Bewusstsein ohne Grenzen
James A. Long
Die Brücke der Verständigung
Bei der Darstellung der uralten kosmologischen Lehren und Menschheitsgesetze sollten wir uns bewusst sein, dass keiner der Weltlehrer die Gründung einer großen und mächtigen Organisation beabsichtigte. Die von ihnen dargebotenen Lehren stammten frisch aus der Quelle – und was aus dieser Quelle stammt, unterstützt die selbstlose Entwicklung. Sie boten keine vorgeschriebene Reihe von Dogmen an, sondern eine lebendige Lebensphilosophie für den einfachen Menschen zum Gebrauch im Alltag. Im Laufe von Jahrhunderten gerieten dann viele der grundlegenden Schlüssel in Vergessenheit, wenn sie nicht ganz verloren gingen. Wenn wir unvoreingenommen sind, können wir trotz alledem erkennen, dass die Schlüssel zu diesen universalen Lehren vorhanden sind – in den christlichen Schriften genauso wie in allen heiligen Büchern. Während die meisten Dogmen, die in den Tempeln und Kirchen gelehrt werden, von den Gläubigen buchstäblich aufgefasst werden, finden wir andererseits viele Menschen, die hinter den äußeren Formen suchen und nach dem Kern der ursprünglichen Wahrheit forschen.
Darum ist es so wichtig, ein vernünftiges vergleichendes Religionsstudium zu betreiben – nicht nur als intellektuelle Betätigung, sondern hauptsächlich zur Errichtung einer Brücke der Verständigung zwischen den Menschen aller religiösen Anschauungen. In verschiedenen Ländern bemüht man sich heute sehr um wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit und in gewissem Ausmaß auch um eine Erkenntnis der spirituellen Grundlagen. Wir können jedoch die Kluft erst dann überbrücken, wenn wir erkennen, dass unser Bruder, ungeachtet seiner Hautfarbe oder seiner Rasse oder seines Geburtslandes, den gleichen Anspruch auf Wahrheit hat wie wir und dass seine Religion im Kern genauso umfassend und universal sein kann wie unsere eigene.
Unser Interesse muss beim einzelnen Menschen einsetzen: Wir müssen ihm so zu helfen versuchen, dass er sich selbst helfen kann. Um die durch ein fremdes Bewusstsein zum Ausdruck kommenden Qualitäten erkennen zu können, müssen wir alle das Unterscheidungsvermögen entwickeln. Wenn wir die Grundlage seines Glaubens verstehen, können wir in seiner eigenen Sprache mit ihm sprechen. Das schafft sofort eine Brücke der Verständigung zwischen seinem und unserem Herzen. Mit dem Verstehen geht das Vertrauen einher, und sobald einmal gegenseitiges Vertrauen herrscht, entsteht daraus Zuversicht. Und mit dieser Zuversicht wird die Lösung unserer schwierigsten Probleme leicht gemacht.
Das geschieht nicht über Nacht. Der eine mag im kirchlichen Gottesdienst echte Erbauung gewinnen, der andere nicht. Ob wir jedoch in die Kirche gehen oder nicht, ob wir Christen, Buddhisten oder Islamisten sind oder ob wir uns eine eigene Lebensphilosophie geschaffen haben, die Tatsache bleibt, dass die Wahrheit zu finden ist. Je mehr wir die alten Religionen studieren und über sie nachdenken, desto mehr erweitern wir unser Bewusstsein und finden in ihnen die gleichen grundlegenden Wahrheiten, weil alle, wie gesagt, aus einer Quelle hervorgegangen sind und jede sowohl ihren esoterischen wie auch ihren exoterischen Hintergrund besitzt.
Wenn wir von der Kirche oder einer anderen spirituell-religiösen Bemühung sprechen, müssen wir sorgfältig zwischen der Institution und ihren Mitgliedern unterscheiden. Ungeachtet ihres Glaubens sind die meisten Menschen aufrichtig und ernsthaft; Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit allein machen aber eine Sache noch nicht spirituell. Man kann innerlich hundertprozentig voller Hingabe und Aufrichtigkeit sein und sich trotzdem auf einer falschen Spur befinden. Die Inquisition in der Geschichte Europas ist ein Zeugnis, wie Ergebenheit und Rechtschaffenheit als Fanatismus und Intrige erniedrigt wurden.
Was bildet also bei den spirituellen Fragen den gemeinsamen Nenner? Gewiss nicht die äußeren Formen, die Glaubensbekenntnisse oder Dogmen, die das Denken der Menschheit wie mit Flechten überwucherten. Ist dieser gemeinsame Nenner nicht vielmehr der Glaube in irgendeiner Form an Gott oder an eine göttliche Macht, der der Ursprung unseres Universums und all seiner Lebewesen ist? Ob wir Christus, Buddha oder Allah, Brahmā, Vishṇu oder Śiva, Tao, Elohim oder Jehova verehren – instinktiv erkennen wir die Gottheit als unseren Brunnquell und Ursprung und voller Hoffnung als unser höchstes Ziel.
Wenn wir uns das Wesen der Gottheit vorzustellen versuchen, dieser gewaltigen Gottheit, die nicht nur dieses Sonnensystem, sondern auch alle anderen Sonnenwelten durchdringt, die nach Aussage unserer Astronomen in unserem eigenen Milchstraßensystem und in den Millionen Milchstraßen vorhanden sind, dann ahnen wir, was dieser Begriff Gott bedeutet, wie undefinierbar und unbegrenzt er ist.
Bestimmt wohnt Gott im Herzen jedes Menschen. Zwar sind wir nicht Gott, aber in den allertiefsten Teilen der menschlichen Seele, die weit über den physischen Körper hinausreichen, lebt ein Gottesfunke, wie man sagen kann, ein Funke jener Gottheit, die den Kosmos regiert. Das uneingeschränkte Ziel der Evolution ist die Entfaltung dieses Gottesfunkens, damit er im natürlichen Verlauf von Zeit und Erfahrung unser gesamtes Wesen beeinflusst und verwandelt. „Suchet, dann werdet ihr finden; klopft an, dann wird euch geöffnet“ (Matthäus 7, 7). Es gibt auf dieser Erde keinen Menschen, der nicht die Antwort auf das Rätsel des Lebens finden könnte, wenn er es ernsthaft wünscht. Keiner kann das für einen anderen tun. Jeder echte Schritt vorwärts für die Menschheit muss bei uns selbst anfangen, an dem Punkt, an dem wir gerade stehen. Wir müssen nicht warten, bis wir vollkommen geworden sind, denn wir können unschwer erkennen, wo wir an uns selbst arbeiten müssen und wo wir eine natürliche Gelegenheit haben, anderen zu helfen. Wenn einer in seinem Innern Kraft und Führung sucht, werden sehr gute Früchte daraus entstehen.
Sobald wir erst erkannt haben, dass der Gottesbegriff jedes Menschen verschieden, das Wesen der Gottheit jedoch gleich ist und dass die göttliche Essenz im innersten Zentrum aller Lebewesen residiert, haben wir das Fundament gelegt, auf dem die Brücke der Bruderschaft errichtet werden kann, über die der Mensch aus der Nacht vergangener Zeitalter ins Licht der Zukunft schreiten kann.