Band 1: Was ist Theosophie?
Charles J. Ryan
Theosophie und Wissenschaft
Als H. P. Blavatsky dem Westen die Theosophie brachte, kritisierte sie die materialistischen Begrenzungen der führenden Wissenschaftler heftig und bot eine philosophische Betrachtung der Natur an. Ihre Lehren erschienen den führenden Wissenschaftlern jedoch so ungewöhnlich und unkonventionell, daß sie diese allgemein ignorierten. Die Wissenschaft befaßte sich damit, das westliche Denken von den kirchlichen Bindungen zu befreien und alles, was nach spirituellen Idealen aussah, wurde von ihr abgelehnt. Heute hat sich das geändert. Eine große Anzahl, vielleicht die Mehrzahl ihrer grundlegenden physikalischen Lehren, werden von den führenden Denkern entweder völlig angenommen oder sie werden ernsthaft erörtert und erforscht. Dieser Wandel wurde von H. P. B. vorhergesehen als sie feststellte, daß die Geheimlehre der Zeitalter, die von ihr in dem gleichnamigen Werk in großen Zügen dargestellt wurde, im zwanzigsten Jahrhundert anerkannt werden würde.
Es bedarf keiner Beweise, daß im Laufe dieses Jahrhunderts bedeutende Entwicklungen eintraten, welche die Tür zu weniger mechanistischen Interpretationen weiter öffneten, wodurch die Wissenschaft die Gelegenheit bekam, sich von dem groben Materialismus zu entfernen. Sachverhalte, die früher durch das wissenschaftliche Denken verneint wurden, wie beispielsweise die Existenz der Astralebenen und die Anwesenheit eines geistigen Prinzips hinter der stofflichen Erscheinung, sind nun Gegenstand ihrer Untersuchungen.
Die Theorien über die Zusammensetzung der Materie stellen ein bedeutendes Beispiel dafür dar, wie sich die gängige wissenschaftliche Auffassung durch den Einfluß der Alten Weisheit verändert hat. Es liegt noch nicht sehr weit in der Vergangenheit zurück, daß man das Atom als das kleinste und unteilbare Element annahm, aus dem aller Stoff besteht. Dieser Gedanke unterlag einer gewaltigen Veränderung. Von dem Atom, von dem durch wissenschaftliche Untersuchung mit modernen Hilfsmitteln bewiesen werden kann, daß es teilbar ist und aus Teilchen besteht, bleibt wenig ‘Stoffliches’ übrig. Es stellte sich heraus, daß die Bestandteile der Materie vielmehr ‘nicht-stoffliche’ Strukturen besitzen. In seinem Buch Der kosmische Reigen schreibt Fritjof Capra in Kapitel 15:
‘Die Untersuchung der subatomaren Welt im zwanzigsten Jahrhundert hat den aus sich selbst heraus dynamischen Charakter der Materie enthüllt. Sie hat bewiesen, daß die Bausteine des Atoms, die subatomaren Teilchen, dynamische Modelle sind, die nicht als isolierte Wesenheiten, sondern als Teilstücke eines unaufteilbaren Netzwerks von Wechselwirkungen bestehen. Die Wechselwirkungen umfassen einen unaufhaltbaren Energiestrom, der in sich das Austauschen von Teilchen manifestiert; ein dynamisches Wechselspiel, in dem unaufhörlich Teilchen geschaffen und vernichtet werden, in einer fortdauernden Variation von Energiemodellen. Die Wechselwirkungen zwischen den Teilchen bringen die stabilen Strukturen hervor, die zusammen wieder die materielle Welt formen; aber auch die Strukturen bleiben nicht statisch, sondern oszillieren in rhythmischen Bewegungen. So verkehrt das gesamte Universum in unaufhaltsamer Bewegung und Aktivität; in einem fortdauernden kosmischen Energiereigen.’
In ihrem bereits 1888 erschienenen Werk Die Geheimlehre (Band I, 565 f.) schreibt H. P. Blavatsky:
‘Das Atom ist elastisch, folglich ist das Atom teilbar, und muß aus Teilchen oder Unteratomen bestehen. Und diese Unteratome? Sie sind entweder nicht-elastisch, und in einem solchen Falle sind sie dynamisch ohne Bedeutung; oder sie sind auch elastisch, und in diesem Falle sind sie ebenfalls der Teilbarkeit unterworfen. Und so fort ins Unendliche. Aber die unendliche Teilbarkeit der Atome löst die Materie in einfache Kraftzentren auf, d.h. sie schließt die Möglichkeit aus, die Materie als objektive Substanz vorzustellen.’
Vor einigen Jahren machte Semyon Kirlian in Rußland eine Entdeckung, die, wie zu erwarten ist, für die Heilkunde und die Landwirtschaft von Nutzen sein kann. Er fand eine Möglichkeit, die Biolumineszenz (Licht, das durch lebende Organismen hervorgebracht wird) zu fotografieren, welche die gesamte lebende Materie als eine Sonnenkorona umschließt. Seine eigene Hand, die auf diese Weise fotografiert wurde, sah aus wie ‘die Milchstraße an einem Himmel voller Sterne. Vor einem Hintergrund in Blau und Gold vollzog sich in der Hand etwas, das einem Feuerwerk ähnelte.’1 Bei weiteren Untersuchungen ergab sich, daß eine Münze aus Metall von einer anhaltenden Glut umgeben ist, während das frische Blatt einer Pflanze ein schillerndes Bild von flimmernden und schimmernden Funken aufzeigte. Wenn das Blatt verwelkt, wird das Licht statischer, bis die Energie-Impulse sterben. Großes Aufsehen erregte die Entdeckung, daß ein Blatt einer kranken Pflanze ein völlig anderes Bild zeigte als ein augenscheinlich identisches Blatt einer gesunden Pflanze, obwohl noch keine stofflichen Anzeichen von Krankheit erkennbar waren. Kirlian und seine Frau bemerkten zu ihrer Überraschung, daß das gleiche auch bei Menschen stattfindet, das heißt daß der Astralkörper Krankheiten anzeigt, bevor sie erscheinen: ‘Es schien so, daß lebende Dinge zwei Körper besäßen . . . Der Energiekörper schien nicht nur eine Ausstrahlung des stofflichen Körpers zu sein. Der stoffliche Körper schien auf die eine oder andere Weise widerzuspiegeln, was im Energie-Körper stattfand.’2
Ein weiterer Gesichtspunkt, den wir hier zur Sprache bringen wollen, ist der Unterschied, der früher zwischen Energie und Masse oder Kraft und Materie gemacht wurde. ‘Fester Stoff’ besitzt nach heutiger Auffassung eine Anhäufung von elektrischen Ladungen; das harte und unteilbare Atom scheint eine Welt starker Kräfte zu sein, die sich ständig in Bewegung befinden – eine theosophische Auffassung.
Auch die Evolutionstheorie darf nicht unbeachtet bleiben. Jeder denkt unmittelbar an Darwin, der im Jahre 1859 sein berühmtes Buch über den Ursprung der Arten herausgab.
Obwohl Darwins Evolutionstheorie lediglich die physische Umwandlung ohne intelligentes Ziel oder Leitung erklärte, war seine Arbeit doch insofern wertvoll, als daß sie dogmatischen Aberglauben auflöste und den Gedanken der Evolution im Gegensatz zur einmaligen Schöpfung allgemein populär machte. Aber sie war einseitig. Sie übersah die innere, unsichtbare aber sehr reale Essenz, die ihren Weg nach außen und vorwärts erzwingt und materielle Formen in höhere Zustände umwandelt, so daß jede Lebensform besser geeignet wird, die Kraft der Monade oder des Geistes zu offenbaren, wie sie sich aus dem unerschöpflichen Vorrat im Inneren entfaltet oder evolviert. Die Formen sind wie eine Leiter, auf welcher der wahre Bergsteiger emporklettert; die Sprossen sind nicht der Kletterer. Der Mensch ist ein Atom des Göttlichen Lebens, das zu voller selbstbewußter Göttlichkeit aufwärts steigt. Er ist durch viele Zustände der Materie gegangen, die weniger dicht waren als der physische Zustand. Diese ätherischen Zustände verlangten Körper von ähnlicher Art. Die Spuren hiervon liegen in dem Komplex der bereits besprochenen ‘Prinzipien’ verborgen. Die Transformationen des Embryos im Stadium vor der Geburt spiegeln einige davon kurz wider.
Die darwinistische Lehre der Abstammung des Menschen vom Affen liegt im Widerstreit mit dem theosophischen Gedankengut, daß nämlich die menschliche Rasse, als ein Ganzes betrachtet, die ursprünglichste aller Säugetierstämme auf der Erde ist, und daß die Affen teils vom Menschen, teils von tierähnlichen Wesen abstammen. Es ist interessant, auf den Anthropologen Louis Leaky zu hören, der darauf hinweist, daß die Abspaltung des Menschen von seinem ‘nächsten Zweig, dem Affen’ vor mindestens 20 Millionen Jahren stattfand. Daß er über den Affen als ‘Zweig’ des Menschen spricht, gibt seine Überzeugung – wie auch die Überzeugung anderer Anthropologen – wieder, daß sich der Mensch niemals aus einem Affen-Vorfahren entwickelte, sondern daß sowohl die Hominiden als auch die Pithekoiden aus einem gemeinsamen, noch unidentifizierten, Wurzelstamm entstanden.
In seinem Buch Nicht von den Affen [Not from the Apes, 1972] schreibt der finnische Anthropologe Björn Kurten, daß die Primatenfossilien selbst unmißverständlich davon zeugen, daß der Mensch niemals vom Affen abstamme, und daß es exakter sei zu sagen, daß die Affen und Menschenaffen von früheren Vorfahren des Menschen abstammten.
Auch Professor Björn Hupten von der Universität in Helsinki äußerte sich in diesem Sinne. In dem Magazin Daily Pilot, Orange County, Kal. vom 23. Oktober 1971, schreibt er:
‘Wir sollten uns selbst fragen können, ob es nicht die Affen waren, die von den Vorfahren der Menschen abstammten, anstelle der gegensätzlichen These.’
Schließlich wollen wir hier einige Zitate von Dr. Harlow Shapley3 anfügen. Er führte uns nicht nur zu den Grenzen neuer Gebiete und erweiterte unseren Horizont des Universums über die Milchstraße hinaus, er vertrat auch eine Auffassung von Evolution, die den gesamten Bereich des Kosmos bis zu den entlegensten Winkeln miteinbezog. Er sprach von der Injektion des ‘Bewußtseins’ in den Lebensprozeß, sozusagen als Stachel des Wachstums. Eine seiner Aussagen lautet wie folgt:
‘Die Menschheit ist aus Sternenstoff gemacht und wird durch universale Gesetze beherrscht. Der Faden der kosmischen Evolution läuft sowohl durch ihre Geschichte als auch durch alle Fasern des Universums – den Mikrokosmos der atomaren Konstruktionen, die molekularen Formen mikrokosmischer Organismen und den Makrokosmos höherer Organismen, von Planeten, Sternen und Milchstraßen. Die Evolution in den Systemen der Milchstraße und im Menschen setzt sich beständig noch weiter fort – und den Zweck können wir nur vage vermuten.’
– The View from a Distant Star
Mit dem Vorhergehenden haben wir auf eine deutliche Tendenz der Wissenschaft verwiesen, zu den ursächlichen Gebieten vorzudringen und sich nicht länger auf die äußere Natur zu beschränken, weil der Mensch in zunehmendem Maße erkennt, daß die äußere Natur lediglich die Manifestation innerer spiritueller Kräfte darstellt.
Theosophie und Wissenschaft sind keine getrennten, nebeneinander stehenden Größen. Die Wahrheit ist eins, sowohl religiös, philosophisch als auch wissenschaftlich.
Theosophie ist archaische Weisheit. Sie kleidet Natur, Struktur, Ursprung, Bestimmung und das Wirken des kosmischen Universums und aller darin lebenden Wesen in die menschliche Sprache. Die Wissenschaft, die versucht, das Leben und alle Naturerscheinungen zu erklären, sucht auf ihre Weise schließlich nach derselben Wahrheit. Wir schließen mit einem Zitat des östlichen Weisen Patañjali:
‘Das Universum, das sichtbare und das unsichtbare eingeschlossen … existiert für die Erfahrung der Seele und für ihre Befreiung.’
– Yoga Aphorismen, Yoga Sūtra, II, 18