

Durch den Einfluss der weltweiten Beziehung und durch die bewusstere Anteilnahme an den Leiden anderer kommen wir heute jedoch zu der Erkenntnis, dass Gut und Böse als Endprodukte zwar getrennt und verschieden, aber dennoch graduell so von dem einen ins andere übergehen, dass wir manchmal nur schwer unterscheiden können, wo das Böse aufhört und wo das Gute anfängt, wo die Falschheit endet und wo die Wahrheit beginnt, wo Weiß noch Weiß ist und kein trübes Grau. Unser Blick für die grundlegenden Fragen hat sich getrübt, weil wir anscheinend unfähig sind, eine feste Trennungslinie zwischen Recht und Unrecht zu ziehen. Irgendwie scheint die breite Brücke der rechten Prinzipien so schmal geworden zu sein, dass der Mensch fast seinen Stand verliert.

Oft beteiligen wir uns auch in Unkenntnis an Situationen, bei denen uns das unrechte Tun gar nicht bewusst wird. Erst später, wenn wir in Schwierigkeiten geraten, erkennen wir allmählich, dass wir falsch oder zumindest unklug gehandelt haben. Wenn wir dann wieder in eine ähnliche Lage kommen, können wir aus unseren früher erworbenen Erfahrungen Nutzen ziehen und klüger handeln oder wir können wider unser besseres Wissen der Neigung nachgeben, die gleiche Handlung zu wiederholen. In diesem Fall wird sich das Gewissen regen und sagen: „Nein, das ist falsch.“ Wenn wir nicht darauf hören und trotzdem weitermachen, beginnt der Kampf.

Frage – Glauben Sie, dass sich das Gewissen nur meldet, wenn man schon vorher eine entsprechende Erfahrung gemacht hat?

Stellungnahme – Unser Gewissen kann kein Warnsignal geben, wenn wir nicht in der Vergangenheit ein Erlebnis hatten, das uns Schmerz zufügte und deshalb einen warnenden Eindruck in der Seele hinterließ, den das Gewissen unserem Wachbewusstsein jetzt in Erinnerung ruft. Aber gerade hier liegt die Schwierigkeit: Es ist richtig, dass die Seele alle Lektionen lernen muss, die diese Erde ermöglicht; das bedeutet aber nicht, dass wir, um unsere Evolution zu fördern, den Impulsen des niederen materiellen Selbst vorsätzlich nachgeben dürfen. Wenn wir diese Vorgehensweise befolgten, würden wir nicht nur die Stimme des Gewissens, sondern auch den göttlichen Funken missachten, der sich so sehr um die Aktivierung unserer spirituellen Intuition bemüht.

Frage – Es könnte Situationen geben, in denen wir alle möglichen Erfahrungen machen, ohne viel daraus zu lernen. Müsste uns ein schwerwiegender Irrtum, den wir begangen haben, nicht erst einmal als solcher bewusst werden, bevor wir eine Gewissensregung wahrnehmen können?

Stellungnahme – Die Stimme des Gewissens könnte keine Warnung abgeben, wenn man die Lektion nicht schon gelernt hätte. Solange wir aus einer Erfahrung nicht die darin enthaltenen Erkenntniswerte bewusst wahrnehmen, lernen wir daraus nicht wirklich, noch gelangen wir dann in den Genuss der Führung durch eine Gewissensregung, wie Sie es nannten; wenn man eine Erfahrung nur stumpfsinnig hinter sich bringt, nützt das nur wenig. Wir müssen irgendwie erkennen, was gut und was böse ist. Das heißt aber nicht, dass wir Erfahrungen suchen sollen, damit uns unser Gewissen in Zukunft vor dem warnen kann, was wir nicht tun dürfen.

Die natürlichen Gegebenheiten, die uns das Leben bringt, bieten einen großen Spielraum zur Ausübung unserer Initiative. Jede menschliche Seele besitzt einen gewaltigen Vorrat von Erfahrungen, der insgesamt die mächtige Atmosphäre aus Positivem und Negativem bildet, in der wir jetzt leben, die aber in der Zukunft ganz ins Positive umgewandelt werden kann, wenn wir sie richtig handhaben. Durch das, was wir mit den ganzen Verpflichtungen jetzt tun, wird die Stimme des Gewissens gestärkt oder geschwächt, oder anders ausgedrückt, die Verbindung mit unserem höheren Selbst wird dadurch verstärkt oder vermindert. Wenn man stark genug gelitten hat, wächst das Bedürfnis, den Lauf des Denkens zu ändern und nicht länger auf demselben alten Weg weiterzugehen.

Frage – Müssen wir das Gleiche durchmachen, was wir anderen zugefügt haben? Wenn ich einen Menschen töte, muss ich dann ebenfalls getötet werden um zu begreifen, dass ich Unrecht getan habe und nicht töten darf?

Stellungnahme – Es freut mich, dass Sie das zur Sprache bringen. Es stimmt zwar, dass wir keinem etwas Negatives zufügen können, ohne dass es auf uns selbst zurückwirkt. Das bedeutet aber nicht, dass sich das alte mosaische Gesetz ‘Auge für Auge, Zahn für Zahn’ (Ex. 21, 24) immer in dieser buchstäblichen Weise auswirkt. Die ursprüngliche Bedeutung dieser Maxime ist wohl begründet und grundsätzlich richtig, aber die Erfahrung muss nicht als identische Wiederholung erlitten werden. Mit anderen Worten, es muss uns kein Auge genommen werden, wenn ein anderer durch uns ein Augen verliert, aber die Bewusstseinseindrücke, die durch den Verlust des Auges entstehen, müssen auch wir erleben. Sehen Sie den Unterschied?

Nehmen wir an, Sie würden ‘X’ im Zorn oder in böswilliger Absicht töten. Das bewirkt nicht, dass ‘X’ Sie in einem zukünftigen Leben ebenfalls töten muss. Sie müssten jedoch die Erfahrung der Todesangst erleben, die er durch die absichtliche Tötung hätte erleiden müssen. Sie könnten Ihr Leben jetzt oder in der Zukunft durch einen Unfall oder durch die vorsätzliche Handlung eines anderen Menschen verlieren, es bräuchte aber nicht ‘X’ zu sein, der das zuwege bringt. Es könnte sich um etwas ganz Unpersönliches handeln, zum Beispiel um einen Ziegel, der einem auf den Kopf fällt. Wenn man seine Tat wirklich aufrichtig bereut, dann erkennt man die – nicht notwendigerweise physische – Rückwirkung, die aus der früheren Ursache stammt, als solche, sobald sie auf uns zurückfällt. Das Prinzip von Ursache und Wirkung gilt uneingeschränkt, seine Auswirkung kann sich jedoch von der physischen auf die mentale oder auf andere Bewusstseinsebenen verlagern. Dennoch muss jeder die durch die Untat bewirkte Reaktion voll an sich erfahren, indem er das Wesen des Schmerzes kennenlernt, den er anderen zufügt. Wir wissen alle, dass mentale oder psychische Leiden viel schlimmer sein können als physische Leiden. Es mag auch vorkommen, dass die Reaktion auf eine vorangegangene Missetat durch einen Augenblick intensiven Schmerzes oder in einer blitzartigen Erkenntnis ausgeglichen wird – was nur selten auf der physischen Ebene geschieht. Wer die qualitative Auswirkung eines früheren Irrtums einmal ganz an sich erfahren hat, der empfing einen so tiefen Gemütseindruck, dass die Stimme des Gewissens beinahe aufschreit, wenn er in Zukunft ähnlichen Versuchungen ausgesetzt sein sollte.

Frage – Leiten Menschen, die vorsätzlich Erfahrungen suchen, obgleich sie wissen, dass sie das nicht tun sollten, eine Kettenreaktion ein, die früher oder später in Form von Leiden auf sie zurückwirkt?

Stellungnahme – Wer vorsätzlich Unrecht begeht, weiß Bescheid. Wer die Warnungen seines Gewissens missachtet, schließt mit seiner Seele einen Kompromiss und schafft damit eine ganz andere Art Karma als derjenige, der sich unwissentlich am unrechten Tun beteiligt. Er wird mit der Zeit schrecklich leiden, wenn sich das Schicksal verwirklicht. Das Gebiet der subtilen Versuchungen erstreckt sich überallhin, es reicht von der einfachen Notlüge bis zum Mord und gilt für Schwächen jeder Art.

Frage – Ist die Beurteilung eines Menschen nicht ziemlich schwierig, wer kennt die Beweggründe seiner Handlungen und die wirklich zugrunde liegenden Impulse?

Stellungnahme – Wir sollten weder über die Beweggründe anderer Menschen urteilen noch ihren Fortschritt nach unserem eigenen Maßstab messen. Gerade daraus entsteht ja soviel Kummer und Schmerz. Wir müssten erst selbst einmal die Schuhe des anderen anziehen, bevor wir annähernd beurteilen könnten, wie wir an seiner Stelle handeln würden. Wir haben indessen die Pflicht, zwischen rechtem und falschem Tun zu unterscheiden; es ist durchaus möglich, in gewissem Ausmaß die gedankliche Grundlage zu erkennen, die zu einer Handlung führte. Die inneren Beweggründe anderer Menschen können wir jedoch nicht erkennen, besonders nicht bei Menschen, die sich durch starkes inneres Streben große äußere Schwierigkeiten aufgebürdet haben, die sie nur schwer überwinden können. Denken Sie an die Warnung des alten Weisen: „Schrecke nicht vor dem Gewand eines Bettlers zurück, damit es nicht auf deine eigenen Schultern falle“ – das Prinzip ist, dass wir alle jetzt und in Zukunft Karma abzutragen haben und niemand kann voraussagen, wann uns das Rad des Lebens unten antrifft statt oben oder umgekehrt.

Wir wachsen langsam und das Leben bewirkt, dass wir herbeiziehen, was wir benötigen – nicht immer, was wir wünschen – und alles fließt in das Erfahrungsreservoir unseres ewigen Selbst. Wir sind sehr alte Individuen und mit unserer Entfaltung wächst unsere Erfahrung; das Gesetz der Anziehung und Abstoßung arbeitet so exakt, mit solch unendlicher Feinheit, dass die Zukunft, gesteuert durch die Qualität unserer Gedanken und Gefühle im Leben Erfahrungen herbeiführt, die das reinkarnierende Ego zur Vervollkommnung und Erweiterung seiner Entwicklung und für den weiteren Aufstieg auf der Leiter der Evolution benötigt.

Einfach gesagt, wenn wir einer Verhaltensweise folgen, die unaufrichtig ist oder die unserem eigenen inneren Niveau nicht entspricht, gehen wir zurück; und hundertfach so, wenn wir uns vortäuschen, dass wir für unsere Entwicklung ‘Erfahrung bräuchten’. Wir lernen aus Fehlschlägen; und das erlittene Schmerzgefühl macht das Gewissen empfindsam und weise. Wir sollten jetzt den stetigen Abstieg ins Materielle beendet haben und mit dem Zyklus des Fortschritts zum Spirituellen hinstreben.

Frage – Wenn wir den Glauben je in Wissen umwandeln wollen und durch Leiden wachsen, müssen wir doch alle ziemlich rauhe Zeiten durchmachen?

Stellungnahme – Die Gelegenheit zur Umwandlung des Glaubens in Wissen muss nicht immer mit Leid verbunden, sie kann auch etwas Großartiges sein. Allem, was uns begegnet, richtig entgegenzutreten, ist großartig. Deshalb betone ich immer wieder die Idee, dass es kein gutes oder schlechtes Karma gibt – alles ist eine Gelegenheit zur Entwicklung der Seele. Was uns heute als schreckliches Karma erscheint, mag für einen anderen Menschen genau das Gegenteil sein, weil er die richtige innere Einstellung hat und sein Lebensgeschehen im Zusammenhang sieht und versteht.

Alles das passt zu der Feststellung Kṛishṇas in der Bhagavad-Gītā (Kap. 9, Vers 23): „Und selbst jene, die mit einem festen Glauben bei ihrem Tun andere Götter verehren, verehren unfreiwillig mich, wenn auch ohne ihr Wissen.“ Das heißt nicht, dass jeder Kṛishṇa als seinen Gott anerkennen soll. Es bedeutet vielmehr, dass alle schließlich die Wahrheit, die reale universelle Wahrheit finden werden. Wenn wir ernsthaft sind, werden wir in einem unserer Leben die Gelegenheit zu einer Erfahrung herbeiziehen, die unseren Glauben bestätigt oder widerlegt; so werden wir der Wahrheit näher kommen, die Eine ist – Kṛishṇa, Buddha, Allah oder sonst ein Name. Der Glaube ist dann zum Wissen geworden.

Frage – Würden man nicht, wenn man so denkt und handelt, gleich zwei Ziele erreichen? Erstens Erfahrungen rechter Art heranziehen und zweitens die Fähigkeit verstärken, Handlungen auf der Basis der vorhandenen Erkenntnisse und nicht nur auf der Grundlage des Glaubens auszuführen. Mit anderen Worten: Wir würden nicht bloß krabbeln, sondern richtig laufen.

Stellungnahme – Ja, wir würden fester und sicherer den richtigen Weg gehen, weil wir die Lebenserkenntnisse nützen würden. Wenn wir so handeln, ziehen wir mit größerer Macht herbei, was uns hilft, unsere Anschauungen zu vertiefen und mit der Zeit in Wissen umzuwandeln – all das wird unserem Charakter eingeprägt. Aber denken Sie immer an das Motiv, das unseren Bestrebungen die Grundtönung gibt: Wenn wir lernen und die Wahrheit nur für uns selbst suchen, ist das eine Sache für sich; wenn wir aber diese Suche betreiben, damit wir wertvolle Glieder der menschlichen Rasse werden, fähig, anderen mehr durch das eigene Beispiel als durch bloße Vorschriften zu helfen, dann werden wir bemerken, dass in uns ‘Erkenntnis spontan hervorspringt’ (Bhagavad-Gītā, 4:38).

Frage – Je mehr man darüber nachdenkt, desto schwerer fällt die Analyse, wo der Glaube aufhört und wo das Wissen beginnt. Was wir nur als Überzeugung ansehen, ist vielleicht in Wirklichkeit wiedererwecktes Wissen?

Stellungnahme – Ganz recht und Sie erinnern sich vielleicht, wie Plato in seinen Dialogen davon spricht, dass die Seele ihr früheres Wissen wieder sammelt oder sich wieder in Erinnerung ruft. Denken Sie an seine Idee der ‘Wiedererinnerung’, wie die höhere Erkenntnis wieder aktiviert wird, die in früheren Leben im Charakter aufgespeichert wurde. Diesem Prozess muss volle Aufmerksamkeit geschenkt werden. Selbst wenn Ihre Erfahrungen Ihnen vor Ihrem Tod nicht die Gelegenheit geben, Ihren Glauben als Wissen zu bestätigen, geht nichts verloren, weil Sie automatisch die Zustände und Verbindungen schaffen werden, mit welchen Ihre gegenwärtigen Erkenntnisse erweitert werden.

Warum suchen Sie zum Beispiel in diesem Leben nach Lösungen für die Lebensfragen? Vielleicht brachte Sie ein Artikel auf ganz neue Gedanken; oder Sie begegneten einem Menschen, der den Lauf ihres Schicksals ohne bewusstes Zutun änderte; oder Sie wurden durch ein Erlebnis wachgerüttelt, das Ihre latente Stärke aktivierte. So wird Karma auch zukünftig, woher auch der äußere Anstoß kommen mag, nach und nach den Trägheitspanzer durchbrechen und Ihnen immer mehr Gelegenheit geben, den Anschluss an Ihre innewohnende Erkenntnis zu finden. Keiner erreicht seine innere Reife in einem festgelegten Zeitraum; ich spreche jetzt nicht von der körperlichen Reife. Ich beziehe mich auf den Zeitpunkt in dieser Lebensperiode, wo wir den Anschluss an unsere innere Vergangenheit finden und anfangen, uns bewusster mit unserem wahren Selbst zu verbinden. Dieser Kontakt kommt auf natürliche Weise zustande; unser wirklicher Charakter wird uns so bewusst und wir sind dann nicht nur für unsere Gewissensregungen empfänglicher, sondern es macht sich auch unsere Intuition – ein Aspekt unseres höheren Selbst – bemerkbar und zwar unüberhörbar.

Die mitgebrachte Erkenntnis dringt schließlich durch die intellektuelle Bewusstseinsebene hindurch. Wenn die Erkenntnis vorhanden ist und unser höhergeistiges Streben das Tor zu ihr geöffnet hat, wird die Intuition, die Stimme eines höheren Bewusstseins, zusammen mit der Stimme des Gewissens als Werkzeug wirksam – vorausgesetzt wir lassen uns von unserem Ehrgeiz nicht vortäuschen, wir könnten allein durch intellektuelle Denkprozesse immer mehr begreifen. Das Gewissen sagt uns nie, was wir tun sollen, ebensowenig wie Sokrates von seinem Daimon gesagt bekam, was er tun solle. Seine Aufgabe ist es, uns zu warnen, wenn wir die schmale Grenze des rechten Denkens und des rechten Handelns überschreiten. Dass unsere Intuition nicht öfter zu uns spricht, hat seinen Grund darin, dass wir ihr in unserem Eifer, intellektuelle Fakten zu sammeln, einfach keine Gelegenheit geben. Diese Intuition wird uns ihre Führung jedoch nie versagen, wenn wir ihr in unserem Leben zu stärkerer Herrschaft verhelfen.

Daran ist nichts Fantastisches, denn wenn wir unser Bewusstsein mit der richtigen Denkart in die rechte Richtung eingewiesen haben, erhaschen wir jenen Schimmer der Ewigkeit, der die Seele befähigt, ihrem natürlichen Wachstumsschema zu folgen. Wenn dann die Trennungslinie der Erkenntnis zwischen Glauben und Wissen immer schärfer hervortritt und die Unterscheidungsfähigkeit immer klarer wird, können wir gerade die Art von Erfahrungen heranziehen, die uns dazu drängen werden, uns voll und ganz dem Wohl anderer zu widmen.

Die zwei Seiten der Reue

Frage – In letzter Zeit habe ich ziemlich viel gelesen und in einem Buch von W. Q. Judge, Letters That Have Helped Me [Briefe, die mir geholfen haben], begegnete mir der Satz: „Bereue nichts.“ Das hat mich offen gestanden beunruhigt, weil ich immer der Ansicht war, man müsste einen Fehler ernsthaft bereuen, wenn man ihn erkennt, und sollte versuchen, es besser zu machen. Welches Abschreckungsmittel gibt es, das uns vom Unrechttun zurückhält, wenn man keine Reue empfinden soll?

Stellungnahme – Ihr Problem rührt vielleicht daher, dass Sie die beiden Worte „bereue nichts“ aus dem gedanklichen Zusammenhang isolierten. Dieses Vorgehen ist ziemlich riskant, weil dadurch oft die ursprüngliche Bedeutung verzerrt wird. Vermutlich soll gesagt werden: Vergeude nicht kostbare Zeit und Energie für unnütze und leere Reue.

Frage – Schön, das verstehe ich. Aber die Feststellung lautet nur „bereue nichts“ – und das störte mich. Ich dachte an kleine Vorfälle im täglichen Leben. Wenn ich jemand gedankenlos kränkte und es würde mir später bewusst, würde ich es bedauern und sofort impulsiv sagen: „Es tut mir leid, es war nicht meine Absicht.“ Das würde dazu beitragen, wieder ein Gefühl der Harmonie zwischen uns herzustellen. Wenn wir aber nichts bereuen sollen, wie können wir dann den anderen wissen lassen, dass es uns leid tut?

Stellungnahme – Wir dürfen die Anwendung dieses Gedankens nicht zu eng und zu wörtlich verstehen. Selbstverständlich sollten wir bei unseren täglichen Kontakten mit anderen den natürlichen Anstands- und Höflichkeitsregeln folgen. Wenn wir jemand verletzen oder gedankenlos handeln, sollten wir es selbstverständlich bedauern und das bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zum Ausdruck bringen, um damit zu versuchen, die gestörte Harmonie wieder auszugleichen. Wenn wir die Regeln des allgemeinen Anstands verletzen und uns hinter dem Axiom „Bereue nichts“ verstecken wollten, würden wir einen weit größeren Fehler begehen, als ihn die ursprüngliche gedankenlose Handlung darstellt.

Haben Sie das Buch dabei? Schön. Ich möchte den ganzen Abschnitt vorlesen:

Die Vergangenheit? Was ist sie? Nichts! Vergangen! Lasse sie doch. Du bist deine eigene Vergangenheit. Deshalb berührt sie dich als solche nicht. Sie berührt dich nur, wie du jetzt bist. In dir, wie du jetzt bist, liegt die gesamte Vergangenheit. Folge deshalb der Hindulehre: „Bereue nichts; sei nie traurig und zerschneide allen Zweifel mit dem Schwert spiritueller Erkenntnis.“ Reue erzeugt nur Irrtümer. Ich kümmere mich nicht darum, was ich war oder was irgendein anderer war. Ich sehe nur darauf, was ich in jedem Augenblick bin. Weil jeder Augenblick ist und gleich darauf nicht mehr ist, folgt daraus, dass wir die Gegenwart vergessen, wenn wir an das Vergangene denken; und während wir vergessen, fliegen die Augenblicke an uns vorbei und bilden noch mehr Vergangenheit. Deshalb bedaure nichts, selbst nicht die größten Torheiten deines Lebens, denn sie sind vorüber und du musst in der Gegenwart wirken, die zugleich beides ist – Vergangenheit und Zukunft. In der klaren Erkenntnis, dass alle deine Begrenzungen eine Folge Karmas sind, aus diesem oder aus vergangenen Leben, und mit einem nun mehr festen Vertrauen auf Karma als dem einzigen Richter, der gut oder schlecht sein wird, wie du es selbst bestimmst, kannst du daher allem, was geschehen mag, entgegentreten und gelassen sein, trotz gelegentlicher Verzweiflung, die jeder empfindet, die jedoch das Licht der Wahrheit immer zerstreut.

Ich will versuchen, das vom Standpunkt der menschlichen Natur aus zu erläutern: Sobald die menschliche Seele wegen irgendeines Vergehens Reue empfindet, wird diese Empfindung dem Bewusstsein eingeprägt, was von diesem Augenblick an das Gewissen stärkt und aufbaut. Daher ist die Reue eine notwendige Stufe, aber sie ist nur eine Stufe. Diese frühere falsche Handlung muss überhaupt nicht in diesem Leben begangen worden sein, denn das Zeitelement ist als Faktor völlig unwichtig. Die Qualität unserer Handlung wurde unserer Seele mit unauslöschlicher Gewissheit eingeprägt und deshalb warnt uns jetzt die Stimme des Gewissens, wenn wir wieder eine Denk- und Handlungsweise einschlagen wollen, die wir überwunden haben sollten.

Frage – Müssen wir nicht Reue empfinden, damit unser Gewissen in Funktion treten kann?

Stellungnahme – Wiederum dürfen wir einen Ausspruch oder eine Anstandsregel nicht zu wörtlich nehmen und dadurch den Geist des Gedankens verfehlen. Wenn wir alles Gelesene nur nach den geschriebenen Worten beurteilen oder sie aus dem Zusammenhang reißen, sind wir genauso dogmatisch wie der orthodoxe Starrkopf. „Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2 Korinther 3, 6). Natürlich müssen wir etwas fühlen, müssen wir eine Reaktion auf eine falsch ausgeführte Handlung verspüren, wie sonst würden wir lernen? Sobald diese Reaktion registriert ist, ist es jedoch an der Zeit, die ‘Bereue-nichts’-Regel anzuwenden, weil uns die Reue von da an, wo wir immer wieder an unseren Missgriff denken und uns wegen des begangenen Fehlers selbst bedauern, nur noch mehr Kummer einbringt. Lernt die Lektion; dann geht weiter und verwendet eure Energie für die Stärkung anderer Aspekte eures Wesens und sorgt für die rechte Sinnes- und Geisteshaltung in eurem Bewusstsein, so dass eher aufgebaut und nicht zerstört wird.

Damit man diese Auffassung des Nichtbereuens besser verstehen kann, muss man sie vom Standpunkt vieler Lebenszeiten aus ansehen. In der Tat, wir sollten unseren Horizont richtig erweitern, damit wir die gesamte Skala unserer Erfahrungen von der Garten-Eden-Periode an begreifen – von dem Augenblick an, wo wir individuelle Frauen und Männer wurden, ausgestattet mit Selbstbewusstsein und mit Freiheit zu entscheiden, was wir mit unserer neu gewonnenen Erkenntnis von Gut und Böse anfangen wollen.

Frage – Wenn Sie bis zur Zeit des Garten Edens zurückgehen – wie viele Tausende oder Millionen Jahre sind das? – haben wir vermutlich alles Mögliche getan, das wir ungeschehen wünschen! Glauben Sie, dass wir damals Reue empfanden?

Stellungnahme – Wenn uns unser falsches Tun bewusst wurde, hat uns unser Gewissen bestimmt so stark geplagt, dass wir uns zu ändern wünschten. Vermutlich haben aber die meisten Menschen die gleichen Fehler viele Male wiederholt. Diese Irrtümer – weit davon entfernt uns aufzuhalten – wurden jedoch, sobald sie erkannt wurden, zu Stufen für den künftigen Erfolg. Die physische Handlung ist nicht halb so wichtig wie die Bewusstseinsqualität, welche die Handlung hervorbringt. Wenn wir die Qualität unseres Denkens und Fühlens ändern, ändert sich zwangsläufig die Qualität unserer Handlungen entsprechend.

Frage – Nehmen wir an, man stellt etwas wirklich Böses an und erkennt im Augenblick die Tragweite nicht; später erwacht man jedoch mit einem Schock und fühlt sich unglücklich. Kann man diese Tat durch ernsthafte Reue auslöschen? Gibt es so etwas wie eine ‘Vergebung der Sünde’? Ich meine, kann man den Irrtum durch Reue auslöschen, wenn man absolut aufrichtig ist und ganz innig wünscht, das Unrecht ungeschehen zu machen?

Stellungnahme – Sobald eine Handlung ausgeführt ist, kann sie nicht rückgängig gemacht werden – alle Tränen und Klagen und alle Reue der Welt können im Soll und Haben im Hauptbuch des Lebens nicht das Geringste ändern. Wie sehr uns auch später die Augen aufgehen mögen, die Vergangenheit können wir nicht ungeschehen machen. Was geschehen ist, ist geschehen, und die Tat, wie immer sie auch beschaffen war, wird unausweichlich, so wie der Nacht der Tag folgt, ihre entsprechende Reaktion nach sich ziehen. Darin liegt nichts Grausames oder Willkürliches. Es bedeutet einfach, dass das Naturgesetz unerbittlich gerecht und – vom Wachstum der Seele aus gesehen – unermesslich barmherzig ist, denn wir werden durch den Reaktionsschmerz wachsen und innerlich stark – auf diese Weise können wir die Qualität des göttlichen Funkens, den jeder im Herzen trägt, stärker zum Ausdruck bringen.

Wir wollen daher nicht entmutigt sein: Wie spät am Tag die Erkenntnis auch kommen mag, sie wird das Wunder der Transmutation in unserem Charakter bewirken. Wenn für uns der Zeitpunkt kommt, wo wir der Reaktion unseres Irrtums gegenübertreten müssen, werden wir den Charakter unseres Wissens so gefestigt haben, dass wir den Wirkungen, wie immer sie beschaffen sein mögen, mit Mut und neuer Einsicht begegnen können.

Frage – Können wir je die ‘Fußfesseln’ Karmas loswerden? Wenn ich etwas falsch mache und es später bereue, wird es dann immer wieder zu mir zurückkehren, Ursache und Wirkung, Ursache und Wirkung, wobei jede Wirkung eine neue Ursache erzeugt, die mich mit ihrer Wirkung wieder ankettet, so dass ich nie entfliehen kann?

Stellungnahme – Diese Auffassung ist völlig falsch. Das ‘Gesetz der Kompensation’, wie Emerson es nannte, das Gesetz des Gleichgewichts ist keine erbarmungslose Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung ohne die Hoffnung, dem ‘Rad des Daseins’, wie die Hindus es nennen, entfliehen zu können. Gewiss ist der Vergleich mit einem Rad insofern berechtigt, als in Bewegung gesetzte Ursachen, so wie ein Rad sich dreht, als Wirkungen zu uns zurückkehren müssen. Das Leben ist aber kein geschlossener Kreis – die evolutionäre Entwicklung verläuft spiralförmig und jede Umdrehung bietet die Gelegenheit, auf dieser Spirale entweder hinauf oder hinab zu steigen.

Sobald sich eine Aktion zu ihrer entsprechenden Reaktion durchgearbeitet, sobald eine Ursache ihre Wirkung offenbart hat, ist die ursächliche Ursache tot – sie hört auf zu existieren, wenn wir sie nicht neu beleben durch ein unangemessenes Verhalten gegenüber ihrer Wirkung, und sie zwingen, eine neue Ursache zu werden, die künftig auf uns zurückwirkt. Alles hängt davon ab, wie wir den Wirkungen begegnen. Das wird von vielen nicht erkannt, weil sich bei ihnen die Idee so festgesetzt hat, dass – weil jede Ursache eine Wirkung hat – gerade diese Wirkung ein Eigenleben hat – getrennt von dem, das wir ihr geben durch unsere Reaktion auf sie. Das Tragische ist, dass zu viele von uns falsch reagieren, weil wir nicht gewillt sind, unser tägliches Karma wie es kommt bei den Hörnern zu packen. Gerade durch unsere Unentschlossenheit verstricken wir uns weiter und beleben jene Wirkungen erneut, so dass sie tatsächlich weitere Ursachen zeugen, die wiederum als Wirkungen auf uns zukommen, bis wir die Lektion der betreffenden Erfahrung gelernt haben. Es ist unser Verhalten zu den Wirkungen unseres Karmas, das neue Ursachen für neue Wirkungen erzeugt – nichts anderes.

Es geziemt sich daher für uns, dass wir übermäßige Reue vermeiden und die Zweifel an unserer wahren Stärke mit dem Schwert der spirituellen Erkenntnis zerschlagen. Die Vergangenheit ist vorbei; die Gegenwart ist; und da die Zukunft das Ergebnis unserer gegenwärtigen Handlungen ist, ist das, was wir jetzt tun, das Wichtigste. Wir sehen, wie schädlich es für die Seele ist, wenn wir Energie und Zeit für leere und unfruchtbare Reue vergeuden; statt unsere Kräfte auf das Wachstum zu verwenden, verzögern wir unseren Fortschritt und dienen damit weder uns noch anderen. Sobald das Unrecht erst klar erkannt ist und der rechte Weg gesehen wird, sollten wir unser Antlitz der Sonne zuwenden und in die Zukunft fortschreiten. Auf diese Weise gewinnen wir Stärke und vielleicht ein wenig Weisheit, womit wir den Wirkungen der zahllosen Ursachen begegnen können, die wir in der Vergangenheit in Bewegung gesetzt haben.

Frage – Ich nehme nicht an, dass wir nur schlechtes Karma erzeugt haben. Haben wir nicht auch gutes Karma geschaffen?

Stellungnahme – Natürlich haben wir das. Des Menschen ununterbrochene Existenz durch die Zeitalter ist in sich selbst ein Beweis seiner Göttlichkeit und ein Beweis für die Empfänglichkeit der Seele für die göttlichen Eingebungen. Karma jedoch ist weder gut noch schlecht – es ist streng unpersönlich; es ist das unpersönliche Wirken des Gleichgewichtsgesetzes, das sich als Anziehung und Abstoßung, als Liebe und Hass und als Ursache und Wirkung offenbart. Gleich der Sonne und dem Regen scheint oder fällt es auf Gerechte und Ungerechte und wärmt und nährt die Seele bei ihrem Aufstieg. Die Begegnung mit den Wirkungen unserer vergangenen Gedanken und Gefühle, Handlungen und Entschlüsse ist deshalb weder gut noch schlecht; alles ist Gelegenheit, eine großartige Gelegenheit für Erfahrung und Wachstum.

Frage – Mich beschäftigt immer noch der Ausdruck: Bereue nichts. Glauben Sie, wir werden vor der Reue gewarnt, damit wir nicht Gefahr laufen, uns derart in das Bereuen geschehener Dinge zu verlieren, dass wir für die eigentliche Ursache unserer Schwierigkeiten blind werden?

Stellungnahme – Alles hat zwei Seiten und von einem Gesichtspunkt aus zeigt die Tatsache, dass wir Reue empfinden, auf welcher Seite wir stehen; denn wenn wir uns über unsere Fehler nicht betroffen fühlten, befänden wir uns bestimmt nicht auf dem höheren Weg. Die Warnung richtet sich gegen das Stehenbleiben im Schlamm der Reue, denn eine unvernünftige Reue widerspricht der Absicht der Natur. Außerdem gibt es eine Art Reue, die nur Selbstmitleid ist, wenn man wegen eines Irrtums so unglücklich ist, dass es einer Besessenheit gleicht. Das ist höchst gefährlich, weil solch ein depressiver Zustand, wenn ihm nicht Einhalt geboten wird, zur Gewohnheit werden und zu jener verderblichen Art des Sichgehenlassen führen kann, die der erste Schritt zu mentalem Ungleichgewicht ist.

Das ist ein Grund, weshalb wir nicht beharrlich vitale spirituelle Energie für einen Reuezustand verschwenden sollten. Unser Urteil und selbst unsere Motive sind beständig dem Irrtum ausgesetzt. Das ist jedoch kein Grund zur Beunruhigung. Alles ist ein Teil der Evolution. Wie stark wären wir wohl, hätten wir nie einen Fehler gemacht, hätten wir nie eine Versuchung erleben und überwinden müssen? Wenn wir falsch handeln, wirkt die Natur mitleidsvoll zurück und wir leiden entsprechend. „So wie das Gold im Feuer geläutert werden muss, so muss das Herz durch Schmerz geläutert werden.“

Frage – Darf ich hier eine Frage stellen? Sie ist sehr einfach, aber sie ist sehr wichtig für mich. Wie lernen wir? Die ethischen Prinzipien wirklich in die Tat umzusetzen, scheint sehr schwierig zu sein. Wie können wir sicher sein, dass wir uns nicht selbst täuschen und denken, wir seien spirituell, wenn wir in Wirklichkeit vielleicht ganz selbstsüchtig sind?

Stellungnahme – Diese Frage ist sehr lebensnah. Spirituelle Erkenntnis entsteht so natürlich wie der Übergang der Nacht in die Dämmerung. Sie ist das unabwendbare Ergebnis rechten Denkens und rechten Handelns, nicht erzwingbar durch unnatürliche, rigorose Methoden, sondern das Resultat getreuer, eindeutiger Pflichterfüllung. Das Sesam-öffne-Dich für den echten Fortschritt heißt recht leben – nicht in ein oder zwei dramatischen Augenblicken, sondern in allen 24 Stunden jedes Tages. Wir lernen aus unseren Erfolgen wie auch aus unseren Fehlschlägen. Die Fehlschläge erweisen sich oft als unsere größten Wohltäter, weil sie uns aus unserer Gleichgültigkeit wachrütteln. Bedauern Sie deshalb nie Fehlschläge, denn sie brennen die Wahrheit tief in die Seele ein.

Die natürliche Funktion des Gleichgewichtsgesetzes mit seinem ineinander Wirken von Aktion und Reaktion von Lebenszeit zu Lebenszeit machte uns zu dem, was wir heute sind. Wir sind jetzt die Gesamtsumme unserer ganzen Vergangenheit, und unser unsterblicher Wesensteil, das reinkarnierende Element, versucht heute gerade die Verhältnisse unserer sozialen Bedingungen und unserer Umweltbedingungen zu nützen, die uns bei der Erlernung der notwendigen Lektionen helfen können. Das sogenannte gute Karma kann, so seltsam das scheinen mag, oft weit schwerer bewältigt werden als das sogenannte schlechte Karma. Wenn wir uns in unangenehmen Verhältnissen befinden, prüfen wir uns natürlich, damit wir erkennen, worin wir gefehlt haben könnten oder wo unser Charakter gefestigt werden müsste; und je schmerzhafter das Karma ist, desto klarer tritt jene Eigenschaft hervor, die der Korrektur bedarf. Wenn wir diesem Karma mit Energie und Intelligenz nachkommen, kann ein wirklicher Fortschritt erzielt werden. Wenn das Karma aber angenehm ist, nehme wir es oft als selbstverständlich hin, vernachlässigen unsere Wachsamkeit und tendieren sowohl in unserem Verhalten wie auch in unserem Streben zum Niedergang. Kein Wunder, dass der Meister Jesus zu seinen Jüngern sagte: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“ (Matthäus 19, 24). Und er meinte damit nicht nur die Reichtümer dieser Erde – er wollte uns auf die Notwendigkeit aufmerksam machen, entlang des ganzen engen und schmalen Wegs stets wachsam zu sein.

Wir sind hier auf der Erde, damit wir hoffentlich lernen, wie man die Zeichen der sich entfaltenden Schrift unserer täglichen Erfahrungen liest, und damit wir erkennen, was das höhere Selbst von uns will. Wenn uns das gelingt, kann das Göttliche im Innersten unseres Wesens in unserem Leben stärker erblühen und wir werden desto besser mit unseren Mitmenschen teilen, was wir rechtmäßig verdient haben.

Kohle oder Diamant

Als pennsylvanischer Junge war ich sehr stolz darauf, dass sich mein Heimatland der größten Wälder rühmen kann, welche die Erde je aufwies. Dabei spielte es keine Rolle, dass sie seit langem verschwunden sind; die Tatsache, dass sie einmal hier vorhanden waren, erschien mir ganz großartig. Ja, sie wuchsen vor Millionen Jahren in einer Epoche, in der sich Kohle bildete; aber wie aufregend war die Vorstellung, dass das Kohlendioxyd, das jene Bäume vor so langer Zeit absorbiert hatten, unter dem Druck von Erde und Gestein im Lauf der Zeit allmählich in Kohle verwandelt worden war.

Selbst damals schon schien es mir klar, dass nichts wirklich stirbt. Die Dinge veränderten ihre Form, aber die Energie, durch die sie lebten, ging einfach woanders hin. Ganz sicher wusste ich, dass die Kraft, die einst die Säfte durch jene Nadelbäume fließen ließ, immer noch hier anwesend sein konnte. Vielleicht lässt sie unsere heutigen Wälder grünen, während ihre vorväterlichen Stämme, jetzt im Boden verwandelt, zu einer Erwerbsquelle für Tausende geworden sind. Bergleute fördern seit Generationen Kohle, Ölsucher pumpen rohes Erdöl aus den Schieferlagen und auch die Geologen sammeln mühevoll pflanzliche und tierische Fossilien, während wir Kinder in den Tälern und entlang den Flüssen nach Tomahawks und Pfeilspitzen suchten, die unsere indianischen Vorgänger hinterlassen haben.

Mineral, Pflanze, Tier und Mensch – vier eng miteinander verbundene Naturreiche, von denen sich dennoch jedes im eigenen Lebenszyklus von Geburt, Wachstum und Tod entwickelt. Damals hatten die Nadelbäume und Farne ihre Substanz aus Erde und Luft gewonnen, die sie nun nach gewaltigen Zeiträumen in Form von Kohle, Graphit, Gas und Öl zurückgeben – zum Heizen unserer Wohnungen, zur Herstellung von Bleistiftminen, zum Kochen unserer Nahrung und um unsere Industrieöfen mit Brennstoff zu versehen. Abgelagerter Kohlenstoff, in seiner elementaren Form undurchsichtig und eines der weichsten Minerale, erfährt durch den konzentrierten Druck der Zeitalter eine kleine Veränderung der atomaren Struktur und wird, immer noch reiner Kohlenstoff, jetzt in Kristallform zum härtesten, durchsichtigsten und schönsten Mineral – zu einem vielflächigen Diamanten.

Eins im innersten Wesen, verschieden in der äußeren Form – so besteht letzten Endes die Welt vom Mineral bis zum Stern aus demselben Grundstoff. Es hängt nur davon ab, was mit der ‘Materie’ geschieht, wie ihre Teilchen angeordnet oder kombiniert sind, um hier ein Unkraut, dort einen Stein oder einen Menschen oder auch eine Sonne zu bilden. Dauerhaftigkeit und Vielfältigkeit der Lebenskraft – nie habe ich jenes jugendliche Aufblitzen der Überzeugung verloren. Es besteht eine Bruderschaft, welche die Gesamtheit des Kosmos umschließt, nicht nur die Menschen, sondern alles, vom Elektron bis zum Sternennebel. Alle Völker der Erde sind buchstäblich miteinander verwandt und weder ihre Hautfarbe noch ihre Sprache können diese Tatsache beeinflussen. Wir sind eine Einheit: chemisch-physikalisch aus kosmisch diffusem Sternenstaub gebildet; spirituell durch die Flamme eines göttlichen Elements entfacht, welches jeden Punkt des Raumes zu einer sich entwickelnden Einheit entzündet.

Wie entstehen jedoch diese Zeitkrankheiten, wenn es wirklich eine „Gottheit, die unsre Zwecke formt“, (Shakespeare, Hamlet, 5.2.11) gibt? Auf fast allen Gebieten zeigen sich Umwälzung, Entmutigung und eine tragische spirituelle Mattigkeit. Wie ist das möglich, wenn wir so hervorragende Entwicklungsmöglichkeiten wie nie zuvor haben? Steuern wir wirklich einer Katastrophe entgegen? Oder gibt es einen anderen Aspekt, den wir vernachlässigt haben, weil wir uns zu sehr mit der Schattenseite des menschlichen Daseins beschäftigen?

„Wo die Nacht am dunkelsten ist, scheinen die Sterne am hellsten.“ Selten traf dieses alte spanische Sprichwort mehr zu. Vielleicht sind wir etwas zu rasch groß geworden? Der Vorstoß in den Weltraum hat uns plötzlich vor eine ganze Reihe neuer Probleme gestellt, für deren Bewältigung wir etwas mangelhaft ausgerüstet sind. Wir sind gezwungen, die Verantwortung einer höheren Reifestufe zu übernehmen und haben diese Herausforderung bis jetzt noch gar nicht voll erkannt, geschweige denn akzeptiert. Aber wir lernen schnell und gut. Diese so allgemein wahrgenommene Umwälzung ist gerade das Kennzeichen einer starken inneren Regung, des Kampfes der Menschheitsseele im Stadium des Abstreifens einer zu klein gewordenen Puppenhülle.

Natürlich haben wir Probleme und zwar ernsthaft, aber ich habe für das Gejammer der ständigen Schwarzseher genauso wenig übrig wir für die ‘Optimismus-Süchtigen’, die jede Schwierigkeit verzuckern. Wir müssen eine realistische Geisteshaltung entwickeln, die sich nicht fürchtet, dem Leben so zu begegnen, wie es ist. Wenn wir mit den Wissenschaftlern, die ihre Vorstöße in den Weltraum unternehmen, Schritt halten wollen, müssen wir in die Bereiche des inneren Raumes im Innersten des Menschen vorstoßen, welcher die Verbindung mit der göttlichen Inspiration ist, die den Kosmos hervorbrachte.

Wir mögen zwar anscheinend nur wenig mehr als entwickelte Tiere sein, aber mit etwas Verständnis, Geduld und ein wenig Zeit werden wir unsere Flügel entdecken und wissen, dass keine Macht im Universum gewaltiger ist, als die in unserem Innern eingebettete göttliche Essenz. Mental und spirituell sind wir tatsächlich embryonale Riesen, in den Möglichkeiten ebenbürdig der großen Intelligenz, welche die Milchstraßen und Sonnen belebt. Das ist der Realismus, der sich als weit dynamischer erweisen wird, als der sogenannte Realismus der Schwarzseher.

Lasst uns deshalb Überängstlichkeit und Zweifel ablegen. Keiner kann je weiterkommen, wenn er sich selbst bemitleidet oder seine innewohnende Entwicklungsmöglichkeit dauernd herabsetzt. Natürlich können wir das Böse genauso wenig fortbeten wie die Tatsache, dass Krankheit, Leid und Tod ein Teil der menschlichen Lebenserfahrung sind. Aber Gesundheit, Freude und Wachstum sind ebenso ein Teil des Lebens. Das Leben vieler mag vom äußeren Ablauf der Ereignisse her gesehen wie ein Fehlschlag erscheinen; mit den Augen unseres höchsten Selbst gesehen kann es jedoch keinen Fehlschlag geben. Ganz gleich wie viele Schlachten wir verlieren, der unsterbliche Streiter in uns ist unbezwingbar; er wird uns wieder und wieder auf das Kampffeld des menschlichen Strebens führen, bis der volle Sieg unser ist.

Wenn die göttliche Intelligenz jedes Teilchen der Unendlichkeit durchdringt, hat jeder einzelne Mensch die ganze Macht und alle schöpferische Initiative zu seiner Verfügung, um mit dieser Intelligenz und ihren konstruktiven Elementen in der Natur zu arbeiten. In unserer Struktur mag viel Kohle und Rohöl vorhanden sein, aber wir haben auch das Potenzial des Diamanten. Deshalb bezeichneten die Buddhisten, besonders in Tibet, Buddha den Herrn als ‘Diamantherz’ – ihn, dessen ganzes Wesen durch den Druck der Zeitalter und durch die Intensität der Erfahrung in diamantene Reinheit und Stärke verwandelt wurde. Aus undurchsichtiger Beschaffenheit wandelte sich Gautama durch die Feuerprobe der Prüfungen zur durchscheinendsten: zur vollkommenen Reflexion des Lichts von innen wie auch des Leids der Menschen von außen. Wahrhaftig ein Beispiel des Mitleids, hat er, so diamantgleich in Willen und Absicht und doch so empfänglich für das Herzensweh der Welt, den Segen der Allwissenheit nicht angenommen, damit er zur Erde zurückkehren konnte, um den Glanz seines Triumphs mit der ganzen Menschheit zu teilen.

Kohle oder Diamant – auch wir bestehen aus beiden.

Die sechs glorreichen Tugenden des Buddhismus – I

Frage – Sie haben oft gesagt, dass die tiefsten Wahrheiten die einfachsten sind und dass sie das Rückgrat aller großen Religionen bilden. Darüber habe ich sehr viel nachgedacht. Kürzlich stieß ich nun auf ein kleines Buch, Die Stimme der Stille, das ‘sechs glorreiche Tugenden’ aufzählt. Diese Gedanken sagen mir zu und ich hätte gerne mehr darüber erfahren.

Stellungnahme – Ich nehme an, Sie beziehen sich auf die Pāramitās der buddhistischen Literatur. Gewöhnlich werden sechs erwähnt, manchmal auch sieben oder zehn, aber die Anzahl ist nicht so wichtig. Eine ausführliche Behandlung würde uns sicher zu weit führen, aber wir können auf alle Fälle darüber sprechen. Jede große Religion enthält Vorschriften oder Ermahnungen für ein besseres Leben. Die Pāramitās im Buddhismus sind eine Reihe von ‘Tugenden’, Beschreibungen von Eigenschaften des Denkens und Handelns, die – wenn sie zu einem Teil des eigenen Lebens gemacht werden – die Geheimnisse des Universums und des Menschen enthüllen. Es wird auch gesagt, ihre Ausübung führe den aufrichtig Strebenden schließlich zur vollkommenen Erleuchtung. Mit anderen Worten: Die Pāramitās weisen, wenn sie wirklich praktiziert werden, den Weg zur direkten Wahrnehmung der Wahrheit.

Dasselbe könnte von jeder Zusammenstellung ethischer Vorschriften oder Tugenden gesagt werden. Wenn wir das eine Gebot Jesu wirklich leben würden, kämen wir zu demselben Resultat: Denn vollkommene Liebe bringt vollkommenes Verstehen.

Frage – Da ich mit der buddhistischen Religion nicht vertraut bin, ist mir das alles neu. Ich möchte fragen, ob Sie die Bedeutung der einzelnen Tugenden hier erklären können?

Stellungnahme – Gerne. Doch wollen wir die Verwendung der Sanskritausdrücke vermeiden, außer wir finden es während der Diskussion ratsam, einen speziellen Ausdruck zu analysieren. In der Übersetzung lauten die Pāramitās wie folgt:

1. Barmherzigkeit – der Schlüssel der Barmherzigkeit und unveränderlichen Liebe;

2. Aufrichtigkeit – der Schlüssel der Harmonie in Wort und Tat;

3. Geduld – sanfte Geduld, die durch nichts zu erschüttern ist;

4. Leidenschaftslosigkeit – Gleichmut gegenüber Freude und Schmerz;

5. Unerschrockenheit – die furchtlose Kraft, die ihren Weg zur überirdischen Wahrheit erkämpft;

6. Kontemplation – das offene Tor zur Wahrheit.

Ich möchte bemerken, dass das Wirken für die Menschheit als das Wichtigste angesehen wird: „Für das Wohl der Menschheit zu leben, ist der erste Schritt. Die sechs glorreichen Tugenden auszuüben ist der zweite“ (Die Stimme der Stille, S. 50).

Frage – Ich persönlich sehe in diesen Dingen keinen besonderen Wert. Können wir behaupten, der Buddhist ist bei der Suche nach Wahrheit erfolgreicher gewesen als die Christen oder Juden? Ich meine damit Folgendes: Diese Tugenden hören sich großartig an. Doch ich gestehe, sie lassen mich fast ebenso kalt wie die Zehn Gebote; vielleicht deshalb, weil ich das Gefühl habe, dass sie uns dem Leben nicht näher bringen, als irgendetwas anderes.

Stellungnahme – Darin haben Sie recht! Solange eine Reihe von Lebensregeln oder ein Ethikkodex nur eine Formel bleibt, sind sie tot – ob das nun die Zehn Gebote oder die sechs oder zehn Pāramitās sind oder ob es das eine erhabene Gebot Christi ist. Nur wenn uns ein System oder ein Kodex hilft, unser Streben zu konzentrieren, kann eine Brücke für ein größeres Lebensverständnis daraus entstehen.

Zwischen diesen ethischen Vorschriften auf der einen Seite und der intellektuellen Kenntnis der Gesetze andererseits, die das innere und äußere Leben des Menschen und des Universums beherrschen, besteht eine direkte und praktische Beziehung. Sie zu begreifen, gehört zum Schwierigsten. Könnte eine Geschichte der Seele geschrieben werden, würde der Kampf, der durch ungezählte Zeitalter zwischen dem Verlangen nach Wissen hier und der Sehnsucht der Seele nach Weisheit dort geführt wurde, vielleicht zu den größten Kämpfen zählen. Der Intellekt ist wichtig, aber es ist nicht der Hauptfaktor bei der Entwicklung des Menschen. Die Erfahrungen jedes Strebenden zeigen, dass er, sobald er einen leidlichen Grad intellektueller Fähigkeit erreicht hat, Gefahr läuft, sich von der Komplexität des Universums derart faszinieren zu lassen – dessen Form großartiger ist als das feinste Präzisionsinstrument –, dass er das wirkliche Ziel der Seele aus dem Auge verliert, nämlich: bewusst mit dem inneren Gott zusammenzuarbeiten, um der Menschheit zu dienen.

Mit anderen Worten die zur Gewinnung der Wahrheit notwendige Ausübung der Tugenden kommt allzuoft erst an zweiter Stelle, nach der Anhäufung intellektueller Fakten – von immer mehr und mehr Fakten – ein Weg, der nur zu spiritueller Unfruchtbarkeit führt.

Frage – Dem stimme ich zu, denn ich bin schon immer gegen alles durch spezielles Training Erreichte misstrauisch. Haben diese Tugenden etwas mit psychischer Entwicklung zu tun?

Stellungnahme – Nicht im mindesten. Jedes System oder jede ‘Trainings’-Methode, die auch nur entfernt das Psychische berührt, lenkt die Seele gern von der Wahrheit ab. Der Drang nach diesen Dingen ist heutzutage viel zu groß. Die Menschen glauben, sie würden durch die Beschäftigung mit den sogenannten ‘okkulten Künsten’ spirituell. Sie erreichen damit aber lediglich eine Verzögerung der eigenen Entwicklung. Echter Okkultismus ist Selbstlosigkeit an sich, er hat nichts mit psychischer Entwicklung zu tun. Die Pāramitās legen das Schwergewicht auf die Entwicklung der spirituellen Eigenschaften unseres Wesens und nicht auf die der psychischen und rein intellektuellen; sie hängen daher direkt mit dem inneren Impuls in jenen Menschen zusammen, die ihren Blick auf die innewohnende Gottheit gerichtet haben, weil diese Eigenschaften wesentliche Elemente dieses Impulses sind.

Spirituelle Erkenntnis und Weisheit entstehen nur als natürliches Ergebnis aus der täglichen Anwendung des hinter den ‘Tugenden’ oder den ‘Geboten’ oder dem ‘Ethikkodex’ stehenden Geistes, sind diese nun hinduistisch, christlich oder buddhistisch oder deren eine, drei, vier, sieben oder zehn, denn die fortwirkende Kraft dieser Vorschriften oder Anleitungen liegt in ihrem Kern und nicht in ihrer äußeren Form; und gerade über diesen inneren Kern wollen wir uns unterhalten – und nicht über ihre spezielle Form.

Frage – Das ist ein ziemlich großes Vorhaben. Ich selbst könnte kaum eine von ihnen verwirklichen, geschweige denn alle sechs. Wie fängt man an? Soll man versuchen, zunächst eine zu meistern und dann zur nächsten übergehen? Ich fürchte, ich würde schon bei der ersten hängenbleiben und nie zu der anderen kommen.

Stellungnahme – Man kann keine dieser Tugenden isolieren und voll ausüben, ohne alle anderen wenigstens bis zu einem gewissen Grad ebenfalls ins Spiel zu bringen. Die Natur arbeitet anders – jedes trägt zu jedem und alles trägt zum Ganzen bei. Noch einmal, wir wollen unsere Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf die Form richten, weil sie sonst für uns, soweit es die spirituellen Werte betrifft, zu einer toten Sache werden.

Sie erinnern sich, die erste Voraussetzung war ‘zum Wohl der Menschheit zu leben’. Das wurde als ‘erster Schritt’, nicht als zweiter, vierter oder fünfter, sondern als erster Schritt bezeichnet, während die Ausübung der Tugenden ‘der zweite Schritt’ genannt wurde. Diese Unterscheidung ist höchst wichtig. Wenn wir über sie nachdenken, erkennen wir, dass gerade die Bemühung, so zu leben, dass unser ganzes Leben wirklich ein Dienen ist, uns automatisch vorbereitet, die Ausübung zumindest einiger, wenn nicht aller Tugenden einzuleiten. Während wir unser Denken und unser Leben ordnen, bemerken wir, dass diese Tugenden eine natürliche Gelegenheit darstellen, das unedle Metall in unserer Natur umzuwandeln.

Betrachten wir die erste: Barmherzigkeit und unsterbliche Liebe. Das Wort Barmherzigkeit ist gröblich missbraucht worden, denn in seiner ursprünglichen Bedeutung bezeichnete es nicht diese negative, einschränkende oder sogar unfreundliche Art des Mitleid, in der wir es viel zu häufig anwenden. Es bezeichnet vielmehr ein spontanes Aufquellen von Verständnis und Aufmerksamkeit für die Not des Nächsten. Diese Tugend ist mit jeder Lebensbeziehung von der einfachsten bis zur kompliziertesten aufs Engste verbunden, denn jede Berührung mit anderen verlangt von uns die Entscheidung, entweder einen Schritt in der selbstsüchtigen oder einen Schritt in der selbstlosen, mitfühlenden Richtung zu gehen. Echte Barmherzigkeit indessen lässt ihre Absicht nicht merken – „dein Almosen soll verborgen bleiben“ (Matthäus 6, 4). Die Ausübung von Barmherzigkeit bedeutet echte Rücksichtnahme und Fürsorge für andere, sie lenkt uns von einem übermäßigen Eigeninteresse ab und bildet damit eine Grundlage für alle anderen Tugenden.

Frage – Ist das nicht einfach die angewandte Goldene Regel? War es nicht Paulus, der dem Sinn nach etwa sagte, wir sind, selbst wenn wir mit Engelszungen redeten, aber keine Barmherzigkeit hätten, wie „dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke“ (1 Korinther 13, 1)?

Stellungnahme – Ganz recht, und jede heilige Schrift der Welt betont gerade diese selbstlose Haltung, wir müssen nur richtig lesen.

Soviel zur ersten Tugend oder Pāramitā. Die zweite: Aufrichtigkeit oder ‘Harmonie in Wort und Tat’ folgt ganz natürlich und sagt uns, wie wir uns verhalten müssen, wenn wir unsere Ethik in die Tat umsetzen wollen.

Frage√ – Diese bereitet mir mehr Kopfzerbrechen als die erste. ‘Harmonie in Wort und Tat’ – heißt das, dass man bei einer Diskussion oder bei einer Auseinandersetzung um des Friedens willen immer nachgeben muss? Frieden um jeden Preis ist ein heute häufig verwendetes Schlagwort.

Stellungnahme – Diesen Standpunkt teile ich nicht. ‘Friede um jeden Preis’ ist nach meiner Ansicht das unwirksamste, wenn nicht gar das gefährlichste Mittel zur Erreichung eines echten und dauerhaften Friedens. Wir wollen uns hier aber nicht mit sozialen oder politischen Fragen beschäftigen, nicht weil wir sie fürchten, sondern weil sie so leicht zu intellektuellen Auseinandersetzungen führen, ohne dass etwas dabei herauskommt.

Kehren wir wieder zu dieser zweiten Pāramitā zurück: Aufrichtigkeit schließt Harmonie ein, aber nicht notwendigerweise Übereinstimmung. Wenn wir darüber nachdenken, liegt hier ein ziemlicher Unterschied. Harmonie wird nicht dadurch erzeugt, dass jeder den gleichen Ton spielt. Der Komponist verwendet verschiedene Töne, Dissonanzen und selbst Missklänge und löst sie dann in einem harmonischen Arrangement auf. Symphonie bedeutet die Verbindung von Klängen, die Harmonisierung verschiedener, unterschiedlicher Töne. So schließt Aufrichtigkeit ein, dass man in Übereinstimmung mit seinen höhergeistigen Entschlüssen lebt und deshalb in seinem täglichen Wirken die Harmonie in Wort und Tat widerspiegelt. Mit einfachen Worten, das Leben muss so geführt werden, dass das Gleichgewicht und die Ordnung der Naturgesetze nicht verletzt werden.

Die einzige Ursache für mentale, physische oder emotionale Leiden liegt darin, dass wir zu irgendeinem Zeitpunkt das kosmische Gleichgewicht gestört und eine oder mehrere Disharmonien erzeugt haben – sehr oft auch Dissonanzen in unseren Beziehungen zu anderen. Die Natur reagiert darauf automatisch und unpersönlich und versucht, das von uns gestörte Gleichgewicht wieder herzustellen. Deshalb leiden wir. Wenn wir aber allmählich mehr und mehr in harmonischer Übereinstimmung mit den Naturgesetzen zusammenarbeiten, erzeugen wir nicht länger unnützen Streit und Unordnung, sondern stellen wieder wirkliche Harmonie her.

Wir wollen jetzt zur dritten Tugend gehen: Geduld. Es gehört nicht viel zu der Einsicht, dass etwas mehr Geduld vieles in der Welt erleichtern würde. Wie schon gesagt, wir können diese Pāramitās nicht wie die Sprossen einer Leiter als Aufeinanderfolge von Stufen ansehen. In einem gewissen Sinn folgt natürlich eine der andere, aber man kann unmöglich eine einzelne Tugend ausüben, ohne gleichzeitige Mitanwendung der anderen.

Nun zur Notwendigkeit von Geduld: Auch sie ist in ihrer Anwendung zweischneidig. Wie auf allen anderen Gebieten des inneren Strebens müssen wir auch hier zu unterscheiden lernen. ‘Geduld ist eine Tugend’, wurde uns von Kind an eingeprägt. Sie ist ganz bestimmt eine Tugend und eine sehr notwendige. Wir wissen aber alle, dass manchmal Weisheit und Stärke nötig sind, um andere daran zu hindern, uns zu bedrängen.

Es sieht so aus, als kämen wir mit den Pāramitās heute nicht zu Ende. Ich will deshalb die übrigen schnell durchnehmen, damit wir überblicken können, wie sie alle zusammenpassen:

4. Leidenschaftslosigkeit – Gleichmut gegenüber Freude und Schmerz;

5. Unerschrockenheit – jene furchtlose Kraft, die ihren Weg zu Wahrheit erkämpft;

6. Kontemplation – voll und ganz in der Atmosphäre unserer Bemühungen aufgehen:

was alles zusammen zu direkter Wahrnehmung oder Selbsterkenntnis führt.

Hiermit sind die Pāramitās kurz umrissen. Ich muss wiederholen, dass sie nichts bedeuten, wenn wir nicht den Geist dieser Tugenden anwenden. Erst wenn die lebendige spirituelle Kraft in jeden Gedanken, in jede Handlung und in jede Empfindung unseres Lebens einfließt, sind sie in der Tat nicht wie dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.

Uns mögen alle Sanskritausdrücke vertraut sein und die ursprüngliche Bedeutung definieren können, intellektuell den modus operandi der spirituellen Erleuchtung verstehen oder zumindest annehmen, wir verstünden ihn, wenn uns aber das Leben plötzlich beim Wort nimmt und sagt: „Beweise den Wert dieser Tugend durch dein tägliches Verhalten“ – dann werden wir kläglich versagen, wenn wir nicht ihren inneren Kern zu einem Teil unserer Seele gemacht haben.

Frage – Es scheint leicht, all das fein säuberlich auf der Gesprächsebene zu lösen, aber wirklich so zu leben und zu handeln, dass man nicht auf die Ergebnisse blickt, nicht versucht, die Früchte seines Handelns zu sehen, ist etwas ganz anderes. Wenn wir unermüdlich diesem Kurs folgten, würden wir mit unseren Handlungen und Motiven auf einer haarscharfen Linie stehen. Kurz, sie auf der Ebene der täglichen Erfahrungen zu leben, ist eine völlig andere Sache – zumindest für mich.

Stellungnahme – Das ist das herrlich Schöne an der ganzen Angelegenheit. Wenn es leicht wäre, hätte es für uns keinen Reiz. Es ist jedoch nicht leicht und dennoch wunderbar einfach zugleich. Hier liegt das Paradoxon. Es ist ziemlich hart, wenn man erkennt, dass die Wahrheiten, die wir alle suchen, uns nicht zuteil werden, ehe wir nicht einige dieser grundlegenden Tugenden wirklich in die Praxis umzusetzen beginnen – und zwar nicht nur an Sonntagen oder mittwochs, sondern zu jeder Stunde jeden Tages. Wir haben alle darüber nachgedacht, warum das so ist; doch je mehr wir sie zu einem Teil unseres tieferen Bewusstseins machen, desto mehr wird es uns bewusst, dass es nicht anders geht, denn die Geheimnisse der Natur werden nicht aufs Geradewohl enthüllt, sondern erst nach sorgfältiger Vorbereitung und Schulung. Wie ein großer Lehrer sagte: „Nur der, dem die Liebe zur Menschheit am Herzen liegt und der fähig ist, von Grund auf die Idee einer regenerierenden praktischen Bruderschaft zu erfassen, hat ein Anrecht auf den Besitz unserer Geheimnisse. Nur ein solcher Mensch allein – wird seine Kräfte nie missbrauchen, und es braucht nicht befürchtet werden, dass er sie für selbstische Zwecke verwendet“ (Die Mahatma-Briefe, Band 1, S. 272).

Die Geheimnisse der Natur sind als solche nicht geheim, sie sind vielmehr ein Lebensweg, der nicht offenbart wird, solange wir nicht die wirkliche Bestimmung der Seele erfüllen: jene des Dienens hier in der Welt.

Die sechs glorreichen Tugenden – II

Frage – Könnten wir mit der vierten Pāramitā beginnen, die Sie als ‘Gleichmut gegenüber Freude und Schmerz’ bezeichneten? Ich habe viel darüber nachgedacht, aber ich kann darin, gleichmütig zu werden, keine Logik sehen. Gewiss, wenn wir alle Einsiedler sein wollen, dann ist das ein Gesichtspunkt, ich habe jedoch immer empfunden, dass wir allen Dingen aufgeschlossen gegenüberstehen sollten, wenn wir die Probleme unserer Mitmenschen verstehen wollen. Warum sollte man der Freude oder dem Schmerz entfliehen?

Stellungnahme – Wir wollen unseren Verpflichtungen bestimmt nicht entfliehen, indem wir Einsiedler werden und für uns selbst nach einer schnellen Erlösung suchen. Das liegt weit ab vom Ziel des echten Aspiranten. Tatsächlich sollten wir vor nichts zu fliehen suchen, am wenigsten vor den Problemen, die Freude und Schmerz bereiten. Das wäre schlicht und einfach eine Wirklichkeitsflucht – und zwar höchst selbstsüchtiger Art. Selbst wenn uns das eine Zeit lang gelingen würde, könnten wir dennoch nicht für sehr lange entfliehen, denn die ‘Gegensatzpaare’ – Hitze und Kälte, Tag und Nacht, Freude und Schmerz oder Norden und Süden – sind der Natur eigen.

Ich möchte die ganze Definition dieser vierten Tugend vorlesen: Leidenschaftslosigkeit – „Gleichmut gegenüber Freude und Schmerz, besiegte Illusion, nur noch Wahrheit wird wahrgenommen“ (Die Stimme der Stille, S. 67). Wenn wir die Dinge sehen, wie sie wirklich sind, nicht wie sie uns erscheinen, kann die Realität einer Situation erkannt werden.

Frage – Können Sie das Wort Leidenschaftslosigkeit definieren? Es erscheint hier wichtig, die grundlegende Bedeutung zu erfassen.

Stellungnahme – Lassen Sie uns im Wörterbuch nachsehen: „Leidenschaftslosigkeit – Freisein von Leidenschaft; leidenschaftslos – frei von Leidenschaft, nicht unbeherrscht; gelassen; unparteiisch; Synonyme: kühl, gefasst, klar, unbewegt.“ Nach meiner Ansicht eine ausgezeichnete Definition. Wir können also sagen, dass Leidenschaftslosigkeit die Eigenschaft ist, jede Situation oder Lebenslage unparteiisch und deshalb mit klarem Blick zu erfassen, weil die aus Hochstimmung oder aus Niedergeschlagenheit stammenden Wolken der Leidenschaft oder der Illusion zerstreut werden.

Daher befürwortet diese vierte Tugend nicht die Flucht vor den Gegensatzpaaren, sondern vielmehr die Ausübung ruhigen Gleichmuts gegen die Wirkungen, die uns aus Freude oder aus Schmerz stammend treffen, so dass wir allen Extremen, die das Leben für uns bereithält, mit Gleichmut begegnen können.

Frage – Wäre das Dasein nicht ziemlich langweilig, wenn wir die Extreme nie kennenlernen? Wie ergeht es einem höchst empfindsamen Menschen? Heute schwebt er in Wolken der Begeisterung, morgen ist er zu Tode betrübt. Dafür lebt er aber und führt nicht nur ein langweiliges, freud- und schmerzloses Leben.

Stellungnahme – Ich kann Ihnen versichern, dass an dem Versuch, diese besondere Tugend in die Praxis umzusetzen, nichts Langweiliges ist. Ein kluger Kopf sagte dazu: Es sieht vielleicht wie ein Kinderspiel aus, doch erfordert es einen starken Menschen, um es auszuführen. Versuchen Sie mal nur eine Woche lang von morgens bis abends jedem Geschehnis mit Gleichmut zu begegnen und sehen Sie zu, ob es nicht großer moralischer Stärke bedarf, die Anstrengung durchzuhalten. Sicherlich gibt es auf allen Lebenswegen Menschen, die so unempfindlich sind, dass sie gar nichts empfinden, und, was noch schlimmer ist, dass sie sich keinen Deut um das Leid anderer scheren. Zum Glück bilden sie eine Minderheit. Natürlich ist es nicht unsere Aufgabe, die innere Empfindsamkeit eines anderen zu beurteilen, wie roh oder anscheinend unsensibel seine Persönlichkeit auch erscheinen mag.

Andererseits gibt es jene Individuen und auch Genies, die alles mit intensiver Heftigkeit empfinden. Ich befürworte zwar nicht die von vielen Genies geübte ungeregelte Lebensweise, aber die Welt würde viel verlieren, hätten nicht einige jene Augenblicke reinen Schauens erlebt und auf ihre Weise eine Erinnerung an die ‘klar geschaute Wahrheit’ zurückgebracht. Das Genie ist jedoch eine Kategorie für sich und es ist sehr fraglich, ob dieser Weg für die Mehrzahl der Menschen geeignet und natürlich wäre. Die meisten sind Durchschnittsmenschen – weder verworfen noch genial – sie suchen in ihren besseren Augenblicken nach der ‘goldenen Mitte’ oder wie Buddha sagte den ‘mittleren Weg’, auf dem das spirituelle Wachstum mit der materiellen Entwicklung einhergeht, wenn es nicht sogar vorauseilt. Leidenschaftslos sein heißt also frei sein von der Vorherrschaft einer besonderen Begierde. Offensichtlich muss eine solche Gleichmütigkeit oder Leidenschaftslosigkeit zuerst und vor allem uns selbst betreffen, denn es widerspräche dem mitfühlenden Gesetz des Seins, wenn wir für den Schmerz anderer gefühllose Gleichgültigkeit empfänden.

Frage – Diese besondere Tugend macht mir wohl am meisten zu schaffen, denn ich hielte mich für tot, wenn ich keine vorherrschenden Wünsche hätte.

Stellungnahme – Das Streben nach „Gleichmut gegenüber Freude und Schmerz“ bedeutet doch nicht, dass man keine Wünsche haben soll! Es heißt einfach, dass wir versuchen müssen, im Mittelpunkt jeder Erfahrung zu leben, statt am Pendel des Lebens so weit auszuschwingen, dass wir unseren Kopf (und auch das Herz) erst auf der einen Seite anschlagen und dann heftig auf die andere zurückprallen. Wir werden hier zu einer Lebensführung und Arbeitsweise aufgefordert, bei der wir versuchen sollen, den Wirkungen von Freude und Schmerz, von Schönheit oder Hässlichkeit oder einem anderen Gegensatzpaar nicht zu erliegen. Nach meiner Ansicht ist das der Schlüssel des Ganzen. Sicher müssen wir Wünsche haben – sie sind das Kraftwerk der Evolution. Es steht ein alter Ausspruch in den Veden: „Zuerst entstand im ES der Wunsch – und die Welt trat ins Dasein“, der göttliche Same einer künftigen Welt musste zuerst die pulsierende Flamme des Verlangens nach Manifestation fühlen, ehe er materielle Gestalt annehmen konnte. So ist es bei jedem einzelnen von uns: Wir müssen den Wunsch nach Wachstum, nach Evolution verspüren, sonst sind wir träge. Die Götter wissen nur zu gut, dass träge Menschen in spirituellen Dingen (und selbst in materiellen) nie etwas Besonderes leisten werden.

Frage – Spricht nicht die Bibel von dem Herrn, der die Lauen aus seinem Mund ausspeit?

Stellungnahme – Ich glaube in der Offenbarung (3, 16). Nein in der Ausübung dieser Pāramitā liegt nichts Kraftloses oder Lauwarmes.

Frage – Ich erhielt kürzlich einen Brief von einer Freundin, die sich als private Krankenpflegerin betätigt. Sie schrieb: „Wie traurig ist das Leben“ – sie hat ihr Äußerstes getan und doch ist ihr Patient, den sie sehr lieb gewonnen habe, gestorben. Und so ginge es weiter; sie schrieb: „Ein Patient nach dem anderen, manche erholen sich gut, andere schleppen sich elend durchs Leben, und wieder andere ‘schaffen es nicht’ und sterben.“ Die Erfassung der Prinzipien erscheint leicht, wenn wir hier darüber sprechen, wenn man sie aber tagaus, tagein unter ziemlich belastenden Umständen anwenden soll, kommt eine andere Reihe von Werten ins Spiel.

Stellungnahme – Das zeigt den feinen Unterschied zwischen bloßer Theorie und wirklicher Praxis. Es wäre der Gipfel der Heuchelei, wenn wir den Schmerz und das Glück anderer nicht mitempfinden würden. Wir müssen im gleichen Verhältnis für die Freude und den Schmerz anderer immer empfindsamer werden, wie wir gegen unsere eigenen unempfindlich werden. Das ist die erste Voraussetzung.

Doch wir wollen zu der Krankenpflegerin oder besser noch zu dem Arzt oder Chirurgen zurückkehren. Er behandelt einen Patienten nach dem anderen. Durch Selbstzucht und unpersönliche Hingabe an seinen Beruf übt er tatsächlich mehr oder weniger diese vierte Tugend: Wenn er nicht ein gewisses Maß von Gleichmut, von ‘göttlicher Sorglosigkeit’ hätte sowie die Zuversicht, dass er nicht mehr tun kann als das ihm Mögliche – würde er zusammenbrechen. Er könnte die schreckliche Anspannung nicht ertragen. Bei aller gebührenden Achtung vor seinem Talent, seinem Wissen und seiner Geschicklichkeit ist da ‘die Hand Gottes’, oder wenn Sie wollen, Karma – und der Patient schafft es oder er schafft es nicht.

Jeder Arzt legt einen Eid ab und verpflichtet sich, das Leben zu erhalten und die Gesundheit wiederherzustellen, wo Krankheit herrscht, soweit es seine Fähigkeiten und seine Kenntnisse erlauben. Es besteht meiner Ansicht nach kein Zweifel daran, dass es dem operierenden Chirurgen viel Kummer bereitet, wenn etwas Unvorhergesehenes eintritt und der Patient stirbt statt zu genesen. Was macht er dann? Er mag schmerzlich berührt sein – aber er muss weitermachen. Andere Leben sind zu retten, andere Männer und Frauen, deren Glück und Zukunft von seiner Geschicklichkeit, seiner Hingabe, seiner unpersönlichen Hilfe abhängen. So widmet er sich mit einem göttlichen ‘Gleichmut’ gegen die Wirkungen von Freude und Schmerz ganz dem nächsten Patienten – ohne zu sehr an dem Erfolg oder Fehlschlag seiner Bemühungen zu hängen.

Frage – Sie sprechen von dem idealen Arzt, denn nicht alle sind so unpersönlich oder so hingebungsvoll, wie der von Ihnen Beschriebene.

Stellungnahme – Selbstverständlich gibt es in jedem Beruf, in jeder religiösen Organisation, in jedem menschlichen Wirkungsbereich edle Repräsentanten, wie auch selbstsüchtige, gefühllose oder sogar grausame Vertreter. Aber das beeinflusst nicht das Prinzip. Wir können, ganz gleich auf welchem Gebiet wir tätig sind, positiv, unpersönlich und für die inneren Werte aufgeschlossen handeln, soweit wir sie empfinden. Wenn wir das tun, entdecken wir den Segen, der sich aus der Übertragung dieser Pāramitās in die Praxis ergibt.

Frage – Es sieht alles sehr schön aus, aber ist die Bewältigung der komplizierten Probleme des Alltagsdaseins mit Gleichmut nicht eine schier unlösbare Aufgabe?

Stellungnahme – Es ist nicht leicht, keineswegs. Aber es wird nicht verlangt, dass wir über Nacht ‘gleichmütig wie der Weise’ werden. Die Pāramitās werden als ein Ideal gesehen, als etwas, das wir im Herzen bewahren, das wir anstreben sollen. Ich möchte jedoch hinzufügen, dass es bestimmte grundlegende Schlüssel gibt, deren Kenntnis nicht nur einen Überblick, sondern auch ein größeres Selbstvertrauen vermitteln. Wir haben hier immer und immer wieder von dem göttlichen Wesen gesprochen, das im Herzen aller irdischen Geschöpfe wohnt. Wir vergessen gar zu leicht, dass auch der Mensch dazu zählt. Sobald wir mit dieser Idee arbeiten, erkennen wir sehr bald, dass ein endloser Horizont der Erfahrung vor uns liegen muss, wie auch ein unendlicher Raum der Lebenserfahrung hinter uns liegt. Die alte Anschauung, dass der Mensch ein ewiger Pilger ist, der in einer Reihe von Lebenszeiten Gelegenheit zur Entwicklung und zum Lernen hat, öffnet weit die Grenzen unseres Bewusstseins. Und es kommt die Erkenntnis, dass uns in jeder Stunde des Tages die beste Vorbereitung der Welt geboten wird, denn nur das begegnet uns, was wir selbst verdient haben. Wenn wir die tägliche Lektion, die uns das Leben bringt, zu lesen lernen, werden wir uns vor Gelegenheiten gestellt finden, die uns alle Tugenden preisen lässt – nicht nur die vierte.

Die fünfte Pāramitā nun wird Unerschrockenheit genannt – jene „unerschrockene Energie, die sich ihren Weg aus dem Schlamm der irdischen Lügen zur überirdischen WAHRHEIT erkämpft“ (Die Stimme der Stille, S. 67). Das deutet auf den ewigen Kampf zwischen Licht und Finsternis, zwischen Wahrheit und Unwahrheit hin. Die Wahrheit existiert, um sie aber zu finden, bedarf die Seele aller Kräfte, die sie aufbringen kann, um sich aus dem Dschungel der falschen Begriffe zu befreien, der sich im Lauf der Zeitalter gebildet hat. Wenn sie den feinen Masken der Täuschung und dem zersetzenden Einfluss des Zweifels auf jeder Erfahrungsebene widerstehen kann, wird sie die Wahrheit wissen – nicht im Ganzen, aber mit immer größerer Klarheit.

Die sechste Tugend heißt Kontemplation – Tor zur Wahrheit – so von ihrer Atmosphäre durchdrungen werden, dass das Bewusstsein mehr über die ewigen Werte nachdenkt als über unbedeutende Einzelheiten. Zwischen der echten Kontemplation und den sogenannten ‘Meditationspraktiken’, von denen viele eine reale Gefahr für die Seele sind, liegt eine Welt von Unterschieden. Wenn ich gefragt werde: „Wie soll ich meditieren?“, lautet meine Antwort stets: „An Ihrer Stelle würde ich alle planmäßigen Meditationen unterlassen.“ Die spirituelle Entwicklung wird durch alles unnatürlich Erzwungene eher behindert als gefördert. Ich stelle mir unter Kontemplation mehr ein innerliches, fast unbewusstes Nachdenken vor, wobei unsere Seelenkomponente auf den Vater im Innern gerichtet ist, so dass unser Bewusstsein von echten statt von falschen Werten geleitet wird.

Das sind in Kürze die ‘sechs glorreichen Tugenden’ oder die ‘Pāramitās der Vollkommenheit’ – ihre Ausübung führt zwar nicht zur Vollkommenheit, denn die gibt es nicht. Aber die Tugenden können uns, wenn wir ihren Geist zu einem Teil unseres Lebens machen, zu einem breiteren und universaleren Verständnis verhelfen.

Frage – Sie sagten, manchmal würden zehn aufgeführt. Ich kann nicht einsehen, warum so viele notwendig sind oder warum eine weitere Aufschlüsselung nötig ist. Ich glaube, jeder könnte eine Liste mit sechs, zehn oder auch dreißig Tugenden aufstellen. Wenn man aber die Kerngedanken erfasst hat, haben wir doch ein genügend großes Betätigungsfeld. Erzeugt der Wunsch nach Information nicht gewöhnlich das Verlangen nach immer mehr und mehr Fakten, so dass er immer größer wird? Man fragt sich manchmal, ob man je zufrieden sein wird, ehe man nicht der letzten Antwort direkt gegenübersteht? Ist das nicht in sich eine Art Selbstsucht?

Stellungnahme – Der Wunsch nach immer größerem Wissen, das in keiner Beziehung zur Ethik steht, erzeugt tatsächlich eine Art Selbstsucht. Es ist jedoch eine natürliche Entwicklungsstufe, dass wir, sobald wir ein bestimmtes Maß intellektueller Fähigkeit erreicht haben, immer mehr und mehr Beweise in exakter und wohlgeordneter Form vorgelegt haben wollen. Wie schon gesagt werden uns jedoch diese Beweise keineswegs helfen, ehe wir nicht die zugrunde liegenden spirituellen Werte erfassen und diesen gestatten unser Verlangen nach intellektueller Macht unter strenger Kontrolle zu halten.

In Beantwortung der Frage, wie echte Barmherzigkeit ausgeübt werden sollte, möchte ich mit folgenden Gedanken schließen, die einer buddhistischen Schrift entstammen:

Wenn sie [die Schüler oder Jünger] barmherzige Handlungen ausführen, sollen sie keinen Wunsch nach Belohnung, Dankbarkeit, Verdienst oder Vorteil oder nach einem sonstigen irdischen Lohn hegen. Sie sollten trachten, das Denkvermögen auf universelle Wohltaten und Segnungen zu richten, die für alle gleich sind, und indem sie das tun, verwirklichen sie in sich die höchste, vollkommene Weisheit.

Ich glaube, dass diese wenigen Worte die Frage nach dem echten Wert jeglichen ethischen Kodex beantworten – ganz gleich welchen wir zur Befolgung wählen.

Der königliche Weg des Dienens

Frage – Seit wir über die Pāramitās diskutierten, habe ich mich näher mit dem buddhistischen Gedankengut befasst. Vieles gefällt mir sehr gut, aber die Ausführungen über Nirvāna verstehe ich nicht. Der ganze Sinn der buddhistischen Lehre liegt anscheinend in der Befreiung vom ‘Rad des Lebens’ – wie sie es nennen –, man soll die Folge der Erdenleben überwinden und die Glückseligkeit Nirvānas erlangen. Als ich zum ersten Mal etwas über die Reinkarnation hörte, fand ich diese Idee großartig und auch jetzt noch, denn sie beantwortet viele meiner Fragen. Warum sollen wir aber dem Rad der Wiedergeburt entfliehen? Warum diese Hervorhebung der Glückseligkeit?

Stellungnahme – Ich stimme mit Ihnen überein, dass der Idee, Nirvāna zu erlangen – oder welchen Ausdruck Sie anwenden wollen – zu viel Gewicht beigelegt wird. Wenn wir in einige dieser östlichen Schriften hineinsehen, dürfen wir nicht vergessen, dass im Osten genauso viel kristallisiertes Denken vorhanden ist wie im Westen. Was Buddha lehrte, ist oft etwas ganz anderes als das, was seine Anhänger im Lauf der Jahrhunderte aus seinen Lehren machten. In vieler Hinsicht sind die buddhistischen Lehren sehr spirituell; dennoch enthalten sowohl die Hināyāna- wie auch die Mahāyāna-Schulen eine Anzahl von groben Missdeutungen, die allgemein als Wahrheiten akzeptiert wurden.

Frage – Es wird doch behauptet, man würde bei einer guten Lebensführung auf der Erde als ein höher entwickeltes Tier und vielleicht als Mensch wiedergeboren; wenn man aber ein schlechtes Leben führt, würde man als Schakal, als Schlange oder als ein Leopard wiederkehren?

Stellungnahme – Das illustriert sehr gut, was ich deutlich machen will. Gautama Buddha – einer der edelsten spirituellen Leuchten, welche die Welt je sah – lehrte nicht, dass die Seele in einer Tiergestalt reinkarniert werden kann, denn das widerspräche vollkommen den Naturgegebenheiten. Weil die Alten zur Illustrierung bestimmter Wahrheiten jedoch oft Sprachbilder oder Allegorien gebrauchten, nahmen spätere Generationen diese Art der Lehren wörtlich; und so prägen sich falsche Deutungen fest im Denken der Bevölkerung ein.

In Wirklichkeit lehrte Buddha, dass der Mensch jeden Gedanken und jedes Gefühl sorgfältig überwachen müsse, weil diese ihren Stempel nicht nur seinem Charakter, sondern auch jedem Lebensatom seiner Konstitution aufdrücken. Und da ‘Gleiches Gleiches anzieht’, können jene Lebensatome gröberer Wesensart nach dem Tod, zumindest zeitweilig, leicht von Tierkörpern angezogen werden. Ebenso in den Upanishaden und auch bei Plato, wenn gelegentlich gesagt wird, der Mensch könne als ein Tier wiedergeboren werden, dann bedeutet das in Wirklichkeit, dass die Seele, wenn sie mit gewissen tierischen Neigungen behaftet ist und diese nicht beherrscht werden, in folgenden Leben durch diese gehemmt wird.

Eins ist gewiss: Die menschliche Seele ist innerlich sowohl qualitativ als auch in der Erfahrung soviel höher entwickelt als das Tier, dass sie nicht in einer niedrigeren Form inkarnieren kann. Die alte, einst allgemein verstandene Lehre lautet, dass wir nach einer Zeit der Rehabilitation und der spirituellen Erfrischung periodisch als Menschen zur Erde zurückkehren, um unsere Suche nach selbstbewusster Vereinigung mit unserer göttlichen Quelle fortzusetzen.

Frage – Warum die Eile vom Rad der Existenz loszukommen? Was ist der Sinn des Versuchs, jetzt Nirvāna zu erlangen?

Stellungnahme – Eine derartige Bestrebung hat nicht nur keinen Sinn, sie ist auch vom Ansatz her falsch. Diese Überbetonung der Gewinnung Nirvānas ist seit Jahrhunderten einer der stärksten Bremsklötze für das orientalische Denken. Und jetzt wird sie auch im Westen zu einem Hindernis auf dem Weg des Fortschritts für alle, die mit buddhistischem und vedantischem Denken in Berührung kommen. Wir hören heutzutage viel von ‘Selbstverwirklichung’, dem westlichen Ausdruck für den vedantischen Begriff ‘Moksha’ – ‘Befreiung’ von den Banden irdischer Sorge. Schon der bloße Ausdruck ‘Selbstverwirklichung’ liefert den Schlüssel: ein Weg des Strebens, der von dem Wunsch nach persönlicher Erlösung getragen wird. Ob wir Nirvāna, Glückseligkeit oder Moksha sagen – der unangemessene Wunsch nach Glückseligkeit deutet auf eine selbstsüchtige Spiritualität hin, die dem von Buddha und von Christus gelehrten erhabenen Weg, sich ganz in den Dienst aller zu stellen, entgegengesetzt ist.

Frage – Gibt es somit in spirituellen Dingen zwei Pfade? Ich dachte immer, dass nur die materielle Lebensweise der spirituellen entgegengesetzt ist. Aber Sie scheinen jetzt auch den spirituellen Pfad in zwei zu teilen.

Stellungnahme – Es gibt tatsächlich zwei Pfade spiritueller Bemühung. Der eine wird ‘Pfad für sich selbst’ und der andere ‘totloser Pfad’ oder ‘Pfad des Mitleids’ genannt. Der ‘Pfad für sich selbst’ wird von all jenen begangen, die Erlösung für sich selbst suchen – seine höchst eifrigen Anhänger erstreben gewöhnlich eine Lebensweise, bei der sie die Unruhe und Ablenkung des irdischen Daseins hinter sich lassen und schnell Nirvāna erreichen können. Der andere ist jener alte, steile und dornige Pfad des Mitleids, der von jenen begangen wird, die den Fußstapfen Christi und Buddhas folgen: Er ist der Pfad des selbstlosen Strebens, auf dem spirituelle Weisheit nur gesucht wird, damit die Wahrheit und das Licht mit allen geteilt werden können.

Der Pfad der Materie führt abwärts; obwohl wir in seine Atmosphäre eingehüllt sind, gibt es tatsächlich nur sehr wenige Menschen, die alles andere ausschließend dem Zug nach unten folgen. Der spirituelle Pfad führt immer nach oben und vorwärts zu der Gottheit im Innern. Die Wahl zwischen Materie und Geist ist deshalb eindeutig, ungeachtet wie oft wir auch bei unserem Streben versagen mögen, die dauerhaften Werte zu verwirklichen. Nichtsdestoweniger gibt es im spirituellen Bereich ebenfalls eine Gabelung des Weges: Wir können entweder dem Pfad für uns selbst oder dem für andere folgen.

Diese Begriffe sind im Orient wohlbekannt, besonders in jenen Ländern, in denen der Buddhismus seit Jahrhunderten festen Fuß gefasst hat; und hier liegt auch die Ursache, warum das Volk traditionsgemäß die Bodhisattvas viel mehr verehrt als die Buddhas. Für sie ist der Bodhisattva einer, der den Punkt erreicht hat, wo er über den Abgrund der Finsternis in Nirvāna, in die Allwissenheit, in den Frieden oder in die Weisheit – wie immer Sie es bezeichnen wollen – eintreten könnte; aber er verzichtet darauf, damit er zurückbleiben kann, bis der letzte seiner Brüder mit ihm eintreten kann. Ein Buddha jedoch ist einer, der, nachdem er das Tor erreicht hat, das Licht vor sich sieht und in Nirvāna eintritt und seine wohlverdiente Glückseligkeit erlangt.

Frage – Als ich kürzlich mit meinem Mann in Japan war, nahmen wir uns etwas Zeit zum Besuch einiger Tempel. Wir sahen geschnitzte Bodhisattvas in allen Größen, manche waren sehr kunstvoll. Würden Sie bitte darüber etwas sagen?

Stellungnahme – Nicht nur in Japan, sondern auch in China und in allen Teilen Indiens, in denen der Buddhismus Wurzel gefasst hat, findet man zahlreiche Bodhisattva-Figuren. Das Ideal des Mitleids ist bei einigen dieser Statuen verewigt durch das Erheben der rechten Hand nach Weisheit und Licht und nach der Schönheit Nirvānas, während die linke Hand in einer mitleidsvollen Gebärde des Wohlwollens nach unten, der Menschheit zugeneigt ist.

Frage – Ich möchte gerne auf das Wort Glückseligkeit zurückkommen. Ich gestehe, dass es mich etwas verwirrt. Wenn wir an Glückseligkeit denken, stellt sich sicher jeder etwas anderes darunter vor. Ein Kind würde sie wahrscheinlich darin sehen, dass es unbegrenzt Eis essen kann. Einem anderen bedeutet sie vielleicht, nach großer Anstrengung den Gipfel eines Berges zu erreichen. Vielleicht bin ich zu weltlich, denn der Wunsch, in einen stillen Wald zu entfliehen und Einsiedler zu werden, erschien mir immer feige. Was ist denn am Gewinn der Glückseligkeit so großartig, selbst wenn man später die Entscheidung trifft, sie um der Welt willen zurückzuweisen?

Stellungnahme – Am Vollzug nirvānischer Glückseligkeit ist an sich nichts Großartiges. Die ursprünglichen Sanskritworte zeigen den wesentlichen Bedeutungsunterschied: der eine der Pratyeka-Pfad oder der Pfad des spirituellen Strebens ‘für sich selbst’ – eine rein egoistische Form der Spiritualität; der andere ist der Amrita-Pfad oder der sich als ‘totlos’ erweisende Pfad, weil er der Weg des Opfers, des Mitleids und des Dienens ist.

Lassen Sie mich die Sache ganz einfach darstellen. Nehmen wir an, Sie hatten eine Intuition, die Sie zu einer wissenschaftlichen Entdeckung führte, von der Sie annehmen, sie könnte die Welt sehr positiv beeinflussen. Sie könnten von zwei Möglichkeiten eine ergreifen: Sie könnten alles für sich selbst behalten, indem Sie die Erfindung nach ihrer Fertigstellung auf den Markt bringen und viel Geld damit verdienen würden. Oder Sie könnten sie den führenden Wissenschaftlern übergeben, damit sie überarbeitet und vielleicht sogar von anderen vervollkommnet und zum Nutzen der ganzen Menschheit eingesetzt wird.

Sie hätten jedes Recht, diese Erfindung für sich zu verwenden, sie patentieren zu lassen und den größtmöglichen Nutzen daraus zu ziehen. Sie könnten auch argumentieren, Ihre Erfindung komme letzten Endes doch der Welt zugute, da Sie das Produkt zur Verfügung stellten. Hierüber empfänden Sie eine gewisse persönliche ‘Glückseligkeit’ oder Befriedigung, weil Sie Ihr Ziel erreichten. Würden Sie aber andererseits der Welt nicht einen viel größeren Dienst erweisen, wenn Sie Ihre Entdeckung frei zugänglich machten, damit sie in den Schmelzofen wissenschaftlicher Prüfung gelegt werden könnte? Welchen inneren Gewinn hätten Sie dann?

Frage – Meinen Sie, man könne die Wohltat in Wirklichkeit verdoppeln, wenn man der Glückseligkeit den Rücken kehrt?

Stellungnahme – Nur wenn das Motiv so selbstlos ist wie die Tat. Hier liegt immer der springende Punkt. Die Nebenprodukte der Freude, die sich ergeben, wenn Sie die Früchte Ihrer Intuition selbstlos zum Nutzen aller zur Verfügung stellen, werden jede persönliche Genugtuung, die Sie andernfalls gewinne könnten, weit übertreffen: Und bis zu einem gewissen Ausmaß würden Sie den Saum der Glückseligkeit berühren, um eine etwas strapazierte Redewendung zu gebrauchen. Wer aber eine ‘barmherzige Tat’ nur deshalb ausführt, damit er das stolze Gefühl eines Wohltäters genießen könnte, würde im Moment dieses Gefühls die sogenannte segensreiche Tat in Asche verwandeln.

Frage – Ich möchte hier etwas fragen. Als wir vor einiger Zeit über die Ausübung der Pāramitās sprachen, sagten Sie, alles ist relativ und wir würden, wenn wir eine höhere Wertordnung gewinnen würden, mit unserer vorhergehenden nicht mehr zufrieden sein. Ist somit der Zustand der Glückseligkeit oder der Zufriedenheit ebenfalls relativ? Ich meine, es könnte eine körperliche oder sogar eine intellektuelle Glückseligkeit geben. Ist die spirituelle Glückseligkeit aber nicht etwas ganz anderes? Erreichen wir als Menschen je den Zustand, der mit der Glückseligkeit Nirvānas vergleichbar ist?

Stellungnahme – Es gibt so viele Nirvānas, wie es Individuen gibt, die Nirvāna erleben können, wie es auch so viele Bewusstseinszustände auf der Erde gibt, wie Menschen auf ihr leben. Wer nur für sich selbst nach Nirvāna, nach Weisheit, Licht und Frieden strebt – erinnern Sie sich, der Ausdruck Pratyeka bedeutet genau ‘für sich’ – nimmt an, er werde vollkommene Glückseligkeit erlangen. Aber die Buddhas des Mitleids und die echten Bodhisattvas wissen, dass sie unmöglich den vollkommenen Zustand der Allwissenheit erreichen können. Alles ist relativ. Spirituelle Allwissenheit oder nirvānische Glückseligkeit gehört zu den Erfahrungen, die unser Begriffsvermögen so weit übersteigen, dass ihre Beschreibung unmöglich ist. Doch gerade weil wir diesen Zustand allwissender Weisheit nicht begreifen können, wollen wir nie vergessen, dass im Herzen jedes einzelnen die Kraft liegt, die Einheit mit dem Göttlichen zu erreichen.

Über unserer gegenwärtigen menschlichen Entwicklungsstufe liegen viele weitere Stufen, und es gibt fortgeschrittene Menschen, die das Einssein mit dem inneren Vater erlangt haben, sei es für einen Augenblick oder für längere Zeit. Sie erleben einen Hauch nirvānischer Glückseligkeit; doch bewegt von dem mitleidsvollen Drang, der Menschheit zu dienen, gestatten sie ihrem Bewusstsein die Rückkehr auf das Feld menschlicher Bemühung, damit sie in und mit der Menschheit wirken können.

Frage – Das ist ein großartiges Bild. Ich muss sagen, dass wir zeitweise durch die Ablenkungen und die Unruhe so bedrängt werden, dass wir uns eine Zeitlang freimachen müssen, indem wir einen Berg besteigen, am Strand ausruhen, eine kleine Reise machen, um die verbrauchten Batterien wieder aufzuladen. Nach ein paar Wochen empfinde ich jedoch den Wunsch, in das Getümmel zurückzukehren. Sobald die Nerven entspannt sind, regt sich der Drang, die Rüstung wieder anzulegen. Ich kann aber nicht behaupten, dass ist so, weil ich dem Pfad des Mitleids folge, sondern einfach deshalb, weil der Lebenskampf anscheinend irgendwie interessanter ist als das bloße Herumlungern. Auf was steuere ich zu – auf den selbstsüchtigen Pfad oder den anderen?

Stellungnahme – Es liegt mir fern zu entscheiden, wer auf dem Pratyeka- oder dem selbstsüchtigen Pfad geht oder wer sich bemüht, dem mitleidsvollen Pfad zu folgen. Niemand kann einen anderen beurteilen. Denken Sie daran, dass der Beweggrund – das oft verborgene wirkliche innere Motiv, nicht das äußere – unser Tun und Lassen beeinflusst. Tagtäglich treffen wir viele kleine Entscheidungen, die im Laufe der Zeit jene hohe Entscheidung so oder so beeinflussen werden. Wir sind alle Menschen, und wenn wir bloß in den Existenzkampf zurückkehren, weil wir andere ausstechen oder so schnell wie möglich vorankommen wollen, um Macht und Einfluss zu gewinnen, gehen wir bergab; und wenn wir uns nicht besinnen und diese Richtung Leben um Leben weiterverfolgen, werden wir den Pfad der Materie gehen, der schließlich zum spirituellen Tod führt. Wenn wir aber nach unserem Urlaub zu unseren Aufgaben zurückkehren, weil uns ein innerer Impuls drängt, unsere Rolle in dem gewaltigen Gesamtdaseinsplan zu spielen, um an den Freuden und Sorgen des Lebens teilzunehmen, damit wir unseren Teil zur Erleichterung der Bürde der Welt beitragen, dann hat unser Motiv einen selbstlosen Ursprung. Nach und nach wird es immer mehr verfeinert, und das Ideal des Pfads des Mitleids schlägt feste Wurzeln in unserem Herzen.

Frage – Aber wie werden wir spirituell?

Stellungnahme – Wir sollten nicht versuchen, spirituell, heilig oder vollkommen zu werden, denn gerade dieses überbetonte Interesse an der eigenen Entwicklung ist das größte Hindernis für den Fortschritt. Spiritualität entsteht nie aus dem Bemühen, spirituell zu werden, so seltsam das klingen mag. Trotzdem wird uns immer und immer wieder eingeschärft, das „niedere Selbst durch das höhere SELBST zu erheben“ (Bhagavad-Gītā 6:5), das unedle Metall des selbstsüchtigen Wollens in das Gold des selbstlosen Bemühens umzuwandeln. All das bedeutet, dass wir immer und beständig das Ideal der Uneigennützigkeit, der Selbstlosigkeit und der erwähnten Tugenden anstreben, uns aber nicht auf unsere eigene Entwicklung konzentrieren sollten. Selbst wenn wir die Lehren des Buddhismus, des Christentums oder des platonischen Gedankenguts von A bis Z kennen würden, würde uns das für sich genommen nicht spirituell machen.

Frage – Sind diese Pratyekas, von denen Sie sprachen, nicht spirituelle Wesen? Wenn nicht, wie können sie dann Buddhas geworden sein? Diese Kombination von Selbstsucht und Spiritualität verstehe ich nicht. Kann spirituelle Erfüllung wirklich mit Selbstsucht verbunden sein, denn das Wachstum ist doch mit dem Dienen verbunden?

Stellungnahme – Lassen Sie uns nicht den falschen Eindruck gewinnen, dass ein Pratyeka, einer der nach spirituellen Dingen für sich selbst strebt, schlecht ist. Das ist er nicht. Er ist ein hochentwickeltes spirituelles Individuum; auch ist es nicht richtig zu sagen, dass er nie etwas für seine Mitmenschen tun würde. Alle tun es – darüber besteht kein Zweifel, aus dem einfachen Grund, weil sie gar nicht anders können. Wiederum müssen wir zum Motiv zurückkehren. Ich könnte morgen hingehen und ein sogenannter ‘Engel der Barmherzigkeit’ werden und alle Arten guter Werke vollbringen, oder wenn ich viel Geld hätte, könnte ich es für verschiedene wohltätige Zwecke stiften. Aber welche Wirkungen würden solche ‘Taten der Barmherzigkeit’ auf meinen Charakter, auf mein Karma oder auf mein wirkliches Selbst haben?

Entscheidend ist nicht was wir tun, sondern wie wir denken und handeln. In der Schlussbeurteilung wird nur eine Sache zählen: das MOTIV. Wenn ich aus meiner Wohltäterschaft eine gewisse Befriedigung gewinnen würde, würde ich ohne Zweifel viel Gutes tun, vielen Menschen das Leben erleichtern, viel Not lindern. Wenn ich aber alle diese ‘guten Werke’ vollbrächte, um gute Taten auszuüben, um mein spirituelles Ziel schneller zu erreichen – steckte da nicht mehr als ein bloßer Anflug von Selbstsucht in meinem Motiv? Wenn ich andererseits bei den kleinsten Handlungen des täglichen Lebens bestrebt bin, nie meinen persönlichen Willen in die Gleichung der menschlichen Beziehungen einfließen zu lassen, sondern immer danach strebe, den Kanal der Dienstleistung einzig zum Wohl anderer offen zu halten, dann wäre das Motiv bestimmt selbstlos. Die Resultate wären dann von unendlich größerer Dauer, weil diejenigen, denen geholfen wird, die Wohltat nicht in ihrem persönlichen Selbst empfinden würden, sondern im höheren Teil ihrer Seele, in dem diese Wohltat Leben um Leben fortbesteht.

Damit hat man die zwei Pfade des spirituellen Strebens: der eine mit dem Ziel, spirituellen Erfolg für sich zu gewinnen – der anscheinend raschere Pfad, weil man durch die Sorgen und Prüfungen der anderen nicht aufgehalten wird; und der andere mit dem Ziel, das menschliche Leid zu mildern.

Der Pratyeka-Pfad wird schließlich zum längeren Pfad, denn wenn der Aspirant einmal den Punkt ausreichender Erleuchtung erlangt hat, dass er in Nirvāna eintreten konnten, nimmt er von der weiteren spirituellen Entwicklung Abschied und bleibt bis zum nächsten großen Zyklus statisch – wobei es sich um eine lange Zeitdauer handeln kann. Letztlich muss jeder einmal diese höchste Entscheidung treffen, entweder über die Schwelle zu schreiten oder nur einen Blick auf die Herrlichkeit größter Weisheit und tiefsten Friedens zu werfen und doch ins Tal der Tränen zurückzukehren, um der Menschheit zu helfen. Das ist die Entscheidung der Großen der Menschheit. Ihre Aufgabe ist undankbar. Sie suchen keine Belohnung, keine Anerkennung, sondern nur die Gelegenheit, ihre eigene schwer errungene Weisheit mit anderen zu teilen.

Die reine Tradition wurde daher von dem Geschlecht der Mitleidsvollen hervorgebracht und weitergereicht; sie hegen keinen Gedanken für ihren eigenen Fortschritt, weil ihnen die Belange ihrer Mitmenschen am Herzen liegen.

Alle Handlungen auf dem Altar des eigenen Fortschritts zu opfern, ist Pratyeka – in letzter Analyse selbstisch – alles Denken, Tun und Fühlen auf dem Altar des Fortschritts der Menschheit zu opfern, ist Mitleid in seiner höchsten Ausdrucksform.

Unser göttliches Potenzial

In den Mysterienschulen – in jenen alten Schulungszentren, die von den Philosophen zum Studium nicht allgemein zugänglichen Wissens besucht wurden – wurde der vollständige Aufbau des Menschen wie auch des Universums studiert. Darum sagte der Meister Jesus in den Tagen seines Wirkens zu seinen Jüngern: „Euch ist es gegeben, die Geheimnisse des Himmelreichs zu erkennen; ihnen aber ist es nicht gegeben“ (Matthäus 13, 10-11).

Manchmal wurde der Mensch in vier Elemente eingeteilt, ein anderes Mal in fünf, aber üblicher war es, entweder wie Paulus von drei grundlegenden Prinzipien zu sprechen oder sie auf sieben zu erweitern.

Das im Einzelnen angewandte System ist zweitrangig gegenüber der Tatsache, dass alle heiligen Schriften genau die gleiche Geschichte erzählen: von Gott oder der Gottheit, die einen Teil von sich, einen Teil der Eigenschaften zum Wohl der gesamten Schöpfung periodisch manifestiert. Wir leben hier, damit unser individueller Gottesfunke die Gelegenheit zur Sammlung weiterer Erfahrungen in den Hierarchien des Lebens – wie wir sie nennen können – hat. Jener Gottesfunke ist der allerinnerste Kern unseres Wesens, er hat jedoch auf unserer heutigen Entwicklungsstufe viele materielle Hüllen verschiedener Dichtegrade.

Da es nützlich ist, die gewohnte Betrachtungsweise des Menschen und seiner Natur mit den Anschauungen anderer heiliger Schriften zu vergleichen, wollen wir die übliche dreifache Einteilung zur siebenfachen erweitern. In einer der dreizehn Haupt-Upanishaden (es gibt zahlreiche kleinere), in der Katha-Upanishad, die von westlichen Gelehrten aus dem Sanskrit ins Deutsche übersetzt wurde, wird dafür ein Beispiel gegeben. Die Upanishaden enthalten Gespräche über die alten Traditionen, die zur Anleitung der Menschheit überliefert wurden – das Wort Upanishad bedeutet ‘nahe dabeisitzen’, das heißt dem Erzähler hohe Aufmerksamkeit schenken.

In dieser Katha-Upanishad wird das Symbol eines Streitwagens für die Beschreibung der menschlichen Natur benutzt. Der Herr des Streitwagens ist das göttliche Selbst; der Fahrer oder Wagenlenker ist der spirituelle Wille, die Intuition; und die Zügel stellen den menschlichen Willen, den Verstand dar. Die Pferde sind die Triebe und die Sinne; die Wege, über welche die Pferde den Wagen ziehen, sind die Objekte unserer sinnesbedingten Wünsche, während der Wagen selbst den Körper repräsentiert, den Träger unserer Persönlichkeit auf der Erde. Weil unsere Probleme durch diese Analogie in ein völlig neues Licht gestellt werden, halte ich sie für äußerst treffend.

Kenne das Selbst (Ātman) als den Herrn, der im Wagen sitzt,
welcher der Körper (Śarīra) ist,
kenne die Vernunft (Buddhi) als den Wagenlenker
und den Verstand (Manas) als die Zügel.
Wer immer ungezügelten Verstandes ist,
ohne wahre Vernunft,
dessen Triebe werden dann unbeherrschbar,
gleich den wilden Rossen eines Wagenlenkers.
Wer aber seinen Verstand immer beherrscht
und wahre Vernunft besitzt,
dessen Sinnesbestrebungen werden dann beherrschbar,
gleich den guten Rossen eines Wagenlenkers.
Die Triebe stehen über den Sinnen,
der Verstand steht über den Trieben,
die Intuition (Vernunft) steht über dem Verstand,
das große Selbst steht über der Intuition.

– Kapitel III, Verse 3, 5, 6, 10

Einfach gesagt, der erleuchtete Mensch, der Wagenlenker zügelt die Pferde oder die Triebwünsche der Sinne durch intelligente Handhabung der Zügel, des Denkvermögens, indem er die Sinne unter die Kontrolle der Intuition oder des spirituellen Selbst bringt und den Wagen auf dem Kurs hält, der vom Herrn des Wagens, dem göttlichen Selbst, bestimmt wird. Wir erkennen sofort, dass der Mensch nicht allein von seinem Verstand geführt wird, sondern dass er, wenn er will, die Führung und den Schutz des Vaters im Innern erlangen kann. In dem Maß, in dem unser menschlicher Wille den Impulsen des Wagenlenkers folgt, wird er zum Diener der spirituellen Kräfte unserer Natur, so wie der Wagenlenker oder der intuitive Teil der direkte Diener des göttlichen Willens, des Meisters des Wagens ist.

Was bedeutet das nun alles, wenn wir den Menschen im größeren Zusammenhang sehen? Der Hauptfaktor liegt in der Tatsache, dass dieser Funke der Gottheit, der Meister des Wagens, der Ursprung jeder evolutionären Anstrengung ist. Im Menschen liegt die Entscheidungskraft – und wir können sicher sein, dass der Weg vor uns, sei er nun eben oder holperig, genau der Erfahrungsweg sein wird, den wir zur Entfaltung unserer göttlichen Möglichkeiten benötigen.

Der Mensch – teils Atom, teils Galaxis

Frage – Im letzten Semester trafen sich verschiedene Studenten wöchentlich einmal und wir hatten einige lebhafte Zusammenkünfte: Neben ganz materialistischen Ansichten kamen auch atheistische und metaphysische Ideen zum Ausdruck. Aber jedesmal standen wir zum Schluss vor einer Mauer. Ungeachtet unserer wissenschaftlichen Kenntnisse oder unserer religiösen Überzeugungen – es beteiligten sich ein paar Nicht-Christen – blieb die eine Frage unbeantwortet: Wer ist der Mensch?

Stellungnahme – Wer ist der Mensch? Wenn wir uns angefangen von unserem göttlichen Wesenskern bis zur äußersten Hülle, dem physischen Körper, selbst kennen würden, hätten wir das Geheimnis des Lebens in all seinen Phasen gelöst. Was glauben Sie wohl, warum das Orakel von Delphi seine Antwort in diese schon unvergänglichen Worte gefasst hat – ERKENNE DICH SELBST! Warum wurden sie über dem Portal des Apollotempels eingemeißelt, wenn nicht als eine tägliche Mahnung, dass ein Mensch – wenn er die Naturgeheimnisse meistern möchte – zuerst sich selbst meistern muss?

Wenn wir behaupten, der Mensch sei teils Atom, teils Galaxis, kommen wir der Wahrheit so nahe wie Paulus, als er den Korinthern sagte, es gäbe im Menschen einen „irdischen Leib“ (Psyche) und einen „überirdischen Leib“ (Pneuma) und dass der erste Adam „ein irdisches Lebewesen wurde. Der Letzte Adam wurde lebendig machender Geist“ (1 Korinther 15, 44). Ziemlich oberflächlich bezeichnen wir uns als aus Körper, Seele und Geist zusammengesetzt, wissen aber damit in Wirklichkeit nichts anzufangen. Tatsächlich sind wir weit mehr als das; Denkvermögen, Intuition, Verlangen und alle möglichen Eigenschaften bilden den Menschen.

Frage – Gerade darin lag die Schwierigkeit. Wir wollten das Neue Testament mit der buddhistischen Philosophie vergleichen, aber wir gerieten hoffnungslos durcheinander. Wir prüften auch das Gedankengut der Hindus und versuchten zwischen Ātman oder dem Selbst, wie sie sagen, und dem ‘Geist’ des Paulus eine Verbindung herzustellen, was anscheinend möglich ist. Als wir jedoch auf unsere Persönlichkeit zu sprechen kamen, ergab sich etwa folgende Frage: Wie können wir dieses in uns wirkende Kräftebündel handhaben? Wer sind wir nun eigentlich und wie sind wir mit dem größeren Schema verbunden? Das möchten wir wissen.

Stellungnahme – Wir dürfen nicht erwarten, dass wir alle Einzelheiten sofort erkennen, die mit der Evolution des Menschen und mit der Entstehung des Universums zusammenhängen, von dem wir ein notwendiger Teil sind, für wie unbedeutend wir uns im Vergleich zur Galaxis auch halten mögen. Wir können vielleicht da und dort ein flüchtiges Bild von der ausgedehnten panoramischen Szenerie des ‘Schöpfungsprozesses’ erhaschen und insoweit unsere Verwandtschaft und unsere Teilnahme am ewigen Mysterium empfinden. Die Geburt des Menschen ist ebenso wie die Geburt einer Galaxis von Sternen oder die eines atomaren Universums ein Wunder – und niemals etwas Prosaisches.

Wie können wir nun dieses Bündel widerstreitender Kräfte in uns handhaben? Erinnern Sie sich des Briefes, den Paulus an die Römer schrieb, in dem er den „Streit der Glieder“ im Menschen schildert? „Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will“ (Römer 7, 23; 7, 19). Was für eine universale Erfahrung: Das Gute, das wir, wie wir tief in unserem Herzen fühlen, ausführen möchten, tun wir oft nicht; und gerade den Charaktereigenschaften, von denen wir wissen, dass wir sie schon überwunden haben sollten, geben wir nach. Warum?

Der Mensch ist tatsächlich teils Atom und teils Galaxis; hinter der Schöpfungsgeschichte verbirgt sich jedoch mehr als nur das Ineinanderspiel des Atomaren und Galaktischen. Aus dem geheimnisvollen Ineinanderwirken von Geist und Materie entwickelte sich ein ‘Seelen-Träger’, in dem jedes Lebewesen sein natürliches Tätigkeitsfeld findet. Von den atomaren Welten und Subwelten über das Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich selbst bis zu den Galaxien im Raum besitzen daher alle Dinge eine zumindest dreifache Ausdrucksform: den ‘Körper’ als die materielle Form, ob Elektron oder Stern; die ‘Seele’ als den Träger ihres Bewusstseins oder ihres Selbstausdrucks, wie rudimentär oder unwahrnehmbar er vom menschlichen Standpunkt aus auch erscheinen mag; und den ‘Geist’ als ihre essenzielle Wurzel in der Gottheit.

Frage – Glauben Sie, dass jeder wirklich ein Teil Gottes ist? Wie erfrischend ist doch die Kraft einer Philosophie, die voraussetzt, dass Gott in uns ist. So lange schon wurde über unsere Affenvorfahren gesprochen; oder schlimmer noch, dass wir elende Sünder sind, Würmer im Staub, aus dem Adam geformt wurde.

Stellungnahme – Gott, die Gottheit oder ein Teil der Göttlichen Intelligenz ist unsere essenzielle Wurzel; wäre das nicht so, wären wir nicht hier. Wir würden nicht das Leid und die Freude der Inkarnation auf diesem Planeten unseres Sonnensystems erfahren und würden auch an den größeren Geschicken der Galaxien nicht teilhaben, welche die Metagalaxis bilden, in der wir und auch das winzigste Subelektron leben, sich bewegen und ihr wirkliches Sein haben.

Wir brauchen aber nicht so weit in die superstellaren Bereiche des Denkens vorzudringen, dass wir unseren festen Halt auf der Erde verlieren! Unsere gegenwärtige Aufgabe ist, dass wir hier und jetzt den Anforderungen dieses schnell vorwärtsstürmenden Zeitalters der wissenschaftlichen Expansion entsprechen und die Energie unserer Seele, unseres Geistes, unseres Denkvermögens und inneren Strebens beherrschen und entfalten, damit sie mit der Zeit das Licht der göttlichen Sonne in uns klar ausstrahlen.

Wir sollten auch diese ‘Wurm-im Staub’-Auffassung für immer aus unserem Bewusstsein entfernen. Sie ist absolut falsch und hat im Wörterbuch des MENSCHEN, des DENKERS, keinen Platz. Die Theorie der Abstammung vom Affen wurde ebenfalls noch nie bewiesen! Vom Standpunkt der Evolution aus gesehen spricht genausoviel dagegen wie dafür. Noch viel mehr spricht dagegen, wenn wir den Menschen nicht als Körper, sondern als eine leuchtende Intelligenz begreifen, die hier auf Erden verkörpert ist, um die Lektionen des materiellen Daseins zu lernen. Es ist zwar eine Tatsache, dass sich unsere physische Natur durch Äonen hindurch langsam zu dem heutigen, in hohem Maße verfeinerten Organismus entwickelt hat, trotzdem kann sich weder die innere Gottheit noch das Prometheus-Feuer unseres Geistes aus einem Affen entwickelt haben! Haben wir je die Möglichkeit erwogen, dass die Menschenaffen (und auch die gewöhnlichen Affen) Sprösslinge menschlicher Fehlhandlungen in der frühen Geschichte des Menschengeschlechts sein könnten? Gewisse alte Überlieferungen deuten das an, und wenn man von der physischen Entwicklung der frühen Primaten ausgeht, muss man es ebenfalls ernsthaft in Betracht ziehen. Wie kommt es denn, dass von den Säugetieren der menschliche Körper der primitivste und am wenigsten spezialisierte ist, während sich sein Geist und die inneren seelischen Kräfte in außergewöhnlicher Weise entwickelt haben, und dass diesen Kräften entwicklungsmäßig keine Grenzen gesetzt sind?

Frage – So habe ich noch nie darüber nachgedacht. Aber wo müsste dann unser Geist eingestuft werden und all jene seltsamen und doch realen Ahnungen, dass wir etwas mehr sind als unsere gewöhnlichen Emotionen und Gefühle?

Stellungnahme – Was unterscheidet den Menschen vom Atom oder von der Rose? Was gibt ihm jenen Sinn der Selbsterkenntnis, jene Eigenschaft des Selbstbewusstseins, die ihn von den niederen Bereichen trennt und ihn sowohl zur Krone der Schöpfung macht und auch zum Zweifler an sich selbst? Es ist der Geist – aktiv, dominierend, schöpferisch. Sie erinnern sich, dass die Schlange zu Eva sagte, sie würden, wenn sie und Adam von der Frucht des Baumes der Erkenntnis kosteten, nicht sterben, sondern sie würden wie die Götter werden und das Gute vom Bösen unterscheiden können. Der Geist des Menschen wurde damals durch den Prometheus-Funken – selbst ein Funke vom Zentralfeuer des kosmischen Geistes – zur Flamme der Bewusstwerdung angefacht, womit die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht kam und vor allen Dingen die Erkenntnis, dass wir moralisch verpflichtet sind, weise und in Übereinstimmung mit der Natur zu entscheiden.

In Bezug auf die evolutionäre Wanderschaft des Menschen wurde damit der Punkt erreicht, von wo aus es kein Zurück mehr gab. Er konnte fortan nicht mehr zufrieden mit dem langsam fließenden Strom des Fortschritts dahintreiben. Von da an musste er wach und aktiv sein, musste er die Herausforderung annehmen, seine eigene Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen, und er musste durch Prüfung und Irrtum lernen, dass er, was immer er auch sät, in einem Erfahrungszyklus nach dem anderen ernten muss. Wer also ist der Mensch? Kurz gesagt, er ist sowohl der Selbsterkenner wie auch der Selbsttäuscher: Die Wahl liegt bei ihm.

Frage – Was wollen Sie damit sagen? Dass wir sowohl Erkenner wie Täuscher sind?

Stellungnahme – Die Bezugnahme des Paulus auf Seele und Geist, und dass der Mensch einen ‘natürlichen Leib’ und einen ‘spirituellen Leib’ besitze, ist nur ein Teil der Geschichte. Die alten Griechen beschrieben den Menschen manchmal als aus vier und manchmal als aus sieben Elementen bestehend, aber wir wollen uns einmal die vier grundlegenden Prinzipien anschauen, die sie erwähnten. Neben dem Pneuma oder Geist sprachen sie vom Nous, den sie den Wissenden oder das Denkprinzip nannten, welcher seinerseits die Psyche, die Seele, und Soma, den Körper, als Wachstums- und Erfahrungsmittel auf der Erde benützte.

Nun ist der Nous, der Verstehende, derjenige Teil der menschlichen Natur, der Wissen über sich selbst und über das Universum gewinnen kann, wenn seine Energien auf den Geist gerichtet sind. Wird er aber von der Psyche beherrscht, wird er zum Täuscher. Das alte Sprichwort ‘der Verstand ist der Schlächter des Wirklichen’ (siehe auch Die Stimme der Stille, S. 15) ist zeitweise nur zu wahr, weil er, wenn er unter dem Einfluss der niederen Emotionen steht, als Täuscher am Werk ist, wodurch List, Habgier und Tyrannei in vielen Gestalten Besitz ergreifen.

Das Denkvermögen ist somit bipolar; es kann beides sein, Schlächter und Befreier. Ein umfassenderes Wissen über das Spektrum der Eigenschaften, die den Menschen bilden, und die gleichzeitig auch den Kosmos durchfließen, ist notwendig, wenn wir mit der Erde, auf der wir leben, richtig vertraut werden und vernünftig verstehen wollen, wie wir all diesen auf uns einwirkenden Kräften begegnen müssen.

Frage – ‘Spektrum der Eigenschaften’ – das ist ein interessanter Ausdruck. Wollen Sie damit sagen, dass wir uns aus sieben Prinzipien zusammensetzen, ähnlich wie das Spektrum aus sieben Farben?

Stellungnahme – Warum nicht? Wir können sogar wie die alten Ägypter von zehn sprechen, aber wir wollen bei den sieben bleiben, weil das besser mit dem übereinstimmt, was uns aus der Natur bekannt ist: die sieben Töne der Tonleiter, die sieben Farben des Regenbogens, die sieben Tagen der Woche usw. Wie heißen diese sieben Prinzipien? Sie hatten verschiedene Namen, die etwa wie folgt beschrieben werden können: Das Göttliche; das Spirituell-Intuitive; das Verstandesmäßig-Intellektuelle – das selbst bipolar ist und mit seinem höheren Teil dem Spirituellen zustrebt, während sein niederer Aspekt der nachfolgenden ‘Farbe’ zuneigt, die als Verlangen bezeichnet werden kann; dann die vitalen Lebenskräfte, die wiederum den Modellkörper oder die Blaupause bilden, nach welcher der physische Körper Zelle für Zelle aufgebaut ist.

Wer ist also der Mensch? Der Mensch kann mit Recht als ein Spektrum strahlender Energien bezeichnet werden, das von der dominierenden Essenz seines göttlichen Kerns, dem Vater im Innern, zusammengehalten wird, der seinerseits in der Göttlichen Intelligenz des Kosmos wurzelt, die jede lebende Einheit im Raum durchdringt.

Es ist bedeutsam, wenn man bedenkt, dass das englische Wort Spirit [Geist] das lateinische Wort für Atem ist, das von spirare, atmen, stammt, genau wie das griechische Wort Pneuma Atem und Geist bedeutet. Verschiedene archaische Philosophen haben das große Aus- und Einatmen der Gottheit als die Tage und Nächte, als die Zeitperioden der Tätigkeit und der Ruhe von Welten angesehen. Dadurch wurde BEWEGUNG zum Hauptmerkmal der Gottheit, und wenn Gott ein Universum hervorbringen wollte, bewegte sich der Geist der Elohim (wörtlich Rūahh, Atem) über dem Antlitz der Tiefe; der Atem des göttlichen Lebens erweckte dieses ganze Universum zur Manifestation und all die ruhenden Keime göttlicher Kraft, gleich welcher Stufe, wurden aus der Finsternis ins Licht hervorgeatmet.

Frage – Das wirft ein ganz neues Licht auf unsere christlichen Lehren. Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Spruch, den wir aus der Genesis lernen mussten: „Da formte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem“ (Genesis 2, 7) und der Äußerung des Paulus sowie den sieben Prinzipien des Menschen?

Stellungnahme – „Da formte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem (Neshāmāh). So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen (Nephesh).“

In den ersten zwei Kapiteln der Genesis wird auf drei verschiedene Arten von „Atem“ oder Ausatmungen durch die Gottheit oder durch Gott den Herrn Bezug genommen: Neshāmāh, der Atem des Lebens, entspricht im Allgemeinen dem Pneuma oder dem „überirdischen Leib“ des Paulus; Rūahh, der Atem oder der Geist der Elohim, der die Welt hervorbringt und im Menschen der Erwecker des selbstbewussten Lebens ist, weshalb er oft mit dem griechischen Nous, dem Erkenner, in Verbindung gebracht wird; und Nephesh, das „lebendige Wesen“ analog der Psyche oder dem „irdischen Leib“ oder der gewöhnlichen menschlichen Seele; alle drei „Atem“ oder Prinzipien halten die Schale, den physische Körper, zusammen und beleben ihn.

Wenn wir das nun auf die sieben Qualitäten oder auf das Energie-Spektrum beziehen, das den Menschen bildet, können wir sagen, dass der ‘Leib’, von dem Paulus spricht, die drei niedrigsten Elemente umfasst: die Lebenskräfte, welche die astrale Matrix oder den Modellkörper beleben, nach dem sich der physische Körper anordnet. Von der ‘Seele’ kann gesagt werden, dass sie den Bereich des Verlangens, die Emotionen und das Denkvermögen umfasst, jedoch nicht die höchsten Bereiche des Denkvermögens; während der ‘Geist’ ein Strahl der göttlichen Essenz ist, des spirituell-intuitiven Prinzips, das keine Möglichkeit hat, auf der Erde zu wirken – wenn es nicht mit dem Denkvermögen zu einem arbeitsfähigen Ausdrucks-Vehikel vereinigt ist.

Wenn wir wissen, dass die chemischen Elemente der Erde in gleicher Weise auch im Sonnenkörper zu finden sind, dann kann man sich leicht vorstellen, dass sich – könnte man von den Energien der menschlichen Seele, seinem Geist, seinem Denkvermögen, seinen Wünschen und seinen Bestrebungen ein Spektrogramm machen – in einem Spektrogramm der inneren Energien des Sonnengottes, der den physischen Globus beseelt, die identischen Linien zeigen würden. Wenn der alte hermetische Grundsatz richtig ist – „Wie es unten ist, so ist es oben“ – dann müssen die gleichen grundlegenden Energien, die sich im Menschen vom Göttlichen bis zum Physischen erstrecken, bestimmt in gleicher Weise jedes manifestierte Wesen beleben und durchfließen. Die gesamte Beweiskraft von Logik und Analogie deutet im ganzen Kosmos auf das qualitativ gleiche Spektrum von Eigenschaften hin: Oktaven strahlender Energie, die sich nach außen in die Tiefen des Raumes und nach innen in die Welten innerhalb der atomaren Welten erstrecken.

Frage – Die Wissenschaft hat so schnelle Fortschritte gemacht, dass wir ungeheuer viel über die Galaxien an dem einen Ende der Lebensskala wissen und ebenso über die mannigfaltigen Feinheiten des Atoms am anderen, aber es fällt uns bei dieser dauernden Beschleunigung des Wissens schwer, den Überblick zu behalten. Wie hätte nach Ihrer Ansicht Paulus unsere Lage mit seinen Briefpartnern behandelt?

Stellungnahme – Das kann niemand sagen, aber ich glaube kaum, dass er allzusehr beunruhigt gewesen wäre. Er hätte uns sicher gedrängt, die fundamentale Frage zu beantworten: Wollen wir nur von der „Erde und irdisch“ (siehe 1 Korinther 15, 47) sein, uns also unserem selbstzentrierten Wesensteil unterwerfen, der nach unten führt; oder wollen wir uns den Forderungen des inneren Wissens gewachsen zeigen und schöpferisch leben und unser Wissen edlen Zielen widmen? Eine vernünftige Neueinschätzung des Menschen und seiner Stellung in einem wachsenden und lebendigen Universum ist schon längst fällig.

Das Denkvermögen selbst ist ein Kräfte ausstrahlender Dynamo, es kann, wenn es durch die spirituellen und intuitiven Energien gezügelt wird, zu einem erleuchteten Denken und Tun anregen. Wie wir aber nur zu gut wissen, wird dem Denken oft erlaubt, sich von den niederen Neigungen herumzurren zu lassen, so dass die Pferde unserer Sinne störrisch und wild werden. Aber wir können an das Upanishad denken, das sagt, dass der Meister im Innern, die göttliche Essenz, im Wagen sitzt, und dass es an uns liegt, darauf zu achten, dass der Wagenlenker oder spirituell-intellektuelle Fahrer die Zügel unseres Denkvermögens klug gebraucht, damit uns die Pferde unserer Wünsche in die Richtung unseres wirklichen Ziels führen.

Wenn die Wissenschaft mit ihren ins Unermessliche erweiterten Forschungsgebieten nur die Beseitigung unserer theologischen Scheuklappen bewirkt hätte, verdiente sie schon damit den Dank der Beschützer der Menschheit – jener langen Reihe spiritueller Titanen wie Kṛishṇa, Christus und Buddha, die periodisch erscheinen, um den spirituellen Blick im Menschen wiederzubeleben und sein Streben nach Wahrheit neu anzuspornen. Unser neues Wissen über das Universum beweist zunehmend, dass wir – wie sehr wir auch mit dem ‘Staub’ der Erde bedeckt sein mögen – in Wirklichkeit „lebendig machender Geist“ (1 Korinther 15, 45) sind.

Theosophia – das Wissen über göttliche Dinge

Frage – Vor einiger Zeit schlug mir ein Freund vor, mich etwas mit Theosophie zu befassen. Er sagte, er wisse selbst nicht viel darüber, und über ihren Wert gäbe es eine Menge verschiedener Ansichten, auch einige ziemlich widersprüchliche Darstellungen; er glaube aber, dass sich grundsätzlich eine gute Philosophie dahinter verberge. Deshalb frage ich mich, ob wir uns mit ihren Grundlagen befassen können?

Stellungnahme – Selbstverständlich, aber wir wollen uns zuerst fragen, was wir mit Theosophie meinen? Meinen wir ihre moderne Form, die heute in den verschiedenen Organisationen, die sich theosophisch nennen, auftritt? Verstehen wir darunter die Theosophie des Mittelalters oder die der Renaissance? Oder geht unser Denken noch weiter zurück auf die Zeit des Ammonios Sakkas, der im zweiten und dritten Jahrhundert unserer Ära lebte. Oder denken wir vielleicht an die archaische Philosophie der frühen Mysterienschulen? Oder sprechen wir, unserer eigenen Zeit wieder näher, von der Art christlicher Theosophie, wie sie im Leben und in den Schriften Jakob Böhmes Ausdruck fand, der seinerseits die ‘Theosophen’ des 17., 18. und 19. Jahrhunderts inspirierte?

Frage – Ich hatte keine Ahnung, dass es so viele Arten Theosophie gibt und dass sie soweit in die Vergangenheit zurückreichen. Ich hielt es für eine moderne Bezeichnung, für eine Art neue Philosophie.

Stellungnahme – Nein, Theosophie ist keine neumodische Angelegenheit, obgleich unglücklicherweise vieles, was unter diesem Namen früher wie auch heute im Umlauf war und ist, mehr die Schale als den Kern ihrer Philosophie betrifft. Das ganze Thema hat so viele Verzweigungen, dass wir, um auch nur einen groben Umriss von ihrer Entstehung und ihrer Entwicklung zeichnen zu können, ihre Ursprünge erforschen und dann unseren Weg sorgfältig durch das Dickicht der verschiedenen Nebenbedeutungen verfolgen müssen, die der Ausdruck ‘Theosophie’ im Laufe der Jahrhunderte angesammelt hat. Man nimmt an, dass das Wort in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung entstand, möglicherweise auch früher; die begrenzte Verwendung dieses Begriffs erfolgte schon viele hundert Jahre vor der Gründung der modernen Organisationen, die diesen Namen tragen, und die mit unterschiedlicher Treue gegenüber der ursprünglichen Bedeutung behaupten, die theosophische Philosophie zu vertreten. Ich möchte nur darum bitten, dass wir uns bemühen jeden der im Umlauf befindlichen Begriffe, was Theosophie ist und was sie nicht ist, beiseite zu lassen, damit wir ihre Entwicklung leichter verfolgen können.

Frage – Das sagt mir sehr zu, weil ich ebenfalls annahm, es handle sich um eine Art neuer Philosophie oder um einen neuen Glauben. Doch was bedeutet das Wort?

Stellungnahme – Es stammt aus dem Griechischen. Wir wollen mit der Definition aus dem Wörterbuch beginnen und von da aus weitergehen.

THEOSOPHIE. Auch Theosophismus. Vom Mlat., von SpGr. Theosophia, Wissen über göttliche Dinge, von theosophos, weise in den Dingen Gottes, von Theos, Gott + Sophos, weise …

Soviel zur tatsächlichen Ableitung des Wortes. Nebenbei gesagt, ich glaube nicht, das der Ausdruck ‘Theosophismus’ häufig benützt wurde, wenn er auch vor etwa 200 Jahren gelegentlich in den Schriften gewisser ‘Theosophen’ auftauchte.

Beachten Sie die Abkürzungen: ‘Vom Mlat., vom SpGr.’ – diese bedeuten natürlich, dass das Wort vom mittelalterlichen Latein herstammt, das wiederum vom späteren Griechisch, das heißt von dem ersten oder zweiten bis zum sechsten Jahrhundert n. Chr. gesprochenen Griechisch kommt. Und genau hier machen wir in Gedanken gleich einen großen Sprung durch das frühe Mittelalter unserer Geschichte zu den unruhigen Jahrhunderten des Übergangs, die dem Beginn der christlichen Ära folgten. Sie können daraus ersehen, welche Torheit es wäre, wenn wir unsere Diskussion über die Theosophie nur auf die moderne Zeit beschränkten. Aber wir wollen mit den zwei Definitionen fortfahren, die der Wortableitung selbst folgen:

1. Angebliches Wissen über Gott und über die Welt in ihrer Beziehung zu Gott, gewonnen durch unmittelbare mystische Einsicht oder durch philosophische Spekulation oder durch die Kombination beider.

2. Die Lehren und Überzeugungen einer modernen Schule oder Sekte, die in der Hauptsache buddhistischen oder brahmanischen Theorien folgt, besonders indem sie eine pantheistische Evolution und die Reinkarnation lehrt.

Frage – Das klingt ziemlich kompliziert. Wie kann jemand wirklich ein ‘Wissen über Gott’ haben?

Frage – Ich möchte wissen, ob Gott in der Definition mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben ist? Anscheinend sehe ich nicht klar. Zuerst wird das Wort mit ‘Wissen über göttliche Dinge’ übersetzt, was mir gefällt. Es vermittelt das Gefühl der Grenzenlosigkeit. Aber dann wird gesagt, dass Theosophie ‘angebliches Wissen über Gott’ bedeute. Und hier fühle ich mich schon gehemmt durch den Begriff eines persönlichen Gottes, über den mich dann wohl die Theosophie informiert. Vielleicht treibe ich nur Haarspalterei.

Stellungnahme – Nein, das tun Sie sicher nicht. Sie haben da tatsächlich etwas aufgegriffen, das wir kurz weiterverfolgen sollten. Ja, Gott kommt in beiden Erläuterungen vor: ‘weise in den Dingen Gottes’ und ‘angebliches Wissen über Gott’ (mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben). Hätten die Lexikographen Theos mit ‘ein spirituelles oder ein göttliches Wesen’ oder einfach mit ‘Gottheit’ übersetzt – was den Bedeutungen zur Zeit der Griechen entsprochen hätte, statt den späteren christlichen Wortbegriff Gott zu verwenden – wären sie der wesentlichen Bedeutung von Theosophia als dem Wissen über göttliche Dinge viel näher gekommen. Trotzdem zeigt die Einfügung des Wortes angeblich ihr Verständnis, dass kein Mensch vollkommen ‘weise in Gottes Dingen’ sein kann und noch weniger die grenzenlose Weisheit einer Göttlichen Intelligenz begreifen könnte, derer Lebenserfahrung das A und O des Lebens auf unserem Planeten wie auch unseres Sonnensystems umfasst und in der Tat in und über unser Heimatuniversum hinausreicht.

Wie gesagt, bezieht sich die erste Definition auf die Theosophie, wie sie in früheren Jahrhunderten verschiedentlich im Umlauf war; sie wird [im Engl.] mit kleinem t geschrieben. Die zweite Definition jedoch, ‘häufig mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben’, gehört zum ‘modernen Lehrsystem’, das die Bezeichnung theosophisch trägt. Hier einen Unterschied zu machen, scheint ziemlich belanglos zu sein, ist es aber nicht. Die Geschichte der menschlichen Entwicklung und des menschlichen Fortschritts in spiritueller Hinsicht hat immer wieder bewiesen, dass wir sofort spezialisieren und statisch werden, wenn wir unsere Überzeugungen in ‘Versalien’ schreiben; sobald wir spezialisieren, schränken wir ein, und wenn wir einschränken, verlieren wir allmählich das Essenzielle, das wir eigentlich suchen. In materiellen oder in administrativen Angelegenheiten müssen wir eine Sache notwendigerweise definieren, damit wir unsere Aufmerksamkeit auf das eine oder andere Interessengebiet konzentrieren können. Wenn wir uns jedoch mit ‘göttlichen Dingen’ beschäftigen, welche die Entwicklung der inneren Konstitution des Menschen und des Kosmos zum Inhalt haben, dann beschäftigen wir uns mit Wahrheitsprinzipien, die sich dynamisch entwickeln, ganz gleich ob es sich um Buddhismus oder Christentum, Neuplatonismus oder Theosophie handelt. In dem Moment, in dem wir diese Prinzipien in eine endgültige Form zwängen, wird ihre Bedeutung auf die spezielle Form unserer Definition eingeschränkt.

Das gilt immer, ob wir die Gnosis (Erkenntnis) der gnostischen Theosophie, die theosophischen Spekulationen der hebräischen Kabbalisten oder die der Feuerphilosophen oder die von Meister Ekkehart, Jakob Böhme oder Saint-Martin dargestellte christliche Theosophie oder wiederum ihre modernen Formen betrachten. Deshalb regte ich an, dass wir unsere früheren Vorstellungen beiseite lassen, damit wir unseren Gedankenbereich erweitern und Theosophie buchstäblich als ‘Wissen über göttliche Dinge’ betrachten können. Vermögen wir sie in diesem Sinn zu sehen, begreifen wir, dass die Essenz der reinen Religion und Philosophie – und auch der Wissenschaft, wenn sie als reines ‘Wissen’ verstanden wird, was das Wort bedeutet – die mit einem kleinen t geschriebene Theosophia ist, jene Qualität der Weisheit, welche die größten Seher der Menschheit durch direkte Wahrnehmung der ‘Dinge, wie sie sind’ erlangten.

Frage – Darf ich unterbrechen? Würde das bedeuten, wenn wir diesen letzteren Gedanken weiterverfolgen, dass alle Heilande oder Weltlehrer, wie Gautama Buddha und Jesus und, wie ich annehme, Männer wie Plato und Pythagoras eine Art Theosophie lehrten?

Stellungnahme – Wir wollen kein neues Dogma aufstellen und behaupten, jede Religion oder jede Philosophie sei Theosophie. Wir könnten ebensogut sagen, sie seien alle Buddhismus oder Christentum oder Islam usw. Trotzdem haben Sie nicht ganz unrecht, denn ganz gleich, welches Lehrsystem wir betrachten, wenn wir seine ewige und unvergängliche Grundlage herausschälen, gelangen wir zu einem zentralen Punkt – zur Wahrheit. Sie unterscheiden sich nur in ihren äußeren Verpackungen, die oft mehr dazu beitragen, ihren wesentlichen Kern zu verbergen als zu enthüllen.

Das bringt uns zu der zweiten, groß geschriebenen Definition, die sich auf die moderne, 1875 von H. P. Blavatsky gegründete Organisation bezieht, die sich bemühte, das ursprüngliche von Ammonios Sakkas im dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung begonnene Werk fortzuführen. So wie er zu zeigen versuchte, dass es nur eine Wahrheit gibt und dass alle Religionen ursprünglich einer gemeinsamen Weisheit des Altertums entsprangen, wurde ihr zum Nachdenken herausforderndes Werk, Die Geheimlehre, in gleicher Absicht geschrieben. In den darauf folgenden Jahren hat jedoch der Ausdruck Theosophie durch Missbrauch beträchtlich gelitten. Es gibt verschiedene Gesellschaften, die mit relativem Erfolg ihre Philosophie zu verbreiten suchen. Es gibt aber auch einige zweifelhafte Sekten, welche die Literatur verwenden, um ein von der ursprünglichen Lehre abweichendes Lehrsystem zu fördern, wobei auf verlockende Nebenaspekte besonderer Wert gelegt wird, wie zum Beispiel auf psychische Erscheinungen und andere krankhafte Aspekte des Phänomenalismus – alles höchst gefährliche Perversionen spiritueller Werte.

Frage – Das Gemisch von Wissen – wie es heute in unserem philosophischen und religiösen Ausblick und besonders hinsichtlich dieser psychischen Dinge ist – ist doch ein fast identisches Abbild des Geschehens in Alexandrien, als Ammonios lebte? Schon während einer früheren Periode mussten die Römer gegen die Ausübung von Mediumschaft, Weissagung und gegen die Erstellung von Horoskopen Gesetze erlassen, ja tatsächlich gegen alles, was auch nur geringfügig auf die Ausübung und die Entwicklung der ‘okkulten Künste’ hinzielte.

Frage – Ich möchte gerne mehr über die früheren Verwendungen des Ausdrucks Theosophie hören.

Stellungnahme – Den ganz exakten Zeitpunkt festzustellen, wann der Ausdruck zum ersten Mal in Umlauf kam, ist schwierig, obwohl ich glaube, dass das Wort ‘theosophos’ oder ‘weise in göttlichen Dingen’ gelegentlich in den Schriften des Clemens von Alexandrien und möglicherweise bei anderen Zeitgenossen zu finden ist. Manche Experten neigen jedoch zu der Ansicht, dass Ammonios Sakkas es war, der seine Schüler spezieller in ‘theosophischen’ Prinzipien unterrichtete.

Frage – Irgendwo habe ich gelesen, dass er eine Art eklektischer Philosophie lehrte, indem er Ideen aus verschiedenen Quellen zusammenfasste.

Frage – Sie meinen, er hätte von den verschiedenen Religionen den Rahm abgeschöpft und eine Art spirituelles Potpourri gemacht? Mir gefällt das Wort ‘eklektisch’ nicht, denn wie könnte man zu einer vernünftigen Lebensphilosophie kommen, wenn man sie künstlich aus Teilchen und Bruchstücken zusammenbaute?

Stellungnahme – Wir wollen nicht voreilig sein und am Ende falsche Schlüsse ziehen. Ich stimme mit Ihnen überein, dass wir nie die Wahrheit finden, wenn wir willkürlich Bruchstücke von ihr sammeln und zusammenfügen. Das Wort ‘eklektisch’ in diesem Sinn zu deuten, ist natürlich erlaubt, aber es ist weit von dem entfernt, was Ammonios Sakkas tat. Wenn auch sein Lehrsystem heute als ‘eklektisch’ bezeichnet wird, befolgte er doch in Wirklichkeit eine dreifache Methode, um zur Wahrheit zu gelangen: Analyse, Synthese und Interpretation. Mit Plato als Grundlage war es ihm möglich, aus dem Konglomerat mystischer und religiöser Überlieferungen, das sich damals in Alexandrien im Umlauf befand und anscheinend widersprüchliche Elemente enthielt, die Essenz der Sophia oder ‘Weisheit’ herauszudestillieren. Deshalb wird er als der führende Inspirator für die außerordentliche Neubelebung des Interesses an der platonischen Philosophie angesehen, die später als Neuplatonismus nicht nur die christliche Psychologie, sondern durch Augustinus auch die Theologie der Kirche stark beeinflusste. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich glaube, wir können uns nur schwer vorstellen, wie die überschäumende Metropole in jenen frühen Jahrhunderten aussah. Es handelte sich hier um ein blühendes Handels- und Verkehrszentrum für den Orient, Kleinasien, Afrika und Rom, aber auch um einen Sitz höchster Kultur und Gelehrsamkeit. Das Museum mit seiner Bibliothek war besonders wegen seiner nach Hunderttausenden zählenden, unschätzbaren Manuskriptsammlung berühmt. (Ein großer Teil wurde später durch Fanatiker zerstört.) Hier mischten sich sowohl Hindus und Buddhisten, Griechen, Juden und Ägypter, Römer und Araber, wie auch die zunehmende Anzahl christlicher Konvertiten und alle waren darauf aus, ihre materiellen und sogenannten spirituellen ‘Waren’ zu verkaufen. Und als Protest gegen die Oberflächlichkeit des Lebens im Allgemeinen und gegen die Hohlheit von vielem, was als Wahrheit verkündet wurde, gründete Ammonios Sakkas hier seine Schule, in der er von seinen Schülern höchste Verehrung der Wahrheit forderte. Man nannte ihn theodidaktos, ‘gottgelehrt’, weil man annahm, er habe die heilige Einswerdung der Seele mit ihrem göttlichen Ursprung erlebt. Die edle Größe seines Lebens erinnerte seine Schüler sicherlich beständig daran, dass sie bei einer aufrichtigen, selbstdisziplinierten Lebensführung im Laufe der Zeit ebenfalls theosophos oder ‘weise in Dingen Gottes’ würden.

Frage – Schrieb Ammonios irgendwelche Bücher?

Stellungnahme – Er hat ebensowenig etwas niedergeschrieben wie Jesus oder Buddha oder Sokrates.

Frage – Woher kennen wir seine Lehren?

Stellungnahme – Auf gleiche Art, wie wir die Lehren aller Weltlehrer – Jesus eingeschlossen – kennengelernt haben: indem wir zwischen den Zeilen und hinter den Worten ihrer Nachfolger lesen. In Übereinstimmung mit dem archaischen Brauch in den Mysterienschulen (die zwar zu seiner Zeit schon sehr entartet waren), verlangte Ammonios von seinen Jüngern ein feierliches Gelöbnis, niemals niederzuschreiben, was sie lernen würden. Nach seinem Tod verbreiteten jedoch zwei seiner Schüler einige Manuskripte, die eine eigene Interpretation seiner Lehren enthielten. Zum Glück für die Nachwelt hatte ein ganz außergewöhnlicher Mann das Studium bei Ammonios aufgenommen, der dann später verschiedene Bücher schrieb, welche die Kernpunkte der mitgeteilten Lehren wiedergaben.

Frage – War das nicht Plotin? Wenn ich mich der Sache recht erinnere, hatte er überall in den vielen philosophischen Schulen Alexandriens nach echter spiritueller Instruktion gesucht; er war aber entmutigt, da er nur leere Schalen fand. Dann erzählte ihm ein Freund von Ammonios. Der Lieblingsschüler Plotins, Porphyrios, berichtete, dass Plotin, als er Ammonios gehört hatte, ausrief: „Das ist der Mann, den ich gesucht habe.“ Er blieb daher etwa zehn oder elf Jahre bei ihm und es wird berichtet, dass auch er Augenblicke der Einswerdung mit seinem Vater im Innern erlebt habe.

Stellungnahme – Wir müssen Porphyrios dafür dankbar sein, dass er Plotin davon überzeugte, dass es nach der Veröffentlichung dieser fehlerhaften, weil unvollständigen Berichte, seine Pflicht sei, die echte Interpretation der Lehre des Ammonios schriftlich niederzulegen. Sonst wäre ein schrecklicher Verlust entstanden, denn Plotin übertraf selbst Plato in der Darstellung der alten Lehre: dass alles aus der Gottheit oder aus Theos fließt und dass alle Seelen, Formen und Stufen der Manifestation bewusst danach streben, im Verlauf der Zeit zu ihrer göttlichen Quelle zurückzukehren. Das ist natürlich bei weitem nicht alles, aber es ist leicht ersichtlich, warum die Theosophia des Neuplatonismus in den folgenden Jahrhunderten immer wieder zum Ausdruck kam.

Frage – Ich versuche, die Definition von Theosophie als ‘angebliches Wissen über Gott’ mit der Tatsache zu verbinden, dass Ammonios anscheinend zu ‘göttlicher Einsicht’ gelangt war.

Stellungnahme – Ich möchte die Definition noch einmal vorlesen: „Angebliches Wissen über Gott und über die Welt in ihrer Beziehung zu Gott, vermittels unmittelbarer mystischer Einsicht oder philosophischer Spekulation oder beidem.“ Wenn wir das anders formulieren und dabei das bis jetzt Gesagte berücksichtigen, sehen wir, wie beachtlich sie zutrifft: Theosophia oder Wissen über göttliche Dinge in Bezug auf den Kosmos und den Menschen als Ausdrucksformen der Gottheit, erreichbar durch direkte spirituelle Wahrnehmung oder durch Studium und Nachsinnen oder durch eine Kombination des durch die Intuition erleuchteten Denkvermögens.

Frage – Das ist großartig. Aber wer kann das erreichen, außer Menschen wie Ammonios oder die großen Lehrer?

Stellungnahme – Sprach nicht Plato davon, dass der Seele in den Anfängen der Zeit das Wissen über die große ‘Idee’ eingeprägt wurde, womit er ohne Zweifel Sophia oder Weisheit meinte, und dass es an uns läge, uns während unserer Erdenleben an dieses Wissen ‘wieder zu erinnern’? Und sagte nicht der Meister Jesus, dass der Vater in ihm die sogenannten Wunder vollbringe und dass wir, was er tat, auch tun könnten?

Frage – Das gefällt mir; ich kam während der Kriegsjahre mit Menschen unterschiedlicher religiöser Einstellung zusammen, und wenn ich auch keine Gelegenheit hatte, ihre Anschauungen zu prüfen, gewann ich doch die Überzeugung, dass spirituelle Werte weder an die Hautfarbe noch an ein Land noch an eine Religion gebunden sind. Deshalb bin ich so sehr an der Hoffnung des Ammonios interessiert, zeigen zu können, dass es nur eine Wahrheit gibt. Ich bin der Meinung, dass es selbst für uns einfache Menschen eine Art natürlicher Weisheit geben muss, die wir finden können.

Stellungnahme – Ist es nicht vielleicht jene ‘natürliche Weisheit’ in uns, an die wir uns zu erinnern versuchen?

Frage – Ich habe mich oft gefragt, warum es kein allgemeines Sammelbecken des Wissens gibt, aus dem wir alle schöpfen können, ich kann nicht begreifen, warum es so viele Religionen und so viele verschiedene Arten philosophischer Spekulation über die Entstehung unserer Welt und die entsprechende Rolle des Menschen geben muss.

Stellungnahme – Die Überlieferungen des Altertums bestätigen, dass an einem bestimmten Zeitpunkt in der frühen Geschichte der Menschheit allen Völkern der Erde die Eine Weisheit bekannt war, dass aber nach und nach so viele falsche Auslegungen in Bezug auf den einen oder anderen Aspekt der Wahrheit die Oberhand gewannen, dass die periodische ‘Inkarnation’ von Erlösern oder Avatāras als notwendig erachtet wurde, damit den alten Werten wieder Geltung verschafft werden konnte (siehe auch Bhagavad-Gītā 4:7-8). Sie kamen nicht, um neue Religionen zu gründen; das taten ihre Nachfolger – mit einem Eifer, der nicht immer durch Treue gegenüber dem Geist der Botschaft gekennzeichnet war. Es ist dieselbe traurige Geschichte von der Neigung des Menschen, der die Worte der Wahrheit fest zu halten versucht, indem er sie säuberlich in ein Buch oder Manuskript schreibt, welches er, wenn es einmal geschehen ist, nur noch sorgfältig wegzustellen braucht. Allzubald haben wir dann nicht nur den Schlüssel zur Wahrheit ‘verloren’, sondern auch ihren ursprünglichen edlen Sinn vergessen. Ehe wir es uns versehen, sehen wir die Behauptungen anderer, was falsch und was richtig ist, als maßgebend für uns an! Die Wahrheit ist eine, aber es gibt so viele ‘Wahrheiten’ oder Ausdrucksformen von ‘göttlichen Dingen’, wie es Menschen gibt, die ihre Einsicht durch das Prisma ihres eigenen individuellen Bewusstseins widerspiegeln.

Mehr über Theosophie

Ehe wir über die ‘moderne Schule’ der Theosophie diskutieren – womit die verschiedenen, seit 1875 entstandenen Organisationen gemeint sind – möchte ich noch weitere grundsätzliche Gedanken äußern.

Wenn man die Geschichte und die Entwicklung der verschiedenen religiösen Philosophien der Vergangenheit betrachtet, lässt sich ein bemerkenswerter Vorgang beobachten: Es erscheint ein Bote – ein Christus oder Buddha, ein Zoroaster oder Kṛishṇa –, der von den Wenigen willkommen geheißen wird, während seine Botschaft entweder unbeachtet bleibt oder für den status quo als falsch und gefährlich erklärt wird. Er geht wieder und seine direkten Jünger oder die der nachfolgenden Generationen, die seine Lehre schließlich in gewissem Ausmaß erkannt haben, bilden eine Organisation. Die heiligen Worte werden aufgeschrieben, Andachtsstätten werden errichtet, Sakramente werden als Erlösungsmittel eingesetzt und die einst lebendige Botschaft erstarrt zu einem Glaubensbekenntnis. Nachfolgende, hauptsächlich durch die äußeren Formen geleitete Gläubige sind bald unter sich selbst uneinig und in kurzer Zeit spaltet sich der ursprüngliche Kern der ‘neuen Offenbarung’ in Fragmente.

Typisch für die menschliche Natur finden wir auf der einen Seite die Ultrakonservativen, die streng am Buchstaben der Lehre hängen und darauf bestehen, dass ihre Auslegung die einzige und letztgültige ist. Auf der anderen Seite und ihnen diametral entgegengesetzt stehen die Ultraliberalen, die in ihrem Eifer, jede Einschränkung zu beseitigen, jeden Sinn für das rechte Maß verlieren, die Werte durcheinander bringen und oft zum Schluss Schwarz als Weiß und Falsch als Richtig ansehen. Zwischen diesen beiden Extremen stehen jene, die sich bei ihrer Bestrebung – die Botschaft zu deuten und hinter dem Formalen und Überlieferten das göttliche Leitmotiv wiederzuentdecken – standhaft bemühen, dem ‘mittleren Weg’ zu folgen.

Das ist nichts Ungewöhnliches, denn diese Erscheinung gilt für alle Gebiete menschlicher Erfahrung: Im Berufsleben, in der Erziehung, im gegenseitigen Umgang und auch in den nationalen und internationalen Angelegenheiten. So verhielt es sich auch bei der Theosophie in ihren früheren Formen und so verhält es sich auch heute bei ihren modernen Ausprägungen, wobei die Trennungslinien jetzt ziemlich deutlich hervortreten. Wir sprechen hier von Eigenschaften, die vor keinen von Menschen errichteten Schranken halt machen, denn in jeder Organisation sind alle drei Arten von Anhängern in Abstufungen vertreten. Hoffentlich gibt es immer genügend Menschen – ob sie nun der einen oder anderen oder keiner Organisation angehören – die sich bemühen, ein Wissen über die ursprüngliche Theosophia oder Gottes-Weisheit lebendig zu erhalten – nicht dadurch, dass sie den strengen Verpflichtungen des Lebens zu entrinnen trachten, sondern durch eine vernünftige und praktische Anwendung ihrer Philosophie auf die immer mehr zunehmenden Nöte der Menschen.

Frage – Aber wie weiß man denn, was echt ist und was nicht? Ich habe alle möglichen Bücher gelesen. Einige der Ideen erscheinen mir wie alte Freunde, obgleich sie mir neu waren, aber ich fand auch andere Dinge, die mir gar nicht gefielen.

Stellungnahme – Unglücklicherweise werden heute mehrere Auslegungen von Theosophie verbreitet und es ist nicht immer leicht, das Echte vom Falschen zu unterscheiden. Wer sich ernsthaft dafür interessiert, die von der Gründerin der modernen Schule inspirierte reine Lehre herauszuschälen, sollte sich unmittelbar an die Quelle wenden und sich mit ihren grundlegenden Prinzipien vertraut machen. Auf diese Weise wird er eine Grundlage erhalten, mit deren Hilfe er jede spätere Interpretation prüfen kann.

Frage – Sie sagen, die ‘reine Lehre’ – bedeutet das, dass die Theosophie besondere Lehrsätze hat, an die man glauben muss? Oder kann man entnehmen und auswählen, was einem gefällt und das Übrige unbeachtet lassen?

Stellungnahme – In all ihren Schriften stellt H. P. Blavatsky klar, dass die Theosophie absolut kein Glaubensbekenntnis und keine Glaubensformel und keine Reihe von Dogmen hat, die akzeptiert werden müssen. Jedem Einzelnen steht völlig frei, das ihm Zusagende auszuwählen. Wenn wir in der gleichen Göttlichen Intelligenz wurzeln, die den Kosmos hervorbrachte, dann haben wir nicht nur das Vorrecht, sondern auch die Verpflichtung, unser Wachstum und unsere Entwicklung durch unseren eigenen Charakter vorzunehmen, und nicht durch einen Fremden. Wir sollten uns unter keinen Umständen an irgendeinen intellektuellen, moralischen oder auch spirituellen Druck gebunden fühlen, außer an unseren eigenen inneren ‘Sinn’. Was immer wir aus irgendeinem Gebiet des Denkens hören oder lesen, sollte stets durch unser eigenes höchstes Urteilsvermögen geprüft werden. Wenn es uns richtig erscheint, sollten wir es wenigstens für den Augenblick akzeptieren, bis wir eine größere Facette der Wahrheit sehen. Wenn nicht, sollten wir es einfach zurückweisen. Vielleicht weisen wir etwas ab, das sich später von wesentlichem Wert erweist; wenn es aber im Augenblick nicht richtig erscheint, so sind wir entweder nicht reif dafür oder jene besondere Wahrheit wird uns vielleicht in der Zukunft mehr nützen.

Frage – Aber es muss doch irgendwelche bestimmten Lehren geben, die zur Theosophie gehören oder nicht? Oder geht es hauptsächlich um eine Art menschenfreundliche Bestrebung, zum Beispiel um die Schaffung besserer Zustände und dergleichen?

Stellungnahme – Nein, echte Theosophie ist keine verschwommene Tu-Gutes-Psychologie ohne Beziehung zum Menschen und seinem dringenden Verlangen, sich selbst und seine letztendliche Rolle auf der Erde zu verstehen. Dennoch ist sie eine eindeutige ‘philanthropische’ Bewegung – im echten Sinn des Wortes –, weil ‘Liebe zur Menschheit’ der hauptsächliche Grund war, sie erneut darzulegen.

Ist sie also eine Religion oder vielleicht eine neue Philosophie? In Wirklichkeit ist sie keines und beides: Die Theosophie ist tatsächlich als Mutter der Religionen und Philosophien bezeichnet worden.

Frage – Würde das nicht erklären, warum wir in den großen Religionen so viele Übereinstimmungen finden? Ich erinnere mich, wie sehr mich das überraschte, als ich Vorlesungen über vergleichende Religionswissenschaft besuchte. Ich war damals noch nicht viel herumgekommen und wusste sehr wenig über andere Völker, aber unser Professor war ein hervorragender Kenner der Upanishaden wie auch der alten griechischen und römischen Literatur, und mehr als einmal wies er auf einen ‘goldenen Faden’ der Weisheit hin, der uns, wie er sagte, durch das Labyrinth der vielen Interpretationen hindurchführen könne.

Stellungnahme – Es gibt wirklich einen ‘goldenen Faden’ der Wahrheit, der die ältesten Formen des Glaubens mit der Gegenwart und die spirituellen Traditionen aller Völker und Rassen mit dem Funken der Göttlichen Intelligenz verknüpft, die der innerste Kern jedes Menschen ist.

Frage – Ich glaube, das ist etwas zu hoch für mich. Ich möchte lieber wieder zum Webster zurückkehren und hören, wie die verschiedenen Gedanken mit den Erklärungen zusammenhängen.

Stellungnahme – Gerne. Teil I der Definition behandelt, wie Sie sich erinnern werden, die Theosophie mit kleinem t, wie sie in den vergangenen Jahrhunderten in verschiedenster Weise Ausdruck fand. Wenn wir sie jetzt mit einfacheren Worten beschreiben, sehen wir, wie allgemein die Definition auf jedes religiöse oder philosophische System angewandt werden kann, welches das Göttliche als Quelle und Ursprung aller Wesen und Dinge in den Mittelpunkt stellt:

Theosophia oder Kenntnis über die Bewegungen und Arbeitsgewohnheiten der Gottheit, wenn sie sich in einem Universum verkörpert (und daher auch in jedem kleinsten Teil, den Menschen mit eingeschlossen), ein Wissen, das entweder durch direkte spirituelle Einsicht oder durch Studium oder durch philosophische Betrachtung oder durch eine fruchtbare Verschmelzung des Denkvermögens mit der Intuition erlangt wird.

Frage – Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von uns diese Stufen der Erleuchtung in einem Leben erreicht. Vielleicht war deshalb die Reinkarnation unter vielen alten Völkern so populär, weil sie erkannten, dass mehr als ein Leben notwendig sein würde, um das Ziel zu erreichen.

Stellungnahme – Von keinem wird erwartet, dass er in einem einzigen Leben so weit fortschreitet! Das wäre so absurd, als erwartete man, dass ein Erstklässler gleich die Aufnahmeprüfungen an einer Universität besteht. Trotzdem ist, wie wir durch Johannes (1:7-9) erinnert werden, „das wahre Licht“ in jedem Menschen, und eines Tages werden wir uns unsere eigene Schau ‘göttlicher Dinge’ verdient haben. Mittlerweile können wir Mut fassen, denn selbst während der verhältnismäßig kleinen Zeitspanne der überlieferten Geschichte hat es jene großen und edlen Seelen gegeben, die über uns hinaus genügend fortgeschritten waren, dass sie es wagen konnten, die Höhen zu erklimmen. Sie hatten vielleicht viele, viele Leben lang den einsamen Weg der Selbstdisziplin, der Selbstbemeisterung und der Selbsterleuchtung beschritten, um schließlich die Kreuzigung ihrer irdischen Natur zu erleiden, damit der innere Gott einen vollkommeneren Ausdruck in ihren Seelen finden konnte. Von dieser Art waren die Führer und Hüter der Menschheit, die lange Reihe der Erlöser und Christusse, die nach der Vollendung ihrer heiligen Erfahrung ihre ‘Vision’ mit anderen teilten und damit große Veränderungen im spirituellen und psychologischen Schicksal der Völker hervorriefen, in denen sie lebten.

Sie kamen nicht, um eine neue Sammlung von Wahrheiten zu enthüllen oder gar um eine neue Religion zu gründen. Wie H. P. Blavatsky sagte, waren sie alle „Überlieferer, nicht originale Denker. Sie waren die Urheber neuer Formen und Interpretationen, während die Wahrheiten, auf denen ihre Lehren beruhen, so alt wie die Menschheit sind“ (The Secret Doctrine I: xxxvi, Die Geheimlehre I: 20).

Frage – Das leuchtet mir ein. Und wenn meine Logik stimmt, dann müssten sie natürlich alle dasselbe lehren. Wenn sie wirklich ihren ‘Augenblick der Wahrheit’ erlebt haben, müssten sie dann nicht mit der identischen göttlichen Quelle in Berührung gekommen sein?

Stellungnahme – Ganz recht. Deshalb entdecken wir, wenn wir die Weltreligionen und die verschiedenen mystischen und philosophischen Systeme ansehen und dabei zum Kern vordringen, dass sie alle die gleiche Geschichte wiedergeben. Wir vergessen zuweilen, dass unsere Kenntnis der Menschheitsgeschichte, die etwa fünftausend oder sechstausend Jahre erfasst, unzulänglich ist, wohingegen die Überlieferungen vieler alter Völker Hunderttausende von Jahren zurückreichen, und jede gibt als immerwährende Quelle der Wahrheit eine archaische ‘Weisheitsreligion’ an, aus der alles menschliche Wissen geschöpft wurde. Sie ist so alt, dass ihr Ursprung nicht festgestellt werden kann, aber ihre Existenz wird durch die periodische Inkarnation von Menschen bestätigt, deren überwältigende spirituelle Größe sie zu den inspirierten Führern fortschrittlicher Zivilisationen machte.

Frage – Aber die Weisheitsreligion wurde in jenen weit zurückliegenden Zeiten sicherlich nicht Theosophie genannt oder?

Stellungnahme – Nein, tatsächlich nicht. Namen sind vollkommen nebensächlich, denn die Wahrheit nimmt alle möglichen Namen an, das hängt von einer Reihe Ursachen ab. Die verschiedenen Völker verlangen eben zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Unterweisungen. Einmal liegt die Betonung auf dem hingebenden oder religiösen Aspekt, wie beim Urchristentum mit einer eindringlichen Forderung nach dem ‘Christus-Bewusstsein’ oder nach der ‘mystischen Vereinigung’ mit dem Vater im Innern. Ein andermal wird die philosophische Basis der vielseitigen menschlichen Natur studiert, wie zur Zeit Platos oder wie im alten Indien und im alten Ägypten oder bei anderen Völkern jener Zeit. Dann wiederum haben wir Zeiten, in denen die Wissenschaft mit einer umfassenden Erforschung der Naturgesetze hervortritt. Aber immer – ob allgemein verehrt oder während einer Periode unterirdisch fließend – ist die Wahrheit das Erbe aller, die sich qualifizieren.

Ehe wir den zweiten Teil unserer Definition aufgreifen, möchte ich noch etwas sagen. Vorhin fragte jemand, ob die Theosophie auch ein Lehrsystem enthält. Wenn wir uns an Die Geheimlehre wenden, sehen wir, dass dieses Werk in der Tat eine systematische Darstellung philosophischer Prinzipien enthält, die selbst von der Weisheitslehre des Altertums abgeleitet sind. Diese Prinzipien beschreiben die ‘Entstehung der Welten und des Menschen’ durch viele Runden der Erfahrung. Aber die Autorin war, wie sie wiederholt sagt, selbst nur eine Vermittlerin, sie brachte nichts Neues. Ihre Aufgabe war es, das Scheinwerferlicht des Interesses auf jenen Schatz der ‘Weisheit’ zu lenken, der sich unter dem Gestrüpp mystischer und religiöser Lehren vergangener Zivilisationen verbarg.

Frage – Gründete sie deshalb Die Theosophische Gesellschaft oder hatte sie andere Ziele im Sinn?

Frage – Ich habe es so verstanden, dass sie eine Bruderschaft unter den verschiedenen Rassen herstellen wollte, ich vermute aber, dass die Zeiten dagegen waren.

Stellungnahme – In Angelegenheiten des Geistes können wir Erfolg oder Misserfolg nicht mit gewöhnlichen Maßstäben messen. Trotz der ständigen Gefahr eines Weltkrieges hat die Idee der Bruderschaft im Bewusstsein der Völker überall Fuß gefasst, was an sich ein gewaltiger Fortschritt ist. Der fundamentale Zweck der ursprünglichen Gesellschaft lag zwar in der Verbreitung des alten Wissens über den Aufbau und das Wirken der physischen und göttlichen Natur, ihr Hauptziel war jedoch, jene Männer und Frauen zu einem Kern zu verschmelzen, die bereit waren, sich der Verwirklichung des von Ihnen erwähnten Ideals zu widmen. Und da eine wahre Bruderschaft allgemein sein muss – wobei die oberflächlichen Unterschiede von Hautfarbe, Rasse und Glaube keine Rolle spielen – kann das natürlich nicht ohne Brücken gegenseitigen Verstehens erreicht werden, die zwischen den vielen verschiedenen Völkern aller Kontinente errichtet werden müssen. Deshalb wurde ein vorurteilsfreies Studium der alten und modernen Religionen, Philosophien und Wissenschaften empfohlen und auch eine Erforschung der inneren Konstitution des Menschen, sowie seiner Beziehung zu den höheren und niedrigeren Bewusstseinsbereichen, an denen er teilhat.

Das ist ein sehr umfangreiches Programm, und da die menschliche Natur so ist, wie sie ist, sind die ursprünglichen Ziele nicht erreicht worden. Dennoch wurde wieder einmal die Fackel hochgehalten. Es kann Jahrhunderte dauern, bis eine erleuchtete Bruderschaft der Völker Wirklichkeit wird, dennoch kann ein Fortschritt deutlich gesehen werden in der allgemein zunehmenden Erkenntnis, dass nicht nur alle Menschen Brüder sind, sondern dass auch jede religiöse Wahrheit (nicht jedes Dogma) aus einer unvergänglichen Quelle gespeist wird.

Nun wollen wir sorgfältig die zweite Definition Websters betrachten. Sie ist zunächst insofern irreführend, als die moderne Theosophie, wie sie von H. P. Blavatsky verkündet wurde, sich nicht ausschließlich mit ‘buddhistischen und brahmanischen Theorien’ befasst. Selbst eine oberflächliche Prüfung ihrer Schriften zeigt, dass sie die heiligen Überlieferungen und Schriften aller Länder benützte, um ihren Ursprung aus der Einen Unvergänglichen Weisheit zu illustrieren. Die Sagen und Mythen der skandinavischen Eddas, die jüdische Theosophie der Kabbalah, die Lehren und Vorschriften des Pythagoras und Plato, des Ammonios Sakkas und der Neuplatoniker, wie auch die Schriften des Laotse und Konfuzius in China werden zusammen mit dem Christentum, dem Buddhismus, der Philosophie der Upanishaden und der Bhagavad-Gītā diskutiert.

Frage – Wie erklären Sie sich die Verwendung so vieler orientalischer Ausdrücke in ihren Büchern? Mir scheint, diese Gedanken hätten auch einfacher ausgedrückt werden können. Aber schon während ich das sage, frage ich mich, welches Wort zum Beispiel für Karma verwendet werden könnte!

Stellungnahme – Das ist der springende Punkt. Manche Autoren späterer Zeit haben vielleicht die ungewohnte Terminologie zu weitgehend angewandt, die vielleicht nur nötig ist, wenn man eine technische Abhandlung schreibt, aber für eine einführende Literatur nicht notwendig erscheint. Es gibt aber Fälle, in denen die Anwendung der technischen Sprache unumgänglich ist. So werden zum Beispiel in allen Wissenschaftszweigen Hunderte von technischen Ausdrücke benutzt, die ihren Spezialisten sofort Aufschluss geben, dem Laien aber sehr wenig bedeuten.

Sie erwähnten Karma. Als H. P. Blavatsky ihre Bücher schrieb, gab es weder im Englischen noch in einer anderen modernen europäischen Sprache ein Wort, das die Bedeutung, die in diesem einen Sanskritausdruck enthalten ist, vermitteln konnten (und das gilt auch heute noch). Als man das Wort Karma mit seinen philosophischen Folgerungen im Westen einführte, wurde es so unentbehrlich, dass es bald ebenso in unserer Sprache Einzug hielt, wie in gleicher Weise Tausende andere fremde Ausdrücke. Wir könnten nun sagen, Karma bedeute genau das, was Paulus meinte, als er an die Galater schrieb, dass Gott seiner nicht spotten lässt und dass der Mensch das ernten wird, was er sät. Aber Sie sehen, wie viele Worte wir gebraucht haben, wo das eine Wort Karma, wenn es richtig verstanden wird, das alles und noch mehr ausdrückt.

Frage – Ich sehe wohl, dass einige dieser Ausdrücke sehr nützlich sind. Aber was meint Webster, wenn er sagt, die moderne Theosophie lehrte eine Art ‘pantheistischer Evolution’?

Frage – Wenn man sagt, jemand sei ein Pantheist, dann bedeutet das doch, dass er viele Götter anbetet und nicht nur an ein Höchstes Wesen glaubt?

Stellungnahme –Das ist zwar eine Erklärung, jedoch keine besonders gute, da sie nicht besagt, was der Ausdruck wirklich beinhaltet. Unglücklicherweise sind wir im Westen gewohnt, jeden Begriff geringschätzig zu betrachten, der nicht gleich zu unseren eigenen Vorstellungen passt. Das Wort selbst stammt ebenfalls aus dem Griechischen – pan + theos oder ‘alles göttlich’ – und bedeutete ursprünglich, dass alles der Gottheit entstammt. Wir haben indessen seit so vielen Jahrhunderten Gott außerhalb von uns abgesondert begriffen, dass von jeder Anschauung, die in der Gottheit die Quelle aller Wesen und Dinge sieht, gesagt wird, sie ‘rieche nach Pantheismus’. Daher wird sie mit Missfallen betrachtet, weil fälschlicherweise angenommen wird, es bedeute, alles sei Gott – welch eine Lästerung, einen Stein oder ein Pferd oder selbst einen Menschen als Gott anzusehen!

Wenn wir uns aber unter ‘pantheistischer Evolution’ eine Evolution vorstellen, die auf der Voraussetzung beruht, dass jeder Punkt im Raum – wozu alles gehört, vom Atom zum Stern, was unser Sonnensystem und die Myriaden Sonnensysteme, welche die Milchstraße und den weiteren Raum bilden, bevölkert – ein Ausdruck der Gottheit ist, weil ja in allem ein Aspekt der Gottheit wohnt, dann hat die Theosophie, wie ich sie verstehe, diese Art ‘Pantheismus’ all die Jahrhunderte hindurch vertreten. Dazu gehörte natürlich die zusätzliche Idee, dass sich alle derartigen Lebewesen beständig wieder erneuern, ganz gleich, welchen evolutionären Status sie einnehmen – indem sie einen Träger oder Körper nach dem anderen benutzen, damit der innere Gottesfunke, der seine Reihe von Körpern belebt, durch diese Erfahrung wachsen, sich entwickeln und Fortschritte machen kann. Im Menschenreich wird diese Art zyklischer Wiederkehr Reinkarnation genannt, womit gesagt wird, dass die menschliche Seele in einen menschlichen Körper eintritt und ihn beseelt.

Frage – Ich freue mich sehr, dass Sie das sagen, denn das Reinkarnationsthema sprach mich in den Büchern, die ich las, am meisten an. Das mag daher kommen, dass ich schon von Kindheit an davon überzeugt bin, seit ein sehr guter Freund meines Vaters – ein Geistlicher übrigens – mir davon erzählte. Ich war sieben oder acht Jahre alt und eines sonntags nahm er mich nach dem Mittagessen zu einem Spaziergang am Fluss mit. Es war Herbst und die Bäume leuchteten in flammendem Gold. Er hatte den Wunsch, ich möge mich immer daran erinnern, wie schön die Bäume gerade dann sind, ehe sie zu sterben scheinen; nur dass sie nicht wirklich sterben, sondern nur für eine Weile ihre Blätter verlieren, damit sie ausruhen und im Frühling neue treiben können. Vielleicht hätte er keinen so tiefen Eindruck auf mich gemacht, wäre er nicht einige Wochen später plötzlich gestorben. Eine Zeitlang war ich tief bekümmert und dann erschienen mir seine Worte wie ein wunderbarer Trost. Seitdem fühle ich immer mehr die Gewissheit in mir wachsen, dass der Liebe und der Sympathie und all jenen ungreifbaren Dingen, die einen so wesentlichen Teil des menschlichen Lebens bilden, durch den Tod kein Ende gesetzt werden kann.

Stellungnahme – Ich habe schon lange das Gefühl, dass diese Lehre von der Wiedergeburt der Seele einen mächtigen Einfluss auf die westliche Psychologie und damit auf die Verhältnisse in der Welt ausüben würde, wenn man sie wieder in die christliche Lehre einfügt, in der sie einst enthalten war. Würde die Reinkarnation in positiver Weise mit ihrer Zwillingslehre von Karma verbunden, würden die Männer und Frauen allerorts begreifen, dass sie im innersten Wesen Götter sind, deren zukünftiges Schicksal in ihrer Hand liegt und deshalb voll glänzender Verheißung ist, weil nichts unerreichbar sein wird.

Es könnte sein, dass diese archaischen Wahrheiten in diesem zwanzigsten Jahrhundert eine neue Gelegenheit erhalten, sich über die Buchstabengläubigen und Verbreiter von Gerüchten hinwegzusetzen. Man könnte diese Wahrheiten als die esoterische Philosophie der Vergangenheit bezeichnen, aber sie ist weit mehr als das. Sie ist für den Menschen die göttliche Inspiration, seit er einst Mensch wurde, die Inspiration, die immer noch schlummernd in der Brust jedes Menschen liegt. Darauf bezog sich der Meister Jesus, als er sagte: „Noch ehe Abraham wurde, bin ich“ (Johannes 8, 58); und das hatte auch der Psalmist im Sinn, als er sang: „Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht … Du bist bei mir“ (Psalm 23, 4).

Der Mensch wird überleben

Ein Freund schilderte in einem Brief, er habe den Eindruck, es entfalte sich irgendein tieferer Sinn, irgendeine undefinierbare, jedoch klar empfundene Herausforderung, als ob nicht nur einzelne Menschen hier und dort, sondern die Menschheit im Allgemeinen aufgefordert wäre, über das hinaus, was wir bis jetzt erreicht haben, viel mehr zu sein und zu wirken. Er sagte, er habe unter seinen Geschäftskollegen eine wachsende Auflehnung gegen die alte Art des harten Materialismus bemerkt und ein bestimmtes, obgleich vielleicht unbewusstes Hinausgreifen nach etwas, das weit über dem liegt, was bisher begriffen wurde. Aber, so fügte er hinzu, trotzdem viele optimistisch sind und glauben, dass Anstand und Recht am Ende siegen würden, ist ein Großteil Furcht und Verwirrung vorhanden, und die Menschen fragten sich, wie sie sich auf die Dinge vorbereiten sollen, die ihrem Gefühl nach im Entstehen sind.

Es ist uns bestimmt nicht gegeben genau zu wissen, was vor uns liegt. Die Fähigkeit, die Zukunft im Detail voraussehen zu können, würde in der Tat für jeden eine gefährliche Situation schaffen. Der Grund für diesen Schutz ist offensichtlich, denn wenn jemand glaubt, er wisse genau, was geschehen wird, würde er sich äußerlich oder objektiv sofort darauf vorbereiten; und durch diese Bemühung würde er innerlich genau das Gegenteil erreichen. Stets würde er imaginäre Möglichkeiten ersinnen, wodurch unnötige Hindernisse für die natürliche intuitive Führung geschaffen würden, die ihm sonst zukommen und helfen würden, jedes Ereignis dann zu verarbeiten, wenn es eintritt, und nicht vorher.

Wie kann man sich also auf die Zukunft vorbereiten? Wir können uns nicht auf irgendein Ereignis vorbereiten, weil wir nicht wissen, was morgen, übermorgen oder heute in einem Jahr geschehen wird. Wenn wir aber unser Leben auf der soliden Grundlage der Lebensgesetze errichten – ganz gleich, welche religiösen oder philosophischen Ansichten wir haben mögen – und wenn wir uns bemühen, auf der Grundlage unseres spirituellen Erbes zu leben, wird es keine Rolle spielen, welcher Art von Erfahrung wir oder die Völker der Erde begegnen müssen. Unser Bewusstsein wird automatisch mit genau der Qualität des Denkens und Handelns reagieren, die für jede mögliche Eventualität, welche die Zukunft bringen mag, erforderlich ist.

Mehr noch, während allen Zyklen der menschlichen Entwicklung lebten in jeder Zeit – und leben auch heute – unbekannt und nicht öffentlich genannte Menschen, die einen stillen und mächtigen Einfluss auf die Geschicke ihrer jeweiligen Nationen ausüben. Ihre Arbeit geschieht nicht in der Hoffnung auf Anerkennung und persönlichen Gewinn, sondern einzig dafür, dass Gerechtigkeit und Freiheit schließlich obsiegen werden. Selten, wenn überhaupt hören wir von ihnen; und ihnen kann man auch jene Menschen hinzurechnen, die große und wichtige Aufgaben ausführen ohne zu ahnen, wem und welchem guten Zweck sie dienen. Aber ist das nicht eine der Methoden, wie die Hüter der Menschheit neue ‘Arbeiter im Weinberg’ finden, aufnehmen und ausbilden?

Jene großen Seelen, welche die Verantwortung für die Erleuchtung des Menschen und für seine Sicherheit in die Zukunft hineintragen, sind heute mit ihrer Unterstützung bestimmt genauso aktiv wie eh und je. Könnten wir von ihrer Vision so viel erhaschen, dass wir wenigstens etwas von der inneren Tragweite ihres Wirkens begriffen, würden wir wissen, dass ihr Wirken alle Erfahrungsgebiete einschließt. Wir können zwar die speziellen Aktivitäten dieser stillen Wohltäter nicht definieren, dennoch können wir den Einfluss auf das Denken in aller Welt bemerken. Bücher, Zeitschriften und selbst die Tagespresse zeigen eine wachsende Neigung zu einer freieren und deutlicheren Darstellung dieser innewohnenden Ideen, die der Brunnquell und Ursprung des Weltschatzes der Weisheit sind. Jetzt kommen diese Ideen wieder einmal zur Geltung; aber nicht ohne Kampf, denn je stärker der Freiheitsdrang ist, desto stärker arbeiten die opponierenden Kräfte. Doch beweist gerade die Intensität der Opposition seitens derjenigen, die den menschlichen Geist in Ketten halten und in eine vorgezeichnete Denk- und Strebensweise kanalisieren wollen, die zunehmende Stärke jener, die für den Fortschritt der menschlichen Rasse wirken. Während sich die vor fast einem Jahrhundert ausgesprochene Prophezeiung vor unseren Augen auf der Weltbühne abspielt, geht im Schmelztiegel des menschlichen Bewusstseins eine mächtige Alchimie vor sich:

Plato hatte recht: Ideen regieren die Welt; und in dem Maß, in dem das Denken der Menschen neue Ideen aufnehmen und die alten und verbrauchten beiseite legen wird, wird die Welt fortschreiten; mächtige Revolutionen werden aus ihnen entspringen; Glaubensbekenntnisse und selbst Mächte werden unter ihrem Vormarsch zerfallen, zermalmt von ihrer unwiderstehlichen Kraft. Es wird ebenso unmöglich sein, ihrem Einfluss zu widerstehen, wenn die Zeit gekommen ist, wie das Vorrücken der Flut zurückzuhalten. Aber all das wird allmählich vor sich gehen, und bevor es geschieht, haben wir eine Pflicht zu erfüllen, die uns auferlegt ist – nämlich die, so viel wie möglich den Unrat wegzufegen, den unsere frommen Vorväter hinterlassen haben. Neue Ideen müssen auf reinen Boden gepflanzt werden, denn diese Ideen berühren die folgenschwersten Gebiete. Nicht die physikalischen Erscheinungen sind das, was wir studieren, sondern diese universalen Ideen, denn um die ersteren zu begreifen, müssen wir zuerst die letzteren verstehen. Sie berühren die wahre Stellung des Menschen im Universum in Beziehung zu seinen vergangenen und zukünftigen Geburten, seinen Ursprung und sein letztes Ziel, die Beziehung des Sterblichen zum Unsterblichen, des Zeitlichen zum Ewigen, des Endlichen zum Unendlichen; weitere, erhabenere, umfassendere Vorstellungen, welche die universale Herrschaft eines unveränderlichen Gesetzes anerkennen, das sich niemals wandelt und das nicht verändert werden kann, und in Beziehung zu dem es nur ein EWIGES JETZT gibt, während für die uneingeweihten Sterblichen die Zeit Vergangenheit oder Zukunft ist, bezogen auf ihr begrenztes Dasein auf diesem materiellen Fleckchen Leben.

Die Mahatma-Briefe, Band 1, S. 119-20

Das Ganze ist durchdrungen von der inbrünstigen Hoffnung, dass eines Tages eine echte ‘Universale Bruderschaft’ die ganze Menschheit umfassen wird.

Wer sich zu dem aufrichtigen Wunsch bekennt, seinen Heller zur Besserung des Menschen beizutragen, sollte sich fragen: Sind wir lediglich an dem Licht interessiert, das diese großen Ideen auf unsere eigene begrenzte Umgebung werfen, oder fühlen wir uns gedrängt, so zu leben und zu wirken, dass die Sonne der Wahrheit überall in die Seelen der Menschen scheint?

Das Denken vieler Menschen – von Geistlichen und Wissenschaftlern, Erziehern und Schriftstellern, Geschäftsleuten und Hausfrauen – richtet sich heute nach diesen weiten und unbegrenzten Linien und sie versuchen, die verstreuten Hinweise, die jahrhundertelang vom Staub des Buchstabendenkens bedeckt waren, miteinander zu verbinden. Wenige von uns mögen ‘die wahre Stellung des Menschen im Universum’ verstehen und unsere Beziehung zu den ‘früheren und künftigen Geburten’; sobald aber die Stärke unseres Geistes beständig festeren Fuß fasst, werden wir alle die Richtigkeit unseres Ursprungs im Göttlichen erkennen und die Herausforderung annehmen, schließlich über die Last der materiellen Existenz zu triumphieren. Wenn sich auch nur eine Handvoll Männer und Frauen in allen Teilen der Welt, gleich welcher oder keiner Weltanschauung, völlig von dem versklavenden Einfluss des ‘Alten und Abgenützten’ befreien würde, ließe sich nicht voraussehen, welch ungeheuere Wirkungen das auf die zukünftigen Generationen hätte.

Die befreiende Gewalt dieser kosmischen Ideen gewinnt an Schwungkraft. Wann und wo sie ihren Höhepunkt erreichen wird, kann niemand sagen. Wenn meine Vermutung jedoch zutrifft, wird ihre Ausdruckskraft alles übersteigen, was sich in der Geschichte der Zivilisation ereignet hat. Sie wird nicht mit Worten oder Posaunen verkündet werden, die Sprache der Seele benötigt keine Worte oder lautstarken Symbole. Aber wir können sicher sein, dass in allen Gesellschaftsschichten eine vollkommen neue Lebensanschauung ins Dasein treten wird, wenn der innere Ruf der Menschheit weiterhin seine Intensität verstärkt.

Sie werden sagen, das klingt alles schön, aber wie können wir damit hier und jetzt unsere Probleme lösen? Wir fühlen uns vielleicht nicht so verwirrt, wenn wir erkennen können, dass der Mensch keine isolierte Spezies ist, sondern ein Bestandteil des kosmischen Entwicklungsplans, an dem das gesamte Universum teilnimmt. Wenn uns die Astronomen erzählen, dass unser eigenes Sonnensystem im Weltraum eines von Billionen ist und dass unter den zahllosen Milliarden von Planetensystemen, die ihre eigenen zentralen Sonnen umkreisen, unzählige sehr wohl ‘Lebensträger’ sein können, dann treffen sie den innersten Kern des Wachstumsmysteriums. Das heißt, dass die Bewohner jener Sterne und Planeten, ebenso wie wir Menschen, in ihrem Innersten Götter sein müssen, die sich in Tempeln aus Materie ansiedeln!

Könnten wir den Fluss der Geschichte von den frühesten Anfängen der Evolution eines Universums an verfolgen, worin der Ursprung des Menschen wie auch der aller Reiche unter und über ihm eingeschlossen ist, dann könnten wir die Beseelung der vielfältigen Formen durch die Gottheit und das gleichzeitige Erwachen der materiellen Naturaspekte beobachten und sehen, wie der Lebensfunke Träger um Träger aufsucht, in welchem er sich verkörpern kann. Einfach ausgedrückt, der Geist durchdringt die Materie, indem er zunehmend in Körper involviert, bis er den dichtesten Punkt seines Zyklus erreicht hat; dann schwingt das Pendel aufwärts und der Geist taucht wieder auf, wodurch das Materielle seine Vorherrschaft wieder verliert.

Das ist natürlich ein sehr weit ausladendes Bild, aber es ist bedeutsam, dass die gleiche ‘Idee’ in jeder alten Tradition zu finden ist. Dafür muss es praktische Gründe geben, denn je mehr wir über die zugrunde liegende Philosophie nachdenken, desto größer erscheint die Tragweite, die sie für unsere persönliche Entwicklung hat.

Wir wollen uns einmal einen Augenblick lang nicht als Menschen sehen, sondern als göttliche Wesen – Gottesfunken –, die seit dem Urbeginn der Dämmerung der ‘Schöpfung’ auf dem Weg ihrer langen Pilgerfahrt durch die materielle Existenz stetig vorangeschritten sind, bis wir den entscheidenden Punkt erreichten, wo der Mensch, wie wir ihn heute kennen, ins Dasein treten musste. Es stimmt, wir setzen uns aus Materie und Geist zusammen, aus göttlichem Funken und Körper. Aber bis dahin hatten wir noch kein Selbstbewusstsein. Wir sehen hier den Geist in einer einzigartigen Weise mit der Materie verschmelzen, um ein drittes Element hervorzubringen: das Feuer des Denkvermögens. Aus Kind-Menschen, die nur in einem Garten Eden existierten, wurden wir selbstbewusste, ‘lebendige Seelen’, unterschieden Gut und Böse und erkannten innerlich, dass wir fortan die Mühsal einer selbstauferlegten Disziplin auf uns nehmen müssen, da wir uns die Anwartschaft zur Göttlichkeit verdient hatten. Das ist unser heutiger Standort: Als Produkt von Geist und Materie sind wir in der Tat essenziell Götter, aber was unsere gegenwärtigen Evolution betrifft, sind wir noch in unserer menschlichen Phase!

Wir können daraus ersehen, dass die Wahrheiten, die uns am Beginn unseres gegenwärtigen Rassenzyklus gegeben wurden, so vernünftig und ermutigend sind, wie sie von jeher waren, und sie werden gültig bleiben, bis wir eine höhere Wachstumsebene erarbeitet haben. Da es so ist, geziemt es uns zu lernen, wie diese Wahrheiten aussehen und wie wir sie für unser Leben verwenden können. Sie sind die Grundlage der alten Philosophien Indiens, Griechenlands und Persiens, Ägyptens und Chinas, der nordischen und germanischen Traditionen und die der beiden Teile des alten Amerikas und sie sind auch gewiss der Kern und die Essenz der Lehren des Meisters Jesus. Sobald wir ihren praktischen spirituellen Wert einmal erfahren, brauchen wir nicht gehirnmäßig zu verstehen, was nach der nächsten Biegung kommt. Wir werden innerlich vorbereitet sein, jede Situation zu meistern.

Die Welt bewegt sich so ungestüm und die Psychologien und mentalen Vorstellungen wechseln mit solcher Schnelligkeit, dass man nur schwer sein Gleichgewicht bewahren kann. Aber genau das müssen wir tun. Und wenn es die Zeiten fordern, dass die Menschheit insgesamt einen weiteren Schritt nach vorn tun und über allem sein muss, was wir je gewesen sind, warum sollten dann Sie und ich davon ausgeschlossen sein? Keiner von uns lebt getrennt und losgelöst vom Karma der Rasse. Wir sind alle innig verbundene Teile der kämpfenden menschlichen Lebenswoge, und so, wie wir den Stürmen unserer eigenen Persönlichkeit trotzen und unseren individuellen Sorgen und Prüfungen mit Mut begegnen, so werden wir das Gedankenklima der Welt zum Guten beeinflussen.

Es ist paradox, dass gerade der Druck der weltweiten Spannungen uns das Rüstzeug gibt, das für den Fortschritt notwendig ist – die Gelegenheit zur Entwicklung einer höheren Qualität spirituellen Selbstvertrauens. Deshalb darf zwischen dem Willen zum Wachstum und dem inneren Gottesfunken eines Menschen kein Vermittler stehen. Kein Priester, kein Freund, nicht einmal ein Ideal, wie edel es auch ist, darf zwischen uns und unserem Gott stehen, denn alles, an das wir uns selbstisch klammern, blockiert die natürliche Führung von innen. Wir können nur unter vollem Einsatz unseres Verständnisses jene universalen spirituellen Prinzipien, die der Prüfung der Zeit standgehalten haben, in unserem Leben verwirklichen; aber wir können einem anderen nicht sagen, wie er diese aufgespeicherte Weisheit auf sein eigenes Leben anwenden kann. Denn wer sind wir, dass wir sagen können, unsere Vorstellung vom Guten und Selbstlosen ist für einen anderen zutreffend? Nur er allein kann das beurteilen. Darum ist die Entwicklung in erster Linie eine individuelle Angelegenheit – ein ewiges Fortschreiten der Seele, während sie vom Kleinen zum Größeren, vom Egozentrischen zum Selbstlosen, aus der Finsternis zum Licht wandert.

Keiner darf zurück oder seitwärts oder in eine andere Richtung blicken außer nach vorn. Wenn wir es selbst für den kleinsten Augenblick nicht zulassen, dass unsere Aufmerksamkeit und unser Interesse von dem direkten Weg, den unser unsterbliches Selbst uns vorgezeichnet hat, abgelenkt werden – was in einfachen Worten bedeutet: Wir müssen an dem festhalten, von dem wir innerlich erkennen, dass es gerecht und wahr und mehr für das Wohl aller als nur zu unserem eigenen Nutzen ist – dann gehen wir auch nicht das Risiko ein, dass sich unsere Ideale, unsere Ergebenheit und selbst unsere Liebe für das Höchste, dem wir dienen wollen, zu Salz verwandeln. Wie der Meister Jesus seinen Jüngern erklärte: „Denkt an die Frau des Lot! Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren; wer es dagegen verliert, wird es gewinnen“ (Lukas 17, 32-3).

Die gegenwärtige Verwechslung der Ideale hat uns an einen gefährlichen Übergang gebracht – und ich beziehe mich nicht auf die Gefahren von Geschossen und Raketen, Satelliten oder Bomben. Sie sind nur Symptome, und zwar alarmierende Symptome in den Händen der absichtlich Destruktiven; aber sie sind nur Symptome, die nicht den Menschen ausmachen. Sollte die vielbefürchtete Vernichtung der Zivilisation eintreten – ein Geschehen, dessen Eintritt ich sehr bezweifle –, werden wir uns auf die einfache, jedoch allumfassende Wahrheit verlassen müssen, dass man zwar den Körper nicht aber das Leben zerstören kann. Der Mensch wird überleben; er wird jede große Umwälzung, die vor uns liegen mag, auf sich nehmen und überwinden, komme sie durch Flut, Feuer, aus dem Weltraum – oder durch uns selbst!

Nationen und Rassen sind als solche immer wieder aus dem Dasein verschwunden, aber die Egos, die sie einst bewohnten, inkarnierten neu, in anderen Ländern und in anderen Rassenzweigen. Wenn wir das größere Bild soweit wie menschenmöglich erfassen können, wird das zwar die Gefahren nicht beseitigen, aber es wird uns helfen, allem, was auch kommen mag, mit Stärke zu begegnen.

Lassen sie uns deshalb Mut fassen und in jedem Land jenen weitsichtigen und starken Menschen beistehen, die still daran arbeiten, dass sich die Räder des Fortschritts vorwärtsbewegen.

Fußnoten

1. Originaltitel: The Secret Doctrine, übersetzt von Robert Froebe unter dem Titel Die Geheimlehre (Verlag von Wilhelm Friedrich, Leipzig). [back]