Wie die Kinder

In der Heiligen Schrift lesen wir, dass der Meister Jesus sagte: „Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelsreich kommen“ (Matthäus 18, 3). Eine so einfache Bemerkung, dass wir seit vielen Jahren versäumt haben, ihr die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.

Zu wem sprach er? Zu kleinen Kindern? Zu Buben und Mädchen? Keineswegs. Er sprach zu Erwachsenen, zu Menschen, die sowohl materielle wie auch spirituelle Probleme hatten und um Hilfe zu dem Meister gekommen waren. Er kannte ihre Kämpfe und er sah in ihren Gesichtern dasselbe, was heute jeder überall in den Gesichtern der Männer und Frauen lesen kann.

In kritischen Zeiten werden wir von der Strömung des Augenblicks so erfasst, dass wir die Tatsache übersehen, dass die augenblickliche Situation lediglich ein Glied in einer langen Situationskette ist, der Höhepunkt einer Jahre oder vielleicht Lebenszeiten dauernden Entwicklung. Weil wir das nicht beachten, gerät uns die Perspektive und der Wert dieser vergangenen Erfahrungen aus den Augen, die uns, wenn sie uns bewusst wären, bei der Lösung unseres Dilemmas helfen würden. Derart durch Verwirrung geblendet, fühlen wir uns betrogen – nicht nur von anderen, sondern auch vom Leben selbst. Infolgedessen beschuldigen wir alle anderen – unsere Nächsten, unsere Geschäftskollegen, vielleicht sogar unsere Familienangehörigen und nahen Freunde oder die Regierung, die Welt, alle – nur nicht uns selbst. Das muss Jesus in den Augen jener gelesen haben, zu denen er diese Worte sprach. Wie verdunkelt war ihr Bewusstsein, wieviele dichte Schleier hatten sie entstehen lassen zwischen der augenblicklichen Verfassung, in welcher der Meister sie sah, und ihrer Kindheitsverfassung.

Wir haben uns alle unser Leben über Gebühr erschwert. Seit Jahrtausenden haben wir uns mit unserer Gelehrsamkeit, mit unserer Bildung und mit unserem Wahrheitsverständnis gebrüstet. Und doch haben die Weltlehrer die Menschheit immer wieder daran erinnert, dass die Augen- von der Herzenslehre zu unterscheiden ist (siehe Die Stimme der Stille, S. 41): eine dem Herzen angeborene Gelehrsamkeit, die Intuition, der spirituelle Wille des Menschen, anstelle einer Gelehrsamkeit, die rein intellektuell ist und durch den menschlichen Willen motiviert wird. Können wir nicht begreifen, dass die Lebensrätsel nicht mir reinem Verstand, sondern mit Intuition, nicht mit Sentimentalität, sondern durch Einsicht gelöst werden?

Wer von uns Kinder liebt, staunt über ihre klare Intuition und wundert sich manchmal über ihre scharfe Beobachtungsgabe. Jedermann weiß, dass die von ganz kleinen Kindern gestellten Fragen oft am schwersten zu beantworten sind, weil sie unheimlich direkt den Kern der Hauptprobleme treffen, an denen Philosophen in aller Welt herumrätseln. Und wir werden unsere Kinder nie zufrieden stellen, wenn wir nur Verstand und Gefühl allein anwenden; wie aber funkeln ihre Augen, wenn wir an ihre innewohnende Intuition und Urteilskraft appellieren.

Warum also drängte der Meister seine Anhänger, wie die Kinder zu werden, wollten sie das Himmelreich erlangen? Wollte er von ihnen, dass sie zu kindlichen Streichen zurückkehren und buchstäblich wie Kinder denken und handeln sollten? Bestimmt nicht. Er appellierte an jene Eigenschaft, die einem Kind eigen ist. Sehen wir uns heute selbst an. Was geschah mit uns, als wir aufwuchsen. Wir durchliefen die Schule und wenn wir Glück hatten vielleicht eine Universität. Wir gewannen das Gefühl, eine Menge gelernt zu haben. Was machen wir aber mit den Wissensdaten, die wir in theoretischer oder praktischer, in religiöser oder wissenschaftlicher Hinsicht erwarben. Meistens speichern wir sie nur in unserem Kopf, zur eventuellen späteren Verwendung. Dieser Prozess läuft über Jahre. Und das Ergebnis? Was machen wir, wenn wir in den Strudel der Wechselfälle des Lebens geraten, wenn wir echten Entscheidungen gegenübergestellt werden? In unserem Angstzustand und selbst nach nüchterner Überlegung suchen wir aus unserem mentalen Ablageschrank die Dinge heraus, von denen wir uns die Lösung unserer Probleme versprechen, wobei wir lediglich feststellen, dass sie sie nicht im mindesten lösen, weder zu unserer noch zur Zufriedenheit anderer, die mitbeteiligt sein mögen.

Was jetzt? Hätten wir die aus jeder Erfahrung gewonnene Erkenntnis in unserem Herzen gespeichert, im permanenten Bereich unseres Bewusstseins, würden wir, sobald wir ernsten Problemen gegenüberstehen, entdecken, dass das Herz, wenn es die Führung übernommen hat, uns ganz natürlich zu den richtigen Lösungen führen würde, so dass wir nicht versuchen müssten, mit dem Verstand qualvoll nach Antworten zu suchen. Die Intuition wäre dann unsere Richtschnur und der Verstand ihr gehorsamer Diener, der Ausführende ihrer Direktiven – nicht ihr Meister.

Den Älteren unter uns, die viele und vielleicht auch schwer wiegende Fehler gemacht haben, könnte es äußerst beschwerlich erscheinen, in kurzer Zeit einem Kind gleich zu werden. Das ist aber nicht der Fall. Der Meister Jesus wusste, dass es nicht zu schwer ist, sonst hätte er die Menschen seinerzeit nicht dazu aufgefordert. Und es fällt ganz besonders leicht, wenn ein Mensch erst einmal den Entschluss gefasst hat, sein Leben dem Dienen zu weihen.

Wir wollen uns folgende einfache Frage stellen: Welche Basis im Bewusstsein des Kindes macht seine Intuition und Urteilskraft so wundervoll wirksam? Das Kind kommt frisch von der anderen Seite zu uns. In seinem zarten Alter ist es von der Kenntnis seiner Vergangenheit oder seiner Zukunft nicht beschwert. so dass es ein wahrhaft jungfräuliches Bewusstsein besitzt, mit dem es sich auf die bevorstehenden Erfahrungen vorbereiten kann. Es trat, ‘Wolken der Herrlichkeit mit sich ziehend’ ins Leben, wie Wordsworth so malerisch sagte.

Was bringt das Kind vor allem mit sich? Vertrauen – diese echte Grundlage, auf der das spirituelle Wachstum der Welt errichtet werden muss. Welcher Mensch, der auch nur ein wenig Liebe im Herzen hat, kann nicht das bedingungslose Vertrauen erkennen, das in den Augen des Kindes liegt, das neu in die Welt blickt und zu seinen Eltern aufsieht, an die es sich immer wenden wird? Aber im Laufe des Lebens findet es dann immer weniger und weniger Vertrauen in den Herzen derer, auf die es angewiesen ist. Infolgedessen wird es verwirrt, vielleicht sogar verbittert.

Zu werden wie die Kinder! Es gibt dazu einen einfachen Weg, der durch die ganzen Zeitalter hindurch immer der gleiche gewesen ist: Mensch erkenne dich selbst! Dieses Gebot war den Verehrern im Tempel des Apollon oder jenen, die auf die Orakel des alten Griechenland hörten und an sie glaubten, nicht neu. Das Gebot ist zeitlos und heute genauso wirksam wie damals, als es zuerst ausgesprochen wurde. Der einzige Weg zur Selbsterkenntnis liegt in der Erforschung unseres Bewusstseins. Wenn wir das ehrlich machen, geben wir nicht länger anderen die Schuld an unseren Prüfungen. Aber wir sind von unserem Ablagesystem intellektueller Fakten, auf das wir so stolz sind, so eingenommen, dass wir zu unserem Herzen, wo Intuition und Hilfe wohnen, keinen Zugang finden. Sobald wir uns entschließen, uns selbst gegenüberzutreten und die volle Verantwortung für unsere Verhältnisse zu übernehmen, beugen sich die Götter herab um uns zu helfen – zu unerwarteten Zeiten, durch unerwartete Personen und auf unerwartete Weise. Das ist ein unverletzbares Gesetz, das in der Tat die Grundlage bildet für die berühmte Äußerung des Herkules zu dem Wagenlenker: „Stemme deine Schulter an das Rad; die Götter helfen jenen, die sich selbst helfen.“ Ehe wir nicht wie Kinder werden, werden wir nie jenen Bewusstseinszustand erreichen, in dem wir den vollen Wert und die ganze Hilfe der spirituellen Mächte empfinden, welche die Menschheit beschützen.