Bewusstsein ohne Grenzen
James A. Long
Karma: das Gesetz von Ursache und Wirkung
Frage – Ich möchte gern mehr über Karma erfahren, speziell über die Vorstellung, dass wir für unsere Lebensverhältnisse selbst verantwortlich sind. Können wir darüber diskutieren?
Stellungnahme – Dieses Thema verliert nie an Interesse. Sicher erinnern Sie sich, wie diese Idee im Neuen Testament zum Ausdruck kommt: „Was der Mensch sät, wird er ernten“ (Galater 6, 7). Genau das bedeutet Karma – es ist ein Sanskritwort, das in der hinduistischen und buddhistischen Philosophie verwendet wird zur Bezeichnung einer ‘Aktion’, der die Reaktion folgt. Jede Religion stellt die Lehre der moralischen Verantwortung in den Vordergrund. Die Islamiten nennen den individuellen Anteil oder das Los im menschlichen Leben Kismet. Die alten Griechen hatten ihre Nemesis, die Göttin der vergeltenden Gerechtigkeit; sie personifizierten auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in den drei Moiren oder Spinnerinnen des Schicksals. Die im jüdischen Glauben erzogenen Menschen kennen das mosaische Gebot: „Auge für Auge, Zahn für Zahn“ (Exodus 21, 24). Alles sind verschiedene Bezeichnungen für das universale Gesetz von Harmonie und Gleichgewicht, welches dafür sorgt, dass jede in Gang gesetzte Ursache irgendwann in der Zukunft eine entsprechende Wirkung zeitigt.
Beim Studium Karmas begeistert als Erstes die große Gedankenfülle, die sich in uns ausbreitet, besonders wenn wir Karma gedanklich mit der zugehörigen Zwillingslehre, der Wiederverkörperung, verbinden und auch an die Rolle denken, die wir in dem langen Lebensdrama spielen müssen. Man muss sich aber hüten, nur an sich selbst und an das eigene Karma zu denken; durch diesen Standpunkt verstrickt man sich möglicherweise so sehr in seine persönlichen Probleme, dass man das tägliche Geschehen nicht mehr sinnvoll und vernünftig in das Gesamtgeschehen einordnen kann.
Karma besitzt viele Aspekte: Die Welt, die Völker und Rassen und die Familien und Individuen haben ihr Karma. Wir können sogar vom Karma von Firmen, Gemeinden usw. sprechen. Mit anderen Worten in jedem Lebensbereich, von individuellen bis zu den internationalen, denken und handeln die Menschen und setzen dadurch bestimmte Ursachen in Bewegung, die notwendigerweise ihre entsprechenden Wirkungen nach sich ziehen müssen. Daher sind die Verzweigungen von Aktionen und Reaktionen endlos.
Frage – Wie hat eigentlich alles angefangen?
Stellungnahme – Will man Karma und seine Beziehung zur Gegenwart besser verstehen, muss man sich in die Zeit des Garten Eden zurückversetzen. Es wurde berichtet, der Mensch sei von dem Tag an, als er die Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse kostete, zu einem mit Selbstbewusstsein begabten Teil der Menschheitsfamilie geworden, moralisch für jeden seiner Gedanken und jede Handlung verantwortlich. Unter dieser Voraussetzung sind wir seit jenem Zeitpunkt für die Gestaltung unseres Charakters und für die Formung unseres Schicksals verantwortlich. Das göttliche Gesetz der Saat und Ernte bewirkte, dass wir uns exakt unsere heutigen Lebensverhältnisse schufen – gleich welcher Art.
Es ist jedoch bedauerlich, dass wir im Westen geschult werden, die Tätigkeit dieses Gesetzes mit inneren Furchtvorstellungen zu verbinden: „Wenn du nicht recht lebst, wird dich die Strafe Gottes treffen; wenn du falsch handelst, kommst du nicht in den Himmel.“ Man kann sich nur schwer einen Gott vorstellen, der jeden einzelnen Menschen beobachtet, bereit ihn zu bestrafen, sollte er irren, oder ihn mit speziell ausgedachten Erweisungen seiner Gunst zu belohnen, wenn er gut ist. Der Mensch mag zwar ‘furchtsam und wunderbar gemacht sein’, daraus folgt aber nicht, dass er gemacht wurde, damit er sich fürchte. Der Fluch des dogmatischen Glaubens, wir seien in Sünde geboren, hatte weitreichende und destruktive Folgen. Der Mensch ist wunderbar gemacht; er besitzt höchst entwicklungsfähige Eigenschaften, die auf göttliches Vertrauen und nicht auf göttliche Furcht gegründet sind. Die Allmächtige Intelligenz, die jedes winzige Atom unseres Universums durchdringt, hätte die Manifestation ihrer Essenz nicht zugelassen ohne die absolute Gewissheit, dass alle diese Atome mit der Zeit dem Ursprung gleich werden würden, aus dem sie hervorgegangen sind. Es wäre eine Herabwürdigung des wirklichen Lebenszwecks, wenn wir unseren Begriff auf eine Gottheit einschränken, die einerseits die gesamte evolutionäre Entwicklung, Individuum für Individuum, persönlich überwachen und uns andererseits mit einer ‘Erbsünde’ belasten würde.
Die Allegorie vom Gefallenen Engel enthält sehr viel verborgene Weisheit. Diese von der orthodoxen Auslegung so armselig gedeutete Erzählung ist bei vielen alten Völkern bekannt. In der hinduistischen Tradition wird sie symbolisiert durch das Herabsteigen der Mānasaputras, der ‘Söhne des Denkvermögens’ – gottähnliche Wesen, die das Feuer des menschlichen Geistes entzündeten, genau wie in der griechischen Mythologie Prometheus den Menschen das ‘Feuer’ der Götter brachte. In gleichem Sinn wird der Übergang der Menschheit aus einem kindgleichen Entwicklungszustand in einen Zustand bewusster individueller Verantwortlichkeit in der Bibel durch die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies symbolisch dargestellt.
Wenn wir verstehen, dass wir seit jenem Zeitpunkt in unserem evolutionären Zyklus selbständig sind, erfassen wir allmählich besser, was die Lehre von Karma alles einschließt. Es bedeutet, dass wir seinerzeit als Anfänger im Gebrauch unseres freien Willens zahlreiche Fehler machten. Und jedesmal wenn wir etwas falsch gemacht hatten, erhielten wir eine entsprechende Reaktion, die unser Denken dazu anhielt, nicht wieder den gleichen Fehler zu begehen. Auf der physischen Ebene lernen wir alle sehr rasch, doch kostet es uns sehr viel mehr Zeit, die Lektionen auf den moralischen und spirituellen Ebenen zu erlernen. Dennoch arbeitet das Naturgesetz der Harmonie dauernd an der Wiederherstellung des Gleichgewichts, manchmal mit großem Nachdruck, aber nur so erwerben wir nach und nach unser Unterscheidungsvermögen.
Es bleibt die einfache Tatsache übrig, dass wir im Laufe der Zeitalter aus früheren Handlungen eine große Zahl von Wirkungen angehäuft haben, weshalb wir jetzt einer Sammlung karmischer Verpflichtungen gegenüberstehen, die aus der fernen Vergangenheit datiert; aus dieser Sammlung hat das unsterbliche Element in uns einen bestimmten Teil für diese Lebenszeit ausgewählt. Diese Auswahl ist weder zu schwer noch zu leicht, da im gesamten Kosmos vollkommene Gerechtigkeit herrscht.
Die Leute sprechen manchmal von gutem und schlechtem, von angenehmem und unangenehmem Karma. Für mich gibt es so etwas wie gutes oder schlechtes Karma nicht, denn die Ergebnisse, die Auswirkungen unserer Gedanken und Handlungen, sind alle nur Gelegenheiten. Das ist der Schlüssel, Karma als Gelegenheit gibt jedermann die gleiche Entwicklungsmöglichkeit. Darin sehe ich keine schwer zu tragende Last. Wir müssen lediglich unsere Reaktionen auf unsere Umstände abstimmen und diesen mit der richtigen Einstellung begegnen. Wenn wir uns aber unklugerweise gegen die sogenannten unangenehmen Lebensereignisse auflehnen, dann verlängern wir die Wirkungen der falschen Handlungen immer weiter, bis wir schließlich aufwachen und erkennen, dass wir nur gegen uns selbst rebellieren.
Es ist unwichtig, wieviel Leiden wir in diesem Leben auf uns nehmen müssen – unser Karma wird nie schwerer sein, als wir tragen können. Suchet einen Menschen mit schwerer karmischer Bürde und ihr werdet eine starke Seele finden. Der Mensch, der wirklich Qualen erleidet, ist eine Seele, die sich kraft der Stärke ihres höher-spirituellen Strebens das Recht erwarb, ihr ‘Metall’ durch und durch prüfen zu lassen.
Frage – Könnten wir unsere gegenwärtigen Probleme nicht viel leichter verstehen, wenn uns die vergangenen Handlungen, aus welchen diese Probleme entstanden, bekannt wären? Ich weiß, dass ich für alles, was mir begegnet, verantwortlich bin, sowohl für die angenehmen wie auch für die unangenehmen Vorkommnisse. Wie kann ich das gesamte Karma richtig handhaben?
Stellungnahme – Wenn die Natur, im höchsten Sinn verstanden, harmonisch gütig und gerecht ist, dann stellt sie uns – wie mir scheint – niemals vor eine Aufgabe, ohne für einen Schlüssel oder eine Hilfe zu sorgen; und um so mehr trifft das für jemand zu, der bewusst nach dem Höheren strebt. Die Natur liefert tatsächlich diesen Schlüssel, obgleich wir ihn oft nicht so leicht finden. Wenn wir jedoch die Überzeugung haben, dass keine Ursache ohne Wirkung oder keine Wirkung ohne Ursache sein kann, dann müssen wir annehmen, dass nichts durch Zufall geschieht. Jede Situation, die uns begegnet, ist dann das Ergebnis eines gedachten Gedankens, einer begangenen Tat oder einer vergangenen Mitwirkung, woraus sich die Wirkungen herleiten, die sich in den uns jetzt vorliegenden Umständen zeigen. Muss uns die Ursache genau bekannt sein? Wir können sie nicht im Einzelnen erkennen, aber wir können und sollten versuchen, die innere Qualität der Erfahrung zu erfassen, welche die gegenwärtige Lage herbeigeführt hat.
Wer sich an diesem Punkt der Entwicklung aktiv um die Läuterung seines Charakters und um die eigene Lenkung seiner Entfaltung bemüht, wird die ersten schwachen Anzeichen einer erwachenden echten Intuition wahrnehmen. Wir sind von der Blütezeit unseres gegenwärtigen Rassenzyklus noch weit entfernt, dennoch sind wir schon jetzt aufgefordert, die ersten Regungen der noch ganz jungen Intuition in unserem Bewusstsein zu beachten. Wer einmal über die Lehren von Karma und Reinkarnation nachdenkt, muss früher oder später erkennen, dass er eine klare Verantwortung hat, seinem eigenen Karma einsichtig zu begegnen. Er wird lernen müssen, wie er ihm gerecht wird, wie er auf die Bitten seines unsterblichen Selbst hören muss, auf seine Intuitionen, wenn Sie wollen. Das unsterbliche Selbst hat das Drama dieser Inkarnation, in dem wir selbst der Darsteller sind, ausgewählt, und dieses höhere Element bemüht sich auch, uns mit Hilfe unserer Lebensereignisse anzuleiten, den täglichen Aufgaben in der richtigen inneren Einstellung nachzukommen.
Im Laufe unserer Bemühung um ein besseres Verständnis erkennen wir, dass wir die Fähigkeit entwickeln können, die sich entfaltende karmische Schrift unseres Lebens zu deuten. Wenn wir damit arbeiten, können wir die jeweils entstehenden Situationen besser beurteilen und verständnisvoller bewältigen. Wir können uns diese Schrift wie ein Buch vorstellen – das Buch der Aufzeichnungen, wie der Koran sagt –, in das unser individuelles Leben in seiner Gesamtheit eingetragen ist. Jeder Tag, sozusagen eine Seite im karmischen Soll und Haben, enthält die Wegweiser, die Antriebe und Rückschläge, die Gewissensregungen und auch die Intuitionen, die benützt werden sollen. Schon dann, wenn wir die tägliche Schrift unserer Erfahrungen nur unvollkommen deuten können, erkennen wir zusätzlich, dass zwischen dem Wesen einer Auswirkung und der ihr zugrunde liegenden Handlung ein direkter Zusammenhang besteht. Es wird zwar nichts vorbuchstabiert; wenn wir aber an unsere langfristige Hauptaufgabe denken – die volle Entfaltung der göttlichen Werte in uns –, dann wissen wir auch, dass die Umwandlung des niederen Selbst durch das höhere Selbst von der fortgesetzten Bemühung um eine bessere innere Einstellung in jeder Lage begleitet sein muss.
Frage – Sollten wir, wenn wir unsere Einstellung zu unserem eigenen Karma verbessern wollen, nicht auch das Karma unserer Mitmenschen berücksichtigen? Ich denke speziell an das Familien- und Volkskarma.
Stellungnahme – Wenn wir an das natürliche Wirken dieses Gesetzes glauben, begegnen wir allen, die wir jeden Tag treffen, durch Karma, und als Ergebnis der Begegnung erhalten wir etwas von den anderen oder sie etwas von uns. Keine Seite braucht diesen inneren Austausch bewusst wahrzunehmen. Er geschieht so einfach wie das Atmen und mag nur eine winzige Wirkung haben; aber die Zusammenfassung aller Vorgänge ergibt dann die karmische Bilanz, die karmische Gesamtsumme des Tages. Wenn wir die beste uns mögliche Geisteshaltung einnehmen, unseren persönlichen Willen als Diener einsetzen und dem spirituellen Willen oder der Intuition die größtmögliche Herrschaft überlassen, erkennen wir allmählich, was der andere Mensch zur Bewusstseinserweiterung beigetragen hat, die uns jederzeit möglich ist.
Frage – Ist es nicht anmaßend anzunehmen, wir könnten willentlich auf das Karma von Nationen einwirken? Ist es nicht schon ein Erfolg, wenn wir mit unserem eigenen Leben vernünftig fertig werden?
Stellungnahme – Die meisten von uns können für das Volks- oder Weltkarma keinen direkten Beitrag leisten. Dessen ungeachtet sind wir ein Teil der Menschheit; so wie wir unseren Charakter stärken, wird deshalb unser Volk und die Welt im Ganzen Nutzen daraus ziehen. Der grundlegende Schlüssel ist die Pflicht: Wir erfüllen unsere Bestimmung am besten, wenn wir die unmittelbar vor uns liegenden Pflichten ausführen. Sollte es sich ergeben, dass Sie oder ich durch natürliches Karma Mitglied des Kongresses oder des Parlaments werden, dann hätten wir die Gelegenheit, wirksamer und direkter für unsere entsprechenden Länder zu arbeiten. Am meisten kommt es jedoch darauf an, wo wir heute stehen und was wir hier tun, denn die innere Qualität dieser Gedanken und Taten ist es, die unseren Einfluss in der Zukunft bestimmt.
Sehen Sie nicht, welche großartige Gelegenheit sich uns bietet? Wenn wir schöpferisch handeln, bereit, vergangene Irrtümer zu korrigieren, dann prägen wir die innere Qualität unserer Bemühung unvermeidlich in das Bewusstsein unserer Mitmenschen ein und geben ihnen dadurch zusätzlichen Mut. Ohne Furcht, sondern voller Vertrauen können wir von unserem gegenwärtigen Standort ausgehen mit dem Bewusstsein, dass unsere rechten Gedanken und unsere rechten Handlungen mit der Zeit die angemessenen Wirkungen zeitigen. Jeder Augenblick bietet eine Gelegenheit – eine herausfordernde Gelegenheit zur Erfüllung der uns bestimmten Verantwortung – nicht nur gegenüber uns selbst, sondern gegenüber der ganzen Menschheit.